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Was für ein aufregender Kuss! Und dennoch ist Lady Lucinda, Tochter des Earl of Luffenham, empört. Aber auch unendlich fasziniert von dem kühnen Myles Moorcroft, der die Bauarbeiten auf dem Besitz ihres Vaters beaufsichtigt. Je näher sie den attraktiven Ingenieur kennenlernt, desto stärker fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Doch es gibt keinen unpassenderen Mann für sie als ihn. Denn ihr adelsstolzer Vater erwartet eine standesgemäße Heirat: Mindestens ein Viscount muss es sein! Hin- und hergerissen zwischen den Wünschen ihrer Familie und ihrer Sehnsucht nach Liebesglück, steht Lucy vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens ...
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Seitenzahl: 430
IMPRESSUM
Stolz und Sehnsucht erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2007 by Mary Nichols Originaltitel: „Working Man, Society Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICALBand 234 - 2007 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Bärbel Hurst
Umschlagsmotive: The Killion Group / Hot Damn Designs
Veröffentlicht im ePub Format in 02/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733775407
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Juli 1844
Nachdem der Zug aus London zwanzig Minuten lang vor dem Bahnhof in Leicester gewartet hatte, damit ein anderer abgefertigt werden konnte, durfte er endlich einfahren. Quietschend kam er zum Stehen. Die Countess of Luffenham und ihre Tochter Lady Lucinda Vernley warteten, bis ein Träger erschien und ihnen die Waggontür öffnete, ehe sie auf den Perron hinaustraten.
Lucy war froh, dass sie nach der stickigen Hitze im Abteil endlich wieder frische Luft atmen konnte. Gern hätte sie das Fenster geöffnet, sobald sie London verlassen hatten, aber ihre Mutter hatte es verboten mit der Begründung, dass sie sonst am Qualm erstickt und mit Ruß bedeckt worden wären, der sich nie wieder aus ihren Kleidern entfernen ließ. Und da der Earl ziemlich viel Geld für diese bezahlt hatte, mussten sie sich mit der Hitze arrangieren. So hatten sie sechs Stunden lang dagesessen und waren langsam zerflossen.
Die Countess of Luffenham reiste nicht gern mit der Eisenbahn und hätte viel lieber die Kutsche genommen, doch das hätte noch länger gedauert. Die Pferde wären etwa alle Dutzend Meilen gewechselt worden, und mindestens einmal hätten sie unterwegs übernachten müssen. Der Earl war, trotz seines angeblichen Reichtums, ein sparsamer Mann und missgönnte ihnen diese Kosten, konnten sie schließlich mit dem Zug erster Klasse reisen und London innerhalb eines Tages erreichen. Als seine Frau ihn sanft darauf hinwies, dass sie trotzdem mit der Kutsche zum Bahnhof gefahren und bei ihrer Rückkehr wieder abgeholt werden mussten, hatte er ihr einen Vortrag darüber gehalten, dass es ökonomisch sinnvoll sei, die eigenen Pferde für kurze Strecken und den Zug für längere Reisen zu nutzen. Daraufhin war sie verstummt. Jeglicher Auseinandersetzung mit dem Earl war sie nicht gewachsen.
„Guten Tag, Mylady“, sagte der Träger, tippte sich an die Mütze und nahm ihr den kleinen Koffer ab, um ihn zu der wartenden Kutsche zu tragen. „Soll Ihr Gepäck mit einem Wagen abgeholt werden?“
„Ja. Es ist alles beschriftet worden. Sorgen Sie dafür, dass auch das gesamte Gepäck eingeladen wird. Bei unserer letzten Reise ging eine Hutschachtel verloren, und es dauerte Tage, bis ich sie zurückhatte.“
„Das tut mir sehr leid, Mylady. Ich werde aufpassen, dass das nicht wieder geschieht.“
Sie gingen an einem Gepäckwagen vorbei. Hier waren zwei Träger damit beschäftigt, Schachteln, Koffer und Hutschachteln auf den Bahnsteig zu räumen. Die Männer unterbrachen ihre Tätigkeit, um sich die Damen genauer anzuschauen. Die Countess, die sie nicht zu bemerken schien, eilte an ihnen vorüber, den Blick starr geradeaus gerichtet, den Rücken kerzengerade. Sie trug ein Seidenkleid aus einem gestreiften Stoff in verschiedenen Brauntönen: Schokolade, Bernstein und Kaffee. Diese Farben wiederholten sich in ihrem mit Federn, Blumen und Schleifen verzierten Hut. Ihre Tochter war ganz in Rosa, ihr Kleid hatte ein enges Mieder, der weite Rock war mit Spitzen verziert. Dazu trug sie ein kurzes Cape und eine kleine Haube, die ihre hübsche Kopfform betonte. Gefolgt wurden die Damen von einer Zofe in Taubengrau. Als alle drei außer Sichtweite waren, zuckten die Männer die Achseln und widmeten sich wieder ihrer Aufgabe.
Die Kutsche wartete mit geöffnetem Verdeck auf die Reisenden, und gleich darauf fuhren sie durch die vertraute Landschaft von Leicestershire. Dies war eine hügelige Gegend, mit Tälern und Höhen, ein gutes Jagdgebiet. Auf den Wiesen grasten Rinder und Schafe, und auf den Feldern lag gemähtes Heu zum Trocknen aus. Als sie vorüberfuhren, sahen Feldarbeiter auf, die das Heu mit großen Rechen wendeten, einige erkannten die Kutsche, tippten sich grüßend an die Mütze, die Frauen unter ihnen knicksten leicht. Die Countess erwiderte die Begrüßung mit einer leichten Neigung des Kopfes.
Nach der halben Strecke bog die Kutsche in den Hof eines Gasthauses ein, in dem Mr Downham, der Verwalter des Earls, dafür gesorgt hatte, dass frische Pferde bereitstanden, damit die Reise fortgesetzt werden konnte. Das Gespann, mit dem sie am Bahnhof abgeholt worden waren, würde am nächsten Tag nach Luffenham gebracht werden, nachdem es sich ausgeruht hatte. Während die Pferde gewechselt wurden, gingen die Countess und ihre Tochter in das Gasthaus, um sich zu erfrischen. Das war eine jahrhundertealte Gepflogenheit, die allmählich ausstarb, je weiter sich das Netz der neuen Eisenbahn über das Land ausbreitete. Doch in der Nähe von Luffenham Hall gab es noch keine Bahnlinie.
Als sie ihre Plätze in der Kutsche wieder einnahmen, war das Verdeck geschlossen worden, denn sie würden erst spät am Abend zu Hause eintreffen, und bis dahin würde es dunkel und kälter geworden sein.
„Nun, Lucy“, sagte die Mutter, als sie eine Weile unterwegs waren, „jetzt sind wir fast zu Hause.“
„Ja, Mama.“ In gewisser Weise war Lucy froh, wieder heimzukehren, nachdem sie zwei Monate als Debütantin in London verbracht hatte. Sie liebte das Land und das Leben hier, vor allem die Ausritte auf ihrer Stute Midge. Andererseits würde sie die aufregenden Bälle vermissen, die Soireen, Picknicks und anderen Ausflüge, die ihre Tage und Abende in der Hauptstadt ausgefüllt, gar nicht erst zu reden von den jungen Männern, die um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt hatten. Sie hätte sich dadurch geschmeichelt gefühlt, wäre ihr nicht bewusst gewesen, dass sie als Tochter eines Earls einfach eine ausgezeichnete Partie war.
„Wir können nur hoffen, dass du aus deiner Saison irgendeinen Nutzen ziehen kannst“, fuhr ihre Mutter fort. „Dein Vater nahm an, dass es sich lohnen könnte.“
„Ich weiß, Mama.“
„Mr Gorridge hat dir doch gefallen, oder?“
Mr Edward Gorridge war der Sohn des Viscount Gorridge, ein Nachbar und alter Bekannter ihres Vaters, allerdings war Lucy dem jungen Mann noch nie begegnet, ehe sie ihm in London vorgestellt worden war. Er hatte die Schule besucht und dann die Universität, danach hatte er eine Grand Tour unternommen, sodass ihre Wege sich vorher nie gekreuzt hatten.
„Ja, Mama. Aber ich bin nicht sicher, ob es mir gefallen würde, mit ihm verheiratet zu sein.“
„Warum denn das nicht?“
Es fiel Lucy schwer, dafür eine Erklärung zu finden. Edward Gorridge war höflich gewesen, schien sehr auf sein Äußeres bedacht und auch auf sein Benehmen, aber etwas in seinen hellen Augen hatte sie beunruhigt. „Ich weiß nicht, Mama. Ich halte ihn für einen kalten Fisch.“
„Ein kalter Fisch! Lucy, wie kannst du so etwas sagen? Mir erschien er sehr charmant!“
„Charmant – ja. Aber war er ernsthaft? Und ist Charme eine gute Basis für eine Ehe?“
„Es ist ein Anfang.“ Ihre Mutter hatte jede Gelegenheit genutzt, um sie mit Mr Gorridge zusammenzubringen, ohne gegen die Regeln des guten Tons zu verstoßen, und Lucy hegte mehr als nur den vagen Verdacht, dass ihre Eltern ihn bereits zu ihrem Ehemann erwählt hatten. Sie wusste nicht, warum sie es so eilig damit hatten, sie zu verheiraten – sie war nicht einmal einundzwanzig, und was sie betraf, so musste sie nicht sofort in den Stand der Ehe treten. Gern hätte sie es noch eine Weile genossen, eine junge Dame zu sein und den richtigen Mann zu finden, und sie war davon überzeugt, dass sie ihn erkennen würde, wenn sie ihm begegnete.
„Warum er, Mama? Warum nicht einer der anderen?“
„Fühlst du dich zu einem der anderen hingezogen? Falls ja, so hast du dir nichts anmerken lassen. Du sagtest, Mr Gorridge wäre ein kalter Fisch, aber du schienst dich auch für niemanden sonst zu erwärmen.“
„Ich fand sie alle ein wenig oberflächlich.“
„Das sind einige zweifellos auch, aber doch nicht alle. Ich dachte, Mr Gorridge könnte dir gefallen. Er ist besonders.“
Lucy lachte. „Besonders! Du meinst, er ist der Erbe von Viscount Gorridge und wird eines Tages Linwood Park übernehmen.“
„Er ist eine Möglichkeit.“
„Vielleicht für dich und Papa, aber nicht für mich. Den Mann, den ich heirate, will ich lieben.“
„Liebe ist nicht das Einzige, was bedacht werden muss, Lucy, und auch nicht das Erste. Sie wächst, wenn ihr lernt, miteinander zu leben und euch aneinander zu gewöhnen. Papa achtet mich sehr, das weißt du, und ich hege sehr viel Respekt und Zuneigung für ihn, doch am Anfang war das nicht so.“
„Wie hat es angefangen?“ Vor ein paar Wochen noch hätte Lucy es nicht gewagt, diese Frage zu stellen, doch ihre Mutter schien sie geradezu dazu aufzufordern.
„In meiner ersten Saison begegneten wir einander auf einem Ball. Mein Papa hat alle infrage kommenden Männer begutachtet und entschieden, dass dein Vater die beste Wahl wäre. Er war bereits Viscount, der Erbe eines Earls, dessen Landsitz Luffenham Hall war. Wie meine eigene war auch seine Familie sehr alt und angesehen. Ich hatte nichts gegen die Verbindung einzuwenden und er ebenfalls nicht. Wir begegneten einander auf Bällen, Soireen und Teepartys, und es schien gewiss zu sein, dass er um meine Hand anhalten würde …“
„Was er auch tat.“
„Ja. In aller Form, nachdem unsere Väter eine Vereinbarung getroffen hatten.“
„Warst du von Leidenschaft erfüllt?“
„Aber nicht doch! Damen sprechen nicht über Leidenschaft, Lucinda. Ich glaube, du hast zu viele Romane gelesen, oder vielleicht hat Miss Bannister dir zu viele dumme Gedanken in den Kopf gesetzt. Sollte das der Fall sein, müssten wir ihre Stellung noch einmal überdenken.“ Lilian Bannister war die Gouvernante der Familie. Obwohl Lucy ihre Dienste nicht länger benötigte, war sie noch immer angestellt, um sich um Rosemary, Esme und den kleinen Johnny zu kümmern, bis er alt genug war, um einen eigenen Lehrer zu bekommen.
„Oh, Mama, natürlich hat sie nichts damit zu tun. Ich schwöre dir, sie kennt nicht einmal die Bedeutung dieses Wortes.“
Die Zofe konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Eigentlich sollte sie die Gespräche ihrer Herrschaft nicht belauschen und schon gar nicht darauf reagieren, aber sie konnte nicht anders. Eine steifere, korrektere Person als Miss Bannister war kaum vorstellbar, doch Bert, der Hausdiener, mit dem sie in aller Heimlichkeit Spaziergänge unternahm, pflegte zu sagen: „Stille Wasser sind tief.“
„Vielleicht stimmt es ja, aber ich bitte dich – lass deinen Vater nicht solche Worte hören. Du musst dich züchtig verhalten, sonst wird sich Mr Gorridge anderweitig umsehen.“
Es würde Lucy nichts ausmachen, wenn er das täte, aber diese Meinung behielt sie lieber für sich. „Sieht er in mir seine zukünftige Gemahlin?“, fragte sie unschuldig. „Sollte das der Fall sein, so ließ er sich davon nichts anmerken.“
„Vielleicht wartet er auf ein wenig Ermutigung.“
Das bezweifelte Lucy. Die ganze Zeit über war eine Anstandsdame bei ihnen gewesen, nur bei einer Gelegenheit, als sie in den Garten ging, um sich nach einem anstrengenden Tanz auf einem Ball abzukühlen, war er ihr nachgegangen, hatte offen mit ihr geflirtet, sogar ihre Hand genommen und sich vorgebeugt, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie war sicher, dass er sich noch kühner verhalten hätte, hätte sie ihn ermutigt, wie es ihre Mutter sagte. Sie selbst war froh gewesen, als andere Tänzer sich zu ihnen gesellten und er wieder zu dem höflichen, weltgewandten Mann wurde, als der er sich bis dahin gezeigt hatte. „Ich kann mich nicht verstellen, Mama, das liegt nicht in meiner Natur. Wenn ich den Mann meiner Träume treffe, dann wird er keine Ermutigung benötigen, um zu wissen, was ich empfinde.“
„Oh, ich verliere noch die Geduld mit dir, mein Kind! Ich kann nur hoffen, dass du zur Vernunft kommst und erkennst, dass du dir eine solche Chance nicht entgehen lassen kannst, wenn wir nächsten Monat nach Linwood Park fahren.“
„Ich frage mich, ob man Mr Gorridge dasselbe sagt“, überlegte Lucy.
„Vermutlich“, meinte ihre Mutter.
Darauf schien es keine Antwort zu geben, und Lucy lehnte sich zurück und dachte über das nach, was ihre Mutter gerade gesagt hatte. Sie fühlte sich nicht geneigt, eine Ehe einzugehen, und sie befürchtete, einen schrecklichen Fehler zu machen, sollte sie dies tun. Es war gut und auch wunderbar, vom Mann ihrer Träume zu sprechen, aber wer war er? Und was war mit Mr Gorridge? Warum konnte sie ihrer Mutter nicht gehorchen und sich ihm zuwenden? Tat sie ihm Unrecht, wenn sie ihn einen kalten Fisch nannte? Vielleicht verhielt er sich in seinem eigenen Zuhause ja ganz anders?
„Es war ein langer Tag“, unterbrach die Countess ihre Gedanken, „und er ist noch nicht vorbei. Die alten Sitten des Reisens haben mir besser gefallen. Wir hätten jetzt in einem guten Hotel oder bei Cousine Arabella in Hertfordshire übernachten können und wären erfrischt zu Hause ankommen. Nun aber bin ich vollkommen erschöpft.“
„Wenn du willst, kannst du morgen bis zum Mittagessen im Bett bleiben.“
Die Countess lachte. „Das könnte ich tatsächlich tun, denn dein Vater wird nicht vor morgen Abend zurück sein. Ich weiß nicht, warum er seine Geschäfte nicht schon vor Tagen erledigen und mit uns gemeinsam heimkehren konnte.“
Auf einige ihrer gesellschaftlichen Veranstaltungen hatte der Earl sie begleitet, doch die meiste Zeit verbrachte er mit Bankiers und Anwälten wegen geschäftlicher Angelegenheiten. Und da er es nicht als notwendig erachtete, seine Frau mit seinen finanziellen Transaktionen vertraut zu machen, wusste sie nicht, worum es bei all dem ging.
Als die Hitze des Tages nachließ und die Schatten länger wurden, verstummten die Frauen allmählich. Das Klipp-klapp der Pferdehufe und das Rattern der Räder wirkten einschläfernd, und sie waren müde, als die Kutsche die Straße verließ und in einen Weg einbog, der sich den Hügel entlangwand. Von oben hatte man einen Blick hinunter in das Tal, in dem Luffenham Hall lag, geschützt vor dem kalten Ostwind durch einige Bäume und die Anhöhe, die sie jetzt hinunterfuhren.
Lucy richtete sich auf und blickte zum Fenster hinaus, als die Kutsche das schmiedeeiserne Tor durchfuhr. Vor ihr, am Ende der langen Zufahrt, lag die beeindruckende Fassade des Hauses. Es war aus rotem Backstein erbaut und bewachsen mit uraltem Efeu. An jeder Ecke des Gebäudes gab es einen Turm aus weißen Steinen mit schießschartenartigen Fenstern. Lucy vermutete, dass die Vorfahren ihres Vaters sich nicht entscheiden konnten, ob sie ein behagliches Landhaus bauen wollten oder lieber eine Festung. Das Ergebnis war eine seltsame Stilmischung, aber es war ihr Zuhause, das sie liebte.
Ehe die Kutsche auf dem kiesbestreuten Weg vor dem Haupteingang hielt, wurde die Haustür aufgerissen. Eine kleine Gestalt im Nachthemd stürmte die Stufen hinunter, um sie zu begrüßen. „Er sollte längst im Bett sein“, sagte die Countess, doch sie lächelte, denn Johnny hatte den Wagenschlag geöffnet, ehe der Kutscher das tun konnte, und kletterte hinein, um seine Mutter zu umarmen.
„Oh Mama, ich bin so froh, dass du da bist! Du bist ja so lange weg gewesen, und du sollst doch sehen, wie ich auf Peggy reite. Ich bin mit dem Pony über einen Zaun gesprungen, und Collins sagt, ich werde ein großer Jäger.“ Das Pferd war von Johnny voller Optimismus Pegasus genannt worden, weil er überzeugt war, dass es fliegen konnte, inzwischen war der Name indes zu Peggy abgekürzt worden.
„Morgen werde ich dir beim Reiten zusehen“, sagte die Mutter und schob ihn von ihrem Schoß. „Lass uns jetzt hineingehen.“
Sie betraten das Anwesen, das innen eine Mischung aus Alt und Neu bot, einige hohe, luftige Räume, aber auch viele kleinere, die über die Jahre für verschiedene Zwecke benötigt wurden, die bei einem moderneren Haus von vornherein bedacht worden wären. Die Halle selbst war groß und mit schwarz-weißem Marmor gefliest. Hier kam ihnen der Butler entgegen, zusammen mit Miss Bannister, die ihren Schützling holen wollte. „Es tut mir leid, Mylady, er wollte Sie unbedingt begrüßen.“
„Das habe ich bemerkt, aber jetzt bringen Sie ihn bitte ins Bett.“ Und auf die lautstarken Klagen ihres Sohnes, dass er alles über ihre Reise nach London hören wollte, antwortete die Countess: „Morgen wird dafür Zeit genug sein, Johnny. Die Reise war sehr anstrengend, also geh jetzt bitte auf dein Zimmer und schlafe, sei ein lieber Junge.“
Widerstrebend gehorchte er. Lucy verglich im Stillen die Art, wie ihre Mutter ihren Bruder behandelte. Sie und ihre Schwestern waren wesentlich strenger erzogen worden. Nie hätten sie den Mut gehabt, gegen Miss Bannister aufzubegehren und nach unten zu gehen, wenn sie im Bett liegen sollten, und ganz gewiss hätten sie niemals gewagt, deswegen mit den Eltern zu streiten. Aber das Verhalten ihrer Mutter war verständlich. Nach drei Töchtern hatte die Mutter die Hoffnung auf einen Sohn aufgegeben, und dann war Johnny gekommen, acht Jahre nach Esme. War es also ein Wunder, dass er der Augapfel seiner Eltern war und sie es nicht fertig brachten, ihn zu bestrafen, wenn er nicht gehorchte?
Annette, die Zofe, folgte der Gouvernante und dem Jungen nach oben, um ihre Haube abzunehmen und dafür zu sorgen, dass die Herrin heißes Wasser in ihrem Zimmer vorfand und die Nachtkleider bereitlagen. Sarah, die Älteste unter den Zimmermädchen, würde sich um das Wohlergehen von Lady Lucinda kümmern.
„Miss Rosemary und Miss Esme sind im kleinen Salon“, bemerkte der Butler. „Sie haben mit dem Abendessen gewartet.“
„Oje, und ich dachte, ich könnte es in meinem Zimmer einnehmen und dann gleich zu Bett gehen“, seufzte die Countess. Natürlich sagte sie dies nicht zu dem Diener, sondern zu Lucy, während sie durch ein Vorzimmer gingen, das als Garderobe diente, die Türen zu den Empfangsräumen links liegen ließen und sich zu einem der kleineren Räume an der rückwärtigen Seite des Hauses begaben, in dem sie sich aufhielten, wenn keine Gäste anwesend waren. „Ich glaube wirklich, mir fehlt die Energie für ihr Geplapper.“
„Dann geh ins Bett, Mama. Ich bin sicher, sie werden das verstehen. Ich werde ihnen alles erzählen, was sie wissen wollen“, sagte Lucy.
„Ich denke, das werde ich tun“, stimmte die Mutter ihr zu. Zusammen mit Lucy betrat sie den Salon.
Die siebzehnjährige Rosemary war beinahe so groß wie Lucy, doch ihr Haar war dunkler und so kunstvoll hochgesteckt, dass ihre Zofe vermutlich eine Ewigkeit dafür gebraucht hatte. Sie trug ein gelbweiß gestreiftes Kleid mit cremefarbener Spitze am Hals und an den Ärmeln. Lucy, die sich nicht so viele Gedanken machte über ihre Erscheinung – außer wenn Annette ihr bei einem offiziellen Anlass behilflich war, bei dem Eleganz von ihr erwartet wurde –, hatte schon oft gedacht, dass ihre Schwester weitaus mehr dem entsprach, was ihre Mutter von einer Tochter erwartete. Lucy fehlte die Geduld für aufwendige Frisuren, sie band ihr Haar am liebsten zurück und ließ es ansonsten so fallen, wie es wollte. Nach der langen Reise sehnte sie sich jetzt danach, sich die Locken auszubürsten.
Die vierzehnjährige Esme hatte helleres Haar, das sie einfach mit einer Schleife zurückgebunden trug. Sie hatte den Babyspeck noch nicht abgelegt, ihre Wangen waren rosig und die Augen blau. Sie trug ein Kleid aus heller Seide mit einer grünen Schärpe und saß auf einem Hocker neben dem Fenster, sprang aber auf, als die Mutter und Lucy hereinkamen.
Die Countess blieb lange genug, um von jedem Mädchen einen pflichtschuldigen Kuss in Empfang zu nehmen und ein: „Wir sind froh, dass du wieder zu Hause bist, Mama“, ehe sie sich wieder von ihren Töchtern trennte.
Sobald sie den Raum verlassen hatte, stürzten sich die Mädchen auf Lucy: „Wie war die Fahrt mit dem Zug? Hast du die Queen kennengelernt? Hast du Prinz Albert gesehen? Ist er wirklich so ernst, wie man sagt? Hast du viele Bälle besucht? Was hast du angehabt? Sind dir alle schönen Männer zu Füßen gesunken? Hast du einen Antrag bekommen?“
„Immer mit der Ruhe, ich kann nicht alle Fragen auf einmal beantworten. Ich erzähle euch alles nachher beim Essen.“
Lucy eilte in ihr Zimmer, wusch sich, zog sich ein leichtes Musselinkleid an und bürstete sich das Haar aus. Erfrischt kehrte sie zurück zu ihren Schwestern in den kleineren der beiden Speiseräume, um dort ganz ungestört – ohne auch nur einen Bediensteten – zu Abend zu essen.
„Jetzt komm schon, Lucy, mach es nicht so spannend“, schimpfte Rosemary, während sie sich den Teller auffüllte. „Wir wollen alles wissen, nicht wahr, Esme?“
Lucy unterhielt sie mit einer Beschreibung ihrer ersten Fahrt mit der Eisenbahn, die ihr Übelkeit verursachte, bis sie sich an die Geschwindigkeit gewöhnt hatte, erzählte von den Bällen, die sie besucht, von den Picknicks, an denen sie teilgenommen hatte, von den Ausritten im Hyde Park und von den Menschen, denen sie begegnet war.
„Hast du wirklich die Queen getroffen?“, wollte Rosemary wissen.
„Ich stand in einer langen Reihe mit anderen, als wir ihr vorgestellt wurden, falls du das ein Treffen nennen willst. Sie ist sehr zierlich und ganz hübsch, aber ich sah, dass sie sehr auf ihre Würde bedacht war. In Prinz Albert scheint sie aber sehr verliebt zu sein. Ist es nicht komisch? Erst heute erzählte mir Mama, dass man nicht erwarten kann, den Mann seiner Wahl schon vor der Hochzeit zu lieben. Doch Ihrer Majestät scheint genau das passiert zu sein.“
„Was ist mir dir?“ Das kam von Esme. „Hast du dich verliebt?“
„Nein.“
„Warum nicht? Hat niemand dir seine unsterbliche Liebe erklärt?“
„Nicht ein Einziger.“
„Ach, wie enttäuschend!“
„Ganz und gar nicht. Dafür ist noch genügend Zeit. Ich traf einen jungen Mann, auf den Mama und Papa anscheinend großen Wert legen.“
„Aber was ist mit dir?“
„Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er ist ganz nett.“
„Ganz nett? Ist das alles? Wer ist es?“
„Mr Edward Gorridge, der Erbe von Viscount Gorridge.“
„Ihm gehört Linwood Park!“, rief Rosemary aus. „Oh Lucy, das ist ein Palast! Stell dir nur vor, Herrin über all das zu sein. Hat er dir einen Antrag gemacht?“
„Nein. Das wäre zu früh. Mama sagt, wir müssen einander besser kennenlernen.“
„Wie willst du das machen?“, fragte Esme. „Wird er herkommen?“
„Nein, Mama und Papa nehmen mich auf eine Einladung des Viscounts hin mit nach Linwood Park. Nächsten Monat werden wir dort ein paar Tage zu Besuch sein.“
„Oh, wie sehr wir dich beneiden!“
Lucy lächelte ihrer jüngeren Schwester zu. Mit vierzehn war Esme noch ein unschuldiges Ding. „Deine Zeit wird noch kommen.“
„Aber erst werde ich meine haben“, sagte Rosemary. „Und du kannst sicher sein, dass ich nicht die Nase rümpfen würde über jemanden wie Mr Gorridge, nur weil er bloß nett ist. Nett wäre für mich annehmbar, wenn damit ein Ort wie Linwood Park verbunden ist.“
„Rosie, wie kannst du so etwas sagen?“, mischte sich Esme ein. „Das würde das Unglück ja geradezu heraufbeschwören. Reichtum ist keine Garantie für Glück.“
Rosemary lachte. „Nein, aber ich könnte in aller Bequemlichkeit unglücklich sein. Liebe ist schön und gut, aber in einer Dachkammer kann sie nicht überleben. Mir jedenfalls würde es nicht gefallen.“
„Es ist gut, dass wir nicht alle gleich sind, Rosy“, sagte Lucy. „Sonst würde kein armer Mann jemals heiraten können.“
„Gleich und gleich heiratet einander“, sagte Rosemary ausdruckslos. „So ist es nun einmal. Eine Dame kann keinen Arbeiter heiraten, ebenso wenig wie eine Prinzessin einen Bettler.“
„Nun, ich will jedenfalls auf keinen Fall bis nach der Hochzeit warten, ehe ich mich in meinen Gemahl verliebe“, mischte Esme sich ein. „Stell dir vor, du heiratest jemanden und begegnest dann einem anderen, in den du dich verliebst, dann wäre es doch zu spät, oder? Das würde ich lieber nicht riskieren.“
Das war ein Gedanke, den Lucy verstand. Sie würde sich die Chance geben, sich in Mr Gorridge zu verlieben, und sie hoffte, dass das geschehen würde, denn wenn sie ihn ablehnte, wusste sie nicht, was ihre Eltern dazu sagen oder tun würden. Hatte die Arbeiterklasse dieselben Probleme? Hielten ihnen die Eltern mögliche Partner vor die Nase und erwarteten dann, dass sie nach kurzer Bekanntschaft heirateten? Aber welchen Grund würde man hier für eine Ehe haben? Es gab in dieser Klasse weder Titel noch Reichtum, und damit auch nicht den Zwang, vorteilhaft zu heiraten. Manchmal bedauerte sie den Rang ihres Vaters und die Notwendigkeit für sie, sich anzupassen. Andererseits hatte Rosie recht: Es würde ihr überhaupt nicht gefallen, in einer Dachkammer zu leben. Wenn Dachkammern nur annähernd so ähnlich waren wie die Kammern der Dienstboten im Dachgeschoss von Luffenham Hall, dann waren sie so klein, dass man sich gerade darin umdrehen konnte. Und wo sollte sie da all ihre Kleider unterbringen? Es war nicht wahrscheinlich, dass das passierte, denn sie würde wahrscheinlich keinen Arbeiter in der Gesellschaft treffen. Doch wie trafen und verliebten sich Paare sonst?
Sie beschloss in diesem Moment, sich sehr darum zu bemühen, Mr Gorridge zu lieben, und am besten ging das, wenn sie sich auf seine guten Eigenschaften konzentrierte und jene nicht beachtete, die sie weniger attraktiv fand.
Sobald sie die Mahlzeit beendet hatten, erklärte sie ihren Schwestern, sie wäre müde von der Reise, küsste jede von ihnen auf die Wange und ging ins Bett.
Früh am nächsten Morgen erwachte sie vom Vogelgezwitscher und sprang, ohne auf die Zofe zu warten, aus dem Bett und zog die Vorhänge auf. Das Fenster ging auf den Hof hinaus, der von den Ställen gesäumt war, dahinter lag eine Koppel, anschließend begann der Park. Das Dorf Luffenham war von hier aus nicht zu sehen, denn Bäume verbargen die Sicht, doch die Kirchturmspitze hob sich deutlich vor dem blauen Himmel ab. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Sie wusch sich mit dem kalten Wasser, das sich noch im Krug befand, zog rasch ihr Reitkleid an, band sich das Haar zurück und schlüpfte in ihre Stiefel. Dann nahm sie ihren Hut und lief die Treppe hinunter in die Küche.
„Meine Güte, Sie sind aber früh dran, Miss Lucy“, sagte die Köchin. „Ich habe gerade erst angefangen, das Frühstück vorzubereiten.“
„Ein Glas Milch und etwas Toast werden genügen, Mrs Lavender. Ich esse es bei Ihnen, so wie früher, als ich klein war. Bevor es zu heiß wird, möchte ich nämlich ausreiten.“
„Miss Lucinda, Sie sind aber kein kleines Kind mehr. Sie sind eine junge Dame, die bereits ihr Debüt hatte, und ich bin nicht sicher, ob Ihre Mama es gutheißt, wenn Sie in der Küche essen.“
„Oh, seien Sie nicht so umständlich, Mrs Lavender. Außerdem liegt Mama noch im Bett und schläft tief und fest.“ Das sagte Lucy mit einem bezaubernden Lächeln. „Wenn ich warte, bis ich im Morgenzimmer essen kann, wird der Vormittag vorbei sein.“ Und damit legte sie ihren Hut auf den Tisch und nahm Platz, wohl wissend, dass sie ihren Kopf durchsetzen würde. Die Köchin seufzte, goss ihr ein Glas cremiger Milch ein, die gerade aus den Stallungen gebracht worden war, und piekte eine Scheibe Brot mit der Gabel auf. „Das werde ich machen“, sagte Lucy und nahm ihr die Gabel aus der Hand. „Sie machen mit dem weiter, was Sie gerade getan haben.“ Damit setzte sie sich vor den Herd und öffnete die Klappe, um ihr Brot zu toasten.
„Sie werden sich noch die Haut verbrennen, wenn Sie sich so nahe ans Feuer setzen“, sagte die Köchin. Sie selbst hatte ganz rosige Wangen von der Arbeit in der ständigen Wärme. „Halten Sie sich etwas vors Gesicht.“
Lucy lachte und beachtete den Rat nicht. „Was ist passiert, während ich weg war? Hat der Verehrer von Sally-Ann ihr einen Antrag gemacht?“ Sally-Ann war eine der Mägde, die mit einem der Stallknechte befreundet war. „Hat Ihre Schwester das Baby bekommen? Wurde auf der Farm schon damit begonnen, die Wiesen zu mähen?“
Die Köchin lachte. „Sie ändern sich nie, Miss Lucy. Immer noch so voller Fragen, so wie früher.“
„Wie soll ich etwas lernen, wenn ich nicht frage?“
„Und schon haben wir wieder eine Frage. Um die erste zu beantworten – ja, Andrew hat ihr einen Antrag gemacht, aber sie haben beschlossen, noch ein Jahr zu warten, ehe sie den Termin festlegen. Jetzt aber passen Sie auf, Sie verbrennen ja Ihren Toast.“
Rasch nahm Lucy die Scheibe von der Gabel und drehte sie um, ehe sie sie wieder über das Feuer hielt. „Und alles andere?“
„Meine Schwester hat einen Jungen zur Welt gebracht, aber es war keine leichte Geburt, sie hat viel Blut verloren. Das Kind war sehr schwach …“ Plötzlich verstummte die Köchin, als ihr einfiel, dass ihr eine unverheiratete und sehr behütet aufgewachsene junge Dame zuhörte. „Aber ich sollte darüber nicht sprechen. Es reicht, wenn Sie wissen, dass das Baby langsam etwas zunimmt und Luke genannt wird, nach seinem Vater. Und die letzte Frage habe ich vergessen.“
„Haben sie auf der Farm mit der Heuernte angefangen?“
„Ich hörte, dass sie heute damit starten wollen. Warum wollen Sie das wissen?“
„Ich sehe den Männern gern bei dieser Tätigkeit zu.“
„Miss Lucy!“ Die Köchin war schockiert, denn sie wusste ebenso gut wie Lucy, dass die Männer nur im Hemd arbeiteten, viele mit hochgerollten Ärmeln, sodass die muskulösen Unterarme zu sehen waren und, da sie weder Kragen noch Krawatte trugen, auch der Hals und ein Teil der Brust.
Lucy lachte, nahm den Toast von der Gabel, ging zum Tisch zurück und bestrich ihn dick mit Butter. „Es ist nichts dabei, zuzusehen, wie die Ernte erledigt wird. Ich bewundere das Geschick der Männer, die sich alle im selben Rhythmus bewegen. Es muss sehr anstrengend sein, aber sie wirken heiter.“
„Das sind sie auch, gerade in Anbetracht des feuchten Frühlings und der Tatsache, dass wir mit allem so spät dran sind. Sie sind froh, etwas tun zu können. Sind Sie sicher, dass Sie nichts mehr essen wollen? Das kann kaum bis zum Mittag reichen.“
„Mir genügt es. In den letzten beiden Monaten hatte ich immer nur Sieben-Gänge-Menüs, Teepartys und nicht enden wollende Picknicks. Ich habe genug vom Essen.“
„Dann haben Sie sich amüsiert?“
„Oh ja, es war wunderbar, aber ich bin froh, wieder zu Hause zu sein.“ Lucy trank ihre Milch aus. „Jetzt werde ich gehen und Midge satteln.“ Mit diesen Worten nahm sie ihre Kopfbedeckung und ging beschwingt aus der Küche, während sie den letzten Bissen Toast hinunterschluckte.
Draußen waren alle schon sehr geschäftig. Einige arbeiteten im Garten, andere kümmerten sich um die Pferde, mit denen sie und ihre Mutter am Vortag angekommen waren. Ein paar Männer reinigten die Kutsche, und wieder andere sattelten die Reitpferde, um sie zu bewegen. Der Stallmeister führte einen jungen Hengst an der Longe und übte mit ihm, auf die Trense zu reagieren. Einen Moment lang sah Lucy dabei bewundernd zu, dann ging sie in den Stall, wo Midge ihren Kopf aus einer der Türen streckte und leise wieherte. Sie streichelte dem Tier die Nase. „Hast du mich vermisst, meine Alte? Dann komm und lass uns ein Stück galoppieren, was meinst du?“ Sie öffnete die Tür und trat ein, um das Pferd zu satteln.
„Miss Lucy, ich mache das für Sie.“ Das war der junge Andrew, Sally-Anns zukünftiger Mann.
„Danke, Andrew. Aber wenn du beschäftigt bist, kann ich das auch selbst tun.“
„Das geht schon in Ordnung, Miss. Mylady, meine ich.“ Eilig verbesserte er sich, als ihm einfiel, dass die älteste Tochter der Luffenhams gerade aus London von ihrer ersten Saison als Debütantin zurückgekehrt war. Das bedeutete, dass sie jetzt erwachsen und eine Dame war und auch so behandelt werden musste. „Ich muss aufpassen, dass der Gurt auch ordentlich befestigt ist, sonst lässt Seine Lordschaft sich meinen Kopf auf einem goldenen Teller servieren.“
Lucy lachte. „Miss wird genügen, Andrew.“ Sie sah zu, während er geschickt das Pferd sattelte. „Mir scheint, ich muss gratulieren.“ Und als er sie verwirrt ansah, fügte sie hinzu: „Ich hörte, du hättest um Sally-Ann angehalten.“
„Oh ja, Miss. Vielen Dank, Miss.“ Andrew führte das Pferd in den Hof, bückte sich und faltete die Hände, damit sie aufsitzen konnte. „Seien Sie vorsichtig. Midge hatte in der letzten Zeit wenig Bewegung.“
„Ich passe auf.“ Er reichte ihr die Reitgerte, dann ritt Lucy im Schritt zur Auffahrt hinüber. Auf halbem Wege änderte sie die Richtung und wandte sich quer über den Rasen dem Park zu, der das Haus umgab.
Midge sprühte vor Temperament, und Lucy entschied, dass die Auslaufmöglichkeiten im Park heute nicht genügten. Daher ritt sie zu dem Tor, durch das sie zu einem grasbewachsenen Pfad gelangte, der zwischen einer Wiese und einem Weizenfeld entlangführte. Zum zweiten Mal in Folge hatte es einen kühlen, feuchten Frühling gegeben, sodass das Getreide nur langsam wuchs und es eine späte Ernte geben würde. Sie hatte gehört, dass man eine neue Maschine ausprobieren wollte, die die Arbeit mehrerer Männer erledigen konnte, und sie fragte sich, ob die das zulassen würden oder ob sie fürchteten, ihre Stellung zu verlieren, so wie es den Baumwollarbeitern vor einigen Jahren ergangen war. Das Leben war für sie auch so schon hart genug, bei einer mageren Ernte nach der anderen. Aber wie würde es den Landarbeitern ergehen, wenn die Farmer begannen, all die Tätigkeiten zu mechanisieren, die bisher von Menschen erledigt worden waren?
Auf einer der Wiesen war die Heuernte in vollem Gange, und sie zügelte das Pferd, um zuzusehen. Die Männer schoben sich mit gleichmäßigen Schritten voran, bewegten ihre muskulösen, von der Sonne gebräunten Arme in einem uralten Rhythmus. Unter ihren Sicheln fiel Büschel um Büschel, und die Frauen hinter ihnen breiteten das Heu aus, damit es in der Sonne trocknete. Nach einer Weile ritt Lucy weiter, sie erreichte die Heide. Hier gab sie ihrer Stute die Zügel, und es dauerte nicht lange, da hatte sie die Felder hinter sich gelassen. Die Heide war mit Büschen und einigen Bäumen bedeckt, Schafe fraßen das Kraut und das spärliche Gras. Feldlerchen nisteten hier, und Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Über Lucys Kopf kreiste ein Turmfalke.
Auf einer Anhöhe ließ sie ihr Pferd im Schritt gehen und hielt schließlich an, um über das Tal zu blicken, durch das sich ein Fluss schlängelte. Dort unten gab es weitere Felder und einige Farmhäuser. Auf der gegenüberliegenden Seite grasten noch mehr Schafe. All das Land gehörte ihrem Vater, seit den Zeiten der Reformation befand es sich in Familienbesitz, und das erzählte er gern jedem, der zuhörte. Es war ein hervorragendes Jagdgebiet, und später im Jahr würde ihr Vater Freunde und Verwandte einladen, um für eine Woche hier auf die Jagd zu gehen. Nach Weihnachten würde sich diese Prozedur wiederholen, so war es in all den vergangenen Jahren gewesen.
Sie hob eine Hand, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen, als sie im Tal drei Männer entdeckte. Das waren keine Arbeiter, denn zwei trugen erkennbar kurze Übermäntel und auf dem Kopf einen Hut, der fast die Form eines Zylinders hatte. Der dritte unter ihnen war weniger förmlich gekleidet. Sie schienen etwas am Boden zu begutachten, und Lucy trieb ihr Pferd den schmalen Pfad hinunter, überquerte eine schmale Holzbrücke, die über den Fluss führte, und trabte geradewegs auf die Männer zu. Beim Näherkommen bemerkte sie, dass sie einen Winkelmesser benutzten, und einer hatte ein Notizbuch bei sich, in das er etwas eintrug. Als sie das Pferd vernahmen, blickten die Männer zu ihr hinüber, und der Jüngste der drei, der auf dem Boden gehockt hatte, erhob sich.
Er war ein beeindruckender Mann. Weit über ein Meter achtzig groß, mit breiten Schultern, über denen sich der Stoff seines Übermantels spannte. Sein Brustkorb war so breit, wie seine Hüften, die in einer schlichten Hose steckten, schmal waren. Er trug ein locker gebundenes Krawattentuch und, im Gegensatz zu den beiden anderen, keinen Hut. Er besaß große Hände, und in dem Moment, in dem sie das Pferd vor ihnen zum Halten brachte, zerkrümelte er Erde zwischen den Fingern.
Als er lächelte, zeigten sich seine ebenmäßigen weißen Zähne. „Guten Morgen, Miss.“ Sein Akzent, obwohl weit davon entfernt, grob zu sein und gewiss ganz ohne eine Spur des Bauerndialekts, entsprach nicht dem eines Gentleman. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihm abzuwenden, und obwohl noch zwei andere Männer anwesend waren, sah sie nur ihn allein an.
„Was tun Sie da?“, fragte sie, ohne seinen Gruß zu erwidern.
„Ich vermesse, Miss.“
„Was vermessen Sie?“
„Das Land. Für die Eisenbahn.“
„Hier?“ Lucy war überrascht. Mehr als einmal hatte sie ihren Vater sagen hören, dass er die Eisenbahn verabscheute und sie nicht auf seinem Land haben wollte, was inkonsequent war, da er sie selbst benutzte, wenn es ihm zupass kam.
„Es scheint eine genauso gute Route zu sein wie jede andere, aber das wissen wir erst, wenn wir die Strecke abgelaufen sind.“
„Von wo nach wo soll sie denn gehen?“
„Von Leicester nach Peterborough, als Anschluss an die Eastern Counties Railway.“
„Es fällt mir schwer, zu glauben, dass mein Vater sich damit einverstanden erklärt hat.“
„Und wer ist Ihr Vater?“
Der junge Mann schien nicht sehr beunruhigt, umso mehr Wert legte sie darauf, ihre Würde zu wahren. „Der Earl of Luffenham, und ehe Sie fragen – Sie befinden sich auf seinem Land, was Sie, wenn Sie hier vermessen, zweifellos schon wissen.“
Der junge Mann verneigte sich, wenn auch wohl eher der Form halber als aus Respekt. „Es tut mir leid, hätte ich gewusst, wer Sie sind, hätte ich Sie entsprechend angesprochen, Mylady.“
Vor sich sah er ein reiches, überhebliches Kind der Oberklasse auf einem edlen Pferd. In Anbetracht der Größe der Stute und der Art, wie die junge Frau auf ihr saß, musste sie hochgewachsen sein. Das Reitkleid aus dunkelblauem Taft hatte sie anmutig über ihre Beine und Füße ausgebreitet. Der kleine Reithut mit dem schmalen Schleier thronte auf Locken von dunklem Gold. Die Augen, mit denen sie ihm furchtlos ins Gesicht blickte, waren grüngrau. Gern hätte er sie verachtet, doch er stellte fest, dass ihr Mut ihn beeindruckte. Offensichtlich empfand sie keine Angst vor den drei Männern, sondern sagte ihnen, was sie dachte.
„Das beantwortet nicht meine Frage. Hat mein Vater zugestimmt?“
„Im Augenblick bitten wir niemanden um Zustimmung, Mylady. Wir müssen erst entscheiden, ob eine solche Bahnlinie überhaupt zu realisieren ist.“
„Und dafür müssen Sie, wie es scheint, hier entlanglaufen.“
Einer der beiden anderen Männer hustete, sodass sie den Blick von dem jüngeren Mann auf diesen richtete. Im selben Moment sagte er: „Mylady, ich denke, Sie werden feststellen, dass das Land des Earls auf dem anderen Ufer beginnt.“ Er deutete auf den Fluss hinter ihr.
„Das tut es nicht. Es reicht bis zu dem Hügel dort.“ Mit der Reitgerte wies sie in die Richtung. „Diese ganze Gegend ist Land der Luffenhams.“ Sie beschrieb mit dem Arm einen weiten Bogen.
„Bis wir den Beweis dafür haben, bitte ich Sie um Verständnis, Mylady.“
„Dann schlage ich vor, Sie wenden sich an den Earl, der das zweifellos bestätigen wird. Inzwischen unterbrechen Sie, was immer Sie da tun.“
Der jüngste der Männer lachte, und sie fuhr zu ihm herum. „Das ist nicht komisch.“
In seinen bernsteinfarbenen Augen funkelte es belustigt. „Es tut mir leid, Mylady, aber wir haben einen Auftrag zu erledigen, und den werden wir nicht einfach auf die Worte einer jungen Dame hin unterbrechen, die vielleicht nicht weiß, wovon sie redet. Ich schlage vor, Sie setzen Ihren Ritt fort, und wir unterhalten uns mit Ihrem Vater, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“
Seine herablassende Art erregte Lucys Zorn. Gern hätte sie den Streit fortgesetzt, doch sie war sich ihrer Sache nicht ganz sicher, daher machte sie kehrt und trabte davon. Nachdem sie den Fluss überquert hatte, ließ sie ihr Pferd im Schritt gehen, drehte sich allerdings nicht um. Sie war davon überzeugt, dass sie dann sehen würde, wie die Vermessung des Landes fortgesetzt wurde. Sie hätte die Männer nach ihren Namen fragen sollen, um ihrem Vater von ihnen berichten zu können, aber nichts auf der Welt würde sie dazu bringen, sich so weit zu erniedrigen, zurückzukehren und entsprechende Auskünfte einzuholen.
Der jüngere Mann war außerordentlich unhöflich gewesen, und die beiden anderen, die älter waren und ihn hätten zurechtweisen sollen, hatten nichts Diesbezügliches gesagt, sondern ihm nur den Rücken gestärkt. Aber wie gut er aussah – so viele Muskeln, und er hatte ein herzliches Lächeln und einen heiteren Blick, der wenigstens ein bisschen von seiner Unverschämtheit wettgemacht hatte. Natürlich würde er nicht ihren Vater aufsuchen, das würden seine Vorgesetzten erledigen, was bedauerlich war, denn sie hätte ihn gern wiedergesehen. Wenn auch nur, um ihren ersten Eindruck zu bestätigen, dass er ein Grobian war, der keine Ahnung hatte, wie man sich einer Dame gegenüber verhielt.
Sie fragte sich, was ihr Vater sagen würde, wenn sie ihm von der Begegnung erzählte. Er hasste jede Veränderung, alles, was seine geordnete Lebensweise störte, und sie hatte so oft gehört, wie er gegen die Eisenbahn wetterte, dass sie davon überzeugt war, er würde die Abordnung wegschicken und damit drohen, sie zu erschießen, wenn sie noch einmal sein Land betraten. Und er würde mit ihr böse sein, weil sie überhaupt mit ihnen gesprochen hatte, also wäre es besser, erst gar nichts zu sagen. Bald schon würde er es selbst herausfinden.
Myles widmete sich nicht wieder seiner Arbeit, sondern sah ihr nach, bewunderte die Art, wie sie ritt, mit geradem Rücken, die Zügel locker in der Hand. Er begriff, dass er herablassend gewesen war und ihr nicht richtig erklärt hatte, dass er und seine Kollegen nur versuchten, den besten Weg für die Bahnlinie zu finden. Der Grundbesitz des Earls war nämlich nicht zusammenhängend, sondern bestand aus vielen Teilstücken – eine Farm hier, ein Weiler da, Wälder, Heide und Wiesen, kleine Stücke, die über die Jahre hinzugekommen waren. Ein breiter Streifen erstreckte sich zwischen dem Anwesen der Gorridges und dem Land auf der anderen Seite, das sein Vater vor ein paar Jahren gekauft hatte, um sich ein Haus zu bauen. Wenn für die Eisenbahn die kürzeste Strecke ausgesucht werden würde, was gewöhnlich gemacht wurde, da die Kosten pro Meile berechnet wurden, würde sie diesen schmalen Streifen überqueren und dann auf das Land der Gorridges führen. Viscount Gorridge hatte sich einverstanden erklärt, sein Land der Eisenbahngesellschaft zu verkaufen, und versichert, dass auch Luffenham bereit sein würde, sein entsprechendes Gebiet abzutreten. Er hatte angedeutet, einigen Einfluss auf den Earl zu besitzen.
„Das also war eine der Töchter des Earls“, bemerkte Joe Masters. „Ich hörte, er hätte drei.“
„Ich frage mich, ob jede von ihnen so ist.“
Masters lachte. Er war in den Fünfzigern und hatte schon für Myles’ Großvater und seinen Vater gearbeitet, seit er alt genug war dafür, deswegen sprach er deutlichere Worte als andere Angestellte. „Gott stehe ihm bei, sollte das der Fall sein. Er muss ja für sie alle einen Ehemann finden und eine Mitgift stellen.“
„Befinden wir uns wirklich auf dem Land des Earls?“
Masters zuckte die Achseln. „Das spielt keine Rolle. Wenn er nicht mit dem Verkauf einverstanden ist, dann wird das Land beschlagnahmt. Sie sind doch lange genug im Eisenbahngeschäft, um zu wissen, wie das läuft, oder?“
„Ja, natürlich, aber ich hasse Meinungsverschiedenheiten. Das gibt nur Ärger.“
„Das ist deine Schwäche, Junge“, sagte Joe und lachte. „Obwohl du ein großer Kerl bist, hast du ein zu weiches Herz.“
„Ich zeige dir schon, wie weich ich bin“, sagte Myles, hob die Fäuste und boxte den anderen leicht gegen die Schulter. Der dritte Mann, Martin Waterson, sah belustigt zu, wie die beiden gegeneinander kämpften, obwohl keiner dem anderen je Schmerz zugefügt hätte.
„Frieden!“, sagte Joe schließlich und hob in einer beschwichtigenden Geste die Arme. „Ich gebe auf. Du bist nicht weich.“
Myles, der kaum außer Atem war, ließ die Arme sinken. „Machen wir weiter. Ich habe keine Lust auf eine Begegnung mit den Männern des Earls. Jedenfalls nicht früher, als es nötig ist.“
Sie arbeiteten weiter, und bis zum Nachmittag hatten sie das Land in der Talsohle daraufhin überprüft, was die beste Strecke für die Bahnlinie wäre. Nun näherten sie sich dem Dorf Luffenham. „Ich denke, das reicht für heute“, sagte Waterson. „Ich schlage vor, dass wir morgen am anderen Ende beginnen und wieder bis hierher gehen. Vielleicht existiert eine bessere Route.“
„Gut. Machen wir für heute Schluss“, sagte Myles. Er beendete seine Notizen und schob sie sich in die Tasche.
Nachdem sie einen Treffpunkt vereinbart hatten, stiegen sie auf ihre Pferde, die sie bisher mitgeführt hatten, und nahmen getrennte Wege. Masters und Waterson ritten nach Norden, wo sie wohnten, während Myles auf einem großen schwarzen Hengst mit Namen Trojan, den sein Vater ihm vor vier Jahren zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte, über die Hügel nach Hause ritt. „So groß, wie du bist, brauchst du auch ein stattliches Pferd“, hatte er gesagt. „Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, woher du das hast. Ich bin kaum überdurchschnittlich in die Höhe gewachsen, und deine Mutter ist äußerst zierlich. Muss das Erbe eines früheren Verwandten sein.“
Die Vorfahren seiner Mutter standen ohne Zweifel fest. Sie war die Tochter des Viscount Porson, die letzte Erbin einer langen Linie, die nicht weiter fortgesetzt werden konnte, wie es etwa die Gorridges und Luffenhams geschafft hatten. Seine Lordschaft war froh gewesen, seine Tochter mit dem Besitzer einer Tuchmühle verheiraten zu können, der nicht vorgab, ein Gentleman zu sein, aber durch Geschäfte reich geworden war. Aufgrund seines Geldes und wegen einer großzügigen Spende für Wellingtons Armee in Form von Uniformen war ihm der Titel eines Barons verliehen worden. Myles konnte sich noch an seinen Großvater erinnern: In jeder Stunde des Tages hatte er gearbeitet, getrieben von Ehrgeiz und der Furcht, dass der Reichtum, den er erworben hatte, wie viel es auch sein mochte, sich mit einem Windstoß verflüchtigen könnte und er dorthin zurück musste, wo er angefangen hatte. Das Erbe hatte er dann an seinen Sohn weitergegeben, Myles’ Vater.
„Mein Vater hat sich zu Tode geschuftet“, sagte Henry Moorcroft immer zu seinem Sohn. „Von sieben Uhr früh an war er entweder in der Mühle oder in der Fabrik, und erst am Abend haben wir ihn wieder zu Gesicht bekommen. Seinen Bemühungen war es zu verdanken, dass ich eine Ausbildung erhielt, aber das hieß nicht, dass ich jemals ausspannen durfte. Auch ich musste arbeiten, und du hast auch keine andere Chance. Du kannst dir aussuchen, wo du mit deiner Tätigkeit anfangen willst. Aber wofür du dich auch entscheidest, du wirst unten anfangen müssen.“
Myles hätte die Tuchmühle in Leicestershire wählen können, wo ursprünglich das Vermögen entstanden war, oder die Maschinenwerke in Peterborough, doch er hatte einen anderen Entschluss gefasst: Er wollte dabei helfen, die Eisenbahn zu bauen, für die sein Vater gerade erst die Verträge unterzeichnet hatte. Sie war das Transportmittel der Zukunft, und das ganze Konzept faszinierte ihn. Er hatte tatsächlich ganz unten angefangen, als Bahnarbeiter, dabei hatte er an Kraft gewonnen. Zusammen mit den Muskeln hatte er viel Verständnis erworben für die Männer, die mit ihm zusammen arbeiteten und jeden Tag tonnenweise Erde bewegten mit nichts als Spitzhacken und Schaufeln. Er hatte gesehen, wie sie lebten, heirateten und sich um ihre Kinder kümmerten. Unter den Angestellten seines Vaters hatte er alles über Sprengungen, Streckenabschnitte und Viadukte gelernt, über Brücken und Tunnel, über Aufsicht, Kosten und das Einhalten eines Budgets. Er betrachtete sich als einen echten Eisenbahner.
Er war so beschäftigt, dass ihm nur wenig Zeit blieb für die Damen, doch er ging davon aus, dass er sich früher oder später Gedanken über eine Heirat machen würde. Sein Vater, dessen Wurzeln noch immer in der Arbeiterklasse verankert waren, würde sich nicht im Geringsten dafür interessieren, wen er wählte, solange die Auserwählte nicht außergewöhnlich frivol war, aber seine Mutter würde schon eher auf eine gute Herkunft achten. Die Tochter des Earls war zweifellos von einer solchen, aber war sie frivol? Das Reitkleid, das sie trug, deutete zweifellos auf eine Neigung zur Extravaganz hin. Geistreich war sie auch, aber damit konnte er umgehen.
Er lachte laut auf – und erschreckte damit einen Schwarm Stare, die auf einem Baum neben der Straße gesessen hatten. Warum nur dachte er an sie, an das verwöhnte Kind eines Landadligen, der in ihm ganz gewiss keinen Ehemann für seine Tochter sehen würde? Vermutlich würde er ihr nie wieder begegnen. Andererseits, wenn es einen Grund gab, den Earl in Eisenbahnangelegenheiten aufzusuchen – er lachte wieder und hielt sein Gesicht in die Sonne. Man konnte nie wissen.
An jenem Abend kehrte der Earl of Luffenham rechtzeitig nach Hause zurück, um mit seiner Familie gemeinsam zu essen. Lucy bemerkte, dass er in keiner guten Stimmung war. Er behandelte die Dienstboten unfreundlich und kritisierte Rosemarys Kleid, erklärte, es wäre nicht passend für eine junge Dame, die noch nicht debütiert hatte. „Was ist das für ein schimmerndes Zeug?“, fragte er.
„Taft, Papa.“
„Was spricht gegen Musselin?“
„Nichts bei einem Tageskleid, Papa, aber für ein Dinner ist es nicht angemessen.“
„Du wirst überheblich, Miss, und ich wundere mich über Sie, Madam, dass Sie das zulassen.“ Die letzte Bemerkung war an seine Gemahlin gerichtet.
„Es ist kein neues Kleid, Mylord“, erklärte sie. „Es ist eines von meinen Kleidern, das ich habe ändern lassen. Das dunkle Rosa passt zu Rosie, und ich dachte, es würde sie dafür entschädigen, dass sie nicht so viele neue Kleider bekommen hat wie Lucy in diesem Jahr.“
Ein wenig besänftigte das den Earl, und durch eine Kopfbewegung bedeutete er dem Butler, mit dem Servieren zu beginnen. Seine Sparsamkeit erschien Lucy unnötig und inkonsequent. Er murrte, wenn Geld für Kleider ausgegeben wurde, hätte aber nicht im Traum daran gedacht, mit weniger Dienstboten auszukommen, schon gar nicht mit solchen, wie eben diesem Butler, die auch vor Gästen bedienten. Er bestand darauf, dass das Essen für die Familie nur aus bescheidenen vier Gängen bestand, doch bei Festlichkeiten waren die dargebotenen Speisen stets außergewöhnlich in ihrer Üppigkeit. Seine Pferde waren die besten, die sich für Geld kaufen ließen, seine Gastfreundlichkeit bei den jährlichen Jagdgesellschaften war legendär, aber er verweigerte die Reparaturen an den Häusern seiner Pächter und erklärte, wenn die sie so verfallen ließen, warum sollte er dann für die Wiederherstellung bezahlen?
Eine Weile aßen sie stumm, dann fragte Lucy: „Hattest du eine gute Reise, Papa?“
„Sie war scheußlich, wie immer.“
„Dann bist du über die Straße gekommen?“
„Nein. Mit der Eisenbahn. Doch sie hielt ständig an, ohne dass ich einen Grund dafür erkennen konnte.“
„Ich nehme an, das lag daran, dass du mit verschiedenen Eisenbahngesellschaften gereist bist“, sagte Lucy. „Du musstest an die jeweiligen Lokomotiven angekoppelt werden.“
„Was verstehst du denn davon?“
„Ich habe darüber in der Zeitung gelesen. Es stand ein Bericht darin über eine Debatte im Unterhaus, bei der es um die Zahl der genehmigten Gesellschaften ging und um Mr Hudsons Pläne, diese zusammenzufassen, damit unterwegs nicht ständig gewechselt werden muss.“
„Keine passende Lektüre für eine junge Dame, Lucinda. Und Hudson wird noch Ärger bekommen, denk an meine Worte.“
„Warum bist du so sehr gegen die Eisenbahn, Papa? Ich dachte, sie bringt enorme Verbesserungen?“
Er warf ihr einen strengen Blick zu. „Warum interessiert dich das, junge Dame?“
„Es liegt nur daran, dass ich auf dem Weg nach London zum ersten Mal mit einem Zug gefahren bin, und ich habe darüber nachgedacht. Es ist eine sehr schnelle Art zu reisen. Man sagte uns, über vierzig Meilen die Stunde. Es war, als würde man fliegen.“