Ein fatales Alibi - Ansgar Sittmann - E-Book

Ein fatales Alibi E-Book

Ansgar Sittmann

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Beschreibung

Wie viel Schuld nimmst du auf dich, um deine Liebe zu schützen? Paris in den Siebzigern. Wie jeden Tag geht der junge Künstler Quentin ins Café, um seine Schicht hinterm Tresen zu beginnen. Da wird er von der Gendarmerie verhaftet: Er habe in der vergangenen Nacht einen eiskalten Mord begangen. Quentin zögert, den Ermittlern zu verraten, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hat – er würde damit seine große Liebe, die verheiratete Marie, in Bredouille bringen. Das Fatale daran: Marie ist die Frau seines besten Freundes. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt von seiner Täterschaft, sieht Quentin dem Mörder doch zum Verwechseln ähnlich. Einzig Kommissar Beaufort zweifelt an seiner Schuld. Während Quentin die Guillotine droht, hat Kommissar Beaufort die Fährte nach Trier aufgenommen. Doch die Zeit läuft ihm davon und der eigentliche Mörder ist geschickt darin, seine Tat zu vertuschen. Ein wunderbar atmosphärischer Kriminalroman für Liebhaber von Frankreichkrimis.

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Der AutorAnsgar Sittmann, 1965 in Trier geboren, lebt und arbeitet seit Sommer 2013 in Berlin, nachdem er zuvor 9 Jahre im Ausland tätig war (5 Jahre Paris, im Anschluss 4 Jahre in Washington, DC). Als passionierter Leser von franko-belgischen Comics sowie Krimis aller Art gilt seine Leidenschaft dem Schreiben. Bisher sind 4 Kriminalromane um den Berliner Privatdetektiv Castor L. Dennings erschienen, außerdem 2 Kurzgeschichten in Anthologien. Ansgar Sittmann ist verheiratet, hat 2 Kinder und 2 Katzen.

Das BuchParis, 1978. Wie jeden Tag geht der junge Künstler Quentin ins Café, um seine Schicht hinterm Tresen zu beginnen. Da wird er von der rüden Gendarmerie verhaftet: Er habe in der vergangenen Nacht einen eiskalten Mord begangen. Quentin zögert, den Ermittlern zu verraten, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hat – er würde damit seine große Liebe, die verheiratete Marie, in Bredouille bringen. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt von seiner Täterschaft, sieht Quentin dem Mörder doch zum Verwechseln ähnlich. Einzig Kommissar Beaufort zweifelt an seiner Schuld. Während Quentin die Guillotine droht, hat Kommissar Beaufort die Fährte nach Deutschland aufgenommen. Doch die Zeit läuft ihm davon und der eigentliche Mörder scheint ihm immer einen Schritt voraus…

Ansgar Sittmann

Ein fatales Alibi

Kriminalroman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinOktober 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-051-1

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Kapitel 1

Paris, Rue de Clichy, Donnerstag, den 16. März 1978.

Sein Magen krampfte, schlagartig rührte sich das deftige Hachis Parmentier, das Jürgen Stunden zuvor in einem kleinen Bistro in der Rue du Bac gegessen hatte. Schiss in der Hose. Ja, Schiss in der Hose. Er kannte dieses Gefühl. Schon einmal hatte er es erlebt, damals in der 7. Klasse auf dem Hindenburg-Gymnasium in Trier, als der grobschlächtige Rudi während der großen Pause Streit suchte. Ein weiteres Opfer, einen Jungen, der sich standhaft weigerte, ihn zu bewundern.

»Na, was hast du drauf, Muttersöhnchen? Hm? Bist du schwul?« Rudi kam immer näher, und es blieben nur wenige Sekunden, bis er ihn in den Schwitzkasten nehmen würde. Rudis Schwitzkasten war nämlich gefürchtet, keine Chance sich daraus zu lösen, die Demütigung endete erst, wenn seinem Opfer die Tränen in die Augen schossen und um Gnade gewinselt wurde. »Na los, du Pfeife! Zeig mir mal, was du kannst!«

Fast hätte Jürgen damals in die Hose gemacht, aber die Wut war größer, diese unsägliche, unberechenbare Wut, wenn Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Es war mehr ein Reflex, kein durchdachter Angriff. Als Rudi etwa zwanzig Zentimeter vor ihm stand, riss Jürgen sein Knie hoch und spürte, wie er Rudis Hoden Richtung Schambein stieß. Rudi klappte zusammen, ließ sich auf den Boden fallen und wand sich vor Schmerzen.

Jürgens Herz raste. Ihm war klar, dass er diese Schlacht gewonnen hatte und sich mit den ungläubigen, fast bewundernden Blicken seiner Schulkameraden hätte begnügen können, aber die aufgestaute Wut hatte ein Maß erreicht, das er nicht mehr kontrollieren konnte. Wie ein wild gewordener Stier trat er auf Rudi ein, ohne darauf zu achten, wo er ihn traf. Irgendwann floss Blut, Rudi schrie nicht mehr und wachte erst am nächsten Tag im Krankenhaus auf.

»Hey, was ist los? Gehst du mit?«

Jürgen hatte ein Full House auf der Hand, keinen besonders starken, aber immerhin ein Full House. Zweitausend Francs hatte er bereits verloren. Er öffnete seine Brieftasche und besah den Inhalt. Ein Fünfhundert Franc Schein blieb ihm noch. Zweihundert hatte er in einem Schuppen auf Pigalle gelassen, weitere Fünfhundert für ein billiges Hotelzimmer und Essen ausgegeben. Gut investiertes Geld sollte es sein. Ein Trip zum Concours Général Agricole in Paris, wo mehrere Hundert Winzer aus allen Regionen Frankreichs ihre Weine präsentierten. Er hatte sich in einen günstigen Brouilly aus Cercié verliebt, der immerhin mit einer Silbermedaille prämiert wurde. Kontakte waren geknüpft, auch zu Winzern aus dem Bordelais, der Loire, der Rhône. Er war sich sicher, dass seine kleine, feine Weinhandlung mit französischen Weinen in Trier Erfolg haben würde. Seine Frau war skeptisch. »An der Mosel?«, hatte sie gefragt und das Gesicht verzogen. »Du weißt aber schon, wo wir wohnen?« Er konnte es nicht leiden, wenn sie mit ihm sprach wie ein Kind. Aber er liebte sie und verstand ihre Zweifel. Wein gab es in Trier wahrlich genug, doch ausschließlich den süffigen Weißen.

»Warte es ab, Claudia. Der Markt ist da, ich wette mir dir.«

Ich wette mit dir. Oh ja, er spielte gerne. Am liebsten Skat. Und natürlich nur um Bares. Und er hatte Glück, meistens jedenfalls. Hätte er Buch geführt, würde es ein deutliches Haben vorweisen. Schon als Kind schaute er begeistert zu, wenn sein Vater an Sonntagen mit seinen beiden Brüdern Karten fletschte. Pfennigbeträge wurden über den Tisch geschoben, und man musste schon eine ordentliche Serie mit gewonnenen Bock-Ramsch-Runden hinlegen, um ein oder zwei Mark zu gewinnen. Wenn Jürgen später mit seinen Kumpels zockte, bestand er auf einen Einsatz von einem Pfennig pro Punkt. Selbst Mau-Mau spielte er nur um Geld, als ihn die Vorlesungen an der Uni langweilten und er ein paar Gleichgesinnte zum Zocken überreden konnte. Manchmal sprang sogar mehr raus als beim Skat. Eine Mark für einen Buben, sechzig Pfennig für ein As, fünfzig für eine Zehn. Konnte ein Spieler das Spiel mit einem Buben beenden, wurden die Punktwerte der verbliebenen Karten auf den Händen der Gegner verdoppelt. Nie hatte er Schiss. Er hatte das Gewinner-Gen und strahlte eine Überlegenheit aus, die seine Mitspieler im Unterbewusstsein verunsicherte.

Was sollte schon schief gehen beim Pokern mit einer Handvoll versoffenen Parisern aus dem 9. Arrondissement? Alles ging schief. Zigarettenqualm waberte einen halben Meter unter der Decke des Hinterzimmers der heruntergekommenen Eckkneipe. Seine Augen brannten, ein penetranter Gestank aus Bier, Wein und Pastis füllte den gesamten Raum.

Er betrachtete abwechselnd seinen Fünfhunderter und sein Full House. Drei Achten und zwei Zehner. Charles (oder hieß er Ludovic?) grinste ihn an.

»Willst du ihn wechseln?«

Grins du nur, Arschloch, dachte er. Gleich wirst du heulen!

Betont lässig warf Jürgen den Schein auf den Geldhaufen in der Mitte des Tisches, Zehner, Fünfziger, Hunderter, Münzen. Er hatte nicht mitgezählt, aber es war viel, das teuerste Spiel am Abend, eine Art Finale, bei dem anscheinend jeder aufs Ganze zu gehen bereit war. Der Versuch, seinerseits ein cooles Lächeln aufzusetzen, endete in einer merkwürdigen Grimasse, ein Mundwinkel oben, der andere unten. Die Lippen zitterten.

»Ist das dein Ernst?«, fragte Charles (oder Ludovic) lächelnd. »Du bluffst.«

»Scheiße, das ist mir zu heiß. Ich passe.«

»Mir auch, Mist.«

Nacheinander warfen vier Mitspieler die Karten auf den Tisch und fluchten. Charles, der eine unglaubliche Glücksträhne hinlegte, nahm langsam fünf Einhundert-Franc-Scheine von seinem Haufen und legte sie langsam in die Mitte.

Die aufeinander gepressten Lippen zitterten immer stärker, so sehr er sich auch mühte, das Zittern zu unterdrücken. Zweitausendfünfhundert Francs. Nein, er konnte nicht verlieren, in seinem Leben war noch immer alles gut gegangen. Einverstanden, eine Lehre sollte es sein, die Angst hatte er verdient. Den Schiss in der Hose. Ein Full House. Was sollte schief gehen? Am nächsten Tag würde er noch einmal zur Messe fahren und einige Kisten Wein kaufen. Im Hotel hatte er bereits ausgecheckt, eine Nacht im Auto ohne Dusche hatte er eingerechnet. Der Volvo war groß genug. Er hatte ihn erst vor wenigen Wochen gebraucht gekauft. Ein himmelblauer Volvo 245DL, ein gutmütiger Kombi, in dem eine ganze Familie hätte schlafen können. Wie geschaffen für einen Weinimporteur, der zu Beginn den guten Roten höchstpersönlich beim Winzer abholen würde, zumindest so lange, bis das Geschäft florierte und er sich einen echten Lieferwagen mit Fahrer leisten konnte. Nein, er konnte nicht verlieren. Wenn es einen lieben Gott gab, würde er ihn jetzt gewinnen lassen, er würde eine Runde schmeißen, sich verabschieden und in der nächsten Kirche eine Kerze anzünden.

»D’accord, dann schauen wir doch mal, hm? Oder magst du noch irgendwas setzen? Deine Uhr sieht ja nicht besonders teuer aus.«

Irritiert schaute Jürgen auf seine Armbanduhr, eine Zentra mit geriffeltem blauem Zifferblatt. Er besaß sie seit seiner Kommunion, ein Geschenk seines Paten, ein anständiger Bauer, der ihm bei jedem Besuch einen Heiermann zugesteckt hatte. Sage und schreibe fünf Mark. Die Uhr musste teuer sein. Onkel Fritz hätte ihm keinen Schund zur Kommunion geschenkt. Langsam legte er die drei Achten auf den Tisch, schaute kurz sein Gegenüber an, der keine Miene verzog, und ließ die beiden Zehner folgen. Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Sein Sitznachbar pfiff durch die Zähne: »Hui, Respekt, Full House. Du bist dran, Ludovic.« Ludovic! Also doch nicht Charles.

»Machen wir’s kurz, voilà, c’est la vie, mon vieux.«

Vier Asse! Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Mon vieux. Schlagartig fühlte Jürgen sich um Jahre gealtert, er zitterte am ganzen Leib und schüttelte ungläubig den Kopf. Er verbarg sein Gesicht in den Händen, vielleicht war es ja nur ein Alptraum, und wenn er sie wieder wegnahm, würde er in einem Bistro sitzen und einen Bergerac schlürfen. Ein Mitspieler klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Mal gewinnt man, mal verliert man«, hörte er. Die Stimme klang fern, ihm wurde schwindelig. Dann, ohne nachzudenken, schnellte er nach vorne und griff nach dem Geld, das immer noch in der Mitte des Tisches lag.

»Hey!«, schrie einer, »Sale boche!« ein anderer, er spürte, wie eine Faust an sein Jochbein krachte, und fiel vom Stuhl. Benommen rappelte er sich auf, wie eine Wand standen die Männer angriffsbereit vor dem Tisch.

»Verschwinde, los! Mann, was bist du denn für einer!«

Gedemütigt richtete Jürgen sein Sakko, ging zum Garderobenständer und nahm seinen Regenmantel, einen Burberry. Den hatte ihm Claudia zum Hochzeitstag geschenkt, als sie ihren Urlaub in der Bretagne verbrachten und einen Abstecher auf die Kanalinsel Jersey unternahmen. Zwei Jahre war das her, doch bei der Erinnerung stülpte sich sein Magen nach außen. Der Wellengang war unerträglich an jenem Tag, das kleine Schiff schaukelte wie eine Wippe auf dem Spielplatz, ein kollektives Erbechen verband die Ausflügler auf sonderbar intime Weise. Das Gefühl jetzt war schlimmer.

Es war kurz vor Mitternacht, als er auf dem Trottoir vor der Kneipe stand. Leichter Nieselregen setzte ein, das Straßenpflaster schimmerte silbern im fahlen Licht der spärlichen Straßenbeleuchtung. Unentschlossen trottete er bergab Richtung Gare Saint Lazare. Eine trostlose Ecke, dabei lagen die großen Boulevards mit den schicken Grands Magasins Galeries Lafayette und Printemps fußläufig nur zwanzig Minuten entfernt. Auf der rechten Straßenseite sah er ein zerfallenes Haus, das kurz vor dem Abriss stand. Das Dach war bereits abgetragen, dort, wo einst kleine Fenster die Fassade schmückten, starrten ihm schwarze Löcher entgegen, wie eine verwesende Leiche, deren Augen bereits von Aasgeiern herausgepickt worden waren. Magisch angezogen lief er über die Straße, trat gegen die morsche Tür und stand in einem engen Flur, der nach Schimmel und kaltem Rauch roch. Die morschen Dielen knarrten, als er langsam Richtung Wohnzimmer schritt. Er malte sich aus, wer hier wohl gelebt haben musste. Ein altes Pariser Pärchen, er Eisenbahner, sie Marktfrau. Vielleicht hatten sie das Haus gekauft, als Paris noch bezahlbar war. Nun würde hier sicher eine Luxusimmobilie entstehen, ein Objekt mehr, das den kleinen Mann an die Randbezirke der Stadt verdrängte.

In Gedanken stand er vor dem verrußten Kamin. Eigenartig, der Raum war leergeräumt, nur das Kaminbesteck hatte man vergessen. Er griff nach dem schmiedeeisernen Schürhaken und wunderte sich über das Gewicht. Langsam hob er ihn hoch, holte weit aus und schmetterte ihn gegen die Wand. Staunend betrachtete er die Delle, die er dem Mauerwerk zugefügt hatte. Nun packte er den Griff mit beiden Händen, holte erneut aus und ließ den Haken in die Diele krachen. Ein merkwürdiges Glücksgefühl beschlich ihn, als er die Auswirkungen seiner Hiebe begutachtete. Hastig atmend verließ er die Ruine, den Schürhaken fest umklammert. Er schaute auf das blaue Zifferblatt seiner Armbanduhr. Viertel nach Zwölf Uhr zeigte es an. War er tatsächlich so lange in dem alten Gemäuer geblieben? Wann würde die letzte Metro fahren? Unentschlossen schaute er Richtung Kneipe und setzte sich langsam in Bewegung. Aber warum sollte er zurückkehren, Geld hatte er keines mehr.

Etwa dreißig Meter vor der Spelunke postierte er sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wartete. Weitere zwanzig Minuten waren vergangen, als Ludovic leicht schwankend auf die Straße trat. Ludovic streckte sich, zündete eine Zigarette an, klappte den Kragen seines grauen Mantels hoch und ging pfeifend Richtung Bahnhof. Er hatte allen Grund zum Pfeifen: eine Glücksträhne wie heute Abend hatte er nur selten erlebt. Nur der blöde Deutsche hatte den Abend ein wenig getrübt, schlechte Verlierer konnte Ludovic nicht leiden. Der Zocker blecht und freut sich war seine Divise.

Jürgen sah, wie Ludovic beschwingt seinen Heimweg antrat. Das stachelte ihn an und seine Faust verkrampfte am Griff des Schürhakens. Erst langsam, dann immer schneller bewegte er sich von hinten auf Ludovic zu.

»Hey!«, rief er ihm zu, als er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war.

Ludovic drehte sich um. »Du? Was willst du noch?«

»Mein Geld. Du … du hast falsch gespielt.« Er erntete nur ein verächtliches Grinsen und ein weiteres »Sale boche«. Die Delle in der Wand, die zerborstene Diele, der schwere Schürhaken und dieses unerklärliche Glücksgefühl. Es kehrte wieder, als er Ludovic den Schädel spaltete, dieser nur Mund und Augen aufriss und keinen Laut von sich gab. Dass Ludovic nicht sofort umfiel, wunderte ihn. Er holte erneut aus und zerschmetterte ihm den Kiefer. Endlich lag Ludovic auf dem nassen Asphalt. Vom Bahnhof sah er ein Pärchen auf ihn zukommen, er musste sich beeilen, kramte in der Innentasche von Ludovics Mantel und fand das prall gefüllte Portemonnaie. Er nahm nur die Scheine und steckte sie in die Hosentasche, zählen konnte er später. Den Schürhaken ließ er neben Ludovic liegen. Das Pärchen war höchstens noch hundert Meter entfernt, es drosselte den Schritt. Wie gut, dass seine Schuhe Gummisohlen hatten, so konnte er auf der regennassen Straße zu einem Spurt ansetzen. Zum Bahnhof. Er rannte auf das Pärchen zu, das erschrocken stehen blieb. Obwohl sie keine Anstalten machten ihn festzuhalten, schrie er »Lassen Sie mich durch!«, rammte den Mann mit seinem Ellenbogen und lief über den Vorplatz des Bahnhofs Richtung Rue de Provence hinter den Galeries Lafayette.

An der Station Caumartin erwischte er noch eine Metro. Erschöpft schloss er die Augen und steckte seine Hand in die Hosentasche. Er spürte die Geldscheine, ein dickes Bündel Geldscheine, und es fühlte sich gut an. Sehr gut.

Nach zwanzig Minuten erreichte er sein Ziel und fand seinen himmelblauen Volvo in der Avenue de Tourville. Er setzte sich hinter das Steuer und atmete tief durch. Im mondänen Eckcafé mit der ausladenden Terrasse schien noch Licht. Das Personal reinigte emsig Tische und rückte Stühle zurecht. Ein Pärchen saß in der Mitte des Raums, frisch verliebt hielten sie Händchen und nippten gleichzeitig an ihren Getränken. Le Tourville hieß der Laden passenderweise. Hätte er nur hier seinen Abend verbracht, Menschen beobachtet, Passanten, die von der Arbeit kamen, letzte Einkäufe erledigten oder eine Zeitung am Kiosk gegenüber besorgten. Weg, schnell weg. Jürgen warf einen Blick auf die Rückbank, auf das Cover der Schallplatte, die er für Claudia auf der Hinfahrt bei einem letzten Zwischenstopp in Fontainebleau gekauft hatte. Bei einem Spaziergang hatte er den kleinen Plattenladen entdeckt, das Rigodon, und die Scheibe gekauft, nachdem der Inhaber ihn hatte probehören lassen. Der Liedermacher auf dem Cover strahlte eine faszinierende Ruhe aus, mit seinem Vollbart, den braunen Augen und den Jeansklamotten, rechts neben seinem Kopf eine rote Wildrose. Claudia würde die Musik gefallen wie ihr alles gefiel, was mit Frankreich zu tun hatte. Sie hatte Romanistik studiert, unterrichtete Französisch und übersetzte als Freiberuflerin Krimis und Comics. Je ruhiger er wurde, desto mehr setzte sein Verstand ein. Wollte er zunächst auf dem schnellsten Weg nach Hause fahren, also über die Autobahn, entschied er sich schließlich für die anstrengendere Alternative über Nationalstraßen. Dort befanden sich keine Péages, an denen sich häufig die Autobahnpolizei aufhielt, und es würde keinen zeitlichen Nachweis über seine Rückfahrt geben.

Er fuhr los, hielt Geschwindigkeitsbegrenzungen ein und verfolgte die Nachrichten im Radio. Irgendwann musste er den Sender wechseln, der Empfang von Radio France wurde schlechter. Gegen sechs Uhr morgens passierte er die Grenze. Der fröstelnde Zollbeamte winkte ihn durch, machte keinerlei Anstalten ihn nach zu verzollendem Gut zu befragen. Eine weitere Stunde Fahrt und er erreichte sein Haus in Schweich. In der Küche brannte Licht. Natürlich brannte Licht, Claudia musste doch zur Schule.

»Jürgen? Du bist schon da?«, sagte sie, als er in den Flur trat. Dann lächelte sie und drückte sich an ihn. »Hattest du Sehnsucht? Bist du für mich so früh zurückgekommen?«

Es tat gut, ihren warmen Körper zu spüren, diese Restwärme aus dem Bett. Sie trug einen weiß rot gestreiften Baumwollpyjama und dicke Wollsocken. Selbst im Winter trug sie nur selten Hausschuhe.

Sie küsste ihn leidenschaftlich, konnte sich einen Kommentar aber nicht verkneifen. »Mein kleiner Weinhändler könnte eine Dusche gebrauchen. Wenn du dich beeilst, schaffen wir es vielleicht noch.«

Jürgen grinste verlegen. »Du … ich bin total müde … vielleicht schlafe ich erst einmal eine Runde.«

Claudia spielte die Beleidigte. »Aha, der Herr ist müde. Selbst schuld.« Sie drehte sich um und ging in die Küche, während er seinen Mantel an die Garderobe hängte. Er folgte ihr.

»Hast du noch einen Kaffee?«, fragte er, obwohl er die halbvolle Kaffeekanne auf der Heizplatte sah. Die Küche war behaglich, hier hielt er sich am liebsten auf, zur kalten Jahreszeit auf der Holzbank vor dem Fenster. Im Sommer zog er den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches vor, damit er den kleinen Garten und die Hügellandschaft am Horizont sehen konnte.

Claudia hatte es sich im Schneidersitz am Tischende gemütlich gemacht und führte den heißen Kaffeebecher mit beiden Händen zum Mund. Erst jetzt bemerkte sie die Blutflecken an Jürgens Hemd. »Was ist das denn? Hast du dich verletzt?«

Jürgen schaute an sich hinunter. Gerade, als sein Gehirn ihm weismachen wollte, dass alles nur ein böser Traum gewesen war, den er hinter sich gelassen hatte, riefen die Blutspuren die schreckliche Erinnerung hervor. Der schwere Schürhaken. Wie er auf Ludovics Schädel kracht. Die Schädeldeckte platzt. Nieselregen. Kälte. Blut.

»Mir … mir war schlecht ich hatte … Nasenbluten. « Jürgen spürte einen säuerlichen Geschmack im Rachen, Speichel sammelte sich im Mund. Claudia legte ihre Hand auf seine schweißnasse Stirn. »Du Armer.«

»Entschuldige.« Hastig richtete er sich auf und lief zur Gästetoilette im Flur. Entkräftet sank er auf die Knie, umklammerte die Kloschüssel und erbrach sich.

Kapitel 2

Paris, Rue de Lappe, 16. März 1978.

Quentin streichelte Maries Rücken. Mit dem Zeigefinger fuhr er langsam die Wirbelsäule entlang und machte erst bei ihrem Po halt. Marie kicherte: »Angst?«

Sachte drehte er sie um. Nun lag sie vor ihm mit herausforderndem Blick. Fast automatisch griff er an ihre feste Brust.

»Nein, keine Angst«, antwortete er. »Ich dachte, du bist vielleicht müde.« Es war ein Uhr nachts, ihr Liebesspiel hatte nach dem gemeinsamen Abendessen und den Nachrichten um halb neun begonnen. Immer wieder hatten sie den Höhepunkt hinaus gezögert, fest umschlungen den natürlichen Drang unterdrückt, bis sie nicht mehr konnten. Kurz vor Mitternacht ließen sie voneinander ab, um erschöpft, aber glücklich, die Augen zu schließen.

Marie räkelte sich, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und öffnete leicht ihren Mund. Ohne weiter nachzudenken, nahm Quentin das verheißungsvolle Angebot an. Ihre Zungen spielten miteinander, langsam schob er ihre Beine auseinander, die sie bereitwillig öffnete, dann fest um ihn schlang. Quentin wunderte sich über sein Durchhaltevermögen, hatte er doch einen anstrengenden Tag hinter sich. Aber es lag an Marie, ihren Reizen, denen er nicht widerstehen konnte, ihrer Wärme und ihrem Charme. Immer wieder hatte er sich gefragt, was ihm am meisten gefiel. Natürlich auch ihr Körper, vielmehr jedoch diese Aura des Unnahbaren, diese weibliche Eleganz, die Begierde und Ehrfurcht zugleich weckte. Wie Marlène Jobert, hatte er zu ihr gesagt. »Wirklich? Aber ich sehe doch ganz anders aus.« Das war richtig, sie sah anders aus, aber das gleiche zurückhaltende Lächeln, die feinen Lachfältchen und die ausdrucksstarken blauen Augen erinnerten Quentin an die schöne Schauspielerin.

Quentin bediente im Café le Malakoff, eine von Touristen gern besuchte Brasserie am Trocadéro, Ecke Avenue Raymond Poincaré. Im Gegensatz zu den kleinen Bistros, in denen vornehmlich Einheimische einkehrten, zeigten sich die Besucher des Malakoff bei den Trinkgeldern spendierfreudiger, Deutsche, Briten oder Amerikaner mit ihren harten Währungen ganz besonders. Der Aufenthalt in der Stadt der Liebe, die Aussicht auf das Palais de Chaillot und den alles überragenden majestätischen Eiffelturm bewirkten bei den Besuchern eine sonderbare Verklärung, die ihnen für den Augenblick eines Sandwichs oder Saucisse Frites den Sinn für das Materielle raubten. Die deftigen Preise wurden anstandslos akzeptiert, garniert mit einem stattlichen Trinkgeld. An diesem Tag hatte Quentin zwei Schichten hintereinander gearbeitet, einer seiner Kollegen hatte sich eine hartnäckige Erkältung eingefangen und war kurzfristig ausgefallen. Seine Füße schmerzten, als er Marie in der Nähe der Champs Elysées abgeholt hatte, in sicherer Entfernung zum Friseurladen, in dem sie arbeitete. Man musste sie ja nicht unbedingt zusammen sehen.

Eigentlich war Quentin Künstler, Zeichner, um genau zu sein. Er hatte einige Zeit an der Hochschule der Schönen Künste studiert, in einer, wie er fand, der schönsten Viertel der Stadt, die der Kreativität Flügel verliehen. Seine Professoren bescheinigten ihm eine ausgeprägte Begabung. Nur wenige ahnten, dass sein Herz für Comics brannte, für die neunte Kunst. Immerhin konnte er eine Veröffentlichung bei einem kleinen Verlag vorweisen, ein Achtungserfolg, der längst nicht genug Tantiemen abwarf, um davon leben zu können. Irgendwann, ja irgendwann würde bestimmt einer der großen Verlage auf ihn aufmerksam werden. Spätestens dann würde er sich ein schönes Appartement im 16. Arrondissement anmieten oder gar kaufen. Mindestens zwei Zimmer, eine moderne Küche und ein schickes Bamit Bidet – vor allen Dingen aber ein eigenes, t gleich im Eingangsbereich, keine Gemeinschaftstoilette auf dem Flur wie in der Rue de Lappe.

Marie drückte ihn immer fester an sich. Dieses Mal zögerten sie nicht lange, ihre Ausdauer war ausreichend strapaziert, und mit einem Lustschrei gefolgt von einem erleichterten Seufzer beendeten Marie und Quentin das feurige Liebesspiel.

Erschöpft und stumm lagen sie nebeneinander. Dann griff Quentin nach den Zigaretten, die er auf den Boden neben das Bett gelegt hatte.

»Stört es dich?«, fragte er.

»Nein, nein, ist schon okay, Quentin. Ihr Männer raucht doch gerne danach.«

Verschämt zündete Quentin seine Marlboro an.

»Und weißt du was? Eigentlich rieche ich es ganz gerne«, fügte sie hinzu.

»Pascal …«, hob er an. »Raucht er auch danach?«

Marie war plötzlich hellwach und richtete sich auf. Mit dem Laken bedeckte sie ihre Brüste.

»Warum fragst du das? Jetzt?«

»Weil ich gerade an ihn denken muss«, antwortete Quentin ruhig. »Du weißt, er ist … mein Freund. Mehr als das, er ist wie ein Bruder.«

»Bitte!«, unterbrach ihn Marie. »Das hatten wir doch schon, oder?« Sie stand auf, ging zu der kleinen Küchenzeile und holte sich ein Glas Wasser. »Quentin, ich weiß sehr genau, was wir machen«, sagte sie, bestimmt. »Ich bin eine Ehebrecherin, und du betrügst deinen besten Freund. Das ist widerlich, ja! Und es bricht mir das Herz! Ich liebe Pascal, und ich liebe dich, jeden von euch anders, aber beide mit ganzem Herzen.«

Wieder hielt sie ihr Glas unter den Wasserhahn, um nachzufüllen. Quentin staunte, wie wenig Schlucke sie brauchte, das Glas zu leeren. Vor einer Viertelstunde noch todmüde, war er nun hellwach. Er zog seine Hose und ein Unterhemd an und gesellte sich zu Marie an die Spüle. Nach der Zigarette hatte auch er einen fürchterlichen Durst.

»Und wir machen so weiter?«

»Hast du eine bessere Idee, Quentin?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Seine Angstzustände werden schlimmer, er schluckt Antidepressiva wie andere Erdnüsse. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht sagt, dass ich der einzige, der letzte Grund sei, dass sein Leben noch irgendeinen Sinn macht. Und du, Quentin. Wenn er von dir spricht, hellt sich sein Gesicht auf. Du bist immer präsent. In seinen Gedanken, und in meinen.« Marie schluckte und wischte mit ihrer Hand eine Träne von der Wange. »Eins kommt zum anderen. Er ist doch schon so labil, und jetzt kann er nicht einmal im Bett … Quentin. Es ist fürchterlich, ich könnte weinen, wenn ich sein Gesicht sehe, wie er sich müht.«

»Das war mir nicht bewusst«, sagte Quentin kleinlaut.

»Und wenn schon. Was würde es ändern, ob er mit mir schlafen kann oder nicht. Du würdest mich doch trotzdem lieben, oder?«

»Ja.« Er nahm sie in den Arm. »Wie lange bleibt Pascal noch bei seiner Mutter in Cabourg?«

Ihr Schluchzen brach Quentin das Herz.

»Er meinte noch eine Woche … sie brauche jetzt Hilfe, mit dem Garten, dem Haushalt …«

»Schon gut, Marie, mach dir keine Sorgen. Mit ihrem gebrochenen Bein kann sie wirklich nicht viel machen.«

Marie löste sich aus der Umarmung. »Aber seine Schwester lebt doch bei ihr! Sie macht doch sowieso alles für ihre Mutter! Und jetzt hat sie zwei Pflegefälle mit Pascal … und er verliert wieder seinen Job, Quentin, verstehst du das! Er könnte Karriere bei Renault machen, sein Chef in Boulogne-Billancourt mag ihn sehr. Wir könnten irgendwann ein Häuschen kaufen, draußen, wo es grün ist … bei Versailles, oder so …«

Jedes Wort schien ihm jetzt zu viel. Er ließ sie weinen, drückte sie nur an sich und streichelte ihr langes Haar. Ein guter, ordentlich bezahlter Job in Paris war nicht selbstverständlich, erst recht nicht als Pied-noir. Seine und Pascals Wurzeln lagen in Algerien. Ihre befreundeten Urgroßväter wanderten Ende des 19. Jahrhunderts aus, ließen Marseille hinter sich und gründeten eine neue Existenz in Algerien. Beide Familien zählten zu den angesehensten in Oran, sie hatten das gelobte Land gefunden, und letztlich war es ja auch ein Teil Frankreichs. Bis zu jenem Tag am 5. Juli 1962. Den Algerienkrieg hatten sie unbeschadet überstanden, mit der Unabhängigkeit würden sie problemlos leben können. Hier war ihr Zuhause, ihre Großväter, Väter und sie selbst waren hier geboren, Frankreich kannten sie nur von Bildern. La valise ou le cercueil, der Koffer oder der Sarg, die Aufforderung war unmissverständlich. Der aufgestaute Hass, die Wut gegen die Kolonialherren, die in den Jahren zuvor mit nie gesehener Härte gegen die algerischen Widerstandskämpfer vorgegangen waren, entlud sich mit der Wucht eines Orkans. Gehen oder Sterben. Warum? Wohin? Sie blieben, eine fatale Fehleinschätzung. Die Rue d’Alsace-Lorraine war leergefegt an jenem Tag, das muntere Treiben auf der Terrasse des Grand Café Riche erloschen. Sie waren Nachbarn, warfen an Sonntagen im nahegelegenen Parc d’Artillerie ihre Boule-Kugeln in den heißen Sand, an warmen Sommerabenden huldigten sie im Café Riche ihrer jahrzehntelangen Freundschaft bei einem schweren Rotwein und einem Salé aux Lentilles, Schweinefleisch mit Linsen, das Leibgericht von Pascals Vater.

Vorsichtshalber hatten sie ihre Waffen aus dem Keller geholt, zwei alte Schrotflinten, Erbstücke des Großvaters, mit Bajonett, ein Jagdmesser und eine Faustwaffe, die noch aus dem 1. Weltkrieg stammen musste. Quentin erinnerte sich genau, was sie damals gemeinsam gegessen hatten, nicht im Café Riche, sondern im Wohnzimmer seiner Eltern. Einen grünen Salat mit Walnüssen, Merguez, Kartoffelgratin und den berühmten Apfelkuchen seiner Mutter. Es war 20 Uhr, als die Männer einen letzten Calvados tranken und Pascals Familie sich anschließend verabschiedete.

»Das geht vorüber«, meinte Pascals Vater. »Wir müssen ein wenig Geduld haben, aber das geht vorüber.«

Quentins Vater nickte traurig. Man schloss die Fensterläden, kontrollierte die Türschlösser, die Waffen und bereitete sich auf die Nacht vor. Er war im Bad und putzte seine Zähne, als er die Schreie vom Nachbarhaus hörte. Ein eiskalter Schauer lief Quentin über den Rücken, er konnte nicht mehr denken, riss die Badtür auf und suchte seinen Vater. Der stand im Wohnzimmer, das Bajonett in der Hand.

»Quentin«, sagte er traurig.

Seine Mutter weinte. »Er ist doch erst siebzehn …«

Instinktiv griff Quentin nach dem Jagdmesser. Vater und Sohn rannten die Treppe hinunter auf die Straße. Beide sahen sofort die aufgebrochene Haustür ihrer Nachbarn, die Schreie waren verstummt, nur fremde, bedrohliche Männerstimmen waren zu hören. So leise es ihnen möglich war, eilten sie die Treppe hoch, den Stimmen entgegen. Den Anblick, der sich ihnen bei Erreichen der Türschwelle bot, sollte Quentin nie vergessen: Pascals Vater lag blutüberströmt und regungslos in der Mitte des Raums, Mutter und Tochter kauerten schluchzend in der Ecke neben dem Kamin. Ein Mann richtete eine Waffe auf sie, während zwei weitere sich an Pascal zu schaffen machten. Gewaltsam beugte der eine Pascal über den Tisch, drückte dessen Gesicht fest auf die Tischplatte, während ihn der andere vergewaltigte.

»Gleich seid ihr dran, wenn wir …« Weiter kam der dritte nicht, Quentins Vater stieß das Bajonett so fest in dessen Rücken, dass die Klinge auf der Höhe des Herzens austrat.

»Schweine! Schweine! Schweine!« Schreiend und weinend zugleich stürzte sich Quentin auf den Peiniger seines Freunds und rammte ihm das Messer in den Hals. Fast gleichzeitig fiel ein Schuss. Der Mann, der Sekunden zuvor noch Pascal festgehalten hatte, sackte auf den Boden.

La valise ou le cercueil. Viel zu spät packten sie hastig die wichtigsten Dinge und setzten noch in der Nacht nach Frankreich über, ohne Pascals Vater beerdigen zu können. Vierzehn war Pascal damals. Tagelang stammelte er nur einen Satz:

»Ich muss mich waschen … ich muss mich waschen.«

Kapitel 3

Paris, Quai des Orfèvres, Freitag, den 17. März 1978.

Beaufort hasste diese Termine. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er plötzlich eiskalte Hände und einen trockenen Mund bekam, wenn er bei seiner Hierarchie vorsprechen musste, und das nach fast 30 Jahren Polizeidienst, Vater von drei Kindern und 25 Jahren Ehe. Die Jubiläen überschlugen sich, in einem Jahr würde er seinen Fünfzigsten feiern, Intervalle wurden nicht mehr in Ein-Jahres-Rhythmen betrachtet, sondern in fünf oder gar zehn. In fünf Jahren ist das Haus abbezahlt. In zehn Jahren hast du ausreichend Versicherungszeiten angesammelt, um in Rente zu gehen. Eigentlich konnte sich Beaufort nicht beklagen. Es war ihm gelungen, einen Funken Enthusiasmus im Kampf gegen die Kriminalität zu bewahren. Wenn es den starken Arm des Gesetzes gab, bildete er in Paris einen gewichtigen Teil des Bizepses. Fiel im Ganovenmilieu der Name Beaufort, zog man anerkennend die Mundwinkel nach unten und hob die Augenbrauen. Ein Kommissar wie aus dem Bilderbuch, der hervorragend austeilen konnte, aber auch über Steherqualitäten verfügte. Manchmal arrangierte man sich, das gestand er auch seinen Leuten zu. Die Gefängnisse waren doch schon überfüllt, da konnte man nicht auch noch den kleinsten Dealer einbuchten. Die Lösung bestand in Strafzahlungen, die sowohl Beaufort als auch seinen Leuten über das Monatsende hinweghalfen. Leben und leben lassen und dort zuschlagen, wo es nötig war. Bei Kapitalverbrechen wie in der vergangenen Nacht etwa.