Rendezvous mit Todesfolge - Julia Chapman - E-Book
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Rendezvous mit Todesfolge E-Book

Julia Chapman

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Beschreibung

Zu Unrecht unehrenhaft aus dem Polizeidienst entlassen: Samson O'Brien kehrt verbittert in sein Heimatdorf in den Yorkshire Dales zurück, um dort als Privatdetektiv zu arbeiten - äußerst skeptisch beäugt von seinen Nachbarn, allen voran Delilah Metcalfe, die gerade um den Erhalt ihrer kleinen Dating-Agentur kämpft. Die Ereignisse spitzen sich zu, als mehrere Morde passieren. Alle Spuren führen zu Delilah. Die beiden Nachbarn müssen sich notgedrungen zusammentun, wenn sie den Mörder finden wollen. Doch beides ist leichter gesagt als getan ...

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Inhalt

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Über dieses Buch

Zu Unrecht unehrenhaft aus dem Polizeidienst entlassen: Samson O'Brien kehrt verbittert in sein Heimatdorf in den Yorkshire Dales zurück, um dort als Privatdetektiv zu arbeiten – äußerst skeptisch beäugt von seinen Nachbarn, allen voran Delilah Metcalfe, die gerade um den Erhalt ihrer kleinen Dating-Agentur kämpft. Die Ereignisse spitzen sich zu, als mehrere Morde passieren. Alle Spuren führen zu Delilah. Die beiden Nachbarn müssen sich notgedrungen zusammentun, wenn sie den Mörder finden wollen. Doch beides ist leichter gesagt als getan …

Über die Autorin

Julia Chapman ist das Pseudonym von Julia Stagg. Sie lebt in den wunderschönen Yorkshire Dales im Norden Englands. Wenn sie nicht schreibt, erkundet sie zu Fuß oder mit dem Rad ihre Umgebung, die wichtiger Bestandteil ihrer Krimis ist – allen voran die kleinen Dörfer und Ortschaften mit ihren liebenswerten Einwohnern.

Kriminalroman

Aus dem Englischen übersetzt vonAxel Franken

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Julia Chapman

Titel der englischen Originalausgabe: »Date With Death«

Originalverlag: Pan Books, an imprint of Pan Macmillan

20 New Wharf Road, London N1 9RR

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Titelillustration: © Kmannn; VikaSuh; JCStudio; Zerbor; Yeti studio;clarst5; William John Hunter; Angel Lina; Laralova; Julia August;Pavlo S; KateChe; the8monkey; Iakov Kalinin/Shutterstock;© Photos by R A Kearton/gettyimages

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0391-8

luebbe.de

lesejury.de

Für IsabelIn deinem 90sten Jahr, ein Stückchen von den Dales nur für dich.

Prolog

Dunst. Diesigkeit. Womöglich Nebel. Eine dichte Wolke, die den gedämpften Schein der Bahnhofslampe umwaberte; zwei Gleise, die plötzlich aus dem Dunkel auftauchten, eine Bahnsteigkante, die sanft im Nichts entschwand. Für Seenebel war es zu tief im Landesinneren. Aber wie man es auch bezeichnen wollte, die dunkle, frühe Morgenstunde gemahnte an den Tod.

Allein in dieser kalten, schemenhaften Welt stampfte Richard Hargreaves mit den Füßen auf – das Geräusch wurde durch das feuchte Leichentuch fast erstickt. Er beklagte im Stillen den Mangel an Worten, um dieses immer wiederkehrende Merkmal des Herbstes in den Dales zu beschreiben. Im Gegensatz zu den Inuit im gefrorenen Norden mit ihrer reichen Terminologie für Schnee hatten die Einheimischen hier nur sehr wenige Möglichkeiten, diese dunklen, klammen, nieseligen Tage differenziert darzustellen.

Dann eben Nebel. Nur war es zu dicht für Nebel, die Sichtweite fast null, und nichts deutete darauf hin, dass, sollte die Sonne jemals über den Hügeln aufgehen, um die tiefliegende Dampfmasse zu durchdringen, diese weggebrannt werden würde. Er zog sich den Schal fester um den kalten Hals, steckte die Hände in die Taschen seines Mantels und lächelte ins Dunkel.

Der letzte Tag der Arbeitswoche. Zwei Tage, ohne aufstehen zu müssen, um den Zug um halb sieben zu erwischen. Und heute Abend bei ihr. Trotz des trüben Wetters gab es viel, worauf man sich freuen konnte.

Er hatte keine Ahnung, wie sehr er sich irrte.

Rechts von ihm färbte das Aufflackern eines herannahenden Lichts auf das graue Tuch aus Dunst ab. Zum letzten Mal in seinem Leben zog Richard Hargreaves die Schultern hoch, schob die Hände tiefer in die Taschen und trat an die Bahnsteigkante.

Als der Schlag ihn in den Rücken traf, hatte er keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Keine Möglichkeit, den Sturz aufs Gleis zu verhindern.

1

Wie war es möglich, einen Ort gleichzeitig zu lieben und zu hassen?

Der Motorradfahrer, der sich nicht sicher war, ob es darauf eine Antwort gab, hielt oben auf Gunnerstang Brow an. Er schaltete das Motorrad aus, nahm den Helm ab und blickte auf die Schieferdächer hinab, die das Tal unter ihm übersäten. Jetzt am Nachmittag, wo die Oktobersonne tief stand, glühte die blanke Kalksteinklippe, die den Hintergrund der Stadt bildete, und warf ihr reflektiertes Licht auf die Häuser und Straßen eines Ortes, in dessen Nähe der Mann seit vierzehn Jahren nicht mehr gewesen war.

Bruncliffe.

Eine gedrungene Ansammlung von Behausungen, von einem Fluss und einer Eisenbahnlinie durchschnitten und vom abrupten Anstieg der Fjälls auf drei Seiten eingefasst. So schmiegte sich die Stadt wie seit Jahrhunderten vertrauensvoll an den Talboden, gesäumt von den hohen Schornsteinen längst stillgelegter Mühlen. Trotz seiner Abgeschiedenheit glaubten sich seine Bewohner im Zentrum des Universums. Sie waren arrogant. Geradeheraus. Schnell bei der Hand, wenn es galt, Schwächen aufzuzeigen. Deutlich langsamer beim Loben. Und misstrauisch gegenüber Dahergelaufenen; jemandem wie ihm, zwar dort geboren und aufgewachsen, aber trotzdem nie ein Einheimischer.

Er wandte den Blick von den Gebäuden ab, ließ ihn über die grünen Hügel schweifen, die markanten Steinmauern, die an deren steilen Flanken auf und ab marschierten, und das wogende Land, das sich in die Ferne erstreckte. Das aufgebrachte Krähen eines Fasans kratzte an der Stille, gefolgt vom bettelnden Blöken eines Schafes.

London und das Leben, das er geführt hatte, waren hier weit weg. Was der Grund war, weshalb er zurückgekehrt war.

Er konzentrierte sich wieder auf die Stadt und folgte dem Verlauf des Flusses, der von Norden her zu Tal stürzte. Dort, weit im Süden, ein weißer Schleier vor dem Grün, sah er Ellershaw Farm, den Wohnsitz der Metcalfes. Sie lag im Schutz der Hügel, aber mit freiem Ausblick, und war immer ordentlich instand gehalten worden. Makellos. Aber damals war sie auch nicht von einem Säufer geführt worden.

Instinktiv wanderte seine Aufmerksamkeit wieder das Tal hinauf, vorbei an dem Gewirr der Häuser, heraus aus dem hinteren Teil der Stadt und zu der Kluft zwischen zwei Hügeln, wo sich die Sonne nicht länger aufhielt. Das gequälte Lächeln, das sich auf sein zerschrammtes Gesicht gelegt hatte, zerfloss zu einem Stirnrunzeln.

Zuhause. Das einzige, das er im Moment hatte. Andernfalls wäre er nicht hier, hier oben auf diesem Hügel, erfüllt von diesem ambivalenten Gefühl aus Abneigung und Sehnsucht.

Elaine Bullock konnte vieles. Sie konnte jede Blume, jeden Baum benennen, die in Hawber Woods blühte. Sie konnte einen Vogel anhand der ersten Töne seines Gesangs identifizieren. Sie konnte auch stundenlang über die Flachkarren und Kluftkarren sprechen, die den Kalkstein, der das hiesige Landschaftsbild bestimmte, musterten. Was sie jedoch nicht konnte, war kellnern.

»Mist!«, murmelte sie, als der Tellerstapel, den sie zurück in die Küche trug, plötzlich ins Wackeln geriet und ein Messer scheppernd auf die Steinfliesen fiel. Gleich darauf folgte ihm seine Schwester, eine Gabel.

»Hast du vor, die ganze Ladung fallen zu lassen, Elaine?«, wollte die größere der beiden schwarzgekleideten Damen, die am Tresen standen, wissen. Sie deutete mit ihrem Gehstock auf ihre Gefährtin. »Es ist ja nur, weil das Herz meiner Schwester nicht mehr das ist, was es einmal war, und sie würde eine kleine Ankündigung vielleicht begrüßen. Stimmt’s nicht, Clarissa?«

»Lass sie in Ruhe, Edith«, kam ein sanfter Tadel von ihrer Schwester. »Sie ist noch dabei zu lernen, Gott segne sie.«

»Ich bemühe mich ja!«, sagte Elaine und bückte sich, um das eigenwillige Besteck aufzuheben, wobei ihr die von den Fingern verschmierte Brille die Nase hinunterrutschte und die dunklen Zöpfe gegen die Wangen baumelten.

»Das kannst du laut sagen! Zwei Tage da, und du gibst dir alle Mühe, meine Nerven zu strapazieren!« Mit verschränkten Armen und einer weißen Schürze, die sich über eine beeindruckende Wampe spannte, Schultern, die fast die Seiten der Türöffnung der Küche berührten, so stand Titch Harrison da und starrte finster auf sie herab. »Wenn du damit fertig bist, auf dem Boden herumzukrabbeln: Da stehen zwei Teller, die serviert werden müssen. Und zwar ein bisschen zackig!«

Er drehte sich zur Seite und ließ Elaine mit einem verzweifelnden Kopfschütteln vorbeischlüpfen. Sekunden später ertönte das laute Krachen von zerbrechendem Geschirr aus der Küche, gefolgt von gedämpften Flüchen. Titch verdrehte die Augen.

»Gut, dass nicht viel los ist«, brummte er mit einem Blick zu dem Tisch am Fenster, an dem seine einzige Kundschaft saß, ein Touristenpaar. »Die ganzen Leute auf der Beerdigung da unten wissen nicht, was sie verpassen. Messerwerfen! Tellerzertrümmern! Als Nächstes wird unser Bullockmädel noch Feuer schlucken! Und wäre dabei ein sehr viel besserer Anblick als beim Bedienen, denn weiß Gott, schlimmer könnte er nicht sein.«

»Gib ihr eine Chance, Douglas!«, ermahnte ihn Edith Hird, ehemalige Schulleiterin der Bruncliffe Primary School und der einzige Mensch in der Stadt, der darauf bestand, den Koch bei seinem eigentlichen Vornamen und nicht »Knirps« zu nennen. Ihr Widerwille, seinen lächerlichen Spitznamen zu benutzen, rührte von ihrer Erinnerung an sein Verhalten in ihrem Klassenzimmer her und von der Tatsache, dass sie ihn schon kannte, seit er in den Windeln gelegen hatte. Die ziemlich groß gewesen waren. »Sie ist jung und eine fleißige Arbeiterin.«

»Das wird sie verdammt noch mal auch sein müssen, bei der Menge an Extraarbeit, die sie verursacht«, brummte er, während eine leichte Röte von seinem fuchsroten Bart über seine Wangen schwappte. Dreißig Jahre seit der Grundschule, und noch immer konnte Miss Hirds spitze Zunge ihn in seine nuschelnde Jugend zurückversetzen. Dann erinnerte ihn die Strenge ihrer Kleidung an den Anlass. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er sanft.

»Wie zu erwarten war«, antwortete Edith. »Ein volles Haus und nicht ein trockenes Auge.«

»Es ist ein Jammer!«, murmelte Clarissa. »So ein junger Mann!«

»Aye, echt ein Jammer. Er war ein guter Junge.« Titch starrte auf den Boden. Selbst unter idealen Bedingungen neigte er nicht zu Beredsamkeit; unter den gegenwärtigen Umständen hatte er besonders zu kämpfen. »Ich hoffe, dass das so geht«, fuhr er fort und deutete auf die beiden Tabletts mit Sandwiches auf der Theke. »Das ist alles, was ich kurzfristig zusammenkriegen konnte.«

Edith nickte. »Sie wird froh darüber sein. Sie hat schon eine panische Sorge, dass nicht genug Essen für alle da sein könnte. Was bin ich dir schuldig?«

»Einen Zehner.«

»Sei nicht albern!«, sagte Edith unverblümt und öffnete ihre Geldbörse. »Du warst vielleicht nicht der Klassenbeste in Mathe, aber selbst du hast dein Einmaleins gekonnt. Also, was schulde ich dir wirklich?«

Der ungläubige Tonfall von Miss Hirds Schwester, die mit knochiger Hand auf eine durchs Fenster sichtbare Gestalt zeigte, bewahrte Titch vor weiterer Züchtigung.

»Edith, ist das …? Das ist doch nicht etwa …?«

Edith Hird drehte sich um, um festzustellen, was Clarissas Aufmerksamkeit erregt hatte, und blickte mit zusammengekniffenen Augen über die Straße auf das Motorrad und den Mann, der rittlings darauf saß. Er hätte bei der Entfernung und ihrem in die Jahre gekommenen Sehvermögen eigentlich schwer zu erkennen sein müssen, aber sie wusste sofort, wer das war, trotz der schwarzen Mähne, die seine Schultern zierte. Es war die trotzige Art, mit der er auf die Stadt herabblickte, die vertraute grüblerische Intensität, die durch die bläulichen Blutergüsse auf seiner Wange noch verstärkt wurde. Darin drückte sich jene alte Widerständigkeit aus, die sich im Laufe der Jahre, während derer man ihn als Abtrünnigen gebrandmarkt hatte, zu Feindseligkeit entwickelt hatte. Auch war das Motorrad ein verräterischer Hinweis. Jedermann in Bruncliffe kannte dieses Motorrad.

Während Titch und die beiden älteren Schwestern näher ans Fenster rückten, um besser sehen zu können, ging Elaine Bullock durch das Café zum einzigen besetzten Tisch, wobei sie sich ganz auf die Teller in ihren Händen konzentrierte. »Hier, bitte sehr. Hausgemachter Hackfleischauflauf und Pommes«, verkündete sie fröhlich, als sie sich den wartenden Gästen näherte, erleichtert, dass sie es ohne Unfall geschafft hatte. Dann beging sie den fatalen Fehler, nach draußen zu schauen, und sofort fiel ihr der Mann auf dem Motorrad auf. Sie hatte nur Zeit für einen flüchtigen Blick auf sein Profil, bevor er seinen Helm aufsetzte. Es war genug.

»O Gott!«, keuchte sie, und die Teller in ihren Händen neigten sich gefährlich, sodass alles an den Rand rutschte. »Es ist … Das ist …«

»Ärger«, ergänzte Titch, ohne die tropfenden Teller zu beachten. »Und das nicht zu knapp.«

»Ich muss telefonieren!«, sagte Elaine und stellte die Mahlzeiten hastig auf den nun mit Soße beschmierten Tisch, bevor sie zum Garderobenständer eilte, ihr Handy aus der Jackentasche nahm und zur Hintertür rannte, während ihre Gäste verwirrt zurückblieben.

»Nun«, sagte Edith, immer noch gebannt von dem Mann auf der anderen Straßenseite, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Sieht aus, als würde das Leben in Bruncliffe demnächst interessant werden.«

Er setzte den Helm wieder auf, drehte den Schlüssel im Zündschloss und warf einen Blick über die rechte Schulter, um die Straße zu überprüfen, als das Motorrad zum Leben erwachte. Stattdessen fing er die kalten Blicke seines Publikums ein.

»Verdammt!«

Er war so sehr mit der Stadt unter ihm beschäftigt gewesen, dass er das Gebäude hier oben auf dem Hügel nicht registriert hatte. Oder besser gesagt, hatte er es zwar registriert, aber die Veränderungen nicht wahrgenommen. Gunnersthwaite, das Anwesen der Harrisons. Ein heruntergekommener Bauernhof zu seiner Jugendzeit, eine Müllhalde für alte Autos und kaputte Maschinen, mit Fenstern, die in den Rahmen verrotteten. Offensichtlich war das Haus renoviert und einer anderen Nutzung zugeführt worden.

»Hill-Top-Cafe« verkündete eine Tafel an der Tür, die zudem hausgemachte Speisen und Produkte aus der Region versprach.

Und im Fenster rechts konnte er drei Gesichter sehen, die ihn alle anstarrten. Die alte Miss Hird, der ein Lächeln auf den Lippen tanzte, ihre Schwester, Clarissa Ralph, die sich die Hand vor den Mund hielt, und hinter beiden die breiten Gesichtszüge und den fuchsroten Bart von Titch Harrison höchstpersönlich.

»Verdammt!«, wiederholte er und klappte sein Visier mit einem genervten Schnipsen nach unten. Er hätte es besser wissen müssen. Bei all seiner Ausbildung. All den Jahren undercover. Er hätte auf der Hut sein, sich der Anwesenheit des Feindes bewusst sein müssen.

Jetzt würde die ganze Stadt wissen, dass er hier war, bevor er auch nur die Gemeindegrenze überschritten hatte.

Er wuchtete das Motorrad vom Ständer, ließ den Motor weit lauter als nötig aufheulen und raste mit lautem Dröhnen den Berg hinunter auf seine Zukunft zu. Und seine Vergangenheit.

Am Fuß des Hügels, nahe dem Herzen Bruncliffes, begann die Menge, die sich auf dem sonnenbeschienenen Friedhof versammelt hatte, auseinanderzugehen. Während sie sich auflöste – einige gingen sich die Kränze ansehen, die neben dem frisch ausgehobenen Grab niedergelegt worden waren, andere näherten sich der trauernden Familie –, drang eine gedämpfte Unmutsbekundung aus ihrer Mitte.

»Nicht einmal zu einer Beerdigung kann man in Ruhe gehen!«, brummte Delilah Metcalfe und versuchte diskret, ihr vibrierendes Handy aus der Hosentasche zu fischen. »Das ist das dritte Mal in fünf Minuten!«

»Das hat man davon, wenn man Unternehmerin in Sachen Romanzen ist«, flüsterte der große junge Mann neben ihr.

Ein Ellbogenknuff in die Rippen war die Belohnung dafür, fest genug, um ihn zusammenzucken zu lassen und die Aufmerksamkeit des älteren Mannes, der auf der anderen Seite stand, auf sich zu ziehen.

»Benimm dich, Ash Metcalfe!«, kam ein scharfes Zischen. »Und was dich betrifft, Fräulein, denk nicht mal dran, das Ding zu benutzen. Zeige etwas Respekt!« Ein knorriger Finger deutete auf das Handy, das jetzt in Delilahs Hand lag, und ein grimmiges Augenpaar unter buschigen Brauen machte ihr Vorwürfe.

»Ich wollte es gerade ausschalten«, murmelte sie, und ihr Gesicht wurde rosa, als sie das Telefon wieder in die Tasche steckte. Sie tat ihr Bestes, um ihren Bruder zu ignorieren, der sein Bestes tat, um nicht zu lachen.

Was eine nette Abwechslung gewesen wäre, denn ihr Tag war bisher nicht gerade von Lachen geprägt gewesen.

Delilah hatte den Vormittag mit einem verärgerten Kunden zugebracht, der frisch von seinem Bauernhof ins Büro der Dales Dating Agency gestürmt war und sein Geld zurückverlangte, weil er schon zehn Verabredungen gehabt und immer noch keine Frau gefunden hatte. Als er dastand, auf ihren Schreibtisch schlug und sie beschimpfte, sodass Tolpuddle leise in seinem Hundekorb knurrte, stellte sie fest, dass ihr diplomatisches Geschick – und sie war nicht mit einem Überfluss davon gesegnet – so sehr strapaziert wurde, dass sie sich schließlich nicht mehr auf die Lippe beißen konnte.

Als er angefangen hatte, über ihr Geschäft und – angesichts ihrer eigenen glücklosen Vergangenheit – ihre Fähigkeit zu lästern, mit Romantik zu handeln, entgegnete sie: »Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, Mr Knowles, dass Ihr mangelnder Erfolg auf eigenes Verschulden zurückzuführen sein könnte?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, dass Ihre Abneigung gegen die Verwendung einer Zahnbürste und Ihr Beharren darauf, bei einem Date Stiefel mit Kuhscheiße zu tragen, Ihrer Sache wahrscheinlich nicht zuträglich sind.«

Er war zurückgezuckt, hatte einen Blick auf seine das Auge und die Nase beleidigenden Stiefel geworfen, dann die Brauen zusammengezogen und ihr einen strengen Finger vors Gesicht gehalten. »Die Frauen sollen mich nehmen, wie ich bin!«, hatte er erklärt. »Und damit sollten sie froh sein!«

Offensichtlich, so dachte Delilah, als sie sich jetzt in die lange Reihe der Trauernden einreihte, die sich dem Kirchentor näherte, sehen die Frauen der Dales das anders. Am Ende hatte sie dem beleidigten Farmer einen Platz beim nächsten der kürzlich eingeführten Speeddating-Abende angeboten – natürlich kostenlos. Der Mann war mit einem breiten Lächeln weggegangen, stolz auf die harten Bandagen, mit denen er verhandelte. Delilah konnte nur hoffen, dass er an seiner Selbstdarstellung arbeitete, bevor sie ihn das nächste Mal zu sehen bekam.

Das hieß, falls sie noch im Geschäft war, wenn sie ihn das nächste Mal zu sehen bekam. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Stapel von Kreditkartenrechnungen, ihre Hypothekenzahlungen waren fällig, und ihr Überziehungskredit war bereits über das vereinbarte Limit hinaus strapaziert. Wenig verwunderlich, dass der Filialleiter der Bank sie zu einem Treffen einbestellt hatte. Aber auf die Beerdigung davor hätte sie gut verzichten können. Vor allem, weil es eine war, die so viele schmerzliche Erinnerungen mit sich brachte.

Sie ließ die Augen verstohlen zur hinteren Ecke des Kirchhofs wandern, wo ein Grabstein aus Granit im Sonnenschein glänzte.

»Alles in Ordnung, Schwesterchen?« Ash Metcalfe war die Richtung ihres Blicks aufgefallen.

Delilah nickte und blinzelte schnell. »Bestens. Bloß – du weißt schon – Erinnerungen.«

»Pah!«, blaffte es neben ihr. »Erinnerungen werden stark überbewertet.« Seth Thistlethwaite, dessen Augen zwar weniger wild, dessen Augenbrauen jedoch genauso buschig wie früher waren, packte ihren Ellbogen mit festem Griff, der seine Arthritis Lügen strafte. Ob dieser Griff nun Unterstützung suchte oder anbot, Delilah widersetzte sich jedenfalls nicht. »Ich finde das Hier und Jetzt viel erfreulicher. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass dies eine traurige Angelegenheit ist. So jung …« Er schüttelte mitleidig den Kopf.

»Wirklich traurig«, pflichtete Ash ihm bei. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass es so schlimm um ihn stand und niemand etwas davon wusste.«

»Dann ist es also offiziell? Es war eindeutig Selbstmord?«, fragte Delilah, als sie am Kirchentor stehenblieben. Der strahlende Sonnenschein stand im Widerspruch zum düsteren Gesprächsthema.

Ash zuckte die Achseln. »Es wird noch eine Weile dauern, bis die Untersuchung stattfindet, aber es scheint keinen Zweifel zu geben.«

»Vor einen Zug zu springen lässt wenig Raum für Zweifel!«, blaffte Mr Thistlethwaite wieder.

»Aber das erklärt immer noch nicht, warum«, wandte Delilah ein. »Ich meine, er schien sein Leben nach der Scheidung endlich wieder in den Griff zu bekommen …« Sie stockte, betroffen, wie sie es seit der schrecklichen Nachricht immer wieder gewesen war, von ihrem letzten Eindruck von Richard Hargreaves. Als er im Büro angerufen hatte, um seine Mitgliedschaft bei der Partnervermittlungsagentur nach einem dreimonatigen Probelauf zu verlängern, hatte er viel über die Zukunft gesprochen. Er war wieder der Richard von einst gewesen; der Richard, dessen Leben noch nicht aus den Fugen geraten war.

Als er drei Jahre zuvor wieder nach Bruncliffe gezogen war, war seine weltoffene Frau – weit davon entfernt, die ländliche Idylle vorzufinden, von der sie geträumt hatte – schnell vereinsamt. Entnervt von der Realität des Landlebens, wo jeder alles über jeden wusste, hatte sie sich unwohl gefühlt mit den unverblümten Ansichten der Menschen, unter denen ihr Mann aufgewachsen war. Ihr neues Heim hatte sich als der Ort erwiesen, an dem sie, statt den Status der Ehefrau eines Universitätslehrers innezuhaben, als die Frau betrachtet wurde, die den Sohn des Fleischers geheiratet hatte. Noch dazu war sie eine Dahergelaufene.

Innerhalb von sechs Monaten hatte sie die Scheidung eingereicht. Nach ein paar weiteren Monaten war sie weg, zurück nach Manchester, hatte ihre beiden kleinen Kinder mitgenommen und Richard zutiefst erschüttert zurückgelassen.

Der Mann, der Delilah vor einigen Wochen am Schreibtisch gegenübergesessen und Tolpuddle fröhlich den Kopf gekrault hatte, während er sich über lokale Angelegenheiten informierte, war ein anderer Mensch gewesen. Er hatte sie an den Jungen erinnert, der viele Tage auf der Metcalfe-Farm verbracht und mit ihren Brüdern herumgealbert hatte. Es hatte keine Anzeichen von Depressionen gegeben. Keinerlei Verzweiflung. Und definitiv hatte nichts darauf hingedeutet, dass er sich eine Woche später vor einen Zug werfen würde.

Delilah zitterte und bekam eine Gänsehaut, als ob die Sonne sich hinter einer Wolke versteckt hätte.

»Aye«, schloss Seth Thistlethwaite. »Wirklich betrübliche Umstände. Es spricht doch einiges dafür, dass man sich nicht vom Lauf der Dinge unterkriegen lässt, nicht wahr, Delilah?« Er entließ sie aus seinem Griff, doch seine Augen hielten sie an Ort und Stelle fest. »Es gibt mehr im Leben als nur das Geschäft, weißt du?«

Seine Worte entlockten der jungen Frau ein Lachen, das die Atmosphäre auflockerte. »Mal sehen, ob ich mit dir übereinstimme, wenn ich erst auf der Bank war.«

Er nickte. »Du findest mich im Fleece, falls du deinen Kummer ertränken willst. Kommst du mit, Ash?«

Delilahs Bruder zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Der größte Teil des Tages ist vorbei, und es wäre nur angemessen, auf Richard anzustoßen. Ich muss nur noch kurz mit Rick sprechen. Ich komme gleich nach.«

Mit einem flüchtigen Kuss auf Delilahs Wange ging Ash durch die Menge der auf dem Weg versammelten Trauernden und auf eine Gruppe von Männern zu, die etwas auf der Seite standen. Seth Thistlethwaite beobachtete ihn dabei.

»Bin überrascht, dass er nicht vor Trauer heult, unser Rick Procter«, brummte er mit Blick auf den gut gebauten Mann, mit dem Ash jetzt sprach.

»Rick? Ich glaube nicht, dass er Richard so gut kannte«, sagte Delilah. »Nicht seit der Schulzeit jedenfalls, und schon damals war Rick ein paar Jahre älter.«

Seth lachte schroff. »Zweifellos hast du recht«, meinte er. »Aber ihm ist gerade der Verkauf eines neuen Hauses durch die Lappen gegangen. Und das ist so ziemlich das Einzige, was diesen Mann zum Weinen bringen würde.«

»Ein Verkauf …?«

»Richard Hargreaves. Er sprach darüber, einen von Procters verdammten Kästen zu kaufen, die er unten im Überschwemmungsgebiet hat errichten lassen. Wird aber jetzt nicht passieren. Kann nicht behaupten, dass mir das für Procter leidtut.«

Delilah lächelte über das schroffe Urteil. »Ehrlich, du und dein Klatsch! Ich weiß nicht, wie du das alles immer erfährst. Und was Rick betrifft, er ist ein guter Mensch. Sieh dir doch an, was er alles für die Stadt tut!«

Der zornige Blick, den sie sich damit einhandelte, hatte nichts mit dem Funkeln kurz zuvor gemein. »Gute Taten sind nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem guten Herzen. Also, ich geh jetzt ein Bier trinken.« Er machte kehrt, drehte sich dann aber noch einmal zu ihr um. »Und du gehst noch laufen, junge Dame?«

Sie heftete ihren Blick auf den Weg. »Das habe ich aufgegeben, schon vergessen?«

Seth Thistlethwaite grinste. »Na klar. Wie dumm von mir … Wie auch immer, viel Glück mit Woolly in der Bank. Lass dich nicht von ihm unterkriegen.«

Mit einem Winken ging er davon, und Delilah überquerte die Straße. Sie brauchte eine stärkende Tasse Kaffee, bevor sie dem Schlimmsten ins Auge sah. Als sie sich in Richtung Peaks Patisserie aufmachte, dachte sie bereits an das bevorstehende Treffen und war sich zweier Dinge nicht bewusst: Auf ihrem Handy, das immer noch ausgeschaltet war, waren inzwischen fünf verzweifelte Nachrichten eingegangen; und ein sehr markantes Motorrad fuhr gerade unter der Eisenbahnbrücke hindurch auf die Kirche zu.

Auf der anderen Seite der Straße hatte Seth Thistlethwaite, pensionierter Erdkundelehrer und Leichtathletiktrainer, eine Pause eingelegt, um seine frühere Schülerin zu beobachten. Sie hatte mit dem Laufen gelogen. Er hatte sie in den frühen Morgenstunden auf den Fjälls gesehen. Seine Augen waren zwar nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren, aber ihren unverwechselbaren Stil hätte er überall erkannt. Es war unmöglich, die beste Athletin zu vergessen, die je durch seine Hände gegangen war. Oder den grauen Schatten des Hundes, der neben ihr hertrabte.

Das musste etwas Gutes sein. Es musste bedeuten, dass sie das Schlimmste überstanden hatte.

Er beobachtete sie noch, als er das Motorrad näher kommen hörte, dessen Motor eher schnurrte als dröhnte. Auf der Hauptstraße, unter der Brücke, kam der Fahrer in Sicht; schwarzes Leder, dunkles Visier. Er erkannte die Maschine sofort. Eine Royal Enfield. Scharlachrot. Es hatte hier immer nur eine davon gegeben, und jetzt war sie wieder da.

Er war wieder da.

Der alte Mann blickte zu Delilah hinüber, die auf den Marktplatz zuging. Wusste sie es? Sie würde es bald wissen – die Buschtrommeln würden dafür sorgen.

Seth richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Motorrad und verfolgte, wie es an der Kirche vorbeifuhr, die Hauptstraße entlang und dann, wie erwartet, nach links abbog, bevor es den offenen Platz im Zentrum der Stadt erreichte. Er war auf dem Weg nach Hause. Obwohl das, was er bei seiner Ankunft dort vorfinden würde, war eher …

Seth Thistlethwaite beschleunigte seine Schritte. Die Dinge in Bruncliffe hatten gerade eine unerwartete Wendung genommen, und als Mann im fortgeschrittenen Alter brauchte er ein Pint, um sich einen Reim darauf zu machen, bevor auf einmal die Hölle losbrach.

»Wie war es?«

Delilah saß auf einem Sofa am Fenster der Peaks Patisserie, blickte auf den Marktplatz und wünschte sich, sie wäre meilenweit weg, als ihre Schwägerin ihr einen Kaffee vor die Nase stellte. »Schrecklich. Gerammelt voll, wie nicht anders zu erwarten war.«

»Hast du mich entschuldigt? Ich hatte hier drin alle Hände voll zu tun, und außerdem … Ich konnte mich dem Ganzen einfach nicht stellen.«

Delilah legte die Hand auf Lucy Metcalfes Arm, als sie den angespannten Gesichtsausdruck unter dem dunkelblonden Haar bemerkte, und drückte ihn sanft. »Ich habe mit den Hargreaves gesprochen. Sie haben es verstanden.«

Ein Lächeln huschte über die blassen Züge der anderen Frau. »Danke.« Sie schaute auf die Papiere, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen. »Lieber du als ich«, meinte sie und deutete auf die Tabellenkalkulation und ihre Berechnungen. »Wann ist dein Termin?«

»In einer halben Stunde.« Delilah schnitt eine Grimasse, während sie mit einem Löffel eine Schicht Schaum von ihrem Kaffee schöpfte. »Ich bin nicht zuversichtlich.«

»Was? Das solltest du aber … Sieh mal …« Lucy nahm das Exemplar des Craven Herald aus dem Zeitungsständer im Eingang und begann, die Seiten durchzublättern, bevor sie die Zeitung wieder faltete und Delilah reichte. »Hier. Nimm die mit, und zeig dem alten Woolly, dass du berühmt bist!«

Von der oben liegenden Seite blickte Delilah ein alles andere als schmeichelhaftes Foto entgegen, daneben ein Artikel über die Speeddating-Veranstaltungen.

Delilah stöhnte.

»So schlecht ist es doch gar nicht. Jedenfalls kannst du mich für den Date-Abend im November eintragen«, sagte Lucy mit schüchternem Grinsen. »Ich kann gar nicht glauben, wie sehr mir der letzte gefallen hat, wenn man bedenkt …« Sie blickte auf das Foto eines jungen Mannes in Militäruniform, das über dem Tresen hing, dessen Rahmen mit einem schwarzen Band geschmückt war, und dann wieder auf ihre Schwägerin. »Danke, Dee, dass du mich zur Teilnahme gedrängt hast.«

In echter Bruncliffe-Manier tat Delilah ihren Dank mit einem Achselzucken ab. »Ich habe nur dafür gesorgt, dass genug Leute da sind.«

»Das wirst du bei der nächsten Veranstaltung nicht brauchen«, meinte Lucy und zeigte lachend auf die Zeitung. »Viel Glück auf der Bank! Ruf mich an, wenn du Zeit hast, und lass mich wissen, wie es gelaufen ist!« Sie drückte ihrer Schwägerin die Schulter und eilte dann zur Kasse zurück, wo sich eine Schlange gebildet hatte.

Delilah richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Artikel und das schreckliche Bild, auf dem sie wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht aussah. Dennoch, solange es die Kunden nicht abschreckte, war alles Werbung und würde vielleicht die Leute auf die Website bringen.

Sie ließ ihren Blick noch einmal über den Text schweifen. Und dann zu dem kleinen Artikel darunter. Sie merkte nicht, dass sie den Löffel fallen ließ und weißer Schaum in die Druckschrift sickerte. Sie spürte nicht, wie ihr Körper sich anspannte, auch nicht das scharfe Einatmen, das Lucy dazu veranlasste, besorgt hinüberzuschauen. Sie nahm nichts wahr außer den beiden Absätzen.

»Einheimischer Wanderer tot in den Tiefen von Gordale Scar aufgefunden.« Die Leiche war erst entdeckt worden, nachdem seine Familie die Rettungsdienste über sein Verschwinden informiert hatte. Da Delilah das tückische Terrain in dieser Gegend kannte, in der es jedes Jahr unzählige Unfälle gab, schockierte die Nachricht an sich sie nicht. Aber der Name des Wanderers … Martin Foster. Derselbe Name, der sich vor einem Monat bei der Dales Dating Agency registriert hatte.

Zwei ihrer Kunden waren innerhalb einer Woche gestorben. Zufall? Wahrscheinlich. Trotzdem zitterten ihre Finger, als sie den Artikel herausriss und in die Tasche steckte.

2

Die Nachmittagssonne schien auf Bruncliffe hinunter. Sie erhellte das imposante viktorianische Rathaus mit seinen nach vorn gehenden Giebeln und Sprossenfenstern und tauchte die Fenster des Immobilienmaklers, der Bank und der frisch renovierten Bäckerei in einen blendenden Glanz. Auf der Rückseite des Marktplatzes, auf einer schmalen Straße, die zu den Fjälls hochführte, war das Herbstlicht hingegen bereits im Schwinden begriffen. Tief am Himmel stehend und nicht imstande, über die dreistöckigen Steingebäude zu reichen, die diese immer schmaler werdende Straße säumten, hinterließ die Sonne an ihrer statt lange Schatten: Schatten, die von einer Seite zur anderen reichten und den Friseursalon mit seinem Schild, auf dem ein Schaf und eine Schere unter der Aufschrift »Shear Good Looks« zu sehen waren, ins Dunkel tauchten. Ebenso das schlanke Gebäude daneben, dessen Erdgeschossfenster mit »Zu Vermieten« beklebt waren, lag in einem dämmrigen Halbdunkel. Auch die Mauersteine des gegenüberliegenden Pubs – das älteste Pub in Bruncliffe und auch das kleinste – wurden von der wärmenden Sonne nicht mehr beschienen. In dieser verwahrlosten, schmucklos und kahl daliegenden Seitenstraße – einst die Durchgangsstraße der Stadt – schien das alte Gasthaus an diesem Nachmittag so mürrisch und schlecht gelaunt zu sein wie der Mann, der es führte.

»Wie war es?« Ein Pint Black Sheep wurde auf die Theke geknallt und eine fleischige Hand ausgestreckt, als die Frage gestellt wurde.

»Grauenvoll. Es ist nicht richtig, einen so jungen Mann begraben zu müssen.« Seth schüttelte den Kopf und fischte in seiner Tasche nach Münzen; er war nicht gewillt, dem Wirt des Fleece’ einen Penny mehr zu geben als geschuldet. Es war nicht nur wegen eines möglichen Wortspiels mit dem Namen des Pubs, dass Roger Murgatroyd insgeheim als Fleece – Abzocker – bekannt war. Der Ruf des Mannes, Wechselgeld nur widerwillig herauszugeben, ließ den Spitznamen mehr als passend erscheinen. Da er jedoch erstens von großem Körperumfang und zweitens unbeherrscht war, schien es unwahrscheinlich, dass er jemals Bekanntschaft mit diesem Kosenamen machen würde. Stattdessen wurde er üblicherweise als Troy gegrüßt.

»Bin überrascht, dass es nicht noch mehr gewesen sind«, kam die düstere Antwort Troys, als sich seine fette Faust um das dargebotene Geld schloss. »So, wie es um die Konjunktur bestellt ist.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Fenster zu beiden Seiten der Tür, durch die man die Geschäftsräume neben dem Friseursalon sehen konnte. »Nach allem, was ich höre, wird es nicht mehr lange dauern, bis die da endgültig leer stehen.«

Seth nahm einen Schluck Bier, um sich nicht verleiten zu lassen, etwas preiszugeben, und gestand sich ein, dass das Fleece ungeachtet der streitsüchtigen Natur seines Wirtes immer noch Garant für ein gutes Pint war.

»Ich meine, eine Partnervermittlung, um Himmels willen! Hätte gedacht, Delilah wüsste es besser, weil sie doch in dieser Gegend aufgewachsen ist.« Troy starrte weiter auf das Gebäude, in dessen erstem Stock das beleidigende Unternehmen untergebracht war. »Das ist wie der Kaninchenfutterladen in der Hauptstraße oder das schicke Café, das die Metcalfe-Witwe eröffnet hat. Es wird nicht lange dauern, bis auch die ihre Türen schließen. Für Leute wie sie ist hier kein Platz.«

Seth nahm noch einen Schluck. Er hatte keine Lust, den Mann auf der anderen Seite der Theke darüber aufzuklären, dass der Bioladen in Wirklichkeit zurzeit Gespräche über den Umzug in ein größeres Ladenlokal führte. Oder dass Lucy Metcalfes Peaks Patisserie gerade zwei weitere Mitarbeiterinnen eingestellt hatte. Er trank einfach sein Bier und überließ Troy das Wort – dieselbe Taktik, die er seit Jahrzehnten anwendete, um Informationen zu sammeln.

»Partnervermittlung! Pah!« Troy drehte sich zu dem alten Mann hin. »Würdest du eine in Anspruch nehmen?«

»Nö.«

»Kennst du jemanden hierherum, der würde?«

»Ich kann mir ein oder zwei vorstellen, die es sollten«, antwortete Seth mit einem Kichern.

»Also, mich wird man nicht dabei erwischen, wie ich einen Fuß in den Laden setze!«, meinte Troy.

Seth hob noch einmal sein Glas, weil keine Antwort nötig war. Schließlich war im ganzen Tal bekannt, dass der Hausherr des Fleece’ nur dank des irrsinnig heißen Sommers von 1995 verheiratet war.

In jenem Jahr, als die Sonne von einem klaren blauen Himmel herunterstrahlte, hatten sich die Einwohner von Bruncliffe in dem unnatürlich guten Wetter geaalt. Und das keiner eifriger als der eingefleischte Junggeselle Roger Murgatroyd, der kurz zuvor nach dem Ruhestand seines Vaters zum Wirt des Fleece’ ernannt worden war. Dass dessen Stimmungen eng mit den meteorologischen Verhältnissen zusammenhingen, war nach allgemeiner Auffassung der Grund dafür, dass er immer noch ledig war. Diese seltenen Umstände waren es, in denen sich die junge Kay Hartley unwissentlich wiederfand.

Sie war an einem freien Tag mit einer Gruppe von Mädchen von Skipton hergekommen; sie waren in dieser Seitenstraße von Bruncliffe gelandet und hatten das Fleece betreten. Als sie als Erste durch die Tür trat, war Kay für einen Moment von der plötzlichen Dunkelheit geblendet worden. Während sich ihr Sehvermögen dann langsam wieder einstellte, war sie sich der lebenssprühenden Persönlichkeit hinter dem Tresen bewusst geworden. Troy lachte so schallend, dass es seinen Kopf nach hinten riss, und pure Lebensfreude drang aus seinem Mund. Sie hatte keine Chance gehabt.

Am folgenden Wochenende war sie wiedergekommen. Am Wochenende darauf, bei weiter anhaltender Hitzewelle, hatte Troy – high vom Sonnenschein und etwas, das er für Liebe hielt – ihr leichtsinnigerweise einen Antrag gemacht. Kay hatte eingewilligt. Und einen Monat später, an ihrem Hochzeitstag, bewölkte sich der Himmel. Regen kam, und ihr Bräutigam zog sich wieder in seinen gewohnten Panzer aus Missmut zurück, denn sein fröhliches Alter Ego kam nur zum Vorschein, wenn die Sonne das Fleece vergoldete und das Quecksilber des Thermometers stieg. Was in Bruncliffe nicht so oft vorkam, wie man vielleicht denken mochte.

Auch zwanzig Jahre später hatte sich Kay Murgatroyd kein einziges Mal darüber beschwert, wie sich das Schicksal gegen sie verschworen hatte. Stattdessen war sie zum Erstaunen der Einheimischen in der Stadt und in ihrer Ehe geblieben; eine feste Größe hinter der Theke und ein Genie in der Küche. Und, um ehrlich zu sein, es war ihr Einfluss auf die Kneipe, der die Stammgäste bei der Stange hielt. Das galt sogar noch, als Troy sich weigerte, dem Wettbewerbsdruck nachzugeben und das verblasste Interieur, die beiden mit Blumenteppichen ausgelegten Räume und die mit Messing überladenen Wände aufzupolieren.

Das Zuschlagen einer Lieferwagentür und das Klappern von Leitern veranlasste Seth dazu, sich von seiner Betrachtung der Einrichtung des Pubs abzuwenden.

»Warum hat er da geparkt?«, brummte Troy und blickte böse auf das Fahrzeug vor dem Fenster. »Er nimmt das Licht weg.«

Mit der Neugierde, die Menschen in Kleinstädten zu eigen ist, wenn sie etwas außerhalb ihrer Routine erleben, beobachteten sie, wie der Fahrer seine Leitern über die Straße trug, sie gegen die Glasfront des gegenüberliegenden Gebäudes lehnte und dann zu seinem Lieferwagen zurückkehrte.

»Fensterputzer?«, mutmaßte Troy.

Seth schüttelte den Kopf. Da er die prekäre Finanzlage Delilah Metcalfes kannte, bezweifelte er, dass sie gutes Geld für etwas ausgeben würde, das sie selbst tun konnte. Außerdem würde sie, wenn sie denn die Fenster putzen lassen wollte, den Bruder des Ehemanns ihrer Cousine beauftragen, der ein florierendes Geschäft betrieb, indem er Leitern mit einem nassen Schwamm hoch- und runterflitzte.

Obwohl Seth, nachdem er die Bemühungen des Mannes erlebt hatte, eher vermutete, dass er seine Ausbildung auf einem Schiff gemacht hatte: schöne saubere Kreise und nicht eine Ecke angetastet. Vielleicht hatte Delilah also doch einen Außenseiter hinzugezogen; denn genau das war der Mann, der sich gerade in den weißen Lieferwagen beugte.

»Tachchen!« Rick Procters Stimme tönte aus der Tür, und eine große Gruppe trist gekleideter Leute von der Beerdigung folgte ihm ins Pub, darunter Ash Metcalfe und sein ältester Bruder Will sowie die stämmige Gestalt von Harry Furness, dem Viehauktionator. »Die erste Runde geht auf mich, zum Gedenken an Richard!«

Eine Schar von Leuten machte sich auf den Weg zur Theke und versperrte Seth den Blick aus dem Fenster. Mit dem Bier in der Hand stand er auf und ging zur Tür hinüber.

»Was ist los, Seth? Stinken wir oder was?«, rief Rick.

»Er ist neugierig«, erklärte Troy und deutete mit einem Nicken auf die Aktivitäten draußen, während er anfing, Pints zu zapfen. »Weißt du etwas darüber, Will?«

»Neuer Mieter«, lautete die lapidare Antwort.

»Welche Art von Geschäft?«, fragte Rick und beobachtete wie alle anderen den Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf die Leiter stieg.

Will zuckte mit den Achseln; der wortkarge Bauer war nie sehr gesprächig, schon gar nicht, wenn es um Familienangelegenheiten ging. »Delilah hat nichts erwähnt.«

»Ich glaube nicht, dass sie es weiß«, sprang sein jüngerer Bruder in die Bresche. »Es ist alles ein bisschen überstürzt passiert. Jemand hat vor zwei Tagen mit Taylor’s Kontakt aufgenommen und eine Mietvereinbarung für eine Art von Büro getroffen. Ich weiß nicht, wer oder was.«

»Wir werden es gleich erfahren«, meinte Seth, als der Mann, den sie alle anstarrten, damit begann, Buchstaben auf die Scheibe vor ihm zu kleben.

Es dauerte nicht lange. Drei einfache Initialen in Gold, ordentlich über das Fenster verteilt. Drei einfache Initialen, die, als der Schildermacher die Leiter herunterkam und den Zuschauern einen klaren Blick auf sein Werk ermöglichte, die Kneipe in Aufregung versetzten.

»Jesus Christus!«, murmelte Ash und schaute vom Erdgeschoss auf das darüber liegende Stockwerk und dann wieder zurück.

»Wartet, bis Delilah das sieht!«, rief Rick über die erhobenen Stimmen hinweg, die den Raum erfüllten.

Seth trank sein Bier aus und ging sich ein neues holen. Nicht, weil er durstig war. Sondern weil sich dieser Tag als ein Tag voller Ärger entpuppte und ein einziges Bier einfach nicht reichen würde.

Es hatte nicht lange gedauert, Bruncliffe hinter sich zu lassen, bis die Häuser den Feldern wichen, die ihrerseits steilen Talflanken Platz machten. Er war der Straße gefolgt, die sich zwischen den Hügeln hindurchwand, und die Sonne war von seinem Rücken gerutscht, als er in das dunklere Tal von Thorpdale fuhr. Hier endete der Asphalt recht bald, und an seine Stelle trat eine raue Piste, die die Royal Enfield ruckeln und unter ihm hüpfen ließ.

Er nahm das Tempo raus, denn er wollte das Motorrad nicht zu Schrott fahren, als er um Löcher in der Fahrbahn navigierte, die tief genug waren, um Fahrzeuge zu beschädigen. Niemand hatte den Versuch unternommen, sie zu füllen. Es war schlimmer als in seiner Erinnerung. Entweder hatten sie hier eine Reihe echt harter Winter gehabt, oder kein Mensch kümmerte sich mehr darum.

Ein Blick auf das Land zu beiden Seiten legte nahe, dass nicht nur der Fahrweg vernachlässigt worden war. Die Felder waren verwildert, kein Schaf zu sehen. An kaputten Scharnieren hängende Gatter, die Steinmauern, die das Land kreuz und quer durchzogen, stellenweise zerbröckelt. Das Ganze machte nicht den Eindruck eines florierenden Hofs. Aber andererseits war es hier schon nicht gut gelaufen, als er weggegangen war; dafür hatte die Maul- und Klauenseuche gesorgt. Trotzdem – das hatte er nicht erwartet.

Er stoppte, ließ den Motor im Leerlauf und schaute das Tal hoch: ein kleines Haus, das in der Ferne auf einem schmalen Stück Land zu sehen war, zwei Bäche, die zu seinen beiden Seiten flossen. Dahinter die aufragende Masse des Fjälls, die sich über das Ganze erhob.

Twistleton Farm.

Mit einer unguten Vorahnung gab er Gas und schlug den Heimweg ein.

Zurück in Bruncliffe, in einem kargen Raum mit Blick auf den Marktplatz, wie es sich für einen umsichtigen Mann ziemte, hatte Delilah Metcalfe auch kein gutes Gefühl.

»Delilah, meine Liebe«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch und drehte den Computerbildschirm zu ihr hin. »Die Zahlen lügen nicht. Du hast stark überzogen. Du versuchst, zwei Hypotheken zu bedienen, und es kommt einfach kein Geld rein. Als dein Filialleiter und Freund deines Vaters bin ich zutiefst besorgt. Es wird etwas passieren müssen!«

»Du scheinst es nicht zu verstehen«, erklärte sie und versuchte, ihre Frustration zu überspielen, als sie ihm die sorgfältig vorbereiteten Dokumente über den Schreibtisch zuschob. »Es ist ein Internet-Start-up. Natürlich wird es nicht sofort Geld einbringen. Aber diese Zahlen belegen, dass es wächst.«

»Alles, was sie belegen, ist, dass es viele einsame Menschen in den Dales gibt«, sagte er mit einem Seufzer. »Ich bin jedoch nicht davon überzeugt, dass die Gründung einer Partnervermittlungsagentur ein gangbarer Weg ist, deinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Oder ein Geschäft zu führen. Oder ein Geschäft zu betreiben. Bisher machst du mir nicht gerade Mut.« Er tippte auf die vor ihm liegenden Papiere. »Die Dales Dating Agency geht in ihr drittes Jahr, und Gewinn steht weiterhin aus. Tatsächlich schluckt sie das wenige Geld, das du mit viel Mühe aus dem Website-Design-Geschäft herausholst. Wenn das so weitergeht, werden beide Unternehmen nicht überleben. Und dein Haus auch nicht, junge Dame.«

Delilah senkte den Blick, als eine vertraute Panik in ihrem Magen zu wühlen begann. Schulden. So viele! Das hatte sie sich nicht vorgestellt, als sie – frisch verheiratet und schwer verliebt – mit ihrem Mann ein Unternehmen gegründet hatte. Dabei hatten sie es gut getimt: Das Internet expandierte damals schnell, Breitband ermöglichte größere und aufwendigere Websites, die für den Handel schnell unerlässlich wurden. Und Delilah mit ihrem Talent für die Programmierung, ihrer Leidenschaft für die IT und ihrer mehrjährigen Tätigkeit in der Wirtschaft, war optimal dafür gerüstet, das Beste aus der Situation zu machen. Dazu ein Partner mit Wissen und Können in Grafikdesign – die Zukunft für Bruncliffes erstes Unternehmen für Website-Entwicklung hatte rosig ausgesehen.

Und das war sie auch gewesen. Sie hatten sich einen soliden Kundenstamm und einen guten Ruf aufgebaut. Dann begann alles in die Binsen zu gehen. Innerhalb weniger Jahre war ihr Bruder Ryan im Kampf gefallen, und ihr Mann hatte das Geschäft in den Sand gesetzt, während sie vom Kummer überwältigt war, bis schließlich ihre Ehe in die Brüche ging. Ironischerweise geschah Letzteres genau zu dem Zeitpunkt, als sie die Partnervermittlung auf den Weg brachte.

Am Ende war Delilah stur gewesen und hatte sich geweigert zu akzeptieren, dass es das Beste wäre, die beiden Unternehmen zu schließen und alles hinter sich zu lassen, so wie ihr Mann die Beziehung hinter sich gelassen hatte. Aber der Gedanke, sowohl in der Liebe als auch im Geschäftsleben zu scheitern, war einfach zu viel gewesen. Ebenso hatte die Vorstellung, der Stadt noch mehr Gesprächsstoff zu liefern, sie mit Abscheu erfüllt. Also hatte sie das Haus mit der Hypothek und den Geschäftsräumen in Beschlag genommen, was noch mehr Aufwand erforderte. Sie hatte den Webdesign-Dienst und die Dales Dating Agency auf ihren Namen übertragen lassen. Und seitdem beschritt sie langsam den Weg in die Insolvenz.

Sie lief Gefahr, alles zu verlieren, wenn sie die Wende nicht bald schaffte. Oder wenn sie, wie der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs vorschlug, ihre Verluste nicht reduzierte und sich auf das Unternehmen konzentrierte, das profitabler war. Aber etwas hielt sie zurück. Ein Teil davon war Stolz – die Tatsache, dass die Partnervermittlung ihre Idee war, gegründet in den dunklen Monaten vor dem Scheitern ihrer Ehe, und ihr einziger Antrieb, als ihr Leben in die Brüche ging. Doch im Grunde genommen war sie davon überzeugt, dass sie funktionieren würde, egal, was die Einheimischen sagten. Oder der Mann gegenüber.

»Ich weiß, dass es nicht gut aussieht«, räumte sie ein und deutete auf die Tabelle, die ein erfolgloses Unternehmen in schonungslosen Zeilen und Spalten darstellte. »Aber einiges lässt sich dadurch erklären, dass ich Speeddating-Veranstaltungen eingeführt habe. Es hat ein wenig Aufwand gekostet, um sie auf den Weg zu bringen, aber sie werden immer beliebter, und inzwischen habe ich sogar Leute, die von Reeth und Leyburn kommen, um daran teilzunehmen. Ich habe auch einige Aufträge für Website-Designs erhalten und zudem ab heute das Büro im Erdgeschoss vermietet. Alles, was ich brauche, ist ein wenig mehr Zeit …«

Norman Woolerton fuhr sich mit der Hand über den kahl werdenden Kopf und lehnte sich zurück, um die Worte aufzunehmen, die er bei unzähligen Gelegenheiten in diesem kleinen Büro mit Blick auf das Herz von Bruncliffe gehört hatte. Das dachten sie immer, die erfolglosen Unternehmer, die beteuerten, dass ihr Produkt nur einfach die richtige Nische finden müsse; die Bauern, die alles auf die nächste Ablammsaison setzten; die Existenzgründer, die gewillt waren, gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen.

In den mehr als vierzig Jahren, in denen er in der einzigen verbliebenen Bank der Stadt arbeitete – und erst recht seit dem Crash –, hatte er sie alle gesehen. Und er musste sie noch jahrelang in der Stadt sehen, wenn sie versuchten, ihr Leben nach dem Bankrott wieder aufzubauen. Die Tochter von Ted Metcalfe wollte er nur sehr ungern denselben Weg beschreiten lassen, nicht nach dem, was die Familie in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Außerdem war er in gewisser Weise persönlich involviert, denn seine Frau war Teds Cousine und würde es ihm ewig vorhalten, wenn er eine Verwandte in den finanziellen Ruin trieb.

Aber … in letzter Zeit hatte es eine Menge »aber« gegeben. Das verfluchte Internet war die Ursache. Norman konnte ein traditionelles Unternehmen beurteilen, indem er ein Auge auf die Konten warf. Doch seine Instinkte, die das jahrelange Leben am selben Ort und das schwierige Verständnis der Geschäftswelt in Bruncliffe und Umgebung geschärft hatten, waren weit weniger verlässlich, wenn es ums Internet ging. Das Netz öffnete die Welt des Handels jenseits der ihm so gut bekannten Fjälls und Täler. Und was dieses Geschäft im Besonderen betraf …

Eine Partnervermittlung! Bei der Ankündigung des Projekts hatte es in der Stadt die wildesten Spekulationen gegeben. Die Skeptiker hatten es als weitere Spielerei einer Frau abgetan, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Die Pragmatiker hatten auf ein Internet hingewiesen, das bereits von Websites für Singles überquoll. Und die Boshafteren hatten sich über die Vorstellung von Delilah Metcalfe als Ratgeberin in Sachen Liebe lustig gemacht.

Sie war die Person, der man am wenigsten vorwerfen konnte, eine Romantikerin zu sein. Sie hatte einen Kopf voller Computercodes, eine forsche Art, weil sie das jüngste Kind unter fünf älteren Brüdern war, eine peinliche Gleichgültigkeit gegenüber Sentimentalität. Dazu kam ein rechter Haken, den ihr ältester Bruder Will mit seiner kurzlebigen Boxerkarriere an sie weitergegeben hatte. Aber vielleicht hatte sie auch Geschäftssinn.

Der Filialleiter nahm die Papiere, die sie für ihn erstellt hatte, und sah sich die Zahlen noch einmal an. Delilah spürte, dass er unschlüssig war, und lehnte sich nach vorne.

»Ich kann es schaffen, Onkel Woolly«, sagte sie. Im verzweifelten Versuch, seine Zustimmung zu bekommen, rutschte der Name für den Bankier heraus, der ihren Kindertagen entstammte. »Die Website wurde speziell für Landwirte eingerichtet, aber es hat sich herumgesprochen, und ich bekomme Leute aus den ganzen Dales. Menschen, die ihr ganzes Leben lang hier gelebt haben, aber keine Gelegenheit hatten, jemanden kennenzulernen. Oder doch, und es ging nicht gut aus, und jetzt wollen sie es noch einmal versuchen. Die Agentur richtet sich an die Leute aus den Dales. Menschen wie ich. Ich kenne sie. Und dieses Geschäft ist für sie gemacht. Es wird Erfolg haben. Wenn du nur dafür sorgen könntest …«

Mit einem Kopfnicken schnitt er ihr das Wort ab. »Sechs Monate. Ich gewähre dir eine Verlängerung deines Überziehungskredits um weitere sechs Monate. Aber wenn sich in dieser Zeit das Geschäft nicht wesentlich verbessert, dann tut es mir leid. Dann muss ich die Schritte einleiten, die sich keiner von uns wünscht.«

Bevor er protestieren konnte, war sie auf der anderen Seite des großen Eichenschreibtischs, der fast ein halbes Jahrhundert lang sein Bollwerk gegen die Darlehensnehmer von Bruncliffe gewesen war, und hatte ihm einen Kuss auf die bärtigen Wangen gedrückt.

»Danke! Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich!«

»Das will ich hoffen!«, entgegnete der Filialleiter schroff, während er seine Krawatte zurechtrückte und an der Tastatur vor sich herumfuchtelte. »Und jetzt raus mit dir! Ich habe noch eine weitere Besprechung.«

Delilah sammelte ihre Papiere ein und war zur Tür hinaus, bevor er seine Meinung ändern konnte. Aber ihre Euphorie war nur von kurzer Dauer. Als sie auf dem Nachhauseweg den Hügel hinter dem Rathaus hochging, machte sich die Angst vor der Zukunft in ihr breit. Dabei konnte sie noch gar nicht wissen, dass Ärger aus der Vergangenheit bevorstand.

Verwahrlost und verlassen. Der Hof mit Maschinenresten zugemüllt. Schieferplatten auf dem Dach verrutscht, abgeblätterte Farbe an den Fenstern, ein paar zerbrochene Scheiben. Der Hühnerstall, den sie im Jahr vor ihrem Tod gebaut hatten, nichts weiter als ein Durcheinander verrottender Bretter. Und die steilen Flanken der Fjälls, die das kleine Bauernhaus in frühen Schatten tauchten, ließen das Ganze noch trostloser wirken.

Er nahm den Helm ab, warf ihn neben seinen Rucksack auf den Boden und näherte sich mit Herzklopfen in der Brust der rückseitigen Veranda. Als er letztes Mal hier gewesen war, war es nicht so gut gelaufen.

»Papa?« Er klopfte an und drückte gleichzeitig gegen die Tür, die sich unter der Berührung quietschend öffnete, und trat in die Küche. »Papa? Bist du zu Hause?«

Blöde Frage. Wo sollte der alte Mann sonst sein?

Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Geruch ihn erreichte. Schimmel mit einem Hauch von etwas anderem. Schnaps? Ein bellendes Lachen entwich seinem trockenen Hals; er blickte sich um und nahm den Anblick der Flaschen in sich auf, die die kleine Arbeitsplatte bedeckten. Die zerdrückten leeren Dosen auf dem Tisch. Und die Spüle. Voller Pfannen und Schüsseln, auf denen dicke Schimmelpilze blühten.

Es war schlimm. Tatsächlich schlimmer, als er erwartet hatte.

»Papa?«, rief er noch einmal, und das Wort kam mit einem für ein leeres Haus typischen Echo zu ihm zurück, als er den Kopf ins Wohnzimmer streckte.

Spinnweben und eine dicke Staubschicht auf jeder Oberfläche. Der Stuhl seines Vaters, durchhängend und abgenutzt, Brandflecken von Zigaretten auf den Lehnen. Der bunte Flickenteppich, auf dem sie es sich im Winter immer neben dem Feuer mit ihm gemütlich gemacht hatte, das große Buch mit den Bibelgeschichten ein schweres Gewicht auf ihrem Schoß. Der Teppich fiel auseinander, der Stoff franste aus, kahle Stellen, wo die Füße seines Vaters so oft und lange geruht hatten. Er ging zur Anrichte hinüber, öffnete die Schranktüren, hinter denen nackte Regale zum Vorschein kamen, wo einst das beste Porzellan gestapelt gewesen war. Auch die Schublade, früher mit Sheffields feinstem Besteck gefüllt, war leer, der Filz schäbig, altersfleckig und von Mäusedreck übersät.

Alles war genauso, wie er es verlassen hatte. Nur schmutziger.

Er wandte sich zum Gehen und bemerkte die leere Stelle auf dem Kaminsims. Ihr Foto. Weg.

»Papa? Bist du da?«, fragte er mit geringerer Gewissheit, als er zur Treppe ging. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, ängstlich gespannt, was er vorfinden würde.

Leere Zimmer. Sein eigenes, kleiner als in seiner Erinnerung. Eine muffige Bettdecke, die auf dem Einzelbett ausgebreitet war und deren verblasstes Muster er wiedererkannte. An den Wänden nichts. Zu dieser Zeit hatte er noch keine Idole gehabt. Nichts, worauf man stolz sein konnte. Eine kleine Sammlung von Taschenbüchern. Hauptsächlich Krimis, was ironisch war. Und der grobe Schreibtisch, den er im Holzbearbeitungsunterricht angefertigt und nie benutzt hatte, ein Schulprojekt, das nicht in sein Leben auf dem Bauernhof gepasst hatte.

Es schnürte ihm die Brust zusammen, als die Vergangenheit sich herandrängte. Er warf einen flüchtigen Blick durch die offene Tür des Badezimmers, schreckte vor dem Geruch kaputter Abflüsse zurück und betrat das vordere Schlafzimmer. Bett ungemacht, ein Gewirr aus Laken, die Bettdecke auf der nackten Matratze. Der Schrank stand offen, zur Hälfte leer, Kleiderbügel auf dem Boden verstreut. Die andere Hälfte war noch mit ihrer Kleidung gefüllt. Ein paar Kleider. Blusen. Ein Hut auf dem obersten Regalbrett – er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals getragen hatte. Er streckte die Hand aus, um seine Finger über die Stoffe wandern zu lassen, und zog sie angesichts der Feuchtigkeit, auf die sie stießen, hastig zurück.

Was zum Henker?

So schlimm war es nie gewesen.

Ein Knarren von unten; die Hintertür.

Mit zwei schnellen Schritten durchquerte er den Raum und ging wütend die Treppe hinunter. So wütend wie an dem Tag vor vierzehn Jahren, als er gegangen war.

»Papa!«, rief er. »Was ist hier los?«

Die kalte Berührung von Metall an seinem Kinn brachte ihn auf der unteren Stufe abrupt zum Stehen. Wie an dem Tag, an dem er weggegangen war, starrte er in den Doppellauf einer Schrotflinte.

3

Punkt vier Uhr. Keinen Augenblick früher. Der knickrige Arsch hatte sie warten und Servietten falten lassen, während die Sorge ihr ein Loch in den Bauch fraß und Delilahs Anruf unbeantwortet blieb. Hätte sie den Job nicht gebraucht, hätte Elaine Bullock Titch gesagt, wo er ihn sich reinschieben konnte. Aber ihre Teilzeitstunden als Dozentin für Geologie reichten nicht aus, um ihre Lebenshaltungskosten und die für ihre Arbeit so wichtigen Exkursionen zu decken. Letztes Jahr Island, die Vogesen das Jahr davor. Und, falls sie das Geld zusammenbekam, Monument Valley im nächsten September. Also hatte sie sich auf die Zunge gebissen, mit ihrer Arbeit weitergemacht und die Uhr im Auge behalten. Als der kleine Zeiger die Vier erreichte, hatte sie die Schürze heruntergerissen und das Weite gesucht.

Sie schnappte sich ihr Fahrrad hinter dem Café, hängte sich ihre Tasche über die Brust und begann zu radeln. Den ganzen Weg bergab bis in die Stadt, und sie hatte nicht vor, die Bremsen auch nur einmal anzufassen. Es handelte sich schließlich um einen Notfall.

»Ganz ruhig!« Seine Hände reckten sich in die Luft, während die Flinte unbeirrt gegen seine Brust drückte. »Ich bin’s.«

George Capstick, ein Mann mittleren Alters, dessen Augen ihn mit einer seltsamen Intensität fixierten, hatte sich nicht sehr verändert. Obwohl dies das erste Mal war, dass er eine Waffe auf seinen Nachbarn gerichtet hielt.

»Ich bin’s, George.«

»Du bist wieder da.« Keine Frage. Eine Feststellung. Auch keine Überraschung, denn George mochte keine Überraschungen.

»Ich bin wieder da.« Dennoch drückte die Waffe jetzt gegen die weiche Unterseite seines Kinns.

George blinzelte langsam. Verarbeitung, so hatte Papa es genannt. Viele Hiesige hatten eine gemeinere Art, es zu beschreiben. »Das ist das Motorrad deines Vaters da draußen.«

Er nickte; die seltsame Gesprächsführung war ihm nicht unbekannt. »Er hat es mir geschenkt.«

Ein Kopfschütteln. »Du hast es gestohlen. 1960 Royal Enfield Bullet 500. Die Maschine gehört deinem Vater.«

Er diskutierte nicht. Hatte keine Lust dazu, erst recht nicht, weil die Waffe noch auf ihn gerichtet war. »Ich habe es zurückgebracht. Findest du nicht, du könntest die Flinte runternehmen?«

Ein weiteres langsames Blinzeln. »Geht nicht. Du bist unbefugt eingedrungen.«

Er sah ihn ungläubig an. »Unerlaubt eingedrungen? Das ist mein Zuhause, George! Weißt du noch? Papa und ich leben hier.«

George schüttelte noch einmal den Kopf, und der Druck auf die Waffe wurde stärker. »Nicht mehr dein Zuhause. Es gehört jetzt Mr Procter. Und er bezahlt mich dafür, es zu bewachen.«

»Rick Procter? Du meinst …?« Er sah sich um. Leer. Nicht nur für diesen Tag, sondern aufgegeben. »Ihm gehört die Farm? Seit wann?«

George zuckte die Achseln, trat zurück und senkte die Waffe. »Entschuldige. Du musst mit deinem Vater reden.«

Wut flirrte durch seine Adern. »Das habe ich vor. Sobald du mir sagst, wo ich ihn finden kann!«

Sie war die Straße heruntergerast, hatte die Kirche hinter sich gelassen, war an einem abbiegenden Auto vorbeigeflitzt und mit einem Sprung auf dem Bürgersteig gelandet, was entlangschlendernde Fußgänger zu Unmutsäußerungen veranlasst hatte. Jetzt ließ sie das Fahrrad am Geländer stehen und rannte die drei Stufen ins Café hinauf und stieß frontal gegen etwas Massives.

»Pass doch auf!« Rob Harrison, der Steinmetz, der nicht weniger gut gebaut war als sein Bruder Titch, fing Elaine auf, als sie von etwas abprallte, was die Geologin in ihr nur als korundähnliche Brust bezeichnen konnte – Korund mit einem Härtegrad von neun war eines ihrer Lieblingsminerale –, sodass ihre Brille verrutschte und ihr Kopf wackelte. »Wo brennt’s denn?«

»Entschuldige, Rob. Notfall!« Sie wand sich aus seinem Griff und hastete zur Theke. »Lucy … Lucy!«

Ihre Rufe ließen die Inhaberin der Peaks Patisserie mit Mehl an den Händen aus der Küche stürzen. »Elaine, was um Himmels will–?«

»Delilah – ich muss mit ihr sprechen! Sie geht nicht ans Telefon, wo steckt sie?«

Lucy Metcalfe blickte auf ihre Uhr. »Höchstwahrscheinlich in der Bank. Sie hatte ein Gespräch mit …

Die Tür schlug zu. Elaine Bullock war schon weg, raste mit ihrem Fahrrad über den Marktplatz und ließ die Cafébesitzerin und den Steinmetz verwundert und ratlos zurück.

Zwei in Fetzen gerissene Kissen. Ihre alten Laufschuhe, die sie blöderweise bei ihm auf der hinteren Veranda gelassen hatte, zerkaut und zerfleischt. Und auf dem Glas waren überall Pfotenabdrücke.

Viel besser als erwartet, dachte Delilah, als sie den Schaden begutachtete und dem Täter eine Leine anlegte. Sie verließ das Häuschen durch die Hintertür und überquerte den winzigen Hof, der aus der Höhe über die Dächer von Bruncliffe hinausblickte. Dann bog sie rechts aus dem Tor auf die Crag Lane ab, um den Rückweg in die Stadt anzutreten, Tolpuddle an ihrer Seite.

»Trennungsangst«, so beschrieben es die Experten. In dem Moment, wenn Delilah außer Sichtweite war, rastete ihr Hund aus. Was, wenn er ein Pudel oder ein Dackel gewesen wäre, vielleicht kein solches Problem dargestellt hätte. Aber bei Tolpuddle …

Sie blickte auf den großen grauen Hund hinunter, der fröhlich neben ihr hertrottete. Am Anfang war alles gut gewesen, und er hatte sich problemlos in ihr Leben eingefügt. Aber als die Streitereien begannen, schnell gefolgt von der Trennung und dann der Scheidung, hatte Tolpuddle begonnen, Anzeichen von Stress zu zeigen, sobald Delilah nicht in der Nähe war. Deshalb war sie nach Hause geeilt, um ihn abzuholen, bevor sie zu ihrem neuen Mieter fuhr. Entweder das oder das Haus im Chaos vorfinden.

Sie seufzte. Ein kleines, mit einer hohen Hypothek belastetes Häuschen, ein gleichermaßen belastetes Geschäftslokal, ein in Schwierigkeiten steckendes Unternehmen für Website-Design und eine Partnervermittlungsagentur, die noch auf wackligen Füßen stand. Dazu ein Weimaraner mit Angstzuständen – wenngleich er auch das einzig Gute war, das ihre Scheidung mit sich gebracht hatte. Kein Wunder, dass Onkel Woolly Bedenken hinsichtlich ihrer Zukunft hatte. Kein Wunder, dass es ihr in diesen Tagen immer schwerer fiel zu lächeln.

Der Hund drückte sich an sie, als ob er ihr Unbehagen spürte.

»Das kriegen wir schon hin, du bekloppter Hund!« Sie kraulte seinen Kopf und hoffte, dass sie recht hatte. Jetzt, da endlich jemand das Büro im Erdgeschoss mietete, käme zumindest ein bisschen garantiertes Geld rein. Die Hypothek würde das zwar nicht decken, aber es war ein Anfang.

Leichteren Schrittes ging Delilah Metcalfe weiter den Weg entlang; zu ihrer Linken ragte der Felsvorsprung auf, der ihm seinen Namen gab, zu ihrer Rechten bot sich ihr ein Blick über die Stadt. Sie liebte es, hier oben zu leben, über allem. Auch wenn der Weg nach Hause manchmal anstrengend war, besonders nach einem Besuch im Pub. Nicht dass sie jetzt noch oft etwas trinken ging – Geldmangel und ein sensibler Hund waren wirksame Abschreckungsmittel.

Als sie sich dem steilen Abstieg von Crag Hill zum Marktplatz näherte, merkte sie, wie ihre Gedanken wieder in die Verzweiflung abglitten. Sie beschloss, noch etwas weiter auf der höher gelegenen Straße zu bleiben, bevor sie hinunterstieg. So hätte sie mehr Zeit im letzten Sonnenschein, und sie war froh über die Wärme auf ihrem Gesicht.

»Das kriegen wir schon hin«, sagte sie noch einmal. Diesmal mit mehr Selbstvertrauen.

»Sie ist nicht hier, Liebes.« Mrs Pettiford deutete auf das leere Büro im hinteren Teil der Bank, bevor sie sich wieder dem erröteten Gesicht zuwandte, das schwer über die ganze Trennwand atmete.

»Wann ist sie gegangen?«

»Oh, das muss mindestens dreißig Minuten her sein. Sie wollte nach Hause«, fügte Norman Woolertons Sekretärin hinzu und bemerkte die heißen Hände, die jetzt auf dem Glas lagen.

»Danke, Mrs P.« Elaine Bullock eilte wieder zur Tür hinaus.