Nur die Menge macht das Gift - Julia Chapman - E-Book

Nur die Menge macht das Gift E-Book

Julia Chapman

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Beschreibung

Samson O’Briens problematische Vergangenheit im Polizeidienst scheint ihn einzuholen: Die ehemaligen Kollegen vernehmen ihn hart in einem Mordfall, und Delilah Metcalfe hat alle Hände voll zu tun, um ihn im ansonsten beschaulichen Bruncliffe in Schutz zu nehmen - bis ihr Neffe von zu Hause wegläuft und es zu einer verzweifelten Suchaktion kommt. Und so, bei all den Ablenkungen, mit denen das Dorf nun zu kämpfen hat, kommt es, dass allein einem Tierarzt auffällt, dass immer mehr Hunde im Dorf vergiftet werden. Alle verdächtigen Samson. Gelingt es den beiden Detektiven unter diesen Umständen den vermissten Jungen wiederzufinden? Ebenso wie den Giftmischer - noch bevor Schlimmeres passiert?

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Inhalt

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Über dieses Buch

Samson O’Briens problematische Vergangenheit im Polizeidienst scheint ihn einzuholen: Die ehemaligen Kollegen vernehmen ihn hart in einem Mordfall, und Delilah Metcalfe hat alle Hände voll zu tun, um ihn im ansonsten beschaulichen Bruncliffe in Schutz zu nehmen – bis ihr Neffe von zu Hause wegläuft und es zu einer verzweifelten Suchaktion kommt. Und so, bei all den Ablenkungen, mit denen das Dorf nun zu kämpfen hat, kommt es, dass allein einem Tierarzt auffällt, dass immer mehr Hunde im Dorf vergiftet werden. Alle verdächtigen Samson. Gelingt es den beiden Detektiven unter diesen Umständen den vermissten Jungen wiederzufinden? Ebenso wie den Giftmischer – noch bevor Schlimmeres passiert?

Über die Autorin

Julia Chapman ist das Pseudonym von Julia Stagg. Sie lebt in den wunderschönen Yorkshire Dales im Norden Englands. Wenn sie nicht schreibt, erkundet sie zu Fuß oder mit dem Rad ihre Umgebung, die wichtiger Bestandteil ihrer Krimis ist – allen voran die kleinen Dörfer und Ortschaften mit ihren liebenswerten Einwohnern.

Kriminalroman

Übersetzung aus dem Englischen vonAxel Franken

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe: Copyright © 2019 by Julia Chapman/Staggland Limited

Titel der englischen Originalausgabe: »Date With Poison«

First published 2019 by Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv: © Helga Noack/Flora Press; © Angel Lina/Shutterstock,

Pavlo S/Shutterstock, KateChe/Shutterstock, Kmannn/Shutterstock,

the8monkey/Shutterstock, VikaSuh/Shutterstock, arxichtu4ki/Shutterstock,

Pablo Caridad/Shutterstock, Yosuke Hasegawa/Shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4209-2

luebbe.de

lesejury.de

In Erinnerung an Jill Shaw,ein wahrer Fan Bruncliffes und der Dales

Prolog

Ein halbes Kilo Schweinehack. Ein halber Esslöffel Salz. Ein wenig Muskatnuss und Salbei – nur nicht überwürzen! Dann eine wohldosierte Menge der geheimen Zutat, eingerührt mit einem Holzlöffel.

Draußen, hinter dem von Schmutz verschmierten Fenster hoch über der Arbeitsplatte, hatte die Dunkelheit das Tal fest im Griff. Aber hier, in der behelfsmäßigen Küche, glänzte unter einer nackten Glühbirne der Inhalt der Rührschüssel, neben der ein grauer Strang leerer Naturdärme aufgewickelt war.

Wursthäute.

Die jetzt von Fingern bearbeitet, über den Einfülltrichter gestülpt wurden; eine überaus vertraute Prozedur. Langsam, um Risse zu vermeiden, wurde die Mischung hineingedrückt.

Eine Drehung. Ein Schnitt. Wiederholen.

Noch bevor das erste Licht der Morgendämmerung in den Raum eindringen konnte, lagen sechs Würste, dick und verlockend, auf einem Metalltablett. Verlockend. Aber giftig.

1

An einem frühen Frühlingsmorgen, an dem die fahle Sonne mehr Licht als Wärme auf die Stadt warf, die sich zwischen die Fjälls schmiegte, verspürte Bruncliffes Privatdetektiv nichts von den Freuden, die man gemeinhin mit dieser Jahreszeit verbindet. Vielmehr fühlte er sich bedrängt.

Samson O’Brien saß in seinem Büro, das er die letzten viereinhalb Monate genutzt hatte, und wünschte sich, er wäre so weit wie möglich weg. Oben in den Hügeln zum Laufen zum Beispiel. Oder unten in London bei der Undercover-Arbeit, mit der er jenes Leben zugebracht hatte, das inzwischen ein Jahrhundert zurückzuliegen schien. Irgendwo, nur nicht hier in dem Raum mit dem Metallschreibtisch und den klapprigen Stühlen, dem Linoleum, das sich an den Rändern des Fußbodens wölbte, und der grellroten Mustertapete, die die Wände bedeckte. Zusammen mit Ida Capstick, die ihm gegenübersaß, den Kopf mit einem grimmigen Gesichtsausdruck nach vorne gestreckt, der sowieso nur selten eine heitere Regung zeigte.

»Du musst mich helfen!«, erklärte sie.

»Was soll ich denn da machen?«, fragte Samson. »Das ist eine Familienangelegenheit! Sie müssen sich einfach mit ihr zusammensetzen und ihr sagen, wie Sie sich fühlen.«

Ida schnaubte verächtlich und zog ungehalten den Kopf zurück. »Hab ick ja versucht. Und hab de Nase voll davon. Dat muss jeklärt wern.« Sie bedachte ihn wieder mit der Wucht ihres stechenden Blickes. »Un zwar endjültich!«

Stille senkte sich über den Raum, unterbrochen nur vom Klicken des Heizkörpers, der gegen die Kälte des Märzmorgens ankämpfte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was Sie meinen«, erwiderte Samson, immer noch gefangen von Idas eindringlichem Starren.

Die zuckte nur mit den Schultern. Dann warf sie einen Blick auf die geschlossene Tür und schürzte die Lippen. »Se muss jehen. Ejal, wat dafür nötich is!« Ein energisches Kopfnicken unterstrich ihre Entschlossenheit.

Samson lachte verblüfft, verkniff es sich aber schnell wieder, als sich der eindrucksvolle Blick erneut auf ihn heftete. »Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Meen voller Ernst. Du kennst doch sicher jemand? Jemand in London? Ick bin bereit zu zahlen.«

Und mit diesen Worten griff Ida Capstick, Samsons Nachbarin aus Kinder- und Jugendtagen und jetzige Putzfrau der Dales Detective Agency, in ihre Tasche und zog eine Rolle Geldscheine heraus, die von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Sie warf sie auf den Schreibtisch, wo sie vor ihn hinrollte und zum Liegen kam.

»Ick will jemand anheuern, der meine Cousine zum Jehen überredet. Bevor ick se umbringe.«

Samson starrte auf das Geld und dann in die granitenen Gesichtszüge, die er so gut kannte. »Ich glaube«, sagte er und erhob sich von seinem Stuhl, »wir könnten beide eine Tasse Tee gebrauchen.«

In dem Büro ein Stockwerk darüber bemühte sich Bruncliffes Liebeslieferantin Delilah Metcalfe, eine ihrer eigenen Kundinnen zu besänftigen.

»Er ist ein Tier!«, stieß die elegante Dame hervor, die auf der anderen Seite des Schreibtisches vor dem jüngsten Mitglied des Metcalfe-Clans saß. »Er riecht wie ein Bauernhof, er könnte mal eine gründliche Wäsche vertragen, und was sein Haus angeht …« Ein Schauer lief über die Schultern der Frau und ihr Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck des Ekels. »Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hat er auch keinerlei Ahnung von Romantik. Seine Vorstellung von einem ersten Rendezvous war, mich zum Auktionsmarkt in Hawes mitzunehmen!«

Delilah schaffte es, einen sich anbahnenden Lachanfall in einen Schluckauf umzuwandeln. »Es tut mir leid …«

»Leid? Das will ich meinen! Ein Tag, den man mit der Begutachtung von Schafen verbringt, ist wohl kaum die ideale Grundlage für eine Brautwerbung. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er meine Zähne hätte sehen wollen, um meine Tauglichkeit zu beurteilen!« Die Frau straffte sich entrüstet. »Jedenfalls bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich meine Mitgliedschaft bei der Dales Dating Agency sofort kündigen werde, wenn dies das Niveau der Kunden ist, die Sie vermitteln!«

Diese Worte genügten, um jeglichen Gedanken an Lachen auf Delilahs Seite zu verscheuchen. Aufgrund der Kredite, die auf ihrer Partnervermittlungsagentur und ihrem Webdesign-Unternehmen lasteten, lauerte schon der Filialleiter der Bank vor ihrer Tür. Sie konnte es sich schwerlich leisten, eine Kundin zu verlieren.

»Ich bin sicher, wir finden jemanden, der besser zu Ihnen passt«, entgegnete sie schnell, wandte sich ihrem Computer zu und rief die Datei der verärgerten Frau auf. »Wie wäre es, wenn Sie mal an einem Speeddating-Abend teilnehmen? Das ist eine tolle Möglichkeit, Leute in entspannter Atmosphäre kennenzulernen, und der nächste ist zufällig Freitag in einer Woche! In diesem Fall verzichte ich gerne auf die übliche Gebühr …«

Der verkrampfte Griff der Frau um ihre Handtasche lockerte sich ein wenig und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Danke. Das würde ich gerne annehmen.«

Delilah nickte und fügte den Namen der Frau der Liste der Kunden hinzu, die sich für die Veranstaltung angemeldet hatten; eine Veranstaltung, die eigentlich schon ausgebucht war und jetzt ein Ungleichgewicht bei der Geschlechterverteilung aufwies. Sie würde noch einen Mann auftreiben müssen. Und zwar schnell.

»Das freut mich«, sagte sie und ließ sich ihre Frustration nicht anmerken. »Und noch einmal: Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung für Ihre unerfreuliche Erfahrung!«

Unerfreuliche Erfahrung. Diese Formulierung brachte Clive Knowles auf den Punkt. Er war ein Bauer aus Horton im Norden der Stadt, für den, wie sich herausgestellt hatte, aufgrund seiner niedrigen Hygienestandards und seiner sturen Persönlichkeit nur schwer eine Braut zu finden war. Die Bruchbude, die das Mire-End-Bauernhaus darstellte, war da auch nicht gerade hilfreich. Aber der Mann wollte unbedingt heiraten – so unbedingt, dass er Delilah ein stattliches Honorar in Aussicht gestellt hatte, wenn sie es schaffte, innerhalb von zwei Monaten eine Frau für ihn zu finden. Wovon nur noch etwas mehr als ein Monat übrig war. Die Möglichkeit, dass ihr diese dringend benötigte Summe durch die Lappen ging, war sehr real, denn wie Delilah schon vermutet hatte, als sie sich bereiterklärte, sich dieser Herausforderung zu stellen, erwies sich Clive Knowles als hoffnungsloser Fall.

Die Frau erhob sich. »Wenn Sie mich fragen«, sagte sie und klang jetzt mitfühlend, »ich glaube, Sie verschwenden Ihre Zeit. Mr Knowles braucht keine Ehefrau – was er braucht, ist eine Putzfrau!«

Delilah wartete, bis die Frau die Treppe hinuntergestiegen war und sich die Eingangstür im Flur unten geschlossen hatte, bevor sie den Kopf auf den Schreibtisch sinken ließ.

Am anderen Ende der Stadt, in einem Bauernhaus in der Nähe der Straße, die an der Molkerei vorbei zum alten Bahnhof von Bruncliffe führte, trat Liam Jackson aus der Hintertür.

»Kommst du, alter Knabe?« Er warf einen Blick über die Schulter auf den Border Collie, der über den Küchenboden schlurfte. »Komm raus an die frische Luft! Der Frühling ist da!«

Alf, ehemaliger englischer Landesmeister, aber schon lange nicht mehr in den besten Jahren, tapste steif über die Schwelle und in den Hof hinaus. Er hob den Kopf und schnupperte: Narzissen auf dem Grünstreifen entlang der Straße und Schafe zum Ablammen in den Ställen unten am Weg. Der Frühling war tatsächlich da.

Mit der Gewohnheit, die sich in den letzten beiden Jahren, nachdem er nicht mehr im Einsatz und ihm das Privileg gewährt worden war, neben dem Aga-Ofen zu schlafen, herausgebildet hatte, humpelte Alf vorwärts, während seine Nase Überstunden machte, um die nachlassende Sehkraft und das eingeschränkte Hörvermögen zu kompensieren. Langsam ging er um den großen Hof herum und nahm die Gerüche auf, die seine Welt kennzeichneten: die Bauernhofkatzen; Öl, das aus dem Quad getropft war; Schafe – es waren immer Schafe –; und … was war das? Er hob den Kopf und schnupperte erneut.

»Ich lass dich dann mal in Ruhe, alter Kumpel«, sagte Liam, als Alf mit erhobenem Kopf und zuckender Nase stehen blieb. Es schmerzte Liam, zu sehen, was das Alter aus seinem ehemaligen Champion gemacht hatte; er wandte sich ab und ging zu den Zwingern, wo die jüngeren Hunde in freudiger Erwartung auf eine Ausbildungseinheit auf und ab sprangen.

Alf hörte ihn nicht gehen; er war zu sehr auf diesen ungewohnten, aber verlockenden Geruch konzentriert. Die Nase in Richtung des Dufts gerichtet, schlurfte er auf die Steinmauer zu, die der Gasse zwischen dem Bauernhof und der Rückseite der Molkerei am nächsten lag. Der Geruch war dort stärker. Ein fleischiger Geruch. Herzhaft.

Fast wäre er daran vorbeigegangen, so schwach war seine Sehkraft mittlerweile.

Eine Leckerei. Versteckt neben der Mauer.

Instinktiv warf er einen Blick zurück zu der Stelle, wo Liam gestanden hatte, weil er erwartete, ausgeschimpft zu werden. Weggescheucht von einem unerlaubten Happen.

Aber der Hof war leer.

Alf senkte den Kopf und biss in die unerwartete Delikatesse. Zwei Bissen. Drei und weg war sie.

Gewärmt von der Sonne und der Verheißung neuen Lebens, die die Jahreszeit mit sich brachte, trottete er zum Haus und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer neben der Hintertür nieder. Den Kopf auf die Pfoten gelegt, war er bald eingeschlafen.

2

»Dat soll die Sache rejeln?«

»Ich werde tun, was ich kann«, versicherte Samson, während er Ida Capstick durch den Flur und die Küche im Erdgeschoss zur hinteren Veranda begleitete. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er dieses Versprechen einhalten sollte.

»Ach ja, und dat hier«, sagte Ida, drehte sich an der Tür um und holte einen Brief aus ihrer Tasche. »Er kommt ein bisschen spät zu dich, weil George damit beschäfticht war, nen Traktor zu repariern. Aba wenn de drauf bestehst, ein Leben der Täuschung zu führn, dann darfste dir och nich beklachen.«

Samson nahm den Umschlag, den sie ihm hinhielt, und die Linie der Missbilligung, zu der sich ihr Mund verzogen hatte, verriet ihm nicht zum ersten Mal, dass sie die Lügen, die er tagtäglich erzählte, nicht guthieß. Lügen über seinen Wohnort, mit denen er Bruncliffe – und seine Vermieterin Delilah – darüber hinwegtäuschte, dass er aufgrund eines Liquiditätsproblems vorübergehend im obersten Stockwerk des Bürogebäudes zwischen Delilahs alten Möbeln hauste.

»Danke.« Er warf einen Blick auf den Poststempel. London. Vor fünf Tagen. Ein offizieller Brief. Das konnte nur eines bedeuten.

»Wie jesacht, George hat en erst jestern abjeholt. Aba er muss de Post ja och nich mehr lange abholen, wat?« Ida sah ihn böse an. »Nich, wo de ja für den Thornton-Fall bezahlt worn bist.«

Es war ein Arrangement, über das Ida nie glücklich gewesen war: Dass Samson unerlaubt über dem Büro wohnte, während er sich seine Post an seine alte Adresse im abgelegenen Thorpdale schicken ließ; eine Adresse, wo George Capstick, Idas Bruder, als Verwalter tätig war und sich um das Bauernhaus kümmerte, das einst das Zuhause der O’Briens gewesen war, jetzt aber leer stand und den Plänen entgegensah, die der neue Eigentümer damit haben mochte.

Es war ein Arrangement, das Samson für seine Sicherheit – wie auch für seinen Kontostand – als notwendig erachtet hatte, um sich vor der dunklen Vergangenheit seines ehemaligen Lebens in London zu schützen. Aber es wurde langsam zu schwierig, es beizubehalten. Und jetzt, wo er nach seinem letzten Fall endlich einmal Bargeld in der Tasche hatte, unternahm er tatsächlich erste Schritte, um dies zu ändern.

»Ich sehe mir heute Abend eine Wohnung an«, sagte er.

Ida nickte; mehr Anerkennung war von ihr nicht zu erwarten. »Wo?«

»Draußen beim Crown.« Es war das Beste, was er sich leisten konnte: eine beengte Einzimmerwohnung in einem umgebauten viktorianischen Haus neben einem Pub am Stadtrand. Aber wenigstens war die Aussicht auf die Fjälls gut. Und er würde zu Fuß zur Arbeit gehen können.

Idas Augen verengten sich. »Das Etherington-Haus?« Sie wartete nicht auf eine Bestätigung. Nicht dass er eine hätte liefern können; nach vierzehn Jahren im Exil hatte er den Überblick über das komplizierte Geflecht der Verbindungen verloren, die das soziale Netz von Bruncliffe bildeten. »Dat is de Cousine von Mrs Pettiford. Teilt och den familiären Hang zu Klatsch und Tratsch. Du musst also uf dir oofpassen. Is auch keene, die jerne putzt. Ick werd vorbeikommen, wenn du dir einjelebt hast, und nach dem Rechten sehn.«

Samson lächelte. Ida, die ihr Bestes tat, um zu helfen. Wie sie es schon immer getan hatte, damals, als die O’Briens noch die nächsten Nachbarn der Capsticks waren. Damals, als Samsons Welt begonnen hatte, aus den Fugen zu geraten.

»Und wenn de ne Empfehlung broochst«, fuhr Ida fort, als sie aus der Tür in den frischen Morgen trat, »kann ick dir jerne eine jeben.«

»Danke, Ida«, sagte Samson; er war aufrichtig gerührt. Auch wenn er sich nicht ganz sicher war, ob eine Empfehlung in dem für die Putzfrau typischen schroffen Tonfall das glänzende Zeugnis sein würde, das er brauchte, um die Vorurteile zu überwinden, denen er sich als das schwarze Schaf Bruncliffes regelmäßig ausgesetzt sah.

Er sah zu, wie sie den Weg hinunterging, vorbei an seinem im Sonnenschein glänzenden Motorrad der Marke Royal Enfield, und durch das Tor hinaus auf das enge Gässchen, das an der Reihenhauszeile vorbeiführte. Das Tor fiel scheppernd hinter ihr ins Schloss, und Samson blieb allein zurück, blickte hoch zum dunklen Umriss des Crag, dem massiven Kalksteinfelsen, der sich über der Stadt erhob und noch im Schatten lag.

Während er sich wünschte, er könnte auf die Fjälls über dem Crag laufen und nie mehr zurückkommen, öffnete er widerwillig den Brief in seiner Hand.

»Verdammt!« Er steckte ihn wieder in den Umschlag. Sein Tag war gerade noch schlechter geworden.

»›Gehen Sie diskret vor!‹« Ein verächtliches Lachen folgte dieser Äußerung. »Was für eine saublöde Anweisung ist das denn? Als wäre er ein Mitglied des Königshauses!«

Detective Sergeant Steve Cooper ließ seinen Ärger seine Fahrweise beeinflussen, als er den Wagen zu schnell durch eine scharfe Kurve lenkte und der Steinmauer auf der linken Seite zum Unbehagen seines Kollegen auf dem Beifahrersitz ziemlich nahe kam.

»Immer mit der Ruhe, Sarge!«, murmelte der jüngere Mann. »Er ist es nicht wert, seinetwegen zu sterben.«

»Er ist es auch nicht wert, bei der Polizei zu sein!«, erwiderte DS Cooper, während er auf einem der seltenen geraden Stücke der kurvenreichen A65 beschleunigte. Zu beiden Seiten der Straße wogten Felder die Fjälls hinauf, eingefasst von grauen Steinmauern und bevölkert von Schafen. Die idyllische Umgebung machte den Polizisten nur noch wütender. »Seinetwegen werden wir in die hinterste Ecke des Nirgendwos geschickt. Ich hoffe, dass sie dem Schurken die verdammte Höchststrafe verpassen!«, knurrte er.

DC Benson blieb ruhig. Er hatte gelernt, dass es bei dem Thema Samson O’Brien am besten war, seinen Chef schimpfen zu lassen, und dass jeder Einwurf nur Öl ins Feuer goss. Nicht dass er den Grund für die Feindseligkeit nicht verstanden hätte. Nachdem er selbst sich erst nach jahrelangen Bemühungen eine Stelle bei der Polizei hatte erkämpfen können, konnte Josh Benson sich nicht vorstellen, warum jemand bereit sein sollte, alles aufzugeben, was das bedeutete. Am allerwenigsten jemand, der sich in den Reihen der Polizei von Yorkshire einen nahezu mythischen Status erworben hatte. Obwohl er in North Yorkshire ausgebildet worden war, hatte Benson von O’Briens Erfolgen gehört – herausragender Berufsanwärter in West Yorkshire, abgeworben von der Metropolitan Police und dann an die Serious Organised Crime Agency abgestellt. Als die Organisation in die National Crime Agency umgewandelt wurde, war O’Brien dabeigeblieben und hatte undercover in den kriminellen Kreisen Londons gearbeitet. Bis jetzt.

Jetzt lebte er wieder in Bruncliffe, und es wurde gemunkelt, dass er aufgrund von Korruptionsvorwürfen suspendiert worden war, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren. Und kurz davor stand …

»Verdammter Idiot!« Das Kreischen von Bremsen untermalte diesen Ausruf, als sie zu schnell um eine unübersichtliche Kurve fuhren, sich plötzlich hinter einem Traktor wiederfanden und in die Gurte gepresst wurden.

Von seiner Position hoch oben auf dem Fahrersitz warf der Bauer einen Blick über die Schulter und hob träge einen Finger zum Zeichen, dass er sie bemerkt hatte. Aber er fuhr nicht zur Seite. Und während sich die Straße immer tiefer in die Dales schlängelte und sich Bruncliffe näherte, konnte das Auto nichts anderes tun, als hinter ihm herzuzockeln, was die schlechte Laune des Detective Sergeants mit jeder quälenden Meile steigerte.

DC Benson beschlich das Gefühl, dass ihr Einsatz alles andere als diskret verlaufen würde.

»Es ist unmöglich!«

»Wem sagst du das!«

Zehn Minuten, nachdem ihre jeweiligen Kunden gegangen waren, saßen die beiden Bewohner des dreistöckigen Gebäudes, das etwa in der Mitte der Back Street stand, Seite an Seite auf der unteren Treppe, jeweils einen Becher Tee in der Hand und einen großen grauen Hund unter sich, der sich auf den Fliesen rekelte.

»Mir bleiben vier Wochen, um jemanden zu finden, der dumm genug ist, Clive Knowles zu heiraten.«

»Und mir bleiben achtundvierzig Stunden, um jemanden zu finden, der Idas Cousine vergrault.«

Delilah drehte sich mit einem Ruck um und starrte Samson an. »Du machst Witze!«

Er schüttelte den Kopf. »Schön wär’s! Ida hat gerade die letzte halbe Stunde damit verbracht, von mir zu verlangen, meine Kontakte zu nutzen, um ihr zu helfen.«

»Aber du hast doch nicht etwa …?«

»Zugestimmt?« Samson zog eine Grimasse. »Ich musste. Bei der Stimmung, in der Ida steckte, war zu befürchten, dass sie andernfalls ihre Drohung wahr machen und nach Hause gehen würde, um ihre Cousine eigenhändig umzubringen!«

In den vierunddreißig Jahren, die Samson O’Brien Ida Capstick kannte – sein ganzes Leben lang –, hatte er sie noch nie so verzweifelt gesehen. Mit den Fingern am Tragegriff ihrer Einkaufstasche nestelnd hatte sie ihn geradezu angefleht, ihr in ihrer Not zu helfen. Nicht einmal ein Becher Tee und ein Teller mit selbst gebackenen Keksen aus der Peaks Patisserie hatten sie beruhigen können. Die Frau befand sich in einem Zustand, wie Samson es bei ihr noch nie erlebt hatte.

»Ihre Cousine …«, murmelte Delilah, die immer noch große Augen machte. »Ich wusste ja, dass sie sich nicht gut verstehen, aber das? Das ist ein bisschen extrem!«

»Kann schon sein. Aber wir stecken ja auch nicht in Idas Haut.«

»Das stimmt«, pflichtete Delilah ihm bei und dachte bei sich, dass es bestimmt nicht viele Menschen gab, die sich in Idas Haut zurechtfinden würden.

Die wortkarge Ida wohnte mit ihrem Bruder George in Thorpdale in dem Cottage, in dem sie aufgewachsen waren. Sie lebte zurückgezogen, fütterte sie beide mit ihren Einkünften durch und war eine grimmige Beschützerin ihres Bruders, dessen einzigartige Sichtweise der Welt nicht von allen verstanden wurde. Doch dieses einfache Leben war durch die Ankunft von Idas Cousine aus Bridlington gestört worden, die einen Monat zuvor ihren Mann verloren hatte. Und in der kurzen Zeit, da die trauernde Carol Kirby (geborene Capstick) unter Idas Dach gewohnt hatte, war das Leben für Ida offenbar unerträglich geworden.

So sehr, dass sie sich wünschte, ihre Cousine wäre weg. Wie auch immer das bewerkstelligt werden mochte …

»Es ist aber doch erst etwas mehr als eine Woche her, dass Carol bei ihr eingezogen ist«, fuhr Delilah fort. »Was um alles in der Welt kann in dieser Zeit geschehen sein, was zu so einem bizarren Ansinnen führt?«

»Putzen.«

Delilah sah ihn verständnislos an. »Was?«

»Putzen. Anscheinend hat Carol mit ihrer Ankunft alle häuslichen Pflichten in Croft Cottage übernommen, und als ob das nicht schon genug wäre, spricht sie jetzt auch noch davon, ein Reinigungsunternehmen zu gründen. Hier in Bruncliffe!«

»In Konkurrenz zu Ida …«, murmelte Delilah, die Idas Verärgerung allmählich zumindest teilweise nachvollziehen konnte.

»Genau.«

»Aber das ist alles, was Ida im Leben hat: dass sie putzen geht!«

Samson nickte. »Und jetzt versucht ihre Cousine, ihr das wegzunehmen. Auch wenn das nicht rechtfertigt, gleich so schwere Geschütze aufzufahren, kann man Idas Standpunkt irgendwie verstehen.«

»Und, was hast du jetzt vor? Ich meine, du willst doch nicht ernsthaft jemanden anheuern, oder?«

Samson lachte leise, aber er war sich nicht sicher, wie er Delilahs gleichmütig geäußerte Voraussetzung, er würde eine solche Person kennen, auffassen sollte. Obwohl sie natürlich recht damit hatte. Aus seiner Zeit in der Londoner Unterwelt kannte er viele Charaktere, die für ein angemessenes Honorar gerne bereit waren, ein Leben zu bedrohen. Oder es sogar auszulöschen. Aber das war nichts, worauf er stolz gewesen wäre.

»Nein«, sagte er. »Ich werde niemanden auf Idas Cousine hetzen. Ich schinde nur Zeit, bis mir eine bessere Lösung einfällt.«

»Hm!« Delilah verzog das Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte in Sachen Clive Knowles auch ein bisschen Zeit schinden, doch genau die läuft mir davon. Ich hatte nur eine Frau, die bereit war, sich mit ihm zu verabreden, und es hat mir all meine diplomatischen Fähigkeiten abverlangt, sie anschließend als Kundin zu behalten.«

Zu Samsons Glück bemerkte Delilah das Grinsen nicht, das bei der Erwähnung ihrer diplomatischen Fähigkeiten über seine Lippen huschte. Diplomatie war nämlich keine Eigenschaft, die man gemeinhin mit dieser speziellen Vertreterin der Familie Metcalfe in Verbindung brachte.

»Willst du dir die Kosten für einen schweren Jungen mit mir teilen?«, fragte er lachend. »Du würdest den heiratswilligen Frauen von Bruncliffe einen Gefallen damit tun.«

Delilah stöhnte. »Schön wär’s! Obwohl Clive Knowles seinem erbosten Date zufolge eigentlich keine Ehefrau, sondern vielmehr eine Putzfrau braucht.« Sie drehte sich beim Sprechen zu ihm um und sah den Funken des Interesses in seinen Augen aufglimmen.

»Eine Putzfrau …« Samson nickte. »Das ist es!«

»Eine Putzfrau …«, wiederholte sie und begann zu grinsen, als sie begriff, worauf er hinauswollte. »Du verdammtes Genie!« Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange, bevor sie die Treppe zu ihrem Büro hinaufeilte und dabei weitersprach. »Ich werde ihn überreden, Idas Cousine eine Stelle zu geben – eine Stelle als im Haus wohnende Reinigungskraft auf Mire End Farm! Glaub mir, sie wird keine Zeit mehr haben, Ida in die Quere zu kommen, wenn sie erst einmal dort arbeitet! Damit wäre zumindest dein Problem gelöst, und ich habe bessere Chancen, eine geeignete Frau für ihn zu finden …«

Samson hörte ihr nicht zu. Er starrte ins Leere, spürte die Wärme von Delilahs Lippen auf seiner Wange und stellte sich vor … »Was?«, murmelte er zu der grauen Gestalt, die sich vom Boden aufgerichtet hatte und ihn nun mit schief gelegtem Kopf und fragend hochgezogenen Augenbrauen betrachtete.

Tolpuddle, Delilahs Weimaraner, gab ein kurzes Bellen von sich; ob er Ermutigung oder Missbilligung damit ausdrückte, konnte Samson nicht sagen. Aber es war genug, um ihn aus seinen sinnlosen Tagträumen zu reißen.

In der realen Welt spielte Delilah Metcalfe in einer anderen Liga als er. In einer Welt, in der er die Tatsache verheimlichte, dass er ein suspendierter Polizist war, dem ein Verfahren und möglicherweise eine Haftstrafe drohten, verdiente sie so viel mehr als jemanden wie ihn. Eine Meinung, der ihr ältester Bruder Will beipflichten würde – vermutlich mit seinen Fäusten, sollte Samson jemals Schritte in diese Richtung unternehmen.

Das Rascheln von Papier in seiner Tasche unterstrich diese Einschätzung: der Brief, den Ida ihm von Twistleton Farm mitgebracht hatte.

Er nahm das Schreiben heraus und las es noch einmal durch. Eine Vorladung zu einer Anhörung am Freitag in London bei dem Beamten, der für die Untersuchung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe wegen groben Fehlverhaltens zuständig war. Es war der Beginn eines Prozesses, der dazu führen mochte, dass er in der Öffentlichkeit in Ungnade fiel und in der Folge wahrscheinlich aus Bruncliffe vertrieben würde. Abermals.

Samson steckte den Brief wieder in seine Tasche. Alles in allem: Welches Recht hatte er, an Delilah Metcalfe auf andere Weise zu denken als an eine Frau, der er Miete bezahlte? Aber dafür war es natürlich zu spät …

»Um wie viel Uhr ist dieser PR-Gag, den du auf die Beine gestellt hast?«, fragte er schroff, als Delilah oben an der Treppe wieder auftauchte.

»In zehn Minuten. Wir sollten uns also auf den Weg machen. Lucy erwartet uns.«

Als er aufstand und in den Flur ging, fragte sich Samson – nicht zum ersten Mal –, ob es klug war, worauf er sich da eingelassen hatte. Indem er schließlich dem Drängen seiner Vermieterin nachgegeben hatte, war er eine Partnerschaft mit ihr eingegangen. Und sie war jetzt im Begriff, das in die Welt hinauszuposaunen.

»Was kann es schon schaden, hm, mein Junge?«, murmelte er und strich Tolpuddle im Vorbeigehen mit einer Hand über den Kopf. Sie arbeiteten ja ohnehin längst als Team; ein paar Zeilen in der Lokalzeitung zu bekommen konnte die Sache auch nicht noch schlimmer machen.

James »Herriot« Ellison stand auf und schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid, Tom. Ich muss ihn in die Praxis bringen.«

Tom Hardacre starrte den Tierarzt an und dann den Jack Russell, der apathisch neben dem Ofen lag. »In die Praxis?«, fragte er und rang um Fassung, damit seine Stimme nicht brach. »Wird er sterben?«

»Es steht auf Messers Schneide«, antwortete Herriot und hasste sich dabei selbst. Seine Nutzlosigkeit. »Es ist jetzt nur noch ein Geduldsspiel.«

Er beschäftigte sich damit, seine Ausrüstung zusammenzupacken, um Tom die Zeit zu geben, die er brauchte, um sich zu sammeln. In den zehn Jahren, in denen Herriot inzwischen den Hardacre-Hof besuchte und sich um erkranktes Vieh und Komplikationen beim Ablammen kümmerte, hatte er den alten Tom noch nie so betroffen gesehen. Aber Rusty war sieben Jahre lang sein ständiger Begleiter gewesen, und nun stand er an der Schwelle des Todes.

»Was hat er? Können Sie es sagen?« Tom hatte sich umgedreht; er musste blinzeln, damit der Kummer ihm nicht die Tränen in die Augen trieb.

»Nicht mit Gewissheit – nicht ohne Tests. Sind Sie sicher, dass er nichts Unbekömmliches gefressen hat?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber er ist ein Hofhund.«

Herriot nickte; er wusste, was Tom meinte: Rusty stand nicht ständig unter Aufsicht. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen«, sagte er. »Sie wissen, dass wir unser Bestes für ihn tun werden.«

Mit von Sorge gezeichneter Miene blickte der Bauer erneut auf den Hund. »Was hast du da denn nur wieder angestellt?«, sagte er zu ihm. Er ging in die Hocke und legte eine Hand auf Rustys Kopf.

Herriot wartete eine Minute, ließ die Stille in die Küche zurückkehren, in der nur das Ticken der Uhr und das ferne Blöken aus dem Schafstall zu hören war. Dann nahm er seine Tasche in die Hand. »Soll ich ihn hinaustragen?«, fragte er sanft.

»Nein … nein.« Tom hatte den Hund bereits hochgehoben und ging zur Tür. »Es hat es verdient, dass ich ihn selbst trage.«

Sie gingen auf den Hof hinaus.

»Wie geht es dem kleinen Racker?« Die große Gestalt von Oscar Hardacre, Toms Sohn, stand in der Tür des Stalls, in der einen Hand ein neugeborenes Lämmchen, in der anderen eine Milchflasche.

»Es sieht nicht gut aus«, erklärte Herriot. Obwohl er nicht in dieser Gegend geboren war, hatten ihn die Jahre, die er in den Dales gelebt und gearbeitet hatte, gelehrt, nicht um den heißen Brei herumzureden. Seine Kunden schätzten Gesäusel nicht.

Oscar stieß einen kurzen Seufzer aus. Nickte und machte dann auf dem Absatz kehrt, um sich wieder an die Arbeit zu begeben. Tom legte Rusty in die Transportbox im Fond des Wagens, strich dem Hund mit der Hand rau über den Kopf und trat dann zurück.

»Falls es eine Veränderung gibt«, murmelte er, »irgendeine Veränderung …«

»Ich rufe Sie sofort an.«

Herriot Ellison stieg in seinen Kastenwagen und fuhr mit schwerem Herzen davon, während die Frühlingssonne auf eine Landschaft schien, die in diesen Tagen zum Leben erwachte.

3

»Halt still!«, ermahnte Lucy Metcalfe Delilah, während sie mit der Hand über den Rücken von deren weißem Hemd strich. »So kannst du dich nicht fotografieren lassen!«

»Du bist Samson zu nahe gekommen!«, rief Elaine Bullock mit lautem Lachen und deutete auf das lange schwarze Haar, das Lucy gerade entfernte, und dann auf die dunkle Mähne, die Samsons Schultern zierte. »Er ist in der Mauser!«

Samson grinste, als er die Röte sah, die Delilahs Wangen überzog.

»Gibt es nicht ein paar Tische, die du abräumen könntest?«, brummte Delilah und warf der Kellnerin der Peaks Patisserie einen bösen Blick zu.

Aber Elaine, die in Teilzeit kellnerte, um ihre akademische Karriere als Dozentin für Geologie zu finanzieren – wobei auch eine Rolle spielte, dass das Geschäft es sich nicht leisten konnte, für die Schäden aufzukommen, die Bruncliffes tollpatschigste Kellnerin verursacht hätte, sollte sie länger arbeiten –, rührte sich nicht von der Stelle. Mit einem halb aufgegessenen Käse-Scone in der Hand und Augen, die hinter ihrer Brille schelmisch funkelten, blieb sie an den Tresen gelehnt stehen.

Für einen frühen Dienstagmorgen im März war das Café von Lucy Metcalfe, das auf den zentralen Platz der Stadt blickte, verdächtig voll; die meisten Tische waren besetzt, aber sämtliche Kunden hatten sich von den Fenstern abgewandt, um das Geschehen im Inneren zu verfolgen. Es hatte sich herumgesprochen, dass ein Journalist vom Lokalblatt kommen würde, und an einem Tag, der nicht Markttag war, reichte das aus, um in Bruncliffe eine kleine Menschenmenge anzulocken. Samson war nicht überrascht, seinen Vater und dessen Freund Arty Robinson mit einer Gruppe aus dem Fellside-Court-Seniorenheim unter den bekannten Gesichtern sitzen zu sehen. Joseph O’Brien winkte verlegen, als er sah, dass sein Sohn in seine Richtung blickte.

»Und wie wird diese neue Allianz heißen?«, erkundigte sich Mrs Pettiford, die als eine der Ersten eingetroffen war und sich jetzt mit ihrem Milchkaffee Zeit ließ, obwohl sie mit ihrer Entschlossenheit, den Ereignissen beizuwohnen, riskierte, zu spät zur Arbeit zu kommen. Aber immerhin ging es hier um Ereignisse, die sie noch tagelang von ihrem Kassenschalter in der Bank aus eifrig an die Allgemeinheit weitergeben würde.

»Die Liebesdetektive!«, witzelte Arty Robinson, woraufhin der junge Bursche, der neben Elaine an der Theke herumstand, erst laut lachte und dann spöttisch schnaubte.

»Lach du nur!«, sagte Lucy und drehte sich zu dem Jungen um. »Du darfst jetzt gerne auf dem ganzen Weg zur Schule lachen!«

»Ach komm schon, Mama, eine halbe Stunde länger tut doch keinem weh! Ich verpasse doch nur Geschichte!«, bettelte Nathan Metcalfe. »Sag du es ihr, Samson!«

Aber Lucy zeigte auf die Tür, und Samson war nicht so dumm, sich in einen Streit dieser Familie einzumischen, auch wenn Lucy nur eine angeheiratete Metcalf war.

»Tut mir leid, Junge«, sagte er achselzuckend und legte einen Arm um sein Patenkind, das schnell heranwuchs und bald größer sein würde als er. »Du wirst hier auch nicht viel verpassen. Schau nach der Schule bei mir vorbei, dann erzähle ich dir, wie es gelaufen ist.«

»Und wir machen vielleicht eine Spritztour mit dem Motorrad?«, unternahm Nathan einen letzten Versuch, noch etwas für sich rauszuholen.

»Klar«, sagte Samson, was ihm ein diskretes Nicken von Lucy einbrachte. »Ich setze dich dann anschließend zu Hause ab.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Teenagers, das er schnell wieder verbarg, als er sich umdrehte, um seine Tasche zu nehmen und zur Tür zu latschen.

»Einen schönen Tag noch!«, sagte Lucy, umarmte ihn und lachte, als Nathan ihre Zuneigung ertrug. »Versuch, keinen Ärger zu bekommen!«

»Schön wär’s!«, brummte Nathan. In einem Watscheln aus Schuluniform und langen Gliedmaßen machte er sich mit gesenktem Kopf auf den Weg nach draußen in den Morgen, ein unwilliger Schüler.

Samson fühlte mit ihm. Er erinnerte sich an die Tage der endlosen Unterrichtsstunden, an das Gefühl, in Klassenzimmern gefangen zu sein, die scheinbar nichts zu bieten hatten, was für einen Jungen vom Land relevant war. Oder einem Jungen, dessen Vater abwesend war – in Nathans Fall wegen eines vorzeitigen Todes auf einem weit entfernten Schlachtfeld, in seinem eigenen Fall infolge der überwältigenden Anziehungskraft des Alkohols.

Er blickte durch das Café auf den weißen Kopf seines Vaters, der sich mit Arty unterhielt, vor sich nichts Stärkeres als eine Tasse Tee. Seit zwei Jahren schon war nichts Stärkeres als Tee über seine Lippen gekommen. Joseph O’Briens Abstinenz war für Samson bei seiner Heimkehr eine erfreuliche Überraschung gewesen. Erfreulicher jedenfalls als die Nachricht, dass das Haus, in dem er aufgewachsen war, sich nicht länger im Besitz der Familie befand – die letzte Tat seines Vaters, als er noch im Bann des Alkohols gestanden hatte. Verkauft für ein Taschengeld an Procter Properties wartete es jetzt auf die baulichen Veränderungen, die für es vorgesehen waren.

Samson verspürte wieder das vertraute Aufwallen der Verbitterung über diese Ungerechtigkeit und war deshalb froh, als die Tür des Cafés aufschwang und ein Mann mit einer Kamera um den Hals hereinkam, woraufhin überall wieder aufgeregtes Stimmengewirr einsetzte.

Der Traktor bog erst ab, als sie schon weit hinter Hellifield waren – zu einem Zeitpunkt, da DS Cooper längst eine brodelnde Masse aus Frustration geworden war.

»Verdammte Landeier!« Er trat das Gaspedal durch und jagte den Wagen durch eine Reihe von Kurven, dass die Reifen quietschten, sodass DC Benson sich aufs Schlimmste gefasst machte. »Eine verdammte Gefahr für den Straßenverkehr!«

Der junge Polizist versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, die auf sie zugerast kam, und kämpfte gegen die aufkommende Übelkeit an, die die unberechenbare Fahrweise seines Chefs bei ihm hervorrief.

»Inzucht, das ist das Problem!«, fuhr Cooper fort, der sich für das Thema zu erwärmen begann. »Zu wenige Menschen und zu viele Schafe. Das sind, kurz zusammengefasst, die Dales, mein Sohn. Eine Gegend, die man am besten meidet, meiner Meinung nach.«

Das Auto brauste durch eine weitere enge Kurve, und der hohe Schornstein der ersten der stillgelegten Mühlen Bruncliffes kam in Sicht, ihre grauen Steine von der Morgensonne beleuchtet. Grüne Hügel umgaben die kleine Stadt; eine Ansammlung von Schieferdächern und schmalen Sträßchen, die in der Umarmung der Fjälls ruhte und von einem großen Kalksteinfelsen überragt wurde.

Cooper bog von der Hauptstraße in Richtung Bruncliffe ab und brummte dabei weiter vor sich hin. »Verfluchtes Provinznest! Zweimal hier in einer Woche ist zweimal zu viel!«

Es war tatsächlich noch keine Woche her, seit sie Anlass gehabt hatten, Bruncliffe zu besuchen. Der Schnee, der an jenem Tag dick über den Dales gelegen hatte, war jetzt verschwunden, nur noch vereinzelte Flecken waren hoch oben auf den Fjälls zurückgeblieben. Die Kulisse vor ihnen stellte sich völlig anders dar als die gespenstische Einsamkeit des Cottages oben in Rainsrigg Quarry. Josh Benson traute sich nicht, es auszusprechen, aber in der Frühlingssonne sah das Städtchen fast hübsch aus.

Als sie die High Street entlangfuhren, wichen die Felder allmählich den Merkmalen eines Stadtgebiets: ein Rugbyklub, wo Bauarbeiter mit der Fertigstellung eines neuen Klubhauses beschäftigt waren; eine große Schule mit einem weitläufigen Campus; eine Grundschule, vor der es bunt und laut zuging, weil die Kinder gerade auf den Schulhof strömten. Als sie weiter in Richtung Stadtzentrum fuhren und die breite Straße allmählich von Geschäften gesäumt wurde, bog Cooper scharf rechts ab und lenkte den Wagen in eine dunkle Gasse, die kaum mehr als ein Durchgang war. Sie kamen auf der Back Street heraus, einem schmalen Sträßchen, das von dreistöckigen Gebäuden eingeschlossen war und größtenteils im Schatten lag.

Ein Antiquitätengeschäft, ein Damenausstatter, der – der Schaufensterpuppe nach zu urteilen – dem letzten Jahrhundert verhaftet war, ein Friseursalon mit einem Schaf und einer Schere auf dem Ladenschild, ein Geschäft, vor dem der Bürgersteig mit Plastikartikeln zugestellt war, und ein Pub, das im Zwielicht vor sich hin schmollte. Letzterer war das Fleece; nicht gerade ein einladendes Wirtshaus: die Mauersteine grau im Schatten, ungeschmückt von Blumenampeln.

»Das ist es.« Cooper hielt vor einem Gebäude auf der anderen Seite des Pubs an. »Dann wollen wir mal sehen, ob unser Spitzendetektiv da ist. Und ihm eine böse Überraschung bereiten.«

Das Geräusch der sich schließenden Autotüren tönte laut in der stillen Straße; ein paar Gesichter schauten aus dem Friseursalon, und ein mürrischer Blick beobachtete sie vom Pub aus. Die Polizeibeamten wandten den Schaulustigen den Rücken zu und gingen auf das Fenster im Erdgeschoss des Hauses zu, dessen Adresse man ihnen genannt hatte. Cooper schirmte die Augen mit der Hand ab und spähte, vorbei an den drei goldenen Buchstaben, die die Scheibe über ihm überspannten, ins Innere.

D D A

Benson legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben auf das Fenster in dem Stockwerk über seinem Sergeant. Die gleichen Buchstaben wölbten sich auf dessen Oberfläche.

D D A

Offenbar ein Bürogebäude.

»Da ist keiner drin«, sagte Cooper, ging zur Haustür und klingelte. Zur Sicherheit betätigte er noch energisch den Türklopfer.

Keine Reaktion. Abgesehen von einem zweiten Gesicht, das sich dem zugesellte, das sie bereits vom Pub aus beobachtete.

Sichtlich verärgert läutete Cooper erneut und hämmerte mit der flachen Hand an die Tür.

»Die sind nicht da.« Die Stimme kam vom Pub. Ein griesgrämig dreinblickender Mann stand in der Tür, in der einen fleischigen Hand ein Geschirrtuch, in der anderen ein Pintglas. »Nur, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte.«

Wütend über den Tonfall drehte sich Cooper zu dem Mann um. »Gut, dass Sie uns darauf hinweisen!«, blaffte er und zückte seinen Ausweis. »Wir sind auf der Suche nach Samson O’Brien. Wissen Sie, wo er steckt?«

»Nö.« Der Mann wischte mit dem Handtuch über den Rand des Glases, ohne den Blick vom Gesicht des Sergeants zu nehmen. »Worum geht es denn?«

»Es reicht, wenn wir das wissen.«

Der Mann nickte langsam. »Da haben Sie wohl recht.« Sein Blick durchbohrte den älteren Polizeibeamten. Unverschämt! Ohne ein unziemliches Wort zu sagen.

Cooper trat vom Bürgersteig herunter und ging auf den Mann zu, der weiter das Glas abwischte. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht wissen, wo er ist?«

»Ganz sicher.« Das Geschirrtuch quietschte auf dem gut polierten Glas.

»Wieso habe ich das Gefühl, dass Sie lügen?«

Das Geschirrtuch hielt mitten im Kreisen inne und löste sich vom Glas, als beide Hände herabsanken und der Mann im Eingang des Pubs die Schultern straffte, bis die beeindruckende Masse seiner Brust sein Hemd zu sprengen drohte. »Nennen Sie mich einen Lügner?«

Benson spürte, dass das nicht gut ausgehen konnte, und ergriff den Arm seines Chefs. »Kommen Sie, Sarge!«, sagte er und führte den älteren Detective zum Auto. »Lassen Sie uns einen Kaffee trinken und später zurückkommen. Ich könnte ein Specksandwich vertragen.«

Mit einem letzten Blick über die Schulter ließ sich DS Cooper wegführen, vor allem, so vermutete Josh Benson, wegen des mächtigen Brustkorbs in der Tür und der beiden dazugehörigen kräftigen Hände.

Schneidig fuhr der Wagen von der Bordsteinkante weg und die Straße hinunter in Richtung Marktplatz. Vom Eingang seines Pubs aus sah Troy Murgatroyd zu, wie er sich entfernte. Obwohl er normalerweise nicht zu altruistischen Handlungen neigte, vor allem nicht, wenn es um den lästigen jungen O’Brien ging, wollte Troy nicht, dass Außenstehende ihre Nasen in Bruncliffe-Angelegenheiten steckten, selbst wenn diese Dahergelaufenen einen Dienstausweis der Polizei hatten. Deshalb war das Wissen, dass O’Brien in dem schicken Café am Marktplatz war, nicht weitergegeben worden. Wie so manches Geheimnis, das bei ein oder zwei Bier zu viel im dunklen Inneren des Fleece unbeabsichtigt ausgeplaudert worden war, blieb auch dieses im Besitz des wortkargen Wirtes.

»Wirst du sie anrufen? Sie warnen?« Seth Thistlethwaites runzlige Gestalt war in der Tür erschienen.

»Wär wohl besser.« Troy stopfte das Geschirrtuch in das Pintglas, holte sein Handy heraus und hielt es ans Ohr; in der morgendlichen Stille war das Rufzeichen gut zu hören.

Seth schaute wieder auf die Straße in die Richtung, in die das Auto verschwunden war, und hoffte, dass die Sache nicht so ernst war, wie sie ausgesehen hatte.

Denn ernst schien es wirklich zu sein – der ältere Detective hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er sich wegen einer Kleinigkeit so weit aus dem Fenster lehnen. Er hatte Streit gesucht. Vielleicht hoffte er, bei Samson damit an der richtigen Adresse zu sein, und er wäre es früher wohl auch gewesen, denn als junger Bursche hatte Joseph O’Briens Sohn einen hitzigen Charakter gehabt. Aber seit seiner Rückkehr nach Bruncliffe hatte er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen und so den Erwartungen der Einheimischen getrotzt, die damit rechneten, dass er wieder in alte Gewohnheiten zurückfiel.

Das hier jedoch, das wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die sich geweigert hatten, die Metamorphose von Bruncliffes schwarzem Schaf zu akzeptieren. Zwei Polizisten, die nach Samson O’Brien suchten! Das konnte nicht weniger als ernsthaften Ärger bedeuten.

»Geht nicht ran«, sagte Troy und steckte das Handy weg.

»Ich geh mal rüber.« Seth zog seine Jacke an und wickelte sich einen Schal um den Hals. »Wollen wir hoffen, dass es nichts zu bedeuten hat.«

Troy Murgatroyd, Zyniker, lange bevor er Kneipenwirt geworden war, grunzte. »Wenn O’Brien beteiligt ist, gibt es zwangsläufig Ärger. Ärger ist sein zweiter Vorname!«

»Es wird ein ganzheitliches Unternehmen sein, das das Beste aus beiden Welten vereint. Ich bringe das Fachwissen der Dales Detective Agency mit meinem technologischen Know-how zusammen, um ein komplettes Paket von Sicherheitsdienstleistungen anzubieten.«

Samson hob angesichts Delilahs geschliffener Rede eine Augenbraue und erntete von ihr einen strengen Blick als Antwort. Aber der Reporter, der ihr gegenübersaß, bemerkte nichts davon, denn er war zu sehr damit beschäftigt, sich Notizen auf seinem Tablet zu machen, dieweil sein Handy auf dem Tisch zwischen ihnen lag und das Interview aufzeichnete. Er hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken und einen Bissen von seinem Scone zu nehmen, und gab dabei anerkennende Geräusche in Lucys Richtung von sich.

»Haben Sie die gemacht?«, fragte er.

Sie lächelte. »Alles in Peaks Patisserie wird hier im Hause hergestellt.«

»Und dieses neue Unternehmen«, fuhr er fort und gestikulierte dabei mit seinem halb gegessenen Scone in Samsons und Delilahs Richtung, bevor er sich wieder Lucy zuwandte, »wie kann das Ihrem Café nützen? Wozu braucht ein Laden wie dieser einen Sicherheitsdienst?«

»Auch kleine Betriebe müssen sich im Internetzeitalter schützen«, antwortete Lucy souverän und ließ sich nicht anmerken, dass sie am Abend zuvor bei heißer Schokolade und frisch gebackenen Muffins gecoacht worden war. »So kann ich mich bezüglich aller Bereiche meines Unternehmens sicher fühlen.«

»Sehen Sie, wir reden hier nicht nur über die Gefahr, dass jemand physisch in ein Gebäude einbricht«, schaltete Delilah sich ein. »Mit dem Fortschreiten des digitalen Zeitalters müssen Firmen jetzt auch das Risiko virtueller Diebstähle in Betracht ziehen. Deshalb reicht eine Alarmanlage an der Vorderseite eines Hauses heutzutage längst nicht mehr aus. Man braucht jetzt auch jemanden, der die Computer überwacht. Ab heute bietet die Dales Detective Agency das gesamte Paket an.«

Samson musste zugeben, dass es sich viel besser anhörte, als er es sich vorgestellt hatte. Als Delilah vorgeschlagen hatte, ihrer beider Talente zu kombinieren – seine Erfahrungen im Sicherheitsbereich mit ihren Kenntnissen der IT und der damit verbundenen technischen Spielereien –, war er skeptisch gewesen. Aber sie hatte ihren Wert bereits in der Handvoll Fälle bewiesen, die er seit seiner Rückkehr in Bruncliffe übernommen hatte. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Thornton-Sache hatte sie dann den größten Teil des Wochenendes damit verbracht, ihn zu bearbeiten, und ihr Enthusiasmus hatte ihn schließlich davon überzeugt, es zu versuchen.

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sie Lucy als erste Kundin gewonnen und ein Interview mit der örtlichen Zeitung, dem Craven Herald, arrangiert.

Es war nicht zu leugnen: Delilah Metcalfe machte keine halben Sachen.

»Ausgezeichnet«, sagte der Reporter, »das sollte genügen!« Er legte sein Tablet weg und griff nach der Kamera. »Nur noch ein paar Fotos von Ihnen dreien, und wir sind fertig.« Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und runzelte die Stirn, als er die überfüllten Tische betrachtete und bemerkte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. »Vielleicht mit dem Café als Hintergrund?«, schlug er vor. »Aber ohne dass alle in unsere Richtung schauen …«

»Verhaltet euch natürlich, ihr alle!«, befahl Elaine und klatschte in die Hände, um die Gäste, die das Geschehen unverhohlen mitverfolgt hatten, zu ermahnen. »Oder wir werden euch alle mit Photoshop wegretuschieren!«

Es folgten Stühlerücken und Tassenklirren, im Hintergrund klingelte unbeachtet das Telefon, und als Delilah und Lucy ihre Positionen einnahmen, wurden hier und da leise Gespräche begonnen.

»Sie auch!«, sagte der Reporter mit einem Blick über die Schulter auf Samson, der inzwischen außerhalb des Bildausschnitts am Tresen stand.

Aber Samson schüttelte den Kopf. »Bedaure, ich bin nicht besonders fotogen«, erwiderte er grinsend.

Der Reporter sah erst ihn und dann Delilah an, aber die zuckte nur mit den Schultern. »Er ist schüchtern«, erklärte sie. »Sie werden sich mit uns beiden begnügen müssen.«

»Er hat Angst, dass die Linse kaputtgeht!«, kommentierte jemand aus dem Hintergrund.

»Holt Tolpuddle rein, damit er seinen Platz einnimmt!«, rief ein anderer. »Das ist ein besserer Detektiv als die beiden zusammen!«

Die Kundschaft der Peaks Patisserie brach in Gelächter aus, das erst nach einigen Augenblicken abebbte, aber schließlich hob der Reporter seine Kamera.

»Wenn alle so weit sind?«, fragte er. Er stellte die Schärfe auf das Grüppchen ein und begann, Fotos von allen zu schießen.

Draußen, auf der anderen Seite des Platzes, fuhr ein Auto auf den Marktplatz.

»Der wusste verdammt gut, wo O’Brien steckt! In diesem Drecksloch passiert nichts, ohne dass alle davon wissen. So ein Ort ist das.«

DC Benson konnte seinem Chef nicht widersprechen. Als der Wagen über den gepflasterten Platz fuhr, konnte er die Aufmerksamkeit spüren: Augen, die hinter Schaufenstern hervorlugten, Fußgänger, die sich umdrehten und glotzten. Es gab sicher nicht viel, das den prüfenden Blicken der Einwohner von Bruncliffe entging.

»Und was den Kaffee angeht, so hoffe ich, dass Sie mit löslichem zufrieden sind«, spottete DS Cooper. »Das hier ist nicht gerade die typische Cappuccino-Stadt.«

»Wie wär’s mit da drüben?« Josh Benson zeigte auf ein Café, das mit im Sonnenschein glänzenden Scheiben auf den Platz hinausblickte, in dem viel Betrieb herrschte und an dessen Geländer ein großer grauer Hund angebunden war.

»›Peaks Patisserie‹?«, las Cooper das Schild mit einem unfreundlichen Lachen vor. »Da will aber jemand Eindruck schinden! Na ja, ich schätze, für einen schnellen Kaffee wird’s der Schuppen tun.«

Sie ließen das Auto auf dem Kopfsteinpflaster stehen und gingen auf das Café zu. Und der Hund fing an zu bellen.

»Was soll das mit der Weigerung, sich fotografieren zu lassen?«, fragte Lucy Metcalfe Delilah mit leiser Stimme, während der Reporter weiter munter vor sich hin knipste. »Ich hätte Samson nicht für einen von der verschämten Sorte gehalten.«

Delilah schnaubte verächtlich und warf dann dem Mann, der die Fotos machte, einen entschuldigenden Blick zu. »Verzeihung!«

»Wenn Sie versuchen könnten, stillzustehen?«, brummelte der und bewegte sich, um einen anderen Aufnahmewinkel auf die beiden Frauen zu bekommen. Er schoss noch ein paar Bilder und beugte sich dann über die Kamera, um sein Werk zu begutachten.

»Es gab keine andere Möglichkeit, ihn dazu zu bringen, der Sache hier zuzustimmen«, flüsterte Delilah und zeigte mit dem Kopf in Samsons Richtung. »Keine Fotos.«

Lucy runzelte die Stirn, dann sah sie, dass die Kamera noch einmal hochgehalten wurde, und lächelte. »Eigenartig«, murmelte sie.

»Das beschreibt ihn ziemlich gut«, gab Delilah flüsternd zurück. »Aber schließlich ist er Privatdetektiv – Diskretion und so weiter. Seine langen schwarzen Locken könnten ebenso gut eine Perücke sein, nach allem, was wir wissen.«

Diesmal war es Lucy, die in Gelächter ausbrach, woraufhin der Reporter protestierend die Hände hob. »Im Ernst, meine Damen, ich brauche nur ein anständiges Foto! Bitte, konzentrieren Sie sich!«

Doch als er seine Kamera erneut scharf stellte, ertönte draußen vor dem Fenster ein wildes Bellen, und alle im Café drehten sich in Richtung des Geräuschs, was dem Journalisten einen gedämpften Fluch entlockte. Auch ohne auf den Bildschirm zu schauen wusste er, dass die Aufnahme ruiniert war.

Von seinem Platz an der Theke der Peaks Patisserie aus hatte Samson das Geschehen verfolgt, froh, dass Delilah sich an ihre Vereinbarung gehalten hatte: keine Fotos. Er war sich nicht sicher, wie groß das Risiko war, für das neue Unternehmen zu werben, zumal Delilah während des gesamten Gesprächs geflissentlich darauf geachtet hatte, es als Dales Detective Agency zu bezeichnen, und seinen Namen nicht erwähnt hatte. Aber ein Foto – das war etwas ganz anderes. Es würde im Internet auftauchen, und damit war die Möglichkeit gegeben, dass es vor den Augen genau der Leute auftauchte, von denen er nicht wollte, dass sie ihn fanden. Die Leute, die ihn aus London gejagt hatten.

Außerdem war es viel unterhaltsamer, Delilah dabei zuzusehen, wie sie den Reporter von dieser Seite der Linse aus zur Verzweiflung brachte. Der bedauernswerte Mann tat sein Bestes, um die beiden Frauen im Bild einzufangen, aber die Schwägerinnen hörten nicht auf, zu plappern und zu lachen. Dann, als die Kamera wieder hochgehalten wurde, begann der am Geländer vor dem Café angeleinte Tolpuddle zu bellen.

Zwei Männer kamen auf die Stufen zu. Hinter ihnen parkte ein Auto auf dem Kopfsteinpflaster.

Samson erkannte sie sofort: Cooper und Benson, die Ermittler im Fall Thornton. Zweifellos waren sie noch damit beschäftigt, nach der Untersuchung im Rainsrigg-Steinbruch in der Woche zuvor den Papierkram aufzuarbeiten – hoffentlich ohne die Feindseligkeit, die sie ihm bei ihrer letzten Begegnung entgegengebracht hatten.

In einem großen Bogen um den unaufhörlich bellenden Tolpuddle kamen die Polizisten die Treppe hinauf und öffneten die Tür zum Café.

Einen Moment lang erfüllte eine Kakofonie aus Hundegebell, Gelächter und Reportermurren die Peaks Patisserie. Im nächsten Moment herrschte Stille.

Zwei Männer hatten das Café betreten. Delilah Metcalfe hatte keine Schwierigkeiten, sie einzuordnen – erst letzte Woche hatte sie oben im Quarry Cottage versucht, die gereizte Atmosphäre zwischen ihnen und der hiesigen Polizei mithilfe von Specksandwichs und Marmeladendonuts zu entspannen.

DS Cooper und DC Benson.

Sie standen im Eingang – der größere, schlankere DC Benson hinter seinem stämmigeren älteren Kollegen – und musterten die Anwesenden, die sie ihrerseits beobachteten. Ihre Augen hefteten sich auf Samson.

Da hätte sie es wissen müssen. Der Blick des älteren Polizisten, Cooper, die Art, wie sich das langsame Lächeln über seine dünnen Lippen ausbreitete.

Aber was hätte sie tun können? Samson sagen, er solle laufen? Tolpuddle losbinden, um seine Flucht zu unterstützen?

So stand sie da mit dem schrecklichen Gefühl, dass Ärger bevorstand; ein Gefühl, das seit Samsons Rückkehr nach Hause ein fester Bestandteil ihres Lebens zu sein schien.

»Guten Morgen, Männer«, sagte Samson und ging auf sie zu, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt. »Ich habe nicht damit gerechnet, Sie so schnell hier wiederzusehen.«

DS Cooper lachte. »Glauben Sie mir, wir waren auch nicht erpicht darauf zurückzukommen!« Er hob die Hand, um die von Samson zu ergreifen. »Aber man folgt dem Ruf der Pflicht.«

»Sie sind also dienstlich hier?«

»Allerdings!« Ein metallisches Klirren, und aus dem Nichts erschien ein Paar glänzender Handschellen, einer der Ringe legte sich um Samsons ausgestrecktes Handgelenk und rastete ein.

»Was zum …?« Samson starrte auf die silberne Schelle und dann auf den Polizisten.

»Samson O’Brien«, erklärte DS Cooper und erhob zugunsten der versammelten Gäste, die das Geschehen perplex verfolgten, seine Stimme, »ich verhafte Sie wegen Mordverdachts!«

Delilah spürte, wie der Boden unter ihren Füßen ins Wanken geriet.

4

Wegen Mordes verhaftet!

Mrs Pettiford schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund, Delilah wurde blass und musste an einem Tisch Halt suchen. Samson spürte, wie ihm die Arme hinter den Rücken gedreht wurden, sich die zweite Metallschelle über seinem linken Handgelenk schloss, und er hörte den selbstgefälligen Tonfall von DS Cooper, mit dem dieser ihm seine Rechte vorlas. Dann ein Schrei aus dem hinteren Teil des Cafés.

»Da muss ein Irrtum vorliegen!« Joseph O’Brien war schockiert aufgesprungen und bahnte sich jetzt einen Weg durch die Menge, und sein irischer Akzent wurde durch seine Bestürzung noch unterstrichen. »Kommt schon, Jungs, ihr habt den Falschen erwischt. Samson könnte keiner Fliege was zuleide tun!«

Er streckte die Hand aus, um die Polizisten aufzuhalten und seinen Sohn zu beschützen, aber Cooper stieß ihn mit der flachen Hand weg, sodass der gebrechliche Senior nach hinten gegen einen der Tische taumelte und nur Elaine Bullocks ausgestreckter Arm ihn vorm Fallen bewahrte. Samson schrie protestierend auf und wollte seinem Vater zu Hilfe eilen, doch ein scharfer Ruck an den Handschellen riss ihm die Handgelenke im Rücken hoch, und Schmerz schoss durch seine Arme.

»Machen wir die Sache doch nicht komplizierter als unbedingt nötig!«, sagte Cooper, während sich verärgertes Murren unter den versammelten Einheimischen erhob. Doch Arty Robinson war bereits auf dem Weg nach vorne; mit vor Wut fleckigem Gesicht pflügte seine stämmige Statur durch die Gäste.

»Sie arrogantes -!«

»Sachte, Arty!«, mahnte Samson, während Lucy Metcalfe versuchte, den alten Mann zurückzuhalten. »Es bringt doch nichts, wenn wir beide verhaftet werden.«

»Verschwinden wir von hier, Sarge«, murmelte der jüngere Polizist und drängte Samson zur Tür, bevor der Ärger überschwappte.

Als das Trio draußen auf dem Marktplatz war, fing Tolpuddle wieder an zu bellen, zerrte an seiner Leine in dem Versuch, zu Samson zu gelangen. Leute kamen aus Geschäften, um zu sehen, was der Grund für die Aufregung war. Mrs Hargreaves, die vor der Metzgerei stand, schaute von der Treppe auf, die sie geschrubbt hatte. Der Anwalt Matty Thistlethwaite, der gerade sein Büro betreten wollte, runzelte besorgt die Stirn, während von Weitem sein Onkel Seth auf den Platz zugeeilt kam, dessen Gesichtsausdruck den Schock widerspiegelte, unter dem Samson stand.

»Einsteigen!«, schnauzte DS Cooper, stieß Samson in den Fond des zivilen Polizeiautos und schlug die Tür zu.

Samson blickte zum Café zurück und sah eine verwirrte Delilah auf den Stufen stehen, eine Hand auf Tolpuddle gelegt, um ihn zu beruhigen, daneben sein Vater, der immer noch die Unschuld seines Sohnes beteuerte. Und um sie herum die versteinerten Mienen der guten Leute von Bruncliffe. Dieselben Mienen, die ihm vor all den Jahren freudig zugesehen hatten, als er die Stadt verließ.

Dann ein heller Blitz neben dem Auto. Der Reporter. Kamera in der Hand.

Er hatte endlich ein Foto von Samson bekommen. Eines, das gut genug war, um es auf die Titelseite zu schaffen.

Die Nachricht verbreitete sich in Bruncliffe wie ein von einer achtlos weggeworfenen Zigarettenkippe entfachtes Feuer in den Fjälls an einem heißen Sommertag. Mrs Pettiford trug das Ihre dazu bei, diese Flammen zu schüren, indem sie zur Arbeit eilte und jedem, der in die Bank kam, nur zu gerne von den dramatischen Ereignissen erzählte, deren Zeugin sie geworden war.

»Mord!«, verkündete sie in schockiertem Tonfall allen ihren Kunden, die daraufhin ihrerseits pflichtschuldig die Geschichte von Samsons Verhaftung in jeden Winkel der Stadt trugen.

Auf der anderen Seite des Platzes, in Whitakers Zeitungsladen, verweilten die Leute am Tresen, Zeitungen und Zeitschriften in der Hand, und staunten über die morgendlichen Entwicklungen. Sie zeigten sich dabei wenig überrascht angesichts des sozialen Absturzes des jungen O’Brien. Man hatte ja schon immer gewusst, dass es sich bei ihm um einen Taugenichts handelte! Doch während viele in der Stadt den jungen Mann, der schon so lange einen schlechten Ruf hatte, bereitwillig verurteilten, waren andere nicht gewillt, den ersten Stein zu werfen.

Im düsteren Inneren des Fleece weilte Seth Thistlethwaite bei seinem täglichen Pint, schnauzte jeden an, der sich in spekulativem Gerede über den jüngeren O’Brien erging, und widersetzte sich trotzig der öffentlichen Geißelung dessen, der schon immer einen Platz in einem Herzen gehabt hatte, von dem gemeinhin behauptet wurde, es sei aus Stein. Und Troy Murgatroyd – ein Wirt, der zwar nicht zu denen gehörte, die sich in die Lokalpolitik einmischten, aber für seine Intoleranz gegenüber zögerlichen Zechern bekannt und der festen Überzeugung war, dass Gäste nachbestellen oder weiterziehen sollten – drangsalierte den Pensionär nicht ein einziges Mal, als dieser seinen einseitigen Kampf zur Verteidigung des Verhafteten führte.

Zurück auf dem Markt, auf der Sonnenseite des gepflasterten Platzes, stieß die lange Schlange der Kunden in der Metzgerei auf den gleichen Widerstand, wenn Kritik am jungen Samson geübt wurde. Nur wenige wagten es, das Thema zur Sprache zu bringen, denn Mrs Hargreaves schwang ihr Hackbeil mit ungewöhnlich schwerer Hand, und das dumpfe Aufschlagen der Klinge auf Knochen reichte aus, um jedes unproduktive Geschwätz über eine Person, die sie bekanntermaßen bevorzugte, zu unterbinden.

Bei Taylor’s Estate Agents, dem Immobilienmakler, wurde die Neuigkeit rabiat überbracht, als Julie, die Empfangsdame, ins Büro geplatzt kam.

»Samson O’Brien ist verhaftet worden. Wegen Mordes!«, verkündete sie, und ihre Worte genügten, um die drei im Raum Anwesenden dazu zu bringen, sich ihr zuzuwenden. Bernard Taylor, der Firmeninhaber und derzeitige Bürgermeister, blieb abrupt in der Tür zu seinem Büro stehen, während die schlaksige Gestalt Stuart Listers, der für Vermietungen zuständige Mitarbeiter, auf einen Stuhl sank.

»Mord? Im Ernst?«, murmelte Stuart ungläubig.

Julie nickte. »Hab’s von Mrs Pettiford gehört, die gerade im Café war. Er ist in Handschellen abgeführt worden. Es ist Stadtgespräch«, sagte sie und deutete dabei mit der Hand auf den Marktplatz vor den Fenstern. »Keiner redet mehr von was anderem!«

Bernard Taylor sagte kein Wort. Er schüttelte nur den Kopf, ging in sein Büro und begab sich zu seinem Schreibtisch, das Handy in der Hand.

Keiner von ihnen dachte in diesem Moment an die andere Person im Raum und daran, wie sich diese plötzliche Nachricht auf sie auswirken könnte. Nicht dass sie sich etwas hätte anmerken lassen.

Mit heftig pochendem Herzen wickelte Ida Capstick das Kabel des Staubsaugers wieder auf, bevor sie ihn in den Abstellschrank im hinteren Teil des Raumes schob. Sie bemerkte erst, wie sehr ihre Hand zitterte, als sie die Tür schloss.

So ein Schock! Verhaftet – wegen Mordes! Der arme Junge! Nicht eine Minute lang hielt Ida Samson O’Brien dazu fähig, so etwas zu tun. Wie musste er sich fühlen? Und erst sein Vater? Das würde bestimmt dazu führen, dass Mr O’Brien senior wieder zur Flasche griff!

Mit ihrem üblichen verschlossenen Gesichtsausdruck, der nichts von dem Aufruhr verriet, der sich dahinter verbarg, nahm sie ihren Eimer mit den Putzutensilien und schickte sich zum Gehen an. An ihren Schreibtischen unterhielten sich Julie und Stuart noch immer über die schockierenden Neuigkeiten. Und als Ida an der teilweise geöffneten Tür des separaten Büros vorbeikam, hörte sie Bernard Taylor am Telefon sprechen.

»Mord«, sagte er gerade. »Ziemlich sicher.«

Die Putzfrau spürte einen Stich im Herzen. So viel zu unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist. In einer Stadt, die ihn schon vor über einem Jahrzehnt verurteilt hatte, hatte Samson O’Brien keine Chance.

Der Wagen schoss um eine weitere Ecke, und Samson gab sich Mühe, den Aufprall so gut wie möglich abzufedern, als er mit hinter dem Rücken gefesselten Händen gegen die Tür geschleudert wurde.

»Alles klar dahinten?«, fragte DS Cooper und blickte süffisant grinsend in den Rückspiegel.

Er machte das mit Absicht. Er fuhr die kurvenreiche Straße entlang, als wäre es eine Rallye-Strecke, und sorgte dafür, dass Samson auf dem Rücksitz gut durchgeschüttelt wurde. Er wollte ihn weichklopfen, bereit für das Verhör.