Mord mit Heimtücke - Julia Chapman - E-Book
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Mord mit Heimtücke E-Book

Julia Chapman

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Beschreibung

Als Mrs Shepherd an einem kalten Dezembermorgen die Dales Detective Agentur betritt, felsenfest davon überzeugt, dass jemand sie umbringen will, tut Samson O’Brien ihre Befürchtungen als die Gespinste einer verwirrten alten Dame ab. Doch im Altersheim des Ortes häufen sich plötzlich merkwürdige Vorfälle, und so fragt er sich, ob an der Sache nicht doch etwas dran sein könnte. Erneut müssen Samson und Delilah zusammenarbeiten, um dem Schurken, der den alten Menschen Böses will, das Handwerk zu legen. Viel Zeit bleibt ihnen dabei nicht ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1234567891011121314151617181920212223242526Danksagung

Über dieses Buch

Als Mrs Shepherd an einem kalten Dezembermorgen die Dales Detective Agentur betritt, felsenfest davon überzeugt, dass jemand sie umbringen will, tut Samson O’Brien ihre Befürchtungen als die Gespinste einer verwirrten alten Dame ab. Doch im Altersheim des Ortes häufen sich plötzlich merkwürdige Vorfälle, und so fragt er sich, ob an der Sache nicht doch etwas dran sein könnte. Erneut müssen Samson und Delilah zusammenarbeiten, um dem Schurken, der den alten Menschen Böses will, das Handwerk zu legen. Viel Zeit bleibt ihnen dabei nicht …

Über die Autorin

Julia Chapman ist das Pseudonym von Julia Stagg. Sie lebt in den wunderschönen Yorkshire Dales im Norden Englands. Wenn sie nicht schreibt, erkundet sie zu Fuß oder mit dem Rad ihre Umgebung, die wichtiger Bestandteil ihrer Krimis ist – allen voran die kleinen Dörfer und Ortschaften mit ihren liebenswerten Einwohnern.

Kriminalroman

Aus dem Englischen übersetzt vonAxel Franken

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Julia Chapman

Titel der englischen Originalausgabe: »Date With Malice«

Originalverlag: Pan Books, an imprint of Pan Macmillan

20 New Wharf Road, London N1 9RR

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Titelillustration: © Kmannn; VikaSuh; Laralova; Julia August; Pavlo S; KateChe; the8monkey; BuaLily; M70; Andrew Roland; Stock Up; Perutskyi Petro; Yeti studio; Joe Dunckley; Ester Dobiasova/Shutterstock

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0976-7

luebbe.de

lesejury.de

In Erinnerung an Sandie George,eine Lady, die Bücher liebte.(Ich glaube, du hättest auch Bruncliffe geliebt, Sandie!)

1

»Sie will mich umbringen!«

Samson O’Brien widerstand dem Drang, den Kopf verzweifelt in die Hände sinken zu lassen. Er umklammerte seinen Kugelschreiber so krampfhaft, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten, und lächelte die ältere Dame an, die ihm gegenübersaß.

»Mrs Shepherd«, begann er, »ich glaube wirklich ni–«

»Doch, will sie! Ich weiß, dass sie es will!«, unterbrach ihn die alte Dame. »Ich habe sie gesehen, verstehen Sie? Und jetzt will sie, dass ich verschwinde.«

Er versuchte es noch einmal. »Mrs Shepherd, Sie können nicht einfach so jemanden beschuldigen, ohne …«

»Einen Beweis?« Zwei gebrechliche Hände wischten seine Einwände fort. »Es ist Ihre Aufgabe, den Beweis zu erbringen! Dafür will ich Sie ja engagieren, junger Mann.« Sie lächelte, ein zartes Gesicht unter lockigem weißen Haar, dessen Augen hinter ihrer Brille verschwammen, und beugte sich zu ihm hin. »Sie wurden mir wärmstens empfohlen. Ich habe alles über den Vorfall in High Laithe gehört. So eine schreckliche Sache. All die toten Menschen! Und das Feuer! Arme Lucy. All das zu erleiden, nach dem, was sie durchgemacht hat. Oh, und ich habe auch das von Ihnen in Ihren Boxershorts gehört …« Ein verträumter Ausdruck legte sich auf ihre Miene, ihr Lächeln wurde noch breiter, und Samson spürte, wie seine Wangen zu brennen begannen.

Er bezweifelte, dass der Tag noch schlimmer werden konnte.

Was für ein Morgen! Ging es überhaupt noch besser? Delilah Metcalfe erreichte die Kuppe des Fjälls; ihr Atem kam in kurzen Stößen, die die Dezemberluft durchzogen. Mit brennender Lunge blieb sie stehen, Oberkörper vorgebeugt, Hände auf den Oberschenkeln, während sie die vor ihr liegende Aussicht begierig in sich aufnahm.

Der Malham Tarn funkelte blau, als die Sonne zögerlich über den Horizont stieg. In der Ferne erhob sich die dunkle Masse von Darnbrook Fell aus dem rotstichigen Moor, und über allem wölbte sich ein klirrend klarer Himmel, der von kommender Kälte kündete.

An ihrem linken Bein kam eine schwere Wärme zur Ruhe.

»Wie geht’s, alter Junge?« Sie tätschelte den vertrauten grauen Kopf ihres Weimaraners. »Nicht zu viel für dich?«

Tolpuddle lehnte sich an sie und hechelte ein wenig. Er war gut gelaufen. Wenn man die Umstände bedachte.

In Anbetracht dessen, dass er erst vor einem Monat eine Stichwunde davongetragen hatte.

Sie versuchte, nicht daran zu denken. An das Feuer im Wohnwagen ihrer Schwägerin Lucy und die irrwitzige Jagd nach einem Killer, an die armen Menschen, die ermordet worden waren. Mit einem tiefen Atemzug richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf den kleinen Bergsee. Es war vorbei. Und Tolpuddle war wieder bei ihr und lief mit ihr.

»Den Nachhauseweg lassen wir ruhig angehen, ja?«

Der Hund betrachtete sie ernst, seine bernsteinfarbenen Augen glänzten – keinerlei Anzeichen für Schmerzen. Herriot, der Tierarzt, hatte ihn für fit genug befunden, sie wieder zu begleiten, auch wenn sie selbst sich nicht sicher gewesen war. Nicht, dass sie Tolpuddle nicht wieder draußen auf den Fjälls haben wollte: Es war eine Qual, jeden Morgen ohne ihren Kameraden loszulaufen, ohne den großen Schatten, der sich vor ihr erstreckte und sie weiterzog.

Ebenso qualvoll war es gewesen, allein von einem Lauf zu ihrem Häuschen oben auf dem Hügel in Bruncliffe zurückzukehren, in dem ängstlich ihr Hund wartete. Für gewöhnlich mit irgendeinem Kissen oder Schuh oder etwas, was sie unwissentlich in Reichweite seiner Pfoten zurückgelassen hatte, vor sich, und das dann in Fetzen neben ihm lag.

Trennungsangst. Sie hatte einen Weimaraner, der von Trennungsangst geplagt wurde. Dazu zwei verschuldete Unternehmen, einen Bankdirektor im Nacken, einen Ex-Ehemann und einen problematischen Mieter, mit dem sie sich ihr Bürogebäude teilte – das alles im zarten Alter von neunundzwan-zig.

Nach dem letzten Monat schien all das nicht mehr von Bedeutung zu sein. Sie war einfach nur froh, dass sie und Tolpuddle noch am Leben waren.

»Dann komm schon!« Delilah wandte sich mit der Zuversicht einer Einheimischen von der Aussicht ab, in dem Wissen, dass all dies, wenn auch anders, noch da sein würde, wenn sie am nächsten Tag wieder laufen ging. Und am Tag danach. Und am Tag darauf. Als gebürtige Einwohnerin der Yorkshire Dales fühlte sie sich als ein Teil dieser Landschaft, deren Familiengeschichte mit dem Gewebe der sie umgebenden Hügel und Täler verknüpft war. Sie hatte Mitleid mit jedem Menschen, der nicht auch Teil davon war.

»Wer zuletzt unten ist, kauft das Frühstück!«, rief sie und rannte los.

Der Hund bellte und lief ihr hinterher. Es dauerte nicht lange, bis er sie mit seinen raumgreifenden Schritten überholt hatte und sie immer schneller bergab in Richtung Zuhause zog.

»Kleine Dinge – Dinge, die niemandem auffallen würden – sie sind auf einmal nicht mehr da. Meine Uhr. Artys Manschettenknöpfe. Clarissas Kopftuch … Kleine Dinge. Aber ich merke es. Ich sehe sie. Wie sie spät am Abend durch die Flure schleicht …«

»Haben Sie Ihre Uhr als vermisst gemeldet, Mrs Shepherd?«, fragte Samson im Bemühen, den unsteten Redefluss der Frau einzudämmen.

»Aber nein!« Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Warum hätte ich das sollen? Es war ja nicht meine Uhr, die verschwand.« Sie zog den Ärmel ihres Mantels zurück, um eine zierliche goldene Uhr an ihrem zarten Handgelenk zu enthüllen. »Sie gehörte Edith.«

»Aber Sie sagten gerade …« Samson merkte, wie ihn die Energie verließ. Nachdem er Milch fürs Frühstück geholt hatte, war Samson um kurz vor acht zurückgekommen, und da hatte sie auf der Türschwelle gewartet. Und jetzt hielt sie sich schon seit dreißig Minuten in seinem Büro auf. Es war eine halbe Stunde seines Lebens gewesen, die ihn auf Jahre auslaugen würde.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Fenster und die großen Initialen D D A, die das Glas überspannten, und ertappte sich dabei, wie er betete, dass jemand hereinplatzen und ihn bitten würde, sein Liebesleben in Ordnung zu bringen. Das war in den letzten Wochen einige Male passiert, wenn ahnungslose einsame Herzen die neu gegründete Dales Detective Agency mit der Dales Dating Agency verwechselt hatten – ein leicht nachvollziehbares Missverständnis, da die beiden Unternehmen sich doch im selben Gebäude befanden und dieselben Initialen aufwiesen. Aber während ihn das zuvor irritiert hatte, wäre es jetzt eine willkommene Ablenkung von dem verwirrten Geschwafel der alten Dame ihm gegenüber gewesen.

Er fand, dass es an der Zeit war, entschieden aufzutreten. »Mrs Shepherd, es verwirrt mich, warum Sie hier sind …«

»Verwirrt?« Ihr Lachen klang wie ein Klimpern, und ihre Augen funkelten. »Das sagen mir alle. Dass ich verwirrt bin. Aber ich bin nicht verwirrt. Ich weiß, was ich gesehen habe. Und ich weiß, was sie vorhat. Sie will mich umbringen.«

Bruncliffe. Die Stadt, ein wirrer Haufen von Häusern tief unten, fügte sich perfekt in die Rundung der Landschaft ein; ein Kalksteinfelsen überragte den rückwärtigen Teil, an drei Seiten erhoben sich Fjälls. Im Norden und Süden standen die Schornsteine zweier Mühlen Wache, die beide nicht mehr in Betrieb waren, die Mitte wurde von den geraden Gleisen der Bahn und dem gewundenen Flusslauf durchschnitten.

Es war ihr Zuhause, diese Ansammlung von Steinbauten und Schieferdächern. Der einzige Ort, an dem Delilah Metcalfe jemals gelebt hatte. An einem Tag wie heute, wenn die Sonne schien, hatte sie es nicht eilig, daran etwas zu ändern.

Indem sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, joggte sie von Bruncliffe Crag bergab auf die Crag Lane, hoch über dem hinteren Teil der Stadt. Tolpuddle war schon rechts abgebogen und auf dem Weg zu dem kleinen Häuschen, in dem sie wohnten. Delilah schaute auf ihre Uhr.

Es war halb neun vorbei. Sie konnte genauso gut direkt zur Arbeit gehen und sich dort umziehen. Besonders jetzt, seit es kein Geheimnis mehr war, dass sie wieder lief. Seit den Ereignissen im vergangenen Monat wusste der ganze Ort, dass Bruncliffes einstige Meister-Fjällläuferin – die Frau, die dem Sport vor Jahren den Rücken gekehrt hatte – wieder trainierte. Und wie hätten sie es nicht wissen sollen? Sie hatte einen Mörder über die Hügel gejagt. So etwas war nicht lange geheim zu halten.

»Hier lang!«, rief sie und gab dem Hund ein Zeichen. »Komm schon!«

Tolpuddles Ohren richteten sich auf, als er die Richtungsänderung bemerkte, er neigte den Kopf zur Seite und begann, auf die Stufen zuzutraben, die sie in die Stadt hinunterführen würden. Wie jeden Morgen in den letzten anderthalb Monaten war er begierig darauf, ins Büro zu kommen. Zu ihm zu kommen.

Sie seufzte. Was war schlimmer, einen ängstlichen Hund zu haben oder einen, der ins hiesige schwarze Schaf vernarrt war? Ein schwarzes Schaf mit dunkler Mähne und einem verruchten Lächeln … und der Fähigkeit, innerhalb weniger Stunden nach seiner Rückkehr aus vierzehnjährigem Exil eine ganze Gemeinde auf den Kopf zu stellen.

Sie joggte ihrem treulosen Hund hinterher. Tolpuddle war nicht der Einzige, der in letzter Zeit mehr Gefallen daran fand, bei der Arbeit zu sein.

»Also, werden Sie es tun?«

»Herausfinden, wer Sie umbringen will?«, fragte Samson und konnte nicht glauben, dass die Worte aus seinem eigenen Mund kamen.

»Nein. Sie hören nicht zu!«, erwiderte Mrs Shepherd und schlug mit ihrer kleinen Faust auf den Schreibtisch. »Ich habe es Ihnen doch gesagt: Ich weiß, wer mich umbringen will. Sie müssen sie für mich schnappen. Am besten, bevor es ihr gelingt!«

»Aber ich …«

»Und keine Bange«, würgte sie etwaige Ausflüchte ab, »ich bezahle!« Sie durchwühlte ihre Handtasche und förderte einen Taschenspiegel zutage, den sie auf den Tisch legte. Dem folgten ein Lippenstift, ein zerknittertes Taschentuch, eine halb gegessene Rolle Polo-Pfefferminz und eine ungewöhnliche Pillendose mit einem Regenbogen aus eingelegten Halbedelsteinen auf dem Deckel. »Hier! Was wird es kosten?« Sie hielt eine kleine schwarze Geldbörse hoch, öffnete den Klippverschluss und lächelte ihn erwartungsvoll an, während sie Münzen in ihre Hand schüttete.

»Ich glaube nicht …«

Die Tür wurde aufgestoßen, und eine große Gestalt tauchte im Rahmen auf. »Ralph!«, dröhnte eine Stimme. »Er ist verschwunden!«

Vor dem Bürofenster, durch die enge Back Street, über den gepflasterten Marktplatz, wo der Fleischer gerade die Jalousien hochzog und eine junge Frau die Ladentür des Immobilienmaklers aufsperrte, vorbei an Peaks Patisserie, wo bereits eifrig die ersten Kaffees des Morgens serviert wurden, nach rechts in die Fell Lane mit der Polizeiwache an der Ecke und der Bibliothek gegenüber, den Hügel hoch und durch den Eingang des Fellside-Court-Seniorenzentrums, in einer kleinen Wohnung mit Blick auf den Innenhof auf der Rückseite des ersten Stocks öffnete eine Hand eine Schlafzimmertür.

Der Schatten, der auf den dicken Teppichflor fiel, ging zum Nachttisch hinüber, wo dieselbe Hand eine regenbogenfarbene Pillendose neben eine Fotografie legte. Mit leisen Schritten bewegte sich der Schatten erneut, und das Zimmer war wieder geräumt. Die Tür blieb offen.

2

»Es tut mir leid«, wandte sich Samson an den Mann, der die Tür aufgerissen hatte, »aber wir sind mitten in einer Besprechung. Ich muss Sie bitten, draußen zu warten.«

Offensichtlich war der Mann stocktaub, denn er betrat das Büro trotzdem, grüßte Mrs Shepherd mit kurzem Antippen seiner Mütze und ließ seine massige Gestalt auf den Rand des Stuhls neben der alten Dame sinken. Samson stieg der vertraute Duft von Bauernhof in die Nase.

Clive Knowles kam von der Mire End Farm weiter oben im Tal in Richtung Horton. Das war ein Ort, der unter der Leitung des alten Ralph Knowles für den maroden Zustand des Hofes und die Vernachlässigung seiner Felder berüchtigt war. Samson erinnerte sich daran, wie seine Mutter seinen Vater vor Jahren zum Lachen brachte, als sie dargelegt hatte, dass die Farm der Knowles’ angesichts ihres Zustands von Mire End, was so viel hieß wie Ende des Schlamms, in Mire Start umbenannt werden sollte.

Dem Geruch nach schalem Bier und den Körperausdünstungen nach zu urteilen, die von der anderen Seite des Schreibtisches ausgingen, hatte sich in der jüngeren Generation hinsichtlich Sauberkeit – sowohl personenbezogen als auch anderweitig – nichts geändert.

»Die Sache kann nicht warten!«, sagte der Bauer energisch und zeigte mit einem dicken, dreckverschmierten Finger in Samsons Richtung. »Ralph ist verschwunden, und ich will, dass Sie ihn finden!«

»Wie ich bereits erklärt habe, Mr Knowl–«

»Schon gut, Samson, mein Lieber«, sagte Alice Shepherd. »Ich habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen.« Die neben dessen mächtiger Gestalt winzig wirkende Frau lächelte Clive an und ermutigte ihn fortzufahren. »Nun, wann haben Sie Ralph zum letzten Mal gesehen, Mr Knowles?«

Der Bauer wandte sich an die alte Dame. »Gestern Abend. Ich habe mich vor dem Schlafengehen vergewissert, dass es ihm gut geht. Er war nicht ganz auf der Höhe, wissen Sie, ein bisschen durcheinander.«

»Und heute Morgen?«, fragte sie nach.

»War er zum Frühstück nicht da.«

Sie schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf und legte einen Finger ans Kinn, als würde sie über dieses Rätsel nachgrübeln.

»Allein wird er da draußen nicht zurechtkommen«, erklärte Clive, und eine sorgenvolle Falte erschien auf seiner geröteten Stirn.

»Machen Sie sich keine Sorgen, mein Lieber.« Alice Shepherd tätschelte sein Knie, was einen weiteren Hauch von Nutztieraroma freisetzte. »Samson wird uns beiden eine Tasse Tee aufbrühen, und dann können wir der Sache auf den Grund gehen.« Sie richtete ihre blassblauen Augen auf den Mann hinter dem Schreibtisch und lächelte süß.

Samson war die Treppe zur Küche im ersten Stock schon halb hochgegangen, bevor ihm die Absurdität der Situation bewusst wurde. Dies war so typisch Bruncliffe! Jeder kümmerte sich um die Angelegenheiten aller anderen. Und jetzt hatte er eine verwirrte Rentnerin, die seine Arbeit für ihn machte. Er stöhnte. Das war genau der Grund, weshalb er seine Heimatstadt überhaupt erst verlassen hatte. Die Klaustrophobie. Der Mangel an Privatsphäre. Der Tee, der einen Ochsen töten konnte.

Er füllte den Wasserkocher, warf vier Teebeutel in die Kanne und tröstete sich damit, dass er im April weiterziehen und hoffentlich nach London und zu der Polizeiarbeit zurückkehren würde, von der er derzeit noch suspendiert war. Dann würde es keine alten Damen mehr geben, die wilde Anschuldigungen erhoben. Keine stinkenden Bauern mehr. Kein Bruncliffe, und er selbst würde kein schwarzes Schaf mehr sein.

Die Hintertür wurde zugeknallt, und eine vertraute Stimme rief etwas, begleitet von einem lauten Bellen. Und auch keine Delilah Metcalfe mehr.

Die dazwischenliegenden Monate konnten nicht schnell genug vorübergehen.

»Sie wissen nicht, wo er ist?«

»Nein. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Deshalb braucht er ja Samson.«

»Ich brauche Samson nicht. Ich brauche den verdammten Ralph wieder da, wo er hingehört. Die Zeit wird knapp …«

»Haben Sie es der Polizei gesagt?«

»Da würde auch viel bei rauskom–«

»Oh, eine Tasse Tee! Genau das, was wir brauchen. Samson, Sie sind ein Schatz!«

Samson stand in der Tür seines eigenen Büros, das Tablett in der Hand, und kam sich vor wie ein Butler, der in ein Dreiergespräch platzt. Alice Shepherd und Clive Knowles saßen vor seinem Schreibtisch; Delilah Metcalfe in ihrem Laufdress saß dahinter, Notizblock auf dem Schoß, während sie seine potenziellen Auftraggeber ins Kreuzverhör nahm.

»Tee! Danke, Samson«, sagte seine Vermieterin und griff nach der dritten – und letzten – Tasse. »Wolltest du denn keinen?«

Er seufzte, stellte das leere Tablett auf den Boden und setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches. Sofort legte Tolpuddle den Kopf auf seinen Oberschenkel. Als Undercover-Polizist, der in den führenden Strafverfolgungsbehörden des Landes – der Serious Organised Crime Agency und ihrer Nachfolgerin, der National Crime Agency – tätig gewesen war, hatte sich Samson O’Brien an bizarre Arbeitsumgebungen gewöhnt. Aber nichts hatte ihn auf das Arbeitsleben in Bruncliffe vorbereitet, wo jeder eine Meinung zu allem hatte. Und da sie Männer und Frauen der Dales waren, fühlten sie sich berechtigt, all diese Meinungen auch mit Nachdruck zu äußern. Und oft. Die Metcalfes – Delilah und ihre fünf älteren Brüder – waren gute Beispiele für diese kulturelle Eigenart, wie Samson besser als die meisten wusste.

Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, das am Tag seiner Rückkehr in die Stadt als Ziel von Delilahs berüchtigtem rechten Haken gedient hatte. Die Gründe dafür waren nicht klar gewesen. Ihre Frustration darüber, dass Samson – das Idol ihrer Kindheit – Bruncliffe bei Nacht und Nebel verlassen und in den dazwischenliegenden vierzehn Jahren nichts mehr von sich hatte hören lassen. Ihre Wut darüber, dass Samson vor zwei Jahren bei der Beerdigung seines besten Freundes, ihres geliebten Bruders Ryan, nicht da gewesen war. Aber auch ihre Erkenntnis, dass, hätte sie das heimgekehrte schwarze Schaf nicht geschlagen, ihr ältester Bruder Will es getan hätte. Und das, dachte Samson ironisch, wäre weitaus katastrophaler gewesen. Auch wenn sein Ruf nicht ganz so gelitten hätte. Von einer Frau, egal, wie hübsch sie war, k.o. geschlagen zu werden, war nicht der Start, den er sich für seine neue Detektei vorgestellt hatte.

»Also, wo waren wir …?« Delilahs Aufmerksamkeit galt wieder Clive Knowles. »Keine Polizei.«

»Warum nicht?«, fragte Samson. »Man muss sie in einem Fall wie diesem doch so schnell wie möglich benachrichtigen! Sie wollen doch nicht, dass Ralph in dieser Kälte umherirrt.«

»Er ist gut beisammen, die Kälte wird ihm nichts ausmachen«, brummte Clive. »Ich mache mir mehr Sorgen, dass er überfahren wird.«

»Ist das früher schon vorgekommen? Dass er einfach weggegangen ist?«

Der Bauer nickte. »Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Wir müssen ihn ständig im Auge behalten. Normalerweise wüsste ich, wo ich zu suchen anfange. Aber diesmal …« Er zuckte mit den Achseln, und die Luft um ihn herum schien sich bei dem Geruch, der aus den Falten seiner Kleidung aufstieg, zu verdicken.

Samson schaute aus dem Fenster. Auch wenn er mehr als ein Jahrzehnt fernab der Dales gelebt hatte, so war er doch nicht irgendein Tourist, der sich von dem blauen Himmel über ihm täuschen ließ. Es war nur knapp über dem Gefrierpunkt da draußen, und die Wolken, die er über der Westseite der Stadt hatte aufziehen sehen, als er Milch holen gegangen war, drohten Schneefall mit sich zu bringen.

Ein älterer Mensch würde im Freien nicht lange überleben, egal, wie warm seine Kleidung war. Und Ralph Knowles musste inzwischen weit über achtzig sein. Und wohl auch an Demenz leiden, so, wie sein Sohn von ihm sprach.

»Sie müssen die Polizei verständigen!«, drängte Samson ihn.

Wieder zuckte Clive die Achseln. »Er hat es ja schon öfter gemacht. Die Polizei wird nichts davon wissen wollen.«

»Seien Sie nicht albern!« Samson stand auf, erschüttert von so viel Gleichgültigkeit. »Natürlich wird sie! Ich werde Danny auf der Wache anrufen.« Er scrollte schon auf seinem Handy nach der Nummer, deshalb bemerkte er Delilahs überraschten Gesichtsausdruck nicht. »Je eher sie sich auf die Suche machen, desto besser. Es liegt Schnee in der Luft …« Er unterbrach sich, als die jugendliche Stimme von PC Danny Bradley in die Leitung kam.

»Samson?«

»Hi, Danny! Wir müssen einen Suchtrupp auf die Beine stellen. Ralph Knowles wird vermisst. Zuletzt gesehen …« Er warf einen Blick auf den Bauern.

»Gestern Abend auf Mire End Farm«, murmelte Clive.

»Ralph Knowles?«, fragte der junge Constable, als Samson die Informationen weitergab. »Ist das Clive Knowles’ Ralph?«

»Ja.« Der müde Seufzer am anderen Ende des Telefons war nicht zu überhören.

»Ich bin mir nicht sicher, ob der Sarge damit einverstanden ist, wieder Männer rauszuschicken.«

»Dann sorge dafür, dass er einverstanden ist! Wir müssen Leute aussenden, um nach ihm zu suchen. Ralph wird das aufziehende Wetter nicht überleben, nicht in seinem Alter!«

»Vielleicht«, meinte Delilah mit zuckenden Lippen, »wäre es hilfreich, eine Beschreibung von Ralph bei seinem Verschwinden zu haben?«

Samson nickte. »Mr Knowles? Können Sie uns eine Beschreibung geben?«

»Eine Beschreibung?« Der Bauer kratzte sich am Kopf. »Klein. Stämmig. Aber nicht fett, wohlgemerkt.«

Samson gab die Antworten an den Polizisten weiter, bevor er sich wieder dem Bauern zuwandte. »Was hatte Ralph an?«

Die Frage löste bei Clive Knowles ein Stirnrunzeln aus und bei Delilah so etwas wie einen Schluckauf, sodass sie sich die Hand vor den Mund hielt.

»Was er anhatte?«, fragte der Bauer.

»Ja. Wie hat er ausgesehen?«

»Wie immer.«

»Und das wäre?« Samson unterdrückte seine aufkeimende Verzweiflung.

»Weißer Körper, schwarzes Gesicht, weiße Ringe um die Augen. Und …«, er drehte er sich zu der alten Dame neben ihm um, »… bitte um Entschuldigung, Mrs Shepherd, wenn ich das sage, aber er ist gut bestückt.«

»Wie bitte?« Samsons Augenbrauen schossen bis zum Haaransatz in die Höhe. »Was haben Sie gesagt?«

Der Bauer zuckte mit den Schultern. »Er ist gut bestückt. Das ist das Wichtigste an ihm. Wie sollte er sonst die ganzen Zibben bespringen?«

Das Lachen, das vom anderen Ende der Leitung kam, war nicht nur für Samson zu hören, und er sah, wie sich Delilahs Lippen zu dem Lächeln wölbten, das sie die ganze Zeit zurückgehalten hatte.

»Was?«, fragte Clive, empört über die gute Laune angesichts seiner misslichen Lage. »Was ist daran so lustig?«

»Ralph … ich dachte …«, stotterte Samson und bewertete die gesamte Unterhaltung neu. »Ralph ist nicht Ihr Vater?«

»Mein Vater? Warum zum Kuckuck sollte ich von meinem Vater sprechen? Der ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben. Nein, Junge, das hier ist viel wichtiger. Ralph ist ein Swaledale-Preisträger. Hab sieben Riesen für ihn bezahlt, also muss er verdammt noch mal gefunden werden!«

»Ralph ist ein Schaf?«, fragte Samson, dessen Vorstellung von einem desorientierten alten Mann, der über die Hügel irrte, durch das Gelächter von Delilah, Mrs Shepherd und – den erstickten Lauten aus dem Telefon nach zu urteilen – von Daniel und der halben Polizeistation erschüttert wurde. »Ein verdammtes Schaf?!«

Mr Knowles schoss in die Höhe. »Ein preisgekrönter Widder, das ist er, und zwar einer, der mitten in der Paarungszeit fehlt! Und ich will, dass Sie ihn finden!«

Samson sank auf den Schreibtisch zurück. Was immer er sich vorgestellt hatte, als er sich entschieden hatte, nach Hause zu kommen, das hier war es nicht.

»Woher hätte ich wissen sollen, dass er von einem verdammten Schafbock spricht?«, grummelte Samson, als er das Tablett mit den leeren Tassen in die Küche im ersten Stock trug, nachdem seine voraussichtlichen Klienten endlich das Gebäude verlassen hatten.

Oben auf dem Treppenabsatz lachte Delilah. »Jeder in Bruncliffe kennt Ralph – jedenfalls die meisten Frauen. Der Bock ist alles, worüber Clive Knowles redet, wenn er zu den Speeddating-Veranstaltungen kommt.«

Samson erschauderte. Er hatte aus erster Hand einen der Speeddating-Abende der Dales Dating Agency miterlebt; eines der Unternehmen, die Delilah von ihrem Büro im ersten Stock aus betrieb. Auch wenn die Begebenheit keine so tiefen Wunden geschlagen hatte wie zuvor erwartet, so hatte er es trotzdem nicht eilig, sie zu wiederholen. Und er hatte Mitleid mit jeder Frau, die vier Minuten lang ertragen musste, wie Clive Knowles sich mit seinem Mund- und Bauernhofgeruch über einen Tisch zu ihr beugte.

»Trotzdem«, fuhr Delilah fort, »ist es ein Auftrag. Er hat dich engagiert.«

Samson nickte müde. Es war ein Auftrag, und er brauchte die Einnahme dringend. Aber die Suche nach einem vermissten Schafbock in einer mit Schafen übersäten Landschaft war weit entfernt von den Aufregungen seines früheren Lebens. Plötzlich verspürte er einen Anflug von Sehnsucht nach London mit seiner Anonymität und seiner Lebendigkeit. Und auch seinen Gefahren.

»Und was ist mit Alice Shepherd? Wirst du dem, was sie gesagt hat, nachgehen?«

»Ist das dein Ernst?« Samson blieb auf der obersten Stufe stehen und zog die Augenbrauen hoch. »Sie ist offensichtlich verwirrt. Sie hat nicht mal ihre Anschuldigungen richtig auf die Reihe bekommen. In einem Moment erzählt sie mir, dass ihre Uhr gestohlen wurde, und im nächsten Augenblick zeigt sie mir das gute Stück.« Er schüttelte den Kopf. »Ich könnte kein Geld von ihr nehmen. Das wäre falsch.«

»Mag sein. Aber du würdest dir auch keinen abbrechen, wenn du nach Fellside Court gingst und dich dort umsiehst, oder?«

Er warf der mit Unschuldsmiene dastehenden Delilah einen Blick zu. »Und meinen Vater besuchen, weil ich eh schon dort bin?«

Sie zuckte die Achseln. »Warum nicht? Könntest du doch in einem Aufwasch erledigen. Wann hast du ihn überhaupt zuletzt gesehen?«

»Was geht das dich an?«, fragte er, schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Die Beziehung zu seinem Vater war ein wunder Punkt. Und auch ein Thema, von dem Bruncliffe nie genug bekommen konnte. Die O’Briens, Vater und Sohn, waren verwitwet und ohne Mutter zurückgelassen worden, als Samson erst acht war. Mit dem idyllischen Leben, das sie auf der Twistleton Farm am äußersten Ende des isoliert gelegenen Thorpdales geführt hatten, war es innerhalb weniger Monate vorbei gewesen. Dann hatte das Trinken angefangen. Als Samson im Teenageralter war, schwänzte er die Schule, um sich um die Schafe und seinen Vater zu kümmern. Er schleppte ihn aus der Kneipe, wo jeder Penny, den der Hof einbrachte, für Bier draufging. Oder für Whisky. Oder für alles, was Joseph O’Brien in den Rachen bekam, solange es ihn nur in einen Alkoholrausch versetzte.

Als Suffkopp O’Briens Sohn aufzuwachsen hatte Samson von den anderen unterschieden; und er war stets schnell dabei, seinen Familiennamen notfalls mit den Fäusten zu verteidigen. So war er ein zynisches Kind und ein streitlustiger Teenager geworden, misstrauisch allen gegenüber. Einen irischen Vater und eine Mutter aus einem fernen Tal zu haben war ein weiteres Stigma in einer Stadt voller Menschen, die in einem Umkreis von fünf Meilen generationenweit zurückzuzählen vermochten. Kein Wunder also, dass dieser Bursche, obwohl in der Gegend geboren, für immer als Dahergelaufener gebrandmarkt war: ein Fremder, nicht von hier. Keine Überraschung auch, dass er als Unruhestifter angesehen wurde.

Dass Samson im Alter von zwanzig Jahren die Stadt mit Schimpf und Schande verlassen hatte, war nur ein weiterer Teil der Saga der O’Briens, einstmals aus Thorpdale, jetzt ohne festen Wohnsitz. Es war das Jahr der Maul- und Klauenseuche gewesen und die Region durch den Ausbruch der Viruserkrankung, die Höfe ruinierte und seit Jahrhunderten bestehende Lebensgrundlagen zerstörte, schwer getroffen worden. Inmitten all dieser Spannungen war Samson ausgerastet, und bei der Taufe von Delilahs Neffen Nathan war er in einen Kampf geraten. Mit seinem Vater. Was die örtliche Gerüchteküche betraf, so war der junge O’Brien mit dem Angriff auf seinen Vater und der anschließenden nächtlichen Flucht mit einem gestohlenen Motorrad seinem in Jahren aufgebauten Ruf nur gerecht geworden.

Aber die guten Leute aus Bruncliffe wussten auch nichts von der Schrotflinte, die auf ihn gerichtet gewesen war, als er an jenem Abend nach Hause zurückgekehrt war. Oder von dem Streit, der Vater und Sohn überhaupt erst zu dem Kampf veranlasst hatte. Samson hatte nicht vor, sie jetzt aufzuklären.

Auch hatte er nicht vor, nach nur sieben Wochen sein Vertrauen in einen Mann zu setzen, der in der Vergangenheit so wenig getan hatte, um es sich zu verdienen. Auch wenn Joseph O’Brien behauptete, trocken zu sein.

»Tut mir leid«, brummte er und schob sich an Delilah vorbei, um in die Küche zu gehen. »Heikles Thema.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte sie. »Aber Alice Shepherd war offensichtlich besorgt genug, um herzukommen und mit dir zu sprechen; sie hat sogar versucht, dich zu engagieren. Das Mindeste, was du tun könntest, ist vorbeizuschauen und zu versuchen, sie zu beruhigen.«

Samson gab keine Antwort. Er wusste, dass sie recht hatte. Er wollte es nur nicht zugeben.

»Na ja, falls du deine Meinung änderst, ich habe morgen früh einen Termin in Fellside Court.«

»Für die Dales Dating Agency?« Jetzt grinste Samson. »Ist die Lage inzwischen so verzweifelt?«

Der Schlag kam aus dem Nichts. Eine kurze Gerade an seine rechte Schulter, bei der er fast das Tablett fallen ließ und infolge derer sein Arm taub wurde.

»Das ist dafür, dass du so respektlos bist! Mir und den Rentnern dieser Stadt gegenüber. Auch sie haben das Recht auf ein Liebesleben!«

»Das glaube ich dir aufs Wort!«, entgegnete Samson mit einem erneuten Grinsen und sorgte mit einem schnellen Schritt dafür, dass er sich außerhalb ihrer Reichweite befand. »Was organisierst du denn? Eine nicht ganz so schnelle Speeddating-Veranstaltung?«

Darüber musste sie lachen. »Nein. Es hat nichts mit der Partnervermittlung zu tun. Ich bin für die Website von Fellside Court verantwortlich, und sie muss ein bisschen aufgefrischt werden, deshalb treffe ich mich mit der neuen Einrichtungsleiterin, um einige Änderungen zu besprechen und mir ihr Foto zu besorgen. Es war schwer, sie zu fassen zu kriegen, aber jetzt habe ich endlich einen Termin bei ihr. Und da wir gerade von Websites sprechen …« Sie blickte ihn erwartungsvoll an.

Delilah Metcalfe. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass aus dem dürren Kind, das ihm und Ryan überallhin gefolgt war, diese vielseitige Frau geworden war. Sie betrieb nicht nur eine Partnervermittlungsagentur, die sich – trotz einer schwierigen Phase in den letzten Monaten, die sie einem geistesgestörten Killer zu verdanken gehabt hatte – immer stärker und besser zu entwickeln schien, sondern auch eine Agentur, die Websites entwarf und pflegte. Wie ihm zu Ohren gekommen war, war sie auch darin gut.

»Wirst du auf mein Angebot zurückkommen?«, fragte sie.

Er drehte sich um und beschäftigte sich damit, die Tassen in den Geschirrspüler zu räumen. Da er es abgelehnt hatte, sich für die Zeit bezahlen zu lassen, in der er ihr geholfen hatte, die Identität der Person aufzudecken, die ihre Kunden ermordet hatte, hatte ihm Delilah angeboten, kostenlos eine Website für sein Unternehmen, die Dales Detective Agency, zu erstellen. Sie war mit Begeisterung bei der Sache, legte ihm immer wieder Ideen vor und konnte nicht verstehen, warum er da noch zögerte.

Wie sollte er es ihr erklären? Dass im Laufe der nächsten Monate Ärger auf ihn zukam. Ärger aus seinem früheren Leben in London, der zur Folge haben würde, dass seine Zeit in Bruncliffe ablief. Ärger, der dazu führen konnte, dass er Zeit im Gefängnis absitzen musste.

»Ich werde darüber nachdenken«, murmelte er. Auf einmal verspürte er das Bedürfnis nach frischer Luft. Also ging er nach unten, schnappte sich Jacke und Helm und verließ das Haus über die hintere Veranda, fluchend, weil er dabei – nicht zum ersten Mal – über die Turn- und Wanderschuhe stolperte, die auf dem Boden herumstanden. Die in Scharlachrot und Chrom gehaltene Royal Enfield Bullet seines Vaters wartete im Hof. Es war dieselbe, mit der Samson vor vierzehn Jahren aus der Stadt geflohen war. Er war sich ziemlich sicher, dass er bald wieder auf ihr fliehen würde.

Alice Shepherd hatte Angst. Sie hatte ihr Bestes getan, um sich beim jungen O’Brien nichts anmerken zu lassen. So ein kräftiger Bursche und ganz genau wie seine Mutter, mit den klaren blauen Augen und der Masse dunkler Haare! Aber wäre er bereit, ihr zu helfen? Er hatte gesagt, er würde ihr Bescheid geben, aber sie hatte ein Zögern bei ihm gespürt.

Es war die Verwirrung. Sie wusste, dass sie irgendwo einen Fehler gemacht hatte. Etwas, was sie zu ihm gesagt hatte, hatte diesen wohlvertrauten Ausdruck in seinem Gesicht erzeugt. Wie anlässlich der schiefen Blicke, die die Leute ihr inzwischen zuwarfen, als wollten sie den Wert ihrer Worte abwägen. Als ob man ihr die Wahrheit nicht anvertrauen könnte.

Aber sie wusste, was sie gesehen hatte. Das Aufleuchten der blonden Haare, die das Flurlicht der tiefsten Nacht entrissen hatte – da war keine Verwechslung möglich. Und es war ja auch nicht nur dies eine Mal gewesen. Das Problem bestand darin, dass sie sich nicht genau daran erinnern konnte, wann es passiert war. War es wirklich an denselben Tagen gewesen, an denen auch die kleinen Dinge – die Manschettenknöpfe, das Tuch, ihre Uhr – verschwunden waren? Sie traute sich in diesen Dingen selbst nicht mehr.

Langsam ging sie in Richtung Fellside Court, dessen zweistöckige Fassade schräg zur Straße stand. Dahinter erstreckten sich zwei Flügel, die eine U-förmige Wohnanlage formten. Oder, wie die Bauherren es lieber nannten, ›Apartments zur Förderung der Unabhängigkeit‹.

Angst sollten sie eigentlich nicht fördern.

Mit schneller schlagendem Herzen ging sie an der zweiflügeligen Tür des Haupteingangs vorbei und beschloss, stattdessen den Weg die Seite entlang und dann hintenherum einzuschlagen, um die Anlage durch den Innenhof zu betreten. Die auf drei Seiten von dem Gebäude umschlossene Fläche mit ihren verstreuten Bänken, Stühlen und Tischen und ein paar jungen Kirschbäumen bildete eine geschützte Oase für die Bewohner. An einem Morgen wie heute stellte sie ein sonniges Plätzchen und damit eines der Dinge dar, die sie ursprünglich zu der Anlage hingezogen hatten.

Das und die Glaswand.

Sie ragte über ihr auf und verband die beiden Flügel des Gebäudes; eine glänzende Scheibe, die den blauen Himmel und die von ihm reflektierten Fjälls zurückspiegelte und die Aussicht endlos erscheinen ließ. Das nahtlose Fenster, das vom Boden bis zum Dach reichte, erlaubte dem Licht, entlang der Korridore ins Innere zu strömen, und hellte selbst den trübsten Tag ein wenig auf.

All das Glas! Das den Sonnenschein hereinließ. Das die Geheimnisse herausließ.

Ein lautes Klopfen zu ihrer Linken lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Aufenthaltsraum der Bewohner, der sich auf dieser Seite über die gesamte Länge des Erdgeschosses erstreckte: weitere lange Fenster mit Blick auf den Innenhof. Es war bereits geschäftig dort, Leute dehnten und streckten sich, bereit für den morgendlichen Aerobic-Kurs. Sie entdeckte Arty Robinson, der auf seine Armbanduhr tippte und sie hereinwinkte.

Arty. Der reizende Arty. Ein pensionierter Buchmacher, der sein Leben immer noch so lebte, als wäre es ein einziges langes Glücksspiel, bei dem die Chancen auf seiner Seite waren. Sie ließ ihren Blick nach rechts hinauf zu Artys Wohnung schweifen, die sich in die Ecke der Glaswand schmiegte, sodass ein Balkon hervorragte, über dessen Rand die Spitzen seines kostbaren Rosenstrauchs lugten. Hatte er auch Dinge gesehen? Seine Wohnung lag direkt gegenüber der ihren; eine von sechs, die die unter ihnen liegende Fläche überblickten. Neben ihr wohnte Eric Bradley in einer großen Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Auf der anderen Seite des Hofes neben Arty befand sich eine Gästesuite für Besucher, die über Nacht bleiben wollten. Darunter im Erdgeschoss war Rita Wilson untergebracht, und neben ihr lag die zweite Gästewohnung. Die beiden Innenhofwohnungen, die Alice und Arty bewohnten, waren viel erschwinglicher gewesen. Dafür erlaubten sie auch nicht diese Sicht auf Bruncliffe, wie sie die Fassade des Gebäudes bot. Und auch nicht die dramatischen Ausblicke auf die Fjälls, die die Außenwohnungen zur Verfügung stellten. Aber die Kosten waren der Grund gewesen, aus dem sie sich für den Innenhofblick entschieden hatte, genau über dem Aufenthaltsraum der Bewohner. Sie vermutete, dass es bei Arty genauso gewesen war und sie beide aus finanziellen Gründen hier von der Welt abgekapselt waren.

Bis vor Kurzem hatte sie das nicht gestört. Sie hatte gerne in ihrem kleinen Zuhause über dem Hof gelebt, hatte Kontakte zu anderen Bewohnern geknüpft, die zu Freunden geworden waren. Und wenn sie in ihrem Wohnzimmer ihren Stuhl in genau den richtigen Winkel stellte, hatte sie einen Blick nach oben auf das im Hintergrund aufragende Fjäll, der ebenso gut wie der aus Erics Wohnung war.

Aber im Nachhinein betrachtet, war es vielleicht unklug gewesen. Sie konnte zu viel sehen, bis hinüber zu den anderen Wohnungen und durch das Glas auf den Flur, der sie verband.

Das war das Problem. Dieses Glas. Und das Aufleuchten blonder Haare in der Nacht.

Ein erneutes Klopfen ans Fenster ließ sie auffahren: Arty, der sie zur Eile aufforderte. Sie betrat das Gebäude, wandte sich nach links und ging durch den Flur zum Aufenthaltsraum, wo Vicky Hudson, die Pflegerin, bereits das Fitnesstraining einleitete.

»Und nicht übertreiben«, ermahnte Vicky die Teilnehmer mit einem Lächeln, bei dem die Grübchen in ihren Wangen die Spitzen ihres dunklen Bobs berührten. »Und wenn Sie sich einer bestimmten Übung nicht gewachsen fühlen, dann bleiben Sie einfach sitzen und entspannen sich, bis die nächste beginnt. So, wenn Sie so weit sind, beginnen wir mit einem leichten Aufwärmen …«

Alice schlüpfte durch das Gedränge im hinteren Teil des Raumes dorthin, wo Arty auf sie wartete.

»Du hast dir ganz schön Zeit gelassen!«, flüsterte er. »Hier, häng deine Tasche an den Stuhl, sonst sind sie nachher alle weg, dann flitz nach oben und zieh dich um!«

»Danke, Arty«, sagte sie und reichte ihm die Tasche, den Zimmerschlüssel in der Hand. »Ich bin in einer Minute wieder unten!«

Sie lächelte, als sie ging, weil sie über das Wort »flitz« nachdachte. Sie war sich nicht sicher, ob sie in den letzten fünf Jahren irgendwohin geflitzt war, dafür hatte eine Hüftprothese gesorgt. Aber die Treppe konnte sie immer noch benutzen. Sie stieg die Stufen langsam hoch und kam ein wenig außer Atem im ersten Stock an. Sie dachte daran, was der Arzt ihr gesagt hatte, und blieb oben kurz stehen, um ihren Puls zu beruhigen, dann ging sie nach rechts durch den Flur und betrat ihre Wohnung. Das Erste, was sie sah, war die Aussicht auf den Innenhof und das Stück des Fjällhangs hinter dem gegenüberliegenden Gebäude. Das Zweite, was sie sah, war die offene Schlafzimmertür.

Hatte sie die aufgelassen? Sie versuchte, sich zu erinnern, aber ein vertrauter Schleier der Verwirrung lag auf ihrem Verstand, durchlöchert von klaren Momenten aus ihrer Jugend. Sie auf einem Fahrrad an Horton vorbei. Das Gefühl, wie die Hand ihres Großvaters die ihre hielt. Erinnerungen von vor mehr als siebzig Jahren so klar wie die Gegenwart, doch die Ereignisse dieses Morgens blieben in einen tiefen Nebel gehüllt.

Sie redete sich ein, dass es keine Rolle spielte, und ging über den dicken Teppich zum Kleiderschrank. Dann sah sie die Farbstreifen auf dem Nachttisch. Ihre Pillendose. Wie war die dahin gekommen? Hatte sie sie nicht heute Morgen, nachdem sie ihre Medizin genommen hatte, in ihre Handtasche gesteckt?

Sie konnte sich nicht daran erinnern. Die unwiderlegbare Präsenz der Dose, hier und jetzt, schien ihren nachlassenden Verstand zu verhöhnen.

Mit zitternder Hand nahm sie sie und starrte auf das gelbe Stück Tigerauge, das den Mittwoch kennzeichnete. Sie klappte den Deckel auf. Zwei Tabletten starrten sie aus einem Fach an, das eigentlich hätte leer sein müssen. Ein Fach, von dem sie sich sicher gewesen war, dass sie es heute Morgen geleert hatte.

3

»Genau hier war er. Wo er sein sollte. Ist er aber nicht. Und ich muss ihn wiederhaben, damit er den Haufen hier bespringt!« Mit einer knappen Bewegung seiner schmutzigen Hand zeigte Clive Knowles auf das Feld voller Mutterschafe, deren weiße Körper mit den Kalksteinfelsen, die über das spärliche Gras verstreut lagen, verschmolzen.

Es war karges Land, das auf der einen Seite zum Fluss hin abfiel, mit Binsen und Rispengras in Hülle und Fülle. Samson konnte sehen, wie die Mire End Farm zu ihrem Namen gekommen war. Selbst unter Berücksichtigung des Winterwetters war es nass unter den Füßen. Hinter ihm, auf der anderen Seite des unwegsamen Pfads, der zu dem Anwesen führte, stiegen die Felder steil an, und über ihnen erhob sich die unverwechselbare flache Kuppe des Pen-y-ghent. Auch die Weiden dort oben waren nicht viel besser. Was den Hof selbst betraf …

Der Hof der Knowles’ lag etwa acht Meilen nördlich von Bruncliffe, vorbei an Horton und abseits einer schmalen Straße, die sich mit vielen Buckeln an der Seite des Pen-y-ghent entlangschlängelte. Und im Wesentlichen stellte er eine Ansammlung von Gebäuden in verschiedenen Stadien des Verfalls dar. Am Eingang standen zwei Scheunen Wache, deren Dächer mit ihren verrutschten Schieferplatten an die Pocken erinnerten; ihre Tore waren verfault, die Farbe längst abgeblättert. Schräg dazu stand das Bauernhaus. Oder das, was davon übrig war.

Einst war es ein imposantes Haus mit drei Fenstern gewesen, die sich über die gesamte Vorderseite erstreckten. Aber Jahrzehnte der Vernachlässigung hatten ihren Tribut gefordert und den Ansturm der Elemente ermöglicht. Als Erstes war der Wind gekommen und hatte eine oder zwei oder drei lose Schieferplatten hochgeklappt, bis das Dach löchrig war und der Regen, der die Dales in den Wintermonaten heimsuchte, Einzug halten konnte. Die Feuchtigkeit war durch die Dachsparren in die Mauern eingedrungen und hatte den Mörtel zerfressen, wodurch sich die Steine gelockert hatten. Daraufhin war ein großer Bereich bis unter das Niveau der Dachrinne abgesackt, sodass man nun schon die Innenmauer sehen konnte. Nachdem es eines Teils seiner Stütze beraubt worden war, hing das Fenster oben links nun gefährlich in seinem Rahmen und drohte herauszufallen. Es würde nicht lange dauern, bis der Rest der Mauer ihm folgte.

Samson hatte seine Royal Enfield bewusst an der gegenüberliegenden Ecke des Hofes geparkt, wo das verchromte scharlachrote Motorrad sich hell gegen die Tristesse der Scheunen abhob. Er hatte Clive Knowles auf der Rückseite des Hauses inmitten eines Wirrwarrs alter Autos, rostender Maschinen, eines Haufens ausrangierter Reifen und des verlassenen Anhängers eines Sattelschleppers gefunden, der als behelfsmäßiger Hühnerstall genutzt wurde. Hennen pickten vergeblich auf dem schlammigen Hof herum, und ein in die Jahre gekommener Schäferhund, der auf einem Heuballen lag, hob den Kopf und bellte halbherzig, als Samson sich näherte. Der Bauer hatte ihm zur Begrüßung eine mit Öl verschmierte Hand entgegengestreckt, und gemeinsam waren sie zum Ort von Ralphs Verschwinden gegangen.

»Ich kann es mir nicht leisten, ihn zu verlieren«, brummte der Landwirt und lehnte sich an ein klappriges Gatter, das sich unter seinem Gewicht neigte. »Ich kann mir nicht noch ein schlechtes Jahr leisten.«

Der Hof auch nicht, dachte Samson. Schlechtes Land oder schlechtes Management?

Beim Betrachten der Felder war es schwer zu sagen, was für den heruntergekommenen Zustand von Mire End verantwortlich war. Und Samson O’Brien wusste nur zu gut, wie eng die beiden Faktoren in Zusammenhang stehen konnten. Es hatte Tage gegeben, an denen er auf Twistleton Farm gearbeitet und seine Eltern verflucht hatte, weil sie sie gekauft hatten. Eingebettet zwischen zwei Bächen an der Spitze von Thorpdale, hatte das O’Brien-Grundstück mehr als genug sumpfiges Land und die damit verbundenen Probleme gehabt – ganz zu schweigen von einem alkoholabhängigen Besitzer, der alle Gewinne versoff. Aber im Vergleich hierzu war es ein Vergnügen, Twistleton Farm zu verwalten. Oder war es gewesen.

»Wie lange haben Sie Ralph schon?«, fragte er.

»Habe ihn letztes Jahr Ende Oktober gekauft. Mehr als ich je für einen Schafbock bezahlt habe.«

»Er ist ein Swaledale?«

Clive Knowles nickte. »Reinrassig. ’ne Menge wert.«

Samson bezweifelte es nicht. Die robuste Rasse mit ihren markanten schwarz-weißen Gesichtern war hierzulande beliebt, denn sie war bekannt für ihre Fähigkeit, die harten Winter auf offenem Land aushalten zu können. Samson erinnerte sich an Auktionen in Hawes, bei denen Spitzenböcke dreißig Riesen oder mehr eingebracht hatten.

»Sie sagen, er ist schon öfter weggelaufen?«

»Schon ein paarmal, der Mistkerl!« Der Bauer deutete auf die hintere Seite des Feldes, wo ein Anstieg des Felsens unter der Erde das Bodenniveau anhob. »Er stellt sich da drauf und springt über die Mauer. Ich hab dann ein Stück Stacheldraht oben über die Steine gespannt, und das hat ihn aufgehalten. Aber diesmal offensichtlich nicht.«

»Er hat den Draht durchbrochen?«

»Nein. Der Draht ist noch da. Er muss drübergesprungen sein.«

»Das ist ziemlich beeindruckend«, meinte Samson, als er die Höhe der fernen Mauer abschätzte. »Sie glauben doch nicht, dass ihn jemand gestohlen haben könnte?«

Der Bauer zuckte die Achseln. »Das wäre das erste Mal – dass jemand sich die Mühe macht, nach Mire End zu kommen, um zu stehlen. Hier gibt es nicht viel, was sich mitzunehmen lohnt.«

Samson widersprach ihm nicht. Auch wenn der Schafdiebstahl in den Dales zugenommen hatte, so würde es doch einiger Findigkeit bedürfen, um zur Mire End Farm zu gelangen. Und falls man sie tatsächlich gefunden hatte, einer Menge Optimismus, um zu glauben, dass es hier etwas Wertvolles gab.

»Und, werden Sie sich jetzt umsehen oder was?« Ein wütender Blick begleitete die Worte. »Wie ich schon sagte, muss ich den Bock wiederhaben. Dieser Hof ist von ihm abhängig.«

»Ich kann nichts versprechen«, antwortete Samson, öffnete das Gatter und betrat das Feld; die Schafe schauten kurz auf, bevor sie ihr unerbittliches Grasen wieder aufnahmen.

»Das ist in Ordnung. Ich lege nicht viel Wert auf Versprechungen. Habe genug schlechte Erfahrungen damit gemacht«, brummte der Bauer »Nehmen Sie sich ruhig Zeit. Vielleicht fällt Ihnen was auf, das ich übersehen habe.«

Mit diesen Worten wanderte Clive Knowles zurück zu dem verfallenden Bauernhaus und ließ Samson auf einem Feld voller Schafe zurück. Bizarrerweise fühlte sich der ehemalige Polizist und jetzige Privatdetektiv hier ganz wie zu Hause.

Er versuchte, die plötzliche aufkommende Sehnsucht nach seiner bäuerlichen Jugend zu ignorieren, und begann, auf das entfernte Gatter zuzugehen, das auf den Weg zurück in die Zivilisation führte. Er hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen und glaubte auch nicht, dass er etwas Konkretes finden würde, was helfen könnte, den vermissten Ralph nach Mire End zurückzubringen. Aber irgendwo musste er ja anfangen. Und da war etwas an dem Gatter, das ihn neugierig machte. Er war schon fast da, als ihm klar wurde, was es war.

Die Spuren. Parallele Reifenabdrücke, die ein kurzes Stück ins Feld hineinführten. Als ob etwas abgeladen worden wäre.

Allerdings war an Reifenabdrücken auf einem Bauernhof nichts Ungewöhnliches. Also was war es sonst?

Er betrachtete das Gatter. Es handelte sich um typisches Mire-End-Design: eine rostige Metallvorrichtung, die an einem Ende mittels Stacheldraht an einem Pfosten befestigt war; am anderen Ende hielt eine mit einem Vorhängeschloss versehene Kette, die um einen anderen Pfosten gewickelt war, das Ganze aufrecht.

Es wurde nicht viel benutzt. Falls überhaupt. Da das Land innerhalb der Gatter ein aufgeweichter Morast aus aufgewühltem Schlamm war, würde es das Fahren erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Aber jemand hatte dem getrotzt. Und das vor Kurzem, denn die Spuren sahen noch ganz frisch aus.

Der Boden quatschte um seine Stiefel, als Samson weiterging und die Kette inspizierte, die um den linken Pfosten geschlungen war. Wie alles andere auf dem Hof rostete auch sie, und von dem alten Vorhängeschloss tropfte rotes Wasser wie Blut auf seine Finger, als er es in die Hand nahm. Er fuhr mit dem Daumen über die Schlüssellochabdeckung. Sie war verklemmt, festgefressen von jahrelangem Regen und Rost. Völlig ausgeschlossen, dass sie in den letzten Tagen geöffnet worden war.

Er ließ die Kette wieder los, und zu seiner Überraschung fiel sie gegen den Pfosten und rutschte dann auf den Boden, woraufhin sich der obere Teil des Gatters sperrangelweit öffnete.

»Was zum Geier?« Vom Boden, silbern auf dem schwarzen Schlamm, glänzte ihm ein abgetrenntes Kettenglied entgegen. Die Kette war durchtrennt worden!

Jemand war auf dem Feld gewesen. Wahrscheinlich ohne Erlaubnis.

Neugierig zog Samson an dem Gatter, und sofort hing es durch und schleifte über den nassen Boden, bevor es sich verklemmte. Er zwängte sich durch die schmale Öffnung auf den Seitenstreifen, der neben der Fahrbahn verlief, wobei braune Strähnen von absterbendem oder totem Gras seine Hose streiften.

Welche Richtung? Nach rechts, wieder nach Horton und zurück in die Zivilisation? Oder nach links in die Fjälls? Rechts machte mehr Sinn. Er hatte erst ein paar Schritte in dieser Richtung auf der Straße zurückgelegt und dabei den verwilderten Bewuchs zu beiden Seiten des Asphalts abgesucht, als er plötzlich aus dem Augenwinkel heraus etwas Rotes sah.

Es lag an der Steinmauer, und das braune Leder machte es schwierig, es inmitten der Wintervegetation zu entdecken. Eine Konstruktion aus Riemen und einem roten Kreideblock – er wusste sofort, was er vor sich hatte.

Es handelte sich um ein sogenanntes Bocksprunggeschirr, das auf einem Widder befestigt wurde, bevor man ihn zu den Auen aufs Feld ließ. Dank der Viehzeichenkreide, die auf der Brust des Schafbocks ruhte, konnte ein Bauer erkennen, welche Mutterschafe besprungen worden waren und, indem er regelmäßig die Farbe der Kreide änderte, wann die Auen lammen würden.

Für die meisten Bauern war dies eine Standardausrüstung, auch wenn dasjenige in Samsons Hand schon bessere Tage gesehen hatte. Die Lederriemen waren abgenutzt, die Nieten trüb, und der Bolzen, der den roten Kreideblock an Ort und Stelle hielt, war an einem Ende abgebrochen und hatte einen schartigen Rand.

Samson holte sein Handy heraus. Irgendetwas stimmte hier nicht; ein paar Fotos von dem Schauplatz mochten nützlich sein.

Er bückte sich und fotografierte die Stelle, an der er das Geschirr gefunden hatte. Dann kehrte er zum Tor zurück, um Bilder von den Reifenspuren und dem Feld dahinter zu machen. Aber als er sich umdrehte, um eine Aufnahme der kaputten Kette zu bekommen, stieß er mit dem Stiefel gegen etwas im hohen Gras am Fuß des Torpfostens. Es klapperte metallisch, als der Gegenstand auf den Asphalt fiel. Samson sah, was da jetzt auf der Fahrbahn lag, groß an und bückte sich, um es aufzuheben.

Gedankenversunken wog er das Objekt in der Hand. Dann holte er das Bocksprunggeschirr, schloss das Gatter und ging über das Feld zurück. Er musste mit Clive Knowles sprechen. Dringend.

Für die Bewohner von Fellside Court war das Treffen zu Kaffee und Kuchen, das dem Aerobictraining montags und mittwochs folgte, einer der Höhepunkte der Woche. Neben dem gemeinsamen Mittagessen sonntags. Und dem gelegentlichen Gruppenausflug den Hügel hinunter zur Frittenbude, um das Sonderangebot für die ersten Kunden zu nutzen. Als Alice Shepherd also das gemütliche Café betrat, das eine Ecke des Gebäudes einnahm, war sie nicht überrascht, dass dort bereits viel los war.

»Hierher, Alice!« Die hochgewachsene Gestalt von Edith Hird, der pensionierten Direktorin der Bruncliffe Primary School, die immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung war und einen Hang zum Organisieren hatte, winkte sie zu einem überfüllten Tisch an den Fenstern, die auf die Straße und die Stadt darunter blickten.

»Für jemand Kleines ist noch Platz!«, witzelte Arty, als sich die zierliche Gestalt von Alice auf sie zubewegte.

»Es wäre auch noch Platz für ein paar mehr, wenn du nicht hier wärst!«, erwiderte der gebrechliche Mann neben ihm und brachte damit die Gruppe zum Lachen.

»Aye«, stimmte Arty zu und tätschelte reumütig seinen rundlichen Bauch. »Man kann durchaus sagen, dass ich nicht mehr so dünn bin, wie ich einmal war.«

»Außer auf dem Kopf!« Dieses Mal begleitete Eric Bradley seinen Kommentar mit einem Lachen, das irgendwo zwischen Husten und Keuchen lag und die Sauerstoffflasche neben seinem Stuhl zum Klappern brachte. Unter seinem kahlen Scheitel warf ihm der ehemalige Buchmacher einen verletzten Blick zu.

»Ihren Kaffee habe ich schon bestellt«, sagte Edith, als Alice sich neben sie setzte. »Aber ich war mir nicht sicher, welchen Kuchen Sie möchten.«

»Ich kann die Scones empfehlen!« Clarissa Ralph, die Schwester von Edith, hörte kurz auf, Erdbeermarmelade auf die verbliebene Hälfte ihrer Leckerei zu löffeln, und blickte auf. »Sie kommen frisch aus dem Ofen!«

»Ich weiß nicht, wie Sie beide das anstellen!«, stöhnte Arty und zeigte auf die Teller vor den Schwestern. »Sie scheinen nie zuzunehmen. Ich brauche mir nur den Karottenkuchen anzusehen, und schon bin ich zwei Pfund schwerer!«

»Gute Gene«, erklärte Edith. »Meine Schwester und ich entstammen einer langen Geschlechterfolge magerer Hirds.«

Clarissa nickte. »Das stimmt. Vater war so dünn wie ein Rechen. Während unsere arme Mutter …« Sie schüttelte den Kopf, biss in ihr Scone und sann über die Lotterie der Natur nach.

»Was ist mit dir, Joseph?« Arty drehte sich zu dem Mann hin, der zufrieden am Ende des Tisches saß und das Geplänkel mit einem Lächeln auf dem hageren Gesicht verfolgte. Er war etwa zehn Jahre jünger als die meisten in der Gruppe, sah aber älter aus, schien stärker vom Leben gebeutelt. »Ist deine grazile Gestalt auf Genetik zurückzuführen?«

Joseph O’Brien lächelte. »Nein«, antwortete er mit einem weichen irischen Tonfall, der im Kontrast zu den schroffen Yorkshire-Umgangsformen seiner Freunde stand. »Die kommt vor allem vom übermäßigen Alkoholkonsum. Eine Diät, die ich nicht empfehlen würde.«

Artys tiefes, grölendes Gelächter ließ den ganzen Raum auf ihn aufmerksam werden. Nicht zum ersten Mal dankte Joseph O’Brien – trocken seit zwei Jahren, elf Wochen und sechs Tagen – dem Schicksal, das seine Anwesenheit in Fellside Court gefügt hatte. Dieser Ort und die Menschen darin hatten ihm das Leben gerettet.

»Das glauben wir dir aufs Wort, Joseph! Ich glaube, ich bleibe doch lieber bei meinen Kurven – ich weiß, dass die Damen eine vollere Figur mögen.« Artys Augenzwinkern galt seiner Mitbewohnerin Geraldine Mortimer, die gerade am Tisch vorbeikam.

»Arty Robinson, flirten Sie etwa schon wieder?«, fragte Geraldine und blieb stehen, um ihr glattes platinblondes Haar zurechtzurücken und ihm ein kokettes Lächeln zu schenken. »Sie werden mich noch in Schwierigkeiten bringen!«

»Schön wär’s!«, murmelte Edith Hird und stocherte mit der Gabel in ihrem Karottenkuchen.

»Alice!« Eine Stimme vom Eingang lenkte die Aufmerksamkeit der Gruppe auf eine junge Frau mit hohen Wangenknochen, deren blonde Haare zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden waren. Ana Stoyanova, die Leiterin von Fellside Court, hatte gerade das Café betreten und inspizierte den Raum; in der Wintersonne war ihre Haut bleich wie Alabaster. Sie heftete einen kühlen Blick auf die Gruppe beim Fenster, als sie auf sie zuging.

Geraldine Mortimer schnitt eine Grimasse. »Da kommt die Eiskönigin!«

»Alice«, sagte Ana noch einmal, als sie noch in einiger Entfernung war; die abgehackte Redeweise verriet ihre osteuropäische Herkunft, auch wenn ihre Grammatik das nicht tat. »Das hier gehört Ihnen, glaube ich. Es lag auf dem Boden im Aufenthaltsraum.«

Sie hielt ihr eine regenbogenfarbene Pillendose hin und klapperte mit einem missbilligenden Zungenschnalzen damit. »Ihre Tabletten«, fuhr sie fort. »Die sollten Sie eigentlich morgens als Erstes einnehmen!«

Alice Shepherd starrte verwirrt auf den Gegenstand in der Hand der Heimleiterin. »Das ist nicht meine!«

Ana runzelte die Stirn. »Ich denke, doch.«

»Das kann nicht meine sein«, murmelte Alice und gab sich alle Mühe, sich zu erinnern. Die Dose auf ihrem Nachttisch – war das heute gewesen? Gestern? Letztes Jahr? Ihre Brust zog sich zusammen, und ihre Lunge verengte sich, sodass sie vor Beklemmung keuchte. »Sie ist oben«, beharrte sie. »Meine ist oben, und ich habe meine Tabletten schon genommen.«

Lange weiße Finger fuhren entlang der Farblinien über die eingelegten Steine und kamen auf den Initialen zu ruhen, die in den Silbersockel eingraviert waren. »Die hier gehört eindeutig Ihnen, Alice.«

»Nein! Tut sie nicht!« Alice merkte, dass ihre Stimme zitterte; sie spürte, wie sich die Anspannung über ihre Schultern bis in ihren Nacken ausbreitete. In ihren Blutkreislauf. Dann lag eine ruhige Hand auf ihrem zitternden Handgelenk.

»Immer mit der Ruhe, Alice«, redete Arty ihr gut zu. »Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Verwechslung.«

Aber an der Art, wie er es sagte, und an den Gesichtern ihrer Mitbewohner konnte sie erkennen, dass sie ihr nicht glaubten. Weil keine Verwechslung möglich war. Die Pillendose in Ana Stoyanovas Hand war einzigartig. Es war genau dieselbe, die Elaine, Alices die Geologie liebende Patentochter, ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte. Die silberne Dose war kompakt genug, um in die Hand zu passen, und wies auf dem Deckel farbige Kennzeichnungen auf. Jeder Wochentag war durch ein anderes Stück Halbedelstein identifiziert und das Innere in sieben entsprechende Fächer unterteilt.

Die Dose war wunderschön. Sie war praktisch. Und im Moment war sie furchteinflößend.

Alice erinnerte sich plötzlich an den Schreibtisch des jungen O’Brien, auf den sie ihre Tasche entleert hatte. Die Pillendose war mit ihren anderen Sachen dort gewesen. Oder etwa nicht? Was bedeutete … Sie griff nach ihrer Handtasche und suchte hektisch zwischen ihren Sachen, tastete nach den harten Kanten, nach der Kühle der Steine.

Nichts.

»Ich dachte … sie wäre hier drin«, flüsterte sie und starrte in die Tiefen ihrer Tasche.

»Wahrscheinlich ist sie während der Aerobicstunde herausgefallen«, sagte Ana mit einem Lächeln um die Mundwinkel. »Machen Sie sich keine Sorgen, Alice. Es ist ja nichts passiert. Achten Sie nur darauf, dass Sie Ihre Medizin nehmen.« Schlanke Finger nahmen zwei Kapseln aus dem Fach mit der Aufschrift ›Mittwoch‹ und ließen sie auf Alices Untertasse liegen. Dann wandte sich Ana mit einem knappen Nicken zur Tür.

»Also wirklich«, brummte Geraldine, als die Leiterin das Café verließ, »wie diese Frau mit den Leuten spricht! So was Unhöfliches! Es ist mir ein Rätsel, warum sie nicht jemanden mehr von hier für die Stelle holen konnten.«

»Jemand Britischeres, meinen Sie?«, fragte Edith mit einem trockenen Lächeln.

Geraldine zog eine Schnute. »Nur weil ich die Frau nicht gutheiße, macht mich das noch lange nicht zu einer Rassistin!«

»Technisch gesehen, wohl schon, sofern Sie sie nicht gutheißen, weil sie aus Osteuropa kommt«, meinte Clarissa mit unschuldigen Kulleraugen.

Auf diese Bemerkung hin schnappte Geraldine ein und stolzierte in einer Wolke teuren Parfüms und Kaschmirs von dannen.

»Was?«, fragte Clarissa, als Edith sich angesichts der Naivität ihrer jüngeren Schwester krumm- und schieflachte. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Aber ganz und gar nicht!«, erwiderte Edith und trocknete sich die Augen. »Ganz und gar nicht, was, Arty?«

Aber Arty beobachtete, wie Alice mit zitternder Hand nach ihren Pillen griff. Ein Zeichen des Alters, dachte er, wie bei uns allen.

Erst als Alice aufblickte, sah er die Angst in den Augen seiner Freundin.

»Erkennen Sie das wieder?«

Clive Knowles lehnte eine mit fauligem Stroh beladene Mistgabel an den Türrahmen und ging über den Hof auf Samson zu. Hinter ihm muhte eine Kuh traurig in den Tiefen des dunklen Stalls. »Erkenne ich was wieder?«, fragte er.

»Das hier.« Samson hob den Arm und ließ das Deckgeschirr in seiner Hand baumeln.

Dem Bauern fiel die Kinnlade herunter. »Das gehört Ralph! Wie zum Teufel ist der Mistkerl da rausgekommen?«

Samson ignorierte die Frage und streckte stattdessen die linke Hand aus. »Was ist damit?« Auf seiner Handfläche lag etwas, das aussah wie eine Miniaturhandgranate, unten dunkelgrün mit schwarzer Spitze, dazwischen eine Kette.

Clive Knowles schüttelte ratlos den Kopf. »Was ist das?«

Samson schnippte die Kappe hoch und drückte auf die Seite, woraufhin eine Flamme aufflackerte, die den Bauern überrascht zurückschrecken ließ. »Ein Feuerzeug.«

»Verdammt extravagant für ein Feuerzeug.«

»Dann ist es also nicht Ihres?«

»Rauche nicht. Ist schlecht für die Gesundheit«, lautete die fromme Antwort. Seine Aufmerksamkeit wanderte zurück zum Geschirr; er nahm es Samson aus der Hand und inspizierte es gründlich. »Ja, das ist von Ralph, da bin ich mir sicher«, sagte er und fuhr mit den Händen über die Lederriemen. »Keine Ahnung, wie er es abgestreift hat, ohne es zu zerreißen. Wo haben Sie es gefunden?«

»Draußen auf der Straße. Und das Feuerzeug lag direkt hinter dem Gatter.«

Der Bauer sah abrupt auf. »Das Gatter am oberen Ende von Ralphs Feld?«

»Ja. Wird es viel benutzt?«

»Nie. Bin einmal zu oft im Schlamm stecken geblieben, als ich von dort aus reingegangen bin. Da oben fließt das Wasser schlecht ab, deshalb gehe ich immer von hier unten rein.«

Samson dachte, dass sich die schlechte Entwässerung nicht auf dieses eine Stück Feld auf Mire End Farm beschränkte, und zeigte auf die Straße, die über das obere Ende des Besitzes führte.

»Wo führt die hin?«, fragte er.

»Horton«, lautete die knappe Antwort.

Samson unterdrückte einen Seufzer. »Ich weiß, dass sie nach Horton führt – da komme ich ja her. Aber wohin führt sie von hier aus weiter?«

»Nirgendwohin.«

»Sie muss irgendwohin führen!«

»Aye. Sie führt auf den Hügel.«

»Was ist auf dem Hügel?«

Ein Runzeln legte sich auf die Stirn des Bauern. »Nichts.«

»Die Straße führt also einfach den Hügel hoch und endet dort?«

»Richtig.«

»Also würde hier normalerweise niemand vorbeifahren?«

»Wozu? Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, es gibt nichts hinter Mire End.«

»Was ist mit Wanderern? Mountainbikern? Kommt so jemand hier hoch?«

»Oh ja, wir haben hier eine ganze Reihe von diesen Leuten. Alle in wasserdichten Klamotten und mit Rucksäcken beladen.«

»Und wo gehen die hin?«

»Langstrothdale«, sagte der Bauer und nannte damit ein Tal auf der anderen Seite der Hügel im Osten.

»Also führt die Straße doch irgendwohin!«, stellte Samson mit einem Anflug von Verzweiflung fest.

»Nein, tut sie nicht. Die Straße endet auf dem Hügel. Da wird sie zu einem Feldweg.«