Ein fremdes Kind im Auto - Ursula Hellwig - E-Book

Ein fremdes Kind im Auto E-Book

Ursula Hellwig

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Langsam rollte der schwere silbergraue Wagen an den Straßenrand und hielt. Der Fahrer stieg aus, zog seine Anzugjacke zurecht und ging in den kleinen Tabakladen. Er hatte die Frau nicht bemerkt, die sich in der Nähe in einem Hauseingang verborgen hielt und ihn beobachtete. Schon seit Wochen hatte Karin Werner die Gewohnheiten des wohlhabenden und überall beliebten Juweliers Wolfgang Griebel genau studiert. Bevor er morgens ins Geschäft fuhr, hielt er stets an dem Laden, um Zigaretten zu kaufen. Da er den Wagen nur kurz verließ, verzichtete er darauf, ihn abzuschließen. Karin Werner wartete, bis der Mann in dem Tabakgeschäft verschwunden war. Dann lief sie, ihre kleine zweieinhalbjährige Tochter fest an sich gedrückt, zu dem Auto, öffnete die Beifahrertür und setzte das Kind hinein. Sie warf einen ängstlichen Blick zu dem Geschäft hinüber, aber dort rührte sich nichts. Tränen liefen über Karins Gesicht, als sie ihr Kind noch einmal kurz umarmte und ihm einen Kuß auf die Stirn drückte. Es fiel ihr schwer, den Plan, den sie bereits vor einigen Wochen gefaßt hatte, nun in die Tat umzusetzen. Aber sie hatte keine andere Wahl. »Leb wohl, mein Schatz. Ich werde dich nie vergessen«, sagte sie. »Herr Griebel wird für dich sorgen. Du wirst eine glückliche Zukunft erleben, die ich dir nicht geben kann.« Ohne sich noch einmal umzusehen, lief die Frau blind vor Tränen davon. Sie war sicher, daß sie das einzig Richtige für ihre Tochter getan hatte. Nachdem Wolfgang Griebel seinen Einkauf erledigt hatte und wieder in den Wagen stieg, entdeckte er sofort den kleinen Fahrgast.

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Sophienlust Bestseller – 54 –

Ein fremdes Kind im Auto

Wie finden wir nur deine Mami?

Ursula Hellwig

Langsam rollte der schwere silbergraue Wagen an den Straßenrand und hielt. Der Fahrer stieg aus, zog seine Anzugjacke zurecht und ging in den kleinen Tabakladen.

Er hatte die Frau nicht bemerkt, die sich in der Nähe in einem Hauseingang verborgen hielt und ihn beobachtete. Schon seit Wochen hatte Karin Werner die Gewohnheiten des wohlhabenden und überall beliebten Juweliers Wolfgang Griebel genau studiert. Bevor er morgens ins Geschäft fuhr, hielt er stets an dem Laden, um Zigaretten zu kaufen. Da er den Wagen nur kurz verließ, verzichtete er darauf, ihn abzuschließen.

Karin Werner wartete, bis der Mann in dem Tabakgeschäft verschwunden war. Dann lief sie, ihre kleine zweieinhalbjährige Tochter fest an sich gedrückt, zu dem Auto, öffnete die Beifahrertür und setzte das Kind hinein. Sie warf einen ängstlichen Blick zu dem Geschäft hinüber, aber dort rührte sich nichts.

Tränen liefen über Karins Gesicht, als sie ihr Kind noch einmal kurz umarmte und ihm einen Kuß auf die Stirn drückte. Es fiel ihr schwer, den Plan, den sie bereits vor einigen Wochen gefaßt hatte, nun in die Tat umzusetzen. Aber sie hatte keine andere Wahl.

»Leb wohl, mein Schatz. Ich werde dich nie vergessen«, sagte sie. »Herr Griebel wird für dich sorgen. Du wirst eine glückliche Zukunft erleben, die ich dir nicht geben kann.«

Ohne sich noch einmal umzusehen, lief die Frau blind vor Tränen davon. Sie war sicher, daß sie das einzig Richtige für ihre Tochter getan hatte.

Nachdem Wolfgang Griebel seinen Einkauf erledigt hatte und wieder in den Wagen stieg, entdeckte er sofort den kleinen Fahrgast. In der Annahme, daß das kleine Mädchen seiner Mutter in einem unbeobachteten Augenblick entwischt war, blickte er sich suchend um. Aber nirgendwo war eine Frau zu entdecken, zu der das Kind gehören konnte. Kopfschüttelnd stieg der Mann ein und setzte sich neben das kleine blonde Geschöpf, das ihn aus neugierigen Augen ansah.

Dieses Kind erinnerte ihn sehr an seine Tochter Cordula. Diese war ungefähr im selben Alter gewesen, als das schreckliche Unglück geschah. Die Familie hatte damals, vor drei Jahren, Urlaub auf Sizilien gemacht. Wolfgang hatte sich dort einem Tauchclub angeschlossen, weil dieser Sport ihn faszinierte. Seine Frau Gloria hatte nicht viel dafür übrig gehabt. Sie konnte nicht schwimmen, und Wasser war für sie immer ein gefährliches Element gewesen.

Während er an den Unterrichtsstunden teilnahm, sah Gloria sich Land und Leute an. Sie unternahm mit Cordula Ausflüge. Eigens zu diesem Zweck hatte sie einen Leihwagen gemietet.

Von einem dieser Ausflüge kehrte sie nicht mehr zurück. Auf einer schmalen Bergstraße war sie von der Fahrbahn abgekommen und einen Steilhang hinuntergestürzt. Weder sie noch ihre kleine Tochter hatten den schrecklichen Unfall überlebt. Cordula war damals gerade zweieinhalb Jahre alt gewesen.

Immer wieder lief Wolfgang Griebel eine Gänsehaut über den Rücken, wenn er an dieses furchtbare Ereignis dachte.

Er versuchte, die quälenden Gedanken abzuschütteln. Schließlich hatte er nun ein Problem, das er lösen mußte. Fragend sah er das kleine Mädchen neben sich an.

»Sag mal, wie kommst du denn in mein Auto?« Das Kind gab keine Antwort, sondern schaute ihn nur interessiert an. »Wie heißt du denn?« versuchte er es weiter.

»Anna«, gab die Kleine bereitwillig Auskunft. »Anna ist lieb«, fügte sie noch hinzu.

»Ja, du bist ein liebes Mädchen«, bestätigte der Mann. »Aber was soll ich denn jetzt mit dir anfangen? Wie heißt denn deine Mutti?«

»Mama«, erwiderte das Kind. »Annas Mama ist auch lieb, ganz lieb.«

»Ich will dich zu deiner Mama bringen«, erklärte Wolfgang. »Weißt du, wo du wohnst?«

Das Mädchen, das offensichtlich Anna hieß, nickte. »Zu Hause bei Mama.«

Wolfgang Griebel seufzte. So kam er nicht weiter. Natürlich, das Kind ist noch viel zu klein, um seine Adresse angeben zu können, sagte er sich. Vermutlich war dieses Persönchen einfach losmarschiert und in seinen Wagen geklettert, als es müde geworden war. Bestimmt irrte jetzt irgendwo eine verzweifelte Mutter auf der Suche nach ihrem Kind durch die Straßen.

Er konnte das Mädchen nicht einfach aus dem Auto befördern und seinem Schicksal überlassen. Also startete er den Wagen, nachdem er Anna auf dem Rücksitz untergebracht hatte, und fuhr ins Geschäft.

Die Angestellten staunten nicht schlecht, als ihr Chef mit einem kleinen Kind an der Hand durch die Eingangstür kam.

Frau Mauser, eine langjährige Mitarbeiterin, ging ihm sofort entgegen. »Da bringen Sie uns ja einen entzückenden Gast«, sagte sie und strich dem Mädchen über den Kopf. »Ich wußte gar nicht, daß Sie eine so reizende Verwandte haben.«

Frau Mauser nahm an, daß das Kind aus Herrn Griebels Familie stammte und er heute als eine Art Pflegevater fungierte.

»Ich bin mit diesem Kind nicht verwandt«, stellte Wolfgang richtig. Dann berichtete er, wie er die Kleine gefunden hatte.

»Was werden Sie jetzt unternehmen?« fragten auch die anderen Angestellten, die inzwischen herangekommen waren und Anna mitleidsvoll ansahen. »Die Mutter wird sicher schon in tausend Ängsten schweben.«

»Das ist anzunehmen«, antwortete Wolfgang Griebel. »Leider habe ich keine Ahnung, wo ich sie finden kann. Auch über den Familiennamen konnte die junge Dame mir keine Auskunft geben. Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als die Polizei zu verständigen. Annas Mutter wird sich sicher ebenfalls an die Polizei wenden.«

Frau Mauser wollte sich um das Kind kümmern, damit ihr Chef in Ruhe mit der Polizei telefonieren konnte. Damit war das Mädchen allerdings nicht einverstanden. Es versteckte sich hinter Wolfgang und klammerte sich an seinem Hosenbein fest.

»Lassen Sie nur, Frau Mauser«, sagte er lachend. »Ich werde unser Findelkind mit ins Büro nehmen.«

Vertrauensvoll legte das Mädchen seine Hand in die des Mannes und folgte ihm die Marmortreppe hinauf in das große, mit Eichenmöbeln ausgestattete Büro.

Wolfgang kramte in der Schreibtischschublade und fand dort ein paar Buntstifte. Zusammen mit einem Stapel weißem Papier legte er sie auf einen kleinen Ecktisch, hob das Kind in einen Sessel und drückte ihm einen roten Stift in die Hand.

»Du bist doch schon ein großes Mädchen. Bestimmt kannst du auch schon malen. Probier es mal. Ich muß jetzt telefonieren. Wenn ich fertig bin, komme ich wieder zu dir und schaue mir dein Bild an.«

Anna nickte. »Will Mama malen«, sagte sie und begann sofort, auf dem Papier zu kritzeln.

Wolfgang Griebel ging wieder hinüber zu seinem Schreibtisch und suchte die Nummer der örtlichen Polizeistation aus dem Telefonbuch. So schnell wie möglich wollte er die Behörden informieren, daß er ein kleines Kind gefunden hatte.

Der Polizeibeamte, der eine Stunde nach dem Anruf in Wolfgang Griebels Büro saß, schüttelte nur immer wieder den Kopf. Wäre Wolfgang nicht überall in der Stadt als korrekter und zuverlässiger Mensch bekannt gewesen, hätte der Polizist ihm diese Geschichte nicht geglaubt.

»Ich werde die Kleine mitnehmen und in ein Kinderheim bringen«, sagte der Polizeiobermeister. »Nach dem Telefongespräch mit Ihnen habe ich mich erkundigt, ob ein Mädchen von zwei bis drei Jahren bereits gesucht wird. Bis jetzt wird es offensichtlich noch nicht vermißt. Ich nehme allerdings mit Sicherheit an, daß die Eltern sich noch im Laufe des Tages melden werden.«

Wolfgang sah nachdenklich zu Anna hinüber, die auf dem Teppich saß und dort mit einer Kuckucksuhr spielte. Jedesmal, wenn sie an den Zeigern drehte und der Kuckuck aus dem Türchen kam, jauchzte sie vor Vergnügen.

Obwohl Wolfgang dieses Kind noch nicht einmal zwei Stunden kannte, fühlte er sich dafür verantwortlich. Er überlegte, ob er den Polizisten bitten sollte, Anna behalten zu dürfen, bis die Eltern sich gemeldet hatten. Aber das Geschäft war nicht der richtige Platz für die Kleine. Es fehlte an Spielmöglichkeiten. Auch zu Hause konnte er sich nicht in der richtigen Weise um sie kümmern. Er hatte keine Familie, und seiner Haushälterin, Frau Reine, mochte er die Verantwortung nicht aufbürden.

»Bitte, suchen Sie das beste Heim aus«, sagte er. »Ich werde alle dadurch entstehenden Kosten übernehmen. Es liegt mir viel daran, daß Anna gut untergebracht ist.«

Der Beamte dachte einen Moment nach. Er hatte kürzlich durch Bekannte von einem Kinderheim ge-hört, das einen ganz besonders guten Ruf genoß. Die Bekannten hatten ihre beiden Kinder dort untergebracht, als die Mutter für die Dauer von drei Wochen in ein Krankenhaus mußte.

»Eigentlich bringen wir Findelkinder im Normalfall in das städtische Kinderheim«, meinte er. »An diesem Heim ist nichts auszusetzen. Die Kinder bekommen alles, was sie brauchen. Aber es ist natürlich eine Art Massenbetrieb. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich das Mädchen nach Sophienlust bringen. Es handelt sich dabei um ein privates Kinderheim. Es liegt in Wildmoos und wird von einer Frau von Schoenecker geführt. Es sind nicht sehr viele Kinder dort. Allein dadurch herrscht schon eine ganz andere Atmosphäre. Sophienlust ist ein ehemaliges Gutshaus, das vor Jahren in ein Kinderheim umgewandelt wurde. Es liegt mitten in einem großen Park. Die Kinder leben da wie in einer großen Familie. Wie hoch die Kosten für den Aufenthalt sind, weiß ich allerdings nicht.«

»Das spielt auch gar keine Rolle«, erklärte Wolfgang. »So, wie Sie es beschreiben, scheint es der ideale Platz für Anna zu sein. Bitte, bringen Sie sie dorthin und teilen Sie Frau von… wie hieß die Besitzerin doch gleich?«

»Frau von Schoenecker«, half der Beamte weiter.

»Ja, teilen Sie Frau von Schoenecker bitte mit, daß ich heute abend kommen werde, um das Finanzielle zu erledigen. Im Augenblick kann ich leider nicht weg. Ich erwarte einen Anruf von einem wichtigen Geschäftskollegen.«

Anna war nicht davon erbaut, daß der Mann in der Uniform sie mitnehmen wollte, und versteckte sich hinter Wolfgang. Erst als er ihr gut zuredete und versprach, daß sie die hübsche Kuckucksuhr mit nach Sophienlust nehmen dürfe, war sie einverstanden. Die Aussicht, das schöne neue Spielzeug behalten zu können, drängte alles andere ein bißchen in den Hintergrund.

*

Die Kinder von Sophienlust verfügten über stets wachsame und für alles Neue interessierte Augen. So blieb es ihnen nicht verborgen, daß ein Streifenwagen die Auffahrt heraufkam und ein Polizist mit einem kleinen Kind ausstieg.

Aus allen Richtungen strömten sie herbei. Sie zweifelten nicht daran, daß das Kinderheim unerwarteten Zuwachs bekam. Warum sollte sonst die Polizei mit einem Kind auftauchen?

»Guten Tag«, grüßte Pünktchen, ein dreizehn Jahre altes Mädchen mit blonden Haaren und vielen Sommersprossen im Gesicht, freundlich. »Kann ich Ihnen helfen? Sie suchen sicher Frau von Schoenecker, nicht wahr?«

»Da hast du recht«, erwiderte der Polizist. »Weißt du, wo ich sie finden kann?«

»Sie ist vor ein paar Minuten gekommen. Jetzt ist sie wahrscheinlich mit Frau Rennert im Büro«, gab das Mädchen Auskunft, das eigentlich Angelina Dommin hieß, wegen der Sommersprossen jedoch nur Pünktchen genannt wurde. »Ich werde Sie zu ihr bringen.«

Mit einem liebevollen Blick streifte Pünktchen das kleine Mädchen an der Hand des Beamten, das die Kukkucksuhr wie einen Schatz an sich gedrückt hielt. Dann ging sie voraus zum Büro.

Als sie wieder zurückkam, wurde sie von den anderen Kindern sofort mit Fragen bestürmt.

»Was ist das denn für ein kleines Mädchen?« wollte die zwölfjährige Angelika Langenbach wissen. »Hast du erfahren, ob es für längere Zeit bei uns bleibt?«

»Bis jetzt habe ich gar nichts erfahren«, antwortete Pünktchen. »Der Polizist ist bei Tante Isi und spricht mit ihr.«

Denise von Schoenecker wurde von allen Kindern Tante Isi gerufen. Für die Kleineren war das viel einfacher auszusprechen.

»Ich finde die Kleine wirklich niedlich«, meinte Vicky, Angelikas zehnjährige Schwester. Die beiden Mädchen hatten ihre Eltern durch ein Lawinenunglück verloren und gehörten seitdem zu den Dauerkindern von Sophienlust, ebenso wie Pünktchen, deren Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren.

»Ob das Mädchen wohl auch keine Eltern mehr hat?« fragte Fabian, ein schmächtiger elfjähriger Junge. Seine Eltern waren durch ein Zugunglück getötet worden. Diesen Verlust hatte er lange Zeit nicht verkraften können. Erst in Sophienlust war aus ihm wieder ein fröhliches Kind geworden. Hier hatte er das Lachen wieder gelernt.

Während die Kinder Mutmaßungen über Anna anstellten, unterhielt Denise von Schoenecker sich mit dem Polizisten. Schwester Regine, die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust, hatte eine Kiste mit Bauklötzchen gebracht, mit denen Anna sich die Zeit vertrieb.

Denise hatte geduldig zugehört, als der Beamte ihr berichtete, wie Wolfgang Griebel das Kind gefunden hatte. Als er die Vermutung äußerte, daß die Eltern sich wahrscheinlich noch heute melden würden, schüttelte sie den Kopf.

»Das wäre schön, aber ich glaube nicht daran. Ich habe vielmehr das Gefühl, daß das Mädchen absichtlich in den Wagen von Herrn Griebel gesetzt wurde. Kinder in diesem Alter kommen in der Regel nicht von allein auf die Idee, in fremde, parkende Autos zu steigen.«

»Sie meinen, Anna wurde ausgesetzt?« fragte der Polizist erstaunt. »An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht. Wissen Sie, beinahe täglich gehen Kinder verloren und werden von der Polizei aufgegriffen. In fast allen Fällen werden sie recht bald von ihren total entnervten und überglücklichen Eltern wieder abgeholt.«

»Es handelt sich vorläufig auch nur um eine Vermutung von mir«, sagte Denise lächelnd. »Ich habe keine Beweise. Aber wir werden sehen, was geschieht. Vielleicht ist unser Findelkind ja morgen schon wieder zu Hause. Sie geben mir doch sicher Nachricht, sobald Sie etwas über die Eltern erfahren.«

»Selbstverständlich bekommen Sie umgehend Bescheid. Möglicherweise liegt bereits eine Suchmeldung vor, wenn ich nachher auf der Wache ankomme.«

Mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm verabschiedete Denise sich am Eingangsportal von dem Beamten. Ihr war nicht entgangen, daß alle anderen Kinder sich in der Halle versammelt hatten. Sie wollten etwas über den neuen Schützling von Sophienlust erfahren. Um die Kinder nicht länger auf die Folter zu spannen, setzte sie sich mit Anna auf dem Schoß zu ihnen.

»Wie ihr seht, haben wir ganz unerwartet Zuwachs bekommen«, sagte die Verwalterin. »Das kleine Mädchen ist ungefähr zweieinhalb Jahre alt und heißt wahrscheinlich Anna. Vielleicht ist das auch nur eine Abkürzung des Namens. Das weiß ich noch nicht genau.«

»Das verstehe ich nicht«, meinte Pünktchen. »Hat der Polizist dir denn nicht gesagt, wie Anna mit vollständigem Namen heißt und wie alt sie genau ist?«

Denise wollte gerade erzählen, was sich zugetragen hatte, als ihre beiden Söhne, der sechzehnjährige Dominik und der neunjährige Henrik, die Halle betraten. Die zwei Jungen blickten verblüfft auf das Kind, das sie noch nicht kannten.

»Schön, daß ihr gekommen seid«, sagte Denise. »Setzt euch bitte. Dann könnt ihr auch gleich erfahren, warum die kleine Anna zu uns gebracht worden ist.«

Sie berichtete den Kindern, die aufmerksam zuhörten, was sich am Vormittag ereignet hatte. Niemand unterbrach sie dabei. Erst als sie zu Ende gesprochen hatte, kam Leben in die Kinder.

»Haben Annas Eltern ihr Kind wirklich nur verloren, oder haben sie es einfach ausgesetzt, weil es ihnen unbequem geworden war?« fragte Angelika. »So etwas gibt es doch. Das habe ich manchmal schon in der Zeitung gelesen.«

Dominik, der von allen nur Nick genannt wurde, hatte stets ein besonderes Interesse an dramatischen Geschichten. Auch diesmal witterte er sofort eine außergewöhnliche Situa-tion.

»Es kann doch auch sein, daß irgend jemand Anna entführt hat«, meinte er. »Vielleicht wollte er ein Lösegeld erpressen. Dann hat er schließlich doch Angst bekommen und das Mädchen einfach wieder freigelassen.«

»Ich glaube nicht, daß wir es mit einem Verbrechen zu tun haben«, sagte Denise, um die Phantasie ihres Sohnes ein wenig zu dämpfen.

»Sieh mal, Tante Isi!« rief Pünktchen plötzlich ganz aufgeregt. »Anna trägt ein goldenes Kettchen mit einem Anhänger. Vielleicht steht da ihr Name oder sogar ihre Adresse drauf.«

Denise tastete nach der Kette und hielt den runden, vom ständigen Tragen ein bißchen blind gewordenen Anhänger in der Hand. Anna ließ es widerspruchslos geschehen, daß die Frau ihr Kettchen prüfte.

»Nein, ein Name oder eine Adresse steht nicht darauf. Nur ein Sternzeichen. Anna ist Jungfrau. Sie muß demnach zwischen Mitte August und Mitte September geboren worden sein. Jetzt haben wir Anfang März. Nun wissen wir jedenfalls, daß sie ziemlich genau zweieinhalb Jahre alt ist. Das ist wenigstens schon etwas.«

Die fünf Jahre alte Heidi, das Nesthäkchen von Sophienlust, hatte die Unterhaltung zwar aufmerksam verfolgt, war allerdings noch nicht so recht schlau aus den Zusammenhängen geworden. Das war für sie auch nicht unbedingt von Bedeutung. Sie wollte nur wissen, ob sie in Zukunft mit einer neuen Spielkameradin rechnen konnte. Da die anderen Kinder alle schon zur Schule gingen, war sie vormittags allein und fühlte sich manchmal etwas einsam.

»Bleibt Anna länger bei uns?« fragte sie. »Das wäre fein. Dann hätte ich jemandem, mit dem ich spielen könnte, wenn die Großen in der Schule sind. Anna darf auch mit meinen

Häschen Schneeweißchen und Rosenrot spielen und sie füttern.«

»Niemand weiß, wie lange Anna in Sophienlust bleibt«, erklärte Pünktchen. »Es kann sein, daß sie morgen schon wieder nach Hause geht. Möglicherweise bleibt sie aber ganz lange hier. Das werden wir bald erfahren. Du mußt ein bißchen Geduld haben.«

Denise von Schoenecker überließ den Kindern ihren neuen Schützling. Bei ihnen war Anna in den besten Händen. Sie unterrichtete die Heimleiterin, Frau Rennert, und Schwester Regine über die Vorkommnisse und telefonierte anschließend mit Frau Dr. Frey.