Ein Earl verliert sein Herz - Mary Nichols - E-Book

Ein Earl verliert sein Herz E-Book

Mary Nichols

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Beschreibung

Die unkonventionelle junge Erbin Charlotte denkt nicht ans Heiraten. Doch als sie Roland Temple, Earl of Amerleigh, wiedersieht, stürzt sie in einen Aufruhr der Gefühle, denn plötzlich steht ihr Herz in Flammen. Aber dann hält er um ihre Hand an, und sie muss fürchten: Nicht aus Liebe, aus purer Berechnung will er sie zur Frau ?

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Seitenzahl: 286

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IMPRESSUM

Ein Earl verliert sein Herz erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2008 by Mary Nichols Originaltitel: „The Earl And The Hoyden“ erschienen bei: Mills & Boon, London in der Reihe: HISTORICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe MYLADY HOCHZEITSBANDBand 1 - 2010 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Corinna Wieja

Abbildungen: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9780263202175

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

1814

Welch herrlicher Frühlingsmorgen für einen Ausritt, dachte Charlotte, während sie auf ihrem Pferd Bonny Boy durch den Park, der ihr Herrenhaus Mandeville umgab, hinüber zum höher gelegenen Wäldchen galoppierte. Sie war froh, der unerträglichen Hitze von Jamaika entkommen und wieder zu Hause in England zu sein.

Zu ihrer Rechten erhoben sich sanft bewaldete Hügel mit Laubbäumen, an deren Zweigen sich bereits hier und da zartes Grün zeigte. Zu ihrer Linken trennten heidebedeckte Hänge Mandeville von Amerleigh. Die Heide stand noch nicht in Blüte, doch die Stechginstersträuche überzogen das Land mit buttergelben Tupfern.

Seit dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren war Mandeville in Charlottes Besitz, ebenso wie eine Baumwollweberei im fünf Meilen entfernten Scofield, der Plantage in Jamaika und der „Fair Charlie“, ihrem Handelsschiff. Außerdem gehörte ihr auch die Bleimine auf dem Gelände, über das sie gerade ritt, obwohl diese inzwischen so oft überflutet worden war, dass sie kaum noch profitable Erträge erwirtschaftete. War all dieser Besitz die Opfer, die er von ihr forderte, wert?

Und was hatte sie überhaupt geopfert? Ihre Kindheit vielleicht und wohl auch die Möglichkeit, zu heiraten und eine Familie zu gründen, denn ihr war bewusst, dass ihr Lebensstil auf Männer abschreckend wirken musste, weshalb ihr bisher auch nur verzweifelte oder gierige Glücksritter den Hof gemacht hatten. Doch mit solchen Mitgiftjägern wurde sie leicht fertig. Sie wollte den Bund der Ehe auch gar nicht eingehen, denn dies würde bedeuten, dass ihr gesamtes Eigentum in den Besitz ihres Gatten überginge. Dann würde ihr Gemahl sämtliche Entscheidungen treffen, und sie war nicht bereit, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Für niemanden. Einzig, dass sie für ihre Freiheit auf Kinder verzichten musste, reute sie. Nun, sie würde ihre Zuneigung eben den Kindern der Dorfbewohner schenken, wenn es auch nicht dasselbe war, wie ein eigenes Kind zu haben, das sie lieben konnte, wie nur eine Mutter es zu lieben versteht.

Wäre ihre Mutter nicht bei der Geburt gestorben, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie hätte ihre Tochter gewiss in den gesellschaftlichen Konventionen unterwiesen, zu einer Dame erzogen und dafür gesorgt, dass sie einen passenden Gatten fand. Womöglich hätte sie auch Geschwister bekommen, einen Bruder, der die Nachfolge ihres Vaters antrat. So aber hatte ihr Vater sie stets wie einen Jungen behandelt. Sie hatte sich nichts daraus gemacht, dass er sie immer Charlie nannte, vielmehr sah sie darin nur einen liebevollen Kosenamen. Erst später war Charlotte klar geworden, dass sich ihr Vater geweigert hatte, sie als Tochter wahrzunehmen, weil er sich von ganzem Herzen einen Sohn wünschte, den er nach seinem Ebenbild formen konnte.

Wahrscheinlich hat Vater mich dennoch auf seine Weise geliebt, vermutete sie, doch gesagt hatte er ihr das nie und ihr auch nie nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben. Als kleines Kind überschüttete sie daher ihre Gouvernanten mit Zuneigung. Diese waren jedoch von ihrem Vater aufgrund ihrer Strenge und ihres praktischen Wesens ausgewählt worden, deshalb wurden ihre Liebesbezeugungen stets schroff zurückgewiesen. Bald schon hatte sie gelernt, ihre Gefühle nicht mehr zu zeigen, wenngleich sich die sanfte Seite ihres Wesens nie ganz unterdrücken ließ und sie leidenschaftliches Mitgefühl für die weniger Glücklichen empfand. Grausamkeit, gleich ob gegen Mensch oder Tier, war ihr fremd.

Ermutigt durch ihren Vater, war sie im Laufe der Zeit eine furchtlose Reiterin geworden, hatte in den wirbelnden Wassern der Flüsse gefischt und konnte auch mit Pistole und Gewehr umgehen. Auch war sie sich nicht zu schade, bei Pferden, Schafen und Hunden Geburtshilfe zu leisten. Ihr Vater hatte außerdem Wert darauf gelegt, dass sie einen guten Geschäftssinn entwickelte und sich auf Buchhaltung und Rechnungswesen ausgezeichnet verstand, eine Fähigkeit, mit der sie Jacob Edwards, ihren Rechtsberater, und William Brock, den Leiter der Weberei, immer wieder verblüffte. Auch den Leiter ihrer Plantage in Jamaika hatte sie mit ihren Kenntnissen ziemlich überrascht.

Charlotte war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie den Hufschlag des herannahenden Pferdes nicht hörte, und so traf es sie völlig unvorbereitet, als zu ihrer Rechten ein Reiter vor ihr aus dem Wäldchen preschte. Vor Schreck bäumte Bonny Boy sich auf, und sie benötigte all ihre Kraft und all ihr Geschick, sich im Sattel zu halten und den Hengst wieder zu beruhigen. Auch der andere Reiter hatte seine liebe Not, sein Pferd zum Stehen zu bewegen.

„Sie hirnverbrannter Trottel!“, brüllte er, während er immer noch heftig an den Zügeln zog und sie daher keines Blickes würdigte. „Was in Dreiteufelsnamen haben Sie sich dabei gedacht, hier wie wahnsinnig geworden durch die Gegend zu galoppieren? Wir sind nicht auf der Rennbahn, Sie hätten mich töten können!“

„Und Sie mich.“

Der Klang der weiblichen Stimme ließ ihn aufhorchen. Sprachlos vor Erstaunen wandte er sich um. Der Reiter, der im Herrensitz auf dem großen Pferd saß, war tatsächlich eine Frau. Aber was für eine Frau! Sie trug die Reitjacke eines Mannes, und das einzige Zugeständnis an ihre Weiblichkeit war ein vorne offener Rock, unter dem braune Lederkniehosen und Reitstiefel hervorlugten. Trotz seiner Wut konnte er nicht umhin, ihre langen wohlgeformten Beine zu bewundern. Offenbar machte sie sich nichts aus den modischen Gepflogenheiten der Damenwelt und dem daraus resultierenden Wunsch, sich beharrlich vor Sonnenschein zu schützen, denn sie trug keinen Hut, und ihr Gesicht hatte einen leicht gebräunten, strahlenden Teint. Goldene Strähnen leuchteten in ihrem üppigen kastanienfarbenen Haar, das seinen Nadeln entkommen war und ihr Gesicht in ungebändigten Locken umrahmte. Ihre grünen Augen blitzten voller Zorn.

„Man erwartet nicht, einem weiblichen Jockey zu begegnen, wenn man über sein eigenes Land reitet“, sagte er und gab sich verärgert, obwohl er einräumen musste, dass sie geschickt mit ihrem Pferd umzugehen wusste. „Schon gar nicht einem Jockey, der offenbar ein Rennen zu gewinnen trachtet.“

„Ich bin galoppiert, von einem Rennen kann gar keine Rede sein“, gab sie bissig zurück. „Wenn Sie auf den Weg geachtet hätten, statt wie ein Straßenräuber aus den Büschen zu preschen …“ Abrupt hielt sie inne und musterte ihn. Er war ein Mann von stattlicher Größe, der von seinem riesigen Pferd auf sie herunterblickte. Seine dunkelgrüne Uniformjacke schmückten schwarze lederne Brustschnüre und silberne Knöpfe, die dunkelgrünen Kniehosen steckten in schwarzen Reitstiefeln. Ein staubiges Cape lag lässig über einer Schulter, und auf dem Kopf trug er einen schwarzen Tschako. Sein attraktives gebräuntes Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefer Missbilligung, obwohl sie einen kurzen Augenblick glaubte, ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen zu sehen. „Sagten Sie gerade, das sei Ihr Land?“

„Ja“, antwortete er. „Sie haben unbefugterweise den Grundbesitz des Earl of Amerleigh betreten.“

„Oh.“ Ihr Herz tat unvermittelt einen Sprung, als ihr herausfordernder Blick den seinen traf. Einen Augenblick starrte sie ihn wortlos an, unfähig, den Blick abzuwenden. Es war, als würden Funken sprühen, die ein Feuer entfachten, das sie beide mit seinen Flammen zu verschlingen drohte. Dann aber wusste sie plötzlich, wen sie vor sich hatte – Roland Temple, der Sohn des Earl of Amerleigh, der Mann, der sie vor einigen Jahren so sehr gedemütigt hatte, dass sie diesen Vorfall nie ganz vergessen konnte. Doch man ließ auch nicht zu, dass sie vergaß, denn ihr Vater hatte einen erbitterten Rachefeldzug gegen den Earl und seine Familie geführt. Vor sechs Wochen war Seine Lordschaft verstorben, und nun war sein Nachfolger angekommen, in voller Lebensgröße dräute er über ihr. „Sie sind also der Sprössling des Earls“, meinte sie, ihn bei dem Namen nennend, mit dem ihr Vater ihn immer bezeichnet hatte. „Dann sollten Sie auch wissen, wie weit sich die Ländereien von Amerleigh erstrecken. Dieses Stück Land gehört jedenfalls nicht dazu.“

Es gefiel ihm zwar nicht, als Sprössling tituliert zu werden, doch er ließ es ihr durchgehen. „Natürlich gehört auch dieses Stück Land zu Amerleigh. Ich bin schon als Knabe hier umhergestreift und kenne jeden Fleck.“

„Sie sind jedoch kein Knabe mehr, nicht wahr, Mylord?“ Honigsüß und aufgesetzt freundlich äußerte sie die Frage, bemüht, sich die bitteren Erinnerungen, die sein Anblick in ihr geweckt hatte, nicht anmerken zu lassen. Obendrein schien er sie nicht einmal wiederzuerkennen, was zusätzlich Salz in ihre Wunden rieb. „Seit Ihrer Abreise hat sich manches geändert. Ich rate Ihnen, mit Ihrem Anwalt zu sprechen, bevor Sie zukünftig jemanden fälschlicherweise des unbefugten Betretens bezichtigen. Sie wissen wohl …“ Unvermittelt hielt sie inne.

„Dass mein Vater gestorben ist? Ja, das weiß ich.“ „Mein Beileid. Ihre Mutter wird Ihre Heimkehr sicher freuen.“ „Zweifellos“, erwiderte er und fragte sich, ob sie gut mit seiner Mutter bekannt war oder einfach nur Konversation betrieb, wenngleich sie ihm auch nicht wie jemand schien, der müßigem Geplauder etwas abgewinnen konnte.

„Bitte entschuldigen Sie mich nun, Mylord. Sie mögen sich in Müßiggang ergehen können, aber auf mich wartet Arbeit.“ Sie wendete Bonny Boy und wollte davonreiten, doch er griff rasch nach vorne und packte die Zügel ihres Pferdes.

„Nicht so schnell, Madam …“ Er wusste weder, warum er sie aufhalten, noch was er ihr sagen wollte, indes bekam er auch keine Gelegenheit, sich dies zu überlegen, denn sie schlug ihm mit der Reitgerte auf die behandschuhte Hand, sodass er unwillkürlich die Zügel losließ. Einen Augenblick schaute er verdutzt, dann aber brach er in schallendes Gelächter aus, was sie nur noch wütender machte.

„Wenn Sie es amüsant finden, eine Dame grob zu behandeln, dann sind Sie ein noch ungehobelterer Flegel, als ich annahm“, sagte sie, trieb ihr Pferd an und galoppierte davon. Sprachlos starrte er ihr nach.

Was war nur während seiner Abwesenheit hier geschehen? Sechs Jahre war er außer Landes gewesen, hatte in Portugal und Spanien seinen Militärdienst geleistet, um unter Führung von Wellington die Welt von dem Emporkömmling Napoleon zu befreien. Wenn sein Vater nicht krank geworden und schließlich gestorben wäre, hätte er die Armee gewiss nicht verlassen und mit seinen Männern weiterhin von einem hart erarbeiteten Sieg geträumt.

Zu Beginn seiner Militärzeit hatte er seinem Vater ein- oder zweimal geschrieben, doch nie eine Antwort erhalten, weshalb er es schließlich aufgab. Wenn sein Vater ihn vergessen wollte, würde er es ihm gleichtun und ihn ebenfalls vergessen. Selbst seine Mutter antwortete ihm nicht auf seine Briefe, was wohl einzig daran lag, dass sein Vater es ihr verboten hatte, vermutete Roland. Umso überraschter war er, als vor drei Monaten ein Brief eintraf, in dem sie ihm mitteilte, dass sein Vater schwer krank war. „Komm nach Hause, wenn es dir möglich ist“, hatte sie gebeten. „Wir wohnen nun im Dower House, da es bequemer ist.“ Er fragte sich, was daran bequemer sein sollte. Verglichen mit dem prächtigen Herrensitz, in dem er aufgewachsen war, war das Witwenhaus so klein wie ein Puppenhaus. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein selbstherrlicher, despotischer Vater es vorzog, dort zu leben.

Der Brief seiner Mutter war an das Hauptquartier adressiert und erreichte ihn daher erst Wochen später. Nur einen Tag, nachdem er ihn gelesen hatte, traf ein zweites Schreiben ein, das ihn über den Tod seines Vaters in Kenntnis setzte, wodurch er zum Earl of Amerleigh wurde.

Roland hatte umgehend um Dienstbefreiung gebeten und war mit seinem Leibdiener Corporal Travers nach Lissabon gereist. Von dort hatten sie an Bord eines Frachters die Heimfahrt angetreten. In Portsmouth angekommen, waren sie mit der Kutsche nach Shrewsbury weitergefahren und hatten dort Pferde erworben, auf denen sie die restliche Strecke nach Amerleigh zurücklegten, wobei sie die Straße mieden und stattdessen den Reitweg über den Hügel nahmen. Nie hätte er erwartet, einer ungestümen Frau in Männerkleidung zu begegnen, die in wilder Hast über sein Anwesen galoppierte.

Travers tauchte neben ihm auf. „Du hast soeben ein höchst außergewöhnliches Wesen versäumt“, sagte Roland zu ihm.

„Ich hab sie gesehen.“ Travers grinste. „Ich sah auch, dass Sie das Gespräch mit ihr genossen haben, deshalb hielt ich mich zurück. Wer ist sie?“

„Ich weiß es nicht.“ Dann aber lachte er unvermittelt auf. „Oh, nein, das kann nicht sein, oder etwa doch? Liebe Güte, ich glaube, sie war es tatsächlich. Was für eine Heimkehr!“

„Sie wissen also doch, wer sie ist?“

„Ich glaube schon. Nein, ich bin mir sicher. Ihr Name ist, oder war es zumindest, Charlotte Cartwright, und ich habe das Gefühl, dass ich mir mit ihr nicht das letzte Wortgefecht geliefert habe.“

Der neue Earl ist zu einem stattlichen Mann geworden, dachte Charlotte auf dem Heimweg. Sie hatte Roland Temple als schlanken Mann mit lockigem braunen Haar und klassisch geschnittenem Gesicht in Erinnerung. Zwar hatte er auch im Alter von einundzwanzig Jahren bereits blendend ausgesehen, das wohl, allerdings war er auch stolz und hochmütig gewesen, so hochmütig, dass er sie mit seinem Verhalten unerträglich tief gedemütigt hatte. Indes besaß auch sie Stolz, weshalb sie sich ihren Schmerz nie hatte anmerken lassen. Und ganz gewiss würde sie ihn nun nicht an den Vorfall erinnern. Falls er sie tatsächlich vergessen hatte, konnte ihr das nur recht sein. Dennoch war sie ihm spinnefeind, und daran würde sich nichts ändern.

Sie verlangsamte das Tempo und ließ Bonny Boy im Schritt gehen, während ihr wieder die Geschehnisse von vor sechs Jahren bildlich vor Augen standen und die Wut erneut in ihr zu brodeln begann. Der Herzenswunsch ihres Vaters war es gewesen, von der feinen Gesellschaft anerkannt zu werden. Deshalb hatte er Gouvernanten eingestellt, die seine Tochter in all jenen Fertigkeiten ausbilden sollten, die eine kultivierte Dame besitzen musste. Dazu gehörten auch Sticken, Zeichnen und Tanzen, allesamt Tätigkeiten, die Charlotte keine große Freude bereiteten. Zudem war ihr unkonventionelles, zwangloses Wesen bereits zu stark in ihr verwurzelt, es war ihr schlicht unmöglich, sich nun noch zu ändern. Trotz allem aber gelang es ihrem Vater, sein Ziel in gewissem Maße zu erreichen, was einzig daran lag, dass er der reichste Mann der Gegend war und jeden Mann seiner Wahl fördern oder ruinieren konnte, so auch den Earl of Amerleigh.

Doch nicht dessen Sohn.

Von dem starrsinnigen, eingebildeten, arroganten Spross des Earls zurückgewiesen zu werden, noch dazu in solch lautem, verächtlichem Ton, dass jeder im Umkreis von zehn Schritten es hören musste, war mehr, als sie ertragen konnte. Zum ersten Mal hatte ihr Vater sich mit all seinem Geld nicht alles und jeden kaufen können. Entgegen der Erwartung beider Väter konnten sie auf dem Ball nicht die Verlobung ihrer Kinder bekannt geben. Eine wilde Range hatte der aufgeblasene Sprössling sie genannt. Nun, vermutlich steckte darin ein Körnchen Wahrheit, dachte Charlotte. Allerdings hatte er sie auch eine reizlose graue Maus gescholten. War sie reizlos und unattraktiv? Ihr Vater hatte ihr versichert, dass sie ebenso schön sei wie ihre liebreizende Mutter und der törichte junge Fatzke hätte wohl keine Augen im Kopf. Doch als sie nach dem Ball zu Hause in den Spiegel sah, musste sie sich eingestehen, dass Roland Temple wohl recht hatte. Diese Feststellung hatte ihren Kummer noch vergrößert. Oh, sie wünschte inständig, ihr Vater hätte damals diesen Handel mit dem inzwischen verstorbenen Earl niemals abgeschlossen.

Sie passierte das schmiedeeiserne Eingangstor von Mandeville, und Besitzerstolz erfüllte sie. Ihr Vater hatte das imposante rote Sandsteingebäude bauen lassen, um aller Welt zu zeigen, dass selbst ein Niemand durch harte Arbeit und Geschick zu großem Reichtum gelangen konnte. Das Haus stach aus der Umgebung hervor, weil die Bäume, die man im Park gepflanzt hatte, immer noch sehr jung und noch nicht besonders groß waren, gleichwohl nahmen sich die Sträucher in der Nähe des Hauses recht dekorativ aus. In einigen Jahren würde Mandeville sich wohl mit den prächtigsten Landhäusern der Gegend messen können, wenn nicht gar der ganzen Grafschaft. Bereits jetzt schon war es schöner als Amerleigh Hall, das immer mehr zu einer Ruine zerfiel.

Sie ritt um das Haus herum zu den Stallungen, in denen mehrere Reitpferde, vier Kutschenpferde und einige Ponys untergebracht waren. Im angrenzenden Kutschenhaus standen eine feudale Equipage, ein Phaeton und eine Karriole. Sie stieg ab, übergab Bonny Boy einem Stallburschen und wies diesen an, die Karriole vorzufahren, bevor sie das Haus durch einen Seiteneingang betrat und in die Küche ging.

Nachdem sie sich mit Mrs. Cater, ihrer Köchin, über die Neuigkeiten ausgetauscht hatte, erkundigte sie sich bei der Küchenmagd May, ob sich deren Verbrennung durch die Salbe, die sie ihr gegeben hatte, gebessert hätte, streichelte die Katze, die wohlig schnurrte, und ging schließlich nach oben, um sich umzuziehen. Den Gemälden an den Wänden, den teuren Figurinen aus edlem Porzellan und kostbaren Möbeln, die ihr Vater erworben hatte, um Eindruck zu schinden, schenkte sie keine Beachtung. Wieder musste sie an ihre Begegnung mit Lord Amerleigh denken, doch sie versuchte, sich dadurch nicht beunruhigen zu lassen.

In ihrem Schlafgemach legte sie rasch das Reitkleid ab, zog die Kniehosen aus und wusch sich mit dem kalten Wasser, das in einer Kanne auf ihrem Toilettentisch bereitstand. Danach schlüpfte sie in einen schlichten grauen Rock, eine weiße Bluse und ein schwarzes Jackett, das im Schnitt einem Herrenjackett glich und mit schwarzen Brustschnüren geschlossen wurde. Diese Kleidungsstücke trug sie, wenn sie sich um Geschäftliches kümmerte. Sie hatten den Vorteil, nicht zu männlich zu wirken, da sie ihre wohlgeformte Figur betonten, doch wirkten sie auch streng genug, um jeden wissen zu lassen, dass sie eine Geschäftsfrau war, die sich nichts gefallen lassen würde. Nachdem sie ihr widerspenstiges Haar zu einem Knoten aufgesteckt hatte, setzte sie einen Hut mit wippender Feder auf tauschte ihre Reitstiefel gegen schwarze Lederstiefeletten. So ausgestattet, kehrte sie nach unten zurück. Vor dem Haus wartete bereits die Karriole, und Charlotte fuhr sogleich damit ins Tal zu ihrer Baumwollweberei, die sich an einem schnell fließenden Seitenarm des Severn befand.

Ein Jahr war sie von zu Hause fortgewesen, und in dieser Zeit hatte man ihre Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Weberei schleifen lassen. Die langen Arbeitszeiten, die es zu ihres Vaters Zeiten gegeben hatte, waren wieder eingeführt worden, und der Schulunterricht für ihre Arbeiter fand auch nicht mehr statt.

„Wir hatten große Aufträge zu erfüllen“, rechtfertigte sich Mr. Brock, ihr Fabrikleiter, als sie ihn deswegen zur Rede stellte. „Es ging nicht anders, sonst wäre das Schiff nur mit halber Ladung ausgelaufen. Und das hätte ihr Vater gewiss niemals zugelassen.“

Sie daran zu erinnern, was ihr Vater getan oder nicht getan hätte, war Brocks Art, gegen ihre Anweisungen aufzubegehren. Da sie ihn jedoch für die Führung der Weberei brauchte, achtete sie stets darauf, beim Durchsetzen ihrer Wünsche diplomatisch und umsichtig vorzugehen, denn nur allzu gut wusste sie, dass er sie insgeheim verachtete, weil sie eine Frau war. Als Besitzerin der größten Weberei der Grafschaft begegnete man ihr zwar mit gewissem Respekt, der indes stets mit unverhohlener Geringschätzung und Missbilligung gespickt war. Nach außen gab sie vor, sich nichts daraus zu machen, und trotzte allen mit hoch erhobenem Kopf.

Wie üblich machte Charlotte auch an diesem Morgen einen Rundgang durch die Fabrik, schaute eine Weile zu, wie die Schiffchen über die Webstühle flogen, besprach mit dem Fabrikleiter die Produktionspläne und Aufträge, erledigte ihre Korrespondenz und erteilte ihre Anweisungen. Obwohl sie unverändert schien und man ihrem kühlen Äußeren nichts anmerkte, machte sich tief in ihrem Inneren ein flaues Gefühl des Unbehagens breit, als ob ein Damoklesschwert über ihr hinge, nicht gerade ein Unheil, aber doch etwas, das ihren wohlgeordneten Alltag durcheinanderbringen konnte. Sie musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass diese innere Unruhe auf die Ankunft des neuen Earl of Amerleigh zurückzuführen war.

Auf dem Weg nach Hause fiel Roland auf, wie vernachlässigt alles wirkte. Die Hecken mussten geschnitten werden, die Gräben waren von Unkraut überwuchert, und die Cottages der Arbeiter wiesen Schäden auf. An der Dorfkirche hielt er an und ging zur Familiengruft. Der Name seines Vaters, erst kürzlich in den Stein eingemeißelt, war der letzte in einer langen Reihe. Vermutlich würde auch sein Name irgendwann hier stehen. Die morbiden Gedanken aus seinem Kopf verbannend ging er zurück zur Straße, wo Travers geduldig mit den Pferden auf ihn wartete. Nebeneinander ritten sie dem großen Herrenhaus entgegen, dessen hoch aufragende, mit Zinnen versehene Mauern immer wieder durch die Baumkronen hindurchblitzten.

Das im 16. Jahrhundert von Rolands Urahn Harold Temple erbaute Haus lag inmitten eines Wildparks und thronte über dem Dorf, dessen Name es trug. Vielleicht war das Dorf auch im Laufe der Zeit um das Haus herum entstanden – Roland war sich dessen nie sicher gewesen. Jede Generation seiner Familie hatte das Gebäude immer wieder verschönert und noch prächtiger ausgestattet, nun aber machte es einen recht trostlosen, verlorenen Eindruck. Die Rasenflächen waren offenbar schon lange nicht mehr gemäht worden, die Blumenbeete und die mit Kies bestreute Auffahrt von Unkraut überwuchert. Eine Fensterscheibe war zerbrochen, und auch die abblätternde Farbe stach ihm förmlich ins Auge.

Er ließ das Herrenhaus hinter sich und ritt den langen Pfad entlang, der durch den einst blühenden, gepflegten, nun aber verwilderten Garten hinunter zum Dower House führte. Das viereckige rote Backsteingebäude verfügte lediglich über einen Salon, ein Speisezimmer, einen Salon und vier Schlafzimmer sowie die üblichen Arbeitsräume. Als er vor sechs Jahren sein Zuhause verließ, hatte hier seine Großmutter gelebt, die leider mittlerweile verstorben war. Roland hatte die alte Dame sehr gemocht, die ihm, gegen den Willen seines Vaters, eine Rente hinterlassen hatte. Zwar war die Summe nicht groß, aber immerhin groß genug, um ihm eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern. Dafür war er seiner Großmutter sehr dankbar.

Kaum war er vor dem Haus abgestiegen, wurde die Tür aufgerissen, und seine Mutter flog förmlich in seine Arme. „Roland, oh Roland, ich habe gebetet, dass du nach Hause kommst, und nun bist du endlich hier. Lass dich anschauen.“ Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn, doch sie sah nicht mehr den schlanken Jungen, den sie kannte, sondern einen großen, breitschultrigen Mann. „Du hast dich verändert.“

„Ich bin sechs Jahre fortgewesen“, meinte er lächelnd, in dem Wissen, dass er sich nicht nur körperlich verändert hatte. Auch sein Charakter war gereift. Den jungen, hochnäsigen, stolzen Mann, der sich als Sohn eines Earls als etwas Besseres wähnte und sich den Arbeitern auf den Feldern weit überlegen fühlte, gab es nicht mehr. Mittlerweile beurteilte er Menschen nach ihrem Wesen, nicht mehr nach ihrer gesellschaftlichen Position. Er zog es vor, als Major bekannt zu sein, einen Rang, den er sich wahrlich verdient hatte, um zu verhindern, dass man ihm allein aufgrund seines Titels Achtung entgegenbrachte.

„Oh, du weißt ja nicht, wie sehr ich deine Rückkehr herbeigesehnt habe“, meinte seine Mutter, während sie ihm voran ins Haus ging.

Er wandte sich an Travers. „Geh zu den Stallungen und kümmere dich um die Pferde. Ich komme nach, so bald es möglich ist.“

„Hast du meine Briefe erhalten?“, fragte seine Mutter, als er ins Vestibül trat, bevor sie ihm Reitmantel und Hut abnahm. Wie ihm auffiel, hatte sie stark abgenommen, ihr Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht, und es reute ihn, dass wohl auch er für einige dieser Falten verantwortlich war. Ihre blauen Augen indes strahlten, trotz der tiefschwarzen Trauerkleidung, die sie trug, und auf ihren Lippen lag ein herzliches Lächeln, ob der Freude, ihn wieder zu Hause zu wissen. „Ich wunderte mich nämlich, warum du nicht geantwortet hast oder früher gekommen bist.“

Er verzichtete darauf, ihr in Erinnerung zu rufen, dass er auf seine Briefe auch niemals eine Antwort erhalten hatte, während er ihr in den Salon folgte. „Ich befand mich nicht im Hauptquartier, als dein erster Brief eintraf, und so erreichte mich dieser erst zwei Monate danach, nur einen Tag vor der Ankunft deines zweiten Schreibens. Ich kam, so schnell ich konnte, und bedaure sehr, dass ich dennoch zu spät komme.“

„Nimm es nicht zu schwer, nun bist du ja hier. Setz dich doch.“

Roland zog sich einen Stuhl zurecht und ließ sich darauf nieder, in Gedanken ganz von seinen Eindrücken eingenommen: der trostlose Zustand des Herrenhauses, das verwahrlost wirkende Dorf, die arrogante Miss Cartwright und ihre Behauptung, Browhill gehöre nicht mehr zu Amerleigh … „Ich kam am Herrenhaus vorbei“, sagte er. „Es sieht sehr vernachlässigt aus. Was ist geschehen?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Dein Vater hat nach deiner Abreise jegliche Lebensfreude verloren. Er schien nicht mehr in der Lage, seine Geschäfte zu führen, und so wurde alles im Laufe der Zeit immer schlimmer. Vor zwei Jahren erlitt er einen Herzanfall. Dr. Sumner meinte daraufhin, man dürfe ihn nicht belasten. Ich wollte dir schreiben, um dir davon zu erzählen, doch dein Vater hat es mir verboten. Wir zogen ins Dower House, in der Hoffnung, er würde es hier bequemer haben und zur Ruhe kommen. Das Herrenhaus wollten wir vermieten, indes fand sich kein Interessent. Nach einem weiteren Herzanfall änderte er unverhofft seine Meinung und sagte, er müsse dich sehen.“

„Ich bin untröstlich, dass ich ihn nicht mehr sprechen konnte. Gerne hätte ich mich mit ihm ausgesöhnt. Hat er mir denn je verziehen?“

„Dessen bin ich mir sicher, wenn ich auch immer der Meinung war, dass es nichts zu vergeben gab, außer deiner überstürzten Abreise vielleicht. Hättet ihr vorher noch einmal miteinander gesprochen, hätte er dir möglicherweise zugehört und deine Meinung akzeptiert, oder du hättest die seine angenommen.“

Roland teilte ihre Ansicht zwar nicht, doch das verschwieg er ihr. „Was soll ich deiner Auffassung nach nun tun?“

„Es war der Wunsch deines Vaters, dass du Amerleigh Hall restaurierst. Es ist seit mehreren Hundert Jahren das Zuhause der Earls of Amerleigh und letztendlich auch dein Heim. Eines Tages wirst du heiraten und es deinen Söhnen vererben.“

„Ich weiß, Mama“, meinte er seufzend. Wenn er nicht irrte, würde es eine enorme Aufgabe sein, dem Herrenhaus zu altem Glanz zu verhelfen, noch dazu eine, die jeden Penny verschlingen würde, den er besaß, wenn nicht sogar mehr. „Ich denke, ich sollte Mountford aufsuchen und dies mit ihm besprechen.“

„Ja, er kann dir auch den Stand der Dinge über den Rechtsstreit mitteilen.“

Sein Herz sank. „Den Rechtsstreit?“

„Ja, dein Vater stritt mit Mr. Cartwright um ein Stück Land, um das man ihn seiner Meinung nach betrogen hatte.“

„Handelt es sich etwa um Browhill?“

„Genau, woher weißt du das?“

„Ich traf auf meinem Weg hierher auf Miss Cartwright.“ Er lächelte bitter, als er sich ihrer Begegnung erinnerte. „Wir hatten eine Auseinandersetzung deswegen.“

„Oh nein, bitte du nicht auch. Wird das denn nie ein Ende nehmen?“

„Ich weiß es nicht. Erzähle mir doch erst einmal, was überhaupt geschehen ist.“

„Später. Jetzt muss ich dein Zimmer vorbereiten lassen, damit du dich frisch machen kannst. Danach werden wir speisen.“ Mit diesen Worten eilte sie aus dem Salon.

Roland blieb allein zurück, den Blick schweigend auf das Porträt seines Vaters gerichtet, das über dem Kamin hing. Es zeigte einen großen, stolzen, äußerst selbstsicher wirkenden Mann. Seine Mutter verschwieg ihm etwas. War sein Vater etwa so tief im Schuldensumpf versunken, dass er das Haus seiner Vorfahren hatte verlassen müssen?

Er stand auf und machte sich auf die Suche nach ihr. Schließlich fand er sie in einem der Schlafzimmer. Seinen Schrankkoffer und die Provianttasche hatte man bereits nach oben gebracht. Ein Krug mit heißem Wasser stand auf dem Waschtisch bereit. „Wird dir dieses Zimmer auch genügen?“, fragte Lady Amberleigh, als sie ihren Sohn bemerkte.

„Es ist sehr schön, Mama. Ich bin weit weniger Luxus gewöhnt.“

„Komm nach unten, wenn du fertig bist. Ich weiß zwar nicht, was Mrs. Burrows für uns zubereiten wird, aber ich bin sicher, sie gibt ihr Bestes.“

Er wusch sich rasch, zog ein frisches Hemd und seine beste Uniform an und ging ins Speisezimmer, wo sie eine einfache Mahlzeit einnahmen, die Mr. Burrows, der Butler, ihnen servierte. Einst hatte Burrows würdevoll mindestens zwanzig Dienstboten befehligt, nun waren er, Mrs. Burrows und ein Dienstmädchen die einzigen Hausangestellten, wie Roland den Äußerungen seiner Mutter entnahm.

„Und sonst?“, fragte er, nachdem Burrows das Zimmer verlassen hatte. „Wie steht es mit Gärtnern, Kutschern, Stallburschen?“

„Wir gehen so wenig aus, dass ich mich gar nicht erinnern kann, wann wir die Kutsche zuletzt benutzten. Wenn ich Besuche mache oder Besorgungen zu erledigen habe, nehme ich den Einspänner. Um das eine Pferd, das wir noch haben, kümmert sich Bennett, ebenso wie um den Garten. Er hält auch ein Auge auf das Herrenhaus.“

Roland spießte ein Stück Lammfleisch auf die Gabel. „Die anderen Bediensteten sind sämtlich gegangen?“

„Ja, wir benötigen sie hier im Dower House nicht und hätten ohnehin keinen Platz für sie gehabt. Einige haben auf Mandeville eine neue Stellung gefunden. Jacob Edwards beispielsweise hat es dort weit gebracht. Du erinnerst dich doch noch an ihn, nicht wahr? Er ist ein oder zwei Jahre älter als du und hat an deinem Unterricht teilgenommen, bevor du ins Internat gingst. In den Ferien seid ihr immer gemeinsam angeln gegangen.“

„Ja, natürlich erinnere ich mich.“ Er war in Gesellschaft von Jacob gewesen, als er Charlotte Cartwright zum ersten Mal begegnete. Damals war Viehmarkt in Amerleigh gewesen. Den beiden Jungen hatte es Spaß gemacht, sich die Stände anzusehen und den Anpreisungen der Marktschreier zu lauschen. An einem Schießstand waren eine Reihe Holzenten aufgebaut, und sie blieben neugierig stehen. Jacob wollte sein Glück versuchen und traf sieben der zehn Holzenten. Roland traf neun Enten, doch die letzte verfehlte er.

„Daneben!“, hörte er eine Stimme hinter ihm triumphierend rufen. Er drehte sich um und sah ein etwa zwölfjähriges Mädchen, dessen rotes Haar unter eine blaue Haube gestopft war. Sie trug teure Kleidung und gute Schuhe, also konnte sie nicht aus dem Dorf stammen. Allerdings schien sie auch von niemandem beaufsichtigt zu werden.

„Glaubst du denn, du kannst das besser?“, fragte er sie, während der Standbesitzer sie grinsend beobachtete.

„Aber sicher.“

„Eher schießt du dir in den Fuß, als dass du die Enten triffst.“

Sie streckte ihre gebräunte sommersprossige Hand aus. „Gib mir das Gewehr, dann beweise ich dir das Gegenteil.“

Lachend überreichte er ihr das Gewehr. Doch zu seinem Verdruss musste er feststellen, dass sie es laden und entsichern konnte. Völlig verblüfft sah er gleich darauf, wie sie, ohne lange zu zielen, alle zehn Enten in rascher Folge niederstreckte. „Ich habe es dir ja gesagt, Jüngelchen“, meinte sie, gab das Gewehr zurück und nahm ihren Preis in Empfang, ein quiekendes Ferkel. Jedes andere Mädchen hätte weit mehr auf sein Äußeres geachtet und das Tier niemals in den Arm genommen. Sie indes kümmerte es offenbar nicht, ob ihr Kleid schmutzig wurde. Dann war ihr Vater gekommen und hatte ihr eine Strafpredigt gehalten, weil sie ihm ausgebüxt war, doch sie hatte darüber nur gelacht.

Jacob fand schließlich heraus, wer sie war: die Tochter von Mr. Cartwright, dem Eigentümer von Mandeville, dessen Anwesen auf der anderen Hügelseite lag und an Amerleigh grenzte. Roland kehrte bald darauf ins Internat zurück, ohne ihr noch einmal zu begegnen, indes sahen er und Jacob sie gelegentlich in den Ferien beim Reiten oder Angeln. Sie riefen sich dann jedes Mal einen kurzen Gruß zu. Erst jetzt in der Erinnerung stellte er fest, dass er sie nie in Begleitung gesehen hatte, und er fragte sich, ob sie je Geschwister oder Spielkameraden gehabt hatte. Jacob war voller Bewunderung für sie, denn die ganze Nachbarschaft betrachtete sie als wildes, ungezogenes Kind, das sich niemandem fügte. Als Roland die Universität besuchte, traf er sie nicht mehr. Erst einige Tage vor dem schicksalhaften Ball war er ihr wieder begegnet. Damals war sie, wie heute, über Browhill galoppiert. Sie hatte sich nicht verändert.

„Vater hat Jacobs Schulbildung bezahlt, nicht wahr?“, fragte er, sich wieder auf das Gespräch mit seiner Mutter besinnend.

„Ja, er ist Anwalt geworden und inzwischen Miss Cartwrights Berater.“

„Das reibt Salz in die Wunde.“

„Ja, all dies war mehr, als dein armer Vater ertragen konnte, und er schien aufzugeben. Das Anwesen verkam immer mehr, weil er nur noch auf Rache sann. Er war so verbittert, Roland.“

„Und mir gab er die Schuld an seinem Elend.“

„In gewisser Weise tat er das wohl.“

„Und du? Hältst du mich auch für schuldig?“

„Nein, du warst jung, dein ganzes Leben lag noch vor dir. Außerdem kanntest du die Hintergründe nicht. Ich flehte deinen Vater an, dir die Situation zu erklären, aber er meinte bloß, er erwarte, dass du dich seinen Wünschen fügst, wenn er dir sagte, es sei nötig.“

Roland verkniff sich die Bemerkung, dass auch eine Erklärung seine Ansicht höchstwahrscheinlich nicht geändert hätte. Während des prächtigsten Balles, den seine Eltern seiner Erinnerung nach jemals gegeben hatten, teilte ihm sein Vater mit, man erwarte, dass er Miss Cartwright an diesem Abend einen Antrag machte. Seine wütende Reaktion darauf stand ihm noch so deutlich vor Augen, als wäre der Vorfall erst gestern geschehen. „Nicht für alles Geld der Welt“, hatte er geantwortet. „Das Küken hat ja gerade erst das Schulzimmer verlassen, wenn dieses Mädchen überhaupt jemals eines von innen gesehen hat. Sie ist eine wilde Range, die besser als Junge zur Welt gekommen wäre. Sie ist jedenfalls so reizlos wie eine graue Maus.“ Daraufhin hatte er einen erbitterten Streit mit seinem Vater, und er war schließlich hinausgestürmt und hatte den restlichen Abend in seinem Zimmer verbracht, obwohl ihn seine Mutter anflehte, doch wieder herunterzukommen, und sein Vater damit drohte, ihm den Geldhahn zuzudrehen, wenn er seinem Wunsch nicht entspreche. „Wenn du mir in dieser Sache nicht gehorchst, bist du nicht mehr mein Sohn“, hatte sein Vater vor der geschlossenen Eichentür gebrüllt.

Am nächsten Morgen hatte Roland das Haus verlassen, ohne Gepäck. Nichts weiter als eine kleine Reisetasche hatte er dabei, als er die Kutsche nach London nahm, wo er sich in das 95. Regiment einkaufte. Seinen Aufstieg zum Major hatte er sich aus eigenen Kräften verdient.

„Warum war es Papa denn so wichtig, dass ich Miss Cartwright eheliche?“