Ein schwieriger Junge - Ursula Hellwig - E-Book

Ein schwieriger Junge E-Book

Ursula Hellwig

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Mit einem zufriedenen Lächeln legte Denise von Schoenecker den Hörer auf. Sie hatte gerade ein langes Gespräch mit ihrer Stieftochter, Andrea von Lehn, geführt. Eigentlich fühlte die jungendliche schwarzhaarige Frau sich überhaupt nicht als Stiefmutter. Dieses Wort erschien ihr hart und unfreundlich. Sie war Andrea und deren Bruder Sascha schon vor vielen Jahren zur zweiten Mutter geworden. Ihr Mann, der Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker, hatte damals die Kinder mit in die Ehe gebracht. Sie selbst hatte ebenfalls aus erster Ehe einen Sohn der inzwischen sechzehn Jahre alt war. Seinen Vater hatte der Junge nie kennengelernt. Er kam ums Leben, bevor der kleine Nick geboren wurde. Denise wurde damals von der Familie ihres verstorbenen Mannes abgelehnt und mußte selbst für sich und ihren Sohn sorgen. Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, besann sich kurz vor ihrem Tod jedoch anders und vererbte dem Kind ihr Gutshaus samt Grund und Boden. Sie wünschte sich, daß dieser Besitz künftig eine Heimat für in Not geratene Kinder werden sollte. Diesen Wunsch hatte Denise gern erfüllt und verwaltete nun das Kinderheim Sophienlust bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Nick, der eigentlich Dominik hieß. Aus der Verbindung zwischen Denise und Alexander von Schoenecker war schließlich noch der inzwischen neun Jahre alte Henrik hervorgegangen, der durch seine Lausbubenstreiche manchmal die gesamte Familie in Atem hielt. Glücklich dachte Denise an Andrea, die mit ihrem Mann, dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn, und dem kleinen Sohn Peter im benachbarten Bachenau lebte. Mitten in ihre Gedanken hinein läutete das Telefon. Ob Andrea etwas vergessen hat? dachte Denise und nahm den Hörer ab. Es meldete sich nicht Andrea, sondern Frau Hofer, die Leiterin eines Kinderheims in Tübingen. »Frau von Schoenecker, ich habe ein großes Anliegen an Sie.

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Sophienlust Bestseller – 45 –

Ein schwieriger Junge

Goldenes Herz unter rauer Schale?

Ursula Hellwig

Mit einem zufriedenen Lächeln legte Denise von Schoenecker den Hörer auf. Sie hatte gerade ein langes Gespräch mit ihrer Stieftochter, Andrea von Lehn, geführt. Eigentlich fühlte die jungendliche schwarzhaarige Frau sich überhaupt nicht als Stiefmutter. Dieses Wort erschien ihr hart und unfreundlich. Sie war Andrea und deren Bruder Sascha schon vor vielen Jahren zur zweiten Mutter geworden. Ihr Mann, der Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker, hatte damals die Kinder mit in die Ehe gebracht.

Sie selbst hatte ebenfalls aus erster Ehe einen Sohn der inzwischen sechzehn Jahre alt war. Seinen Vater hatte der Junge nie kennengelernt. Er kam ums Leben, bevor der kleine Nick geboren wurde.

Denise wurde damals von der Familie ihres verstorbenen Mannes abgelehnt und mußte selbst für sich und ihren Sohn sorgen. Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, besann sich kurz vor ihrem Tod jedoch anders und vererbte dem Kind ihr Gutshaus samt Grund und Boden. Sie wünschte sich, daß dieser Besitz künftig eine Heimat für in Not geratene Kinder werden sollte.

Diesen Wunsch hatte Denise gern erfüllt und verwaltete nun das Kinderheim Sophienlust bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Nick, der eigentlich Dominik hieß.

Aus der Verbindung zwischen Denise und Alexander von Schoenecker war schließlich noch der inzwischen neun Jahre alte Henrik hervorgegangen, der durch seine Lausbubenstreiche manchmal die gesamte Familie in Atem hielt.

Glücklich dachte Denise an Andrea, die mit ihrem Mann, dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn, und dem kleinen Sohn Peter im benachbarten Bachenau lebte.

Mitten in ihre Gedanken hinein läutete das Telefon. Ob Andrea etwas vergessen hat? dachte Denise und nahm den Hörer ab.

Es meldete sich nicht Andrea, sondern Frau Hofer, die Leiterin eines Kinderheims in Tübingen.

»Frau von Schoenecker, ich habe ein großes Anliegen an Sie. Es geht um einen elf Jahre alten Jungen, der seit einigen Monaten in unserem Heim untergebracht ist. Es handelt sich um ein ausgesprochen schwieriges Kind. Er ist schon in den verschiedensten Heimen gewesen und kann sich einfach nicht einfügen. An und für sich ist Simon kein schlechter Junge. Sein schweres Schicksal hat ihn hart und böse gemacht. Ich möchte ihm so gern helfen. Aber wir haben hier über sechzig Kinder. Damit bin ich überlastet, daß ich nicht die Zeit finde, mich um jedes Kind eingehend zu kümmern. Ich dachte, daß Ihnen das eventuell möglich ist. Ich habe schon viel von Sophienlust gehört und glaube, daß Ihr Heim für ihn eine Chance bedeuten könnte. Wäre es möglich, daß Sie Simon versuchsweise bei sich aufnehmen?«

»Wir haben glücklicherweise nur in ganz seltenen Fällen ein Kind abweisen müssen«, antwortete Denise. »Aber ich wüßte doch ganz gern ein bißchen mehr über den Jungen. Können Sie mir Informationen geben?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Frau Hofer. »Simon ist ein elternloses Kind. Er hat zwar noch eine Mutter, aber die ist seit zehn Jahren verschwunden. Sie hat den Jungen, dessen Vater unbekannt ist, seinerzeit bei ihrer Schwester in Pflege gegeben, weil sie verreisen wollte. Bis heute ist sie nicht zurückgekehrt.«

»Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen, und sie konnte sich nicht mehr melden«, vermutete Denise.

»Nein, das ist nicht der Grund«, meinte Frau Hofer. »Sie schickt ihrer Schwester jedes Jahr einen Scheck für den Unterhalt des Kindes. Dieses Geld wird dann dem jeweiligen Heim zur Verfügung gestellt, in dem Simon sich gerade befindet. Er kann nichts dafür, daß er so oft wechseln mußte. Das erste Kinderheim, in dem er lebte, war nur für Kleinkinder bis zu drei Jahren. Das zweite wurde ein Jahr, nachdem er dort ankam, geschlossen. Das dritte schließlich mußte einer geplanten Autobahn weichen. So ging es dann immer weiter. Insgesamt ist Simon bisher durch acht verschiedene Heime gewandert. Nirgendwo war er richtig zu Hause.«

»Warum hat seine Tante ihn nicht in ihrer Familie aufgenommen!« wollte Denise wissen. »Das wäre für das Kind die beste Lösung gewesen, zumal seine Mutter doch offensichtlich bereit ist, für den Unterhalt aufzukommen.«

»Frau Brackler, die Tante, hat selbst drei Kinder. Sie sind alle wesentlich älter als Simon. Ich glaube, sie wollte sich nicht noch einmal mit einem kleinen Kind belasten. Das klingt zwar unverständlich, aber die Menschen sind nun einmal so.«

Denise kämpfte mit sich. Einerseits konnte ein schwieriges Kind den Frieden in Sophienlust nachhaltig stören. Andererseits war es die Aufgabe gerade dieses Kinderheims, überall dort zu helfen, wo Not herrschte.

»Gut, Frau Hofer«, sagte sie. »Wir wollen es versuchen. Wir haben hier nur wenige Kinder und leben fast wie in einer großen Familie. Vielleicht wird Simon es bei uns leichter fallen, sich einzufügen. Wann kann ich ihn abholen?«

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Hilfe und hoffe, daß Sie mit dem Jungen besser zurechtkommen werden. Ich möchte ihn gern noch auf den bevorstehenden Wechsel vorbereiten. Wäre es Ihnen am Samstag recht?«

»Ja, das wäre mir lieb«, antwortete Denise. »Dann kann ich unsere Kinder auch noch von Simons Schicksal unterrichten. Sie werden sich bestimmt Mühe geben, ihm die Eingewöhnungszeit zu erleichtern.«

Frau Hofer seufzte. »Ich kann nur hoffen, daß alles gut ausgeht. Leicht macht der Junge es Ihnen mit Sicherheit nicht. Einige unserer Angestellten behaupten sogar, er sei von Natur aus bösartig. Das stimmt zwar nicht, aber manchmal hat es tatsächlich den Anschein.«

»Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht«, versicherte Denise. »Wir haben schon häufig in schwierigen Fällen helfen können.«

Sie verabschiedete sich von der Anruferin und blieb dann noch eine ganze Weile nachdenklich neben dem Telefon sitzen.

Sie konnte nicht verstehen, daß es Mütter gab, die ihre Kinder ohne Gewissensbisse im Stich ließen. Simons Mutter schien der Ansicht zu sein, daß sie mit der Zahlung für den Unterhalt ihre Pflicht erfüllt hatte.

Die Heimleiterin, Frau Rennert, betrat das Büro. Sofort fiel ihr Denises sorgenvolles Gesicht auf. »Ist etwas passiert?« fragte sie erschrocken.

»Passiert? Nein, nein, ich habe nur gerade nachgedacht. Wir bekommen am Samstag ein neues Kind. Ein elf Jahre alter Junge aus Tübingen.«

Frau Rennert lachte. »Aber wir bekommen doch oft Zuwachs. Nur sehen Sie dann meistens nicht so besorgt aus. Sie freuen sich doch immer, wenn wir wieder einen neuen Schützling bekommen.«

»Das ist richtig«, gab Denise zu. »Aber dieser Fall ist ziemlich schwierig. Ich fürchte, wir müssen uns auf eine ganze Menge Ärger gefaßt machen.«

Sie klärte die Heimleiterin über die näheren Umstände auf und meinte abschließend: »Ich weiß, daß wir unseren Kindern damit viel zumuten. Aber Simon braucht dringend Hilfe. Das werden alle verstehen. Ich hätte jedenfalls keine ruhige Nacht mehr, wenn ich Frau Hofers Bitte abgelehnt hätte.«

Frau Rennert war derselben Meinung, obwohl auch sie Komplikationen befürchtete. Aber gemeinsam würden sie es schon schaffen. Da war sie ganz sicher.

*

Erst am folgenden Tag erfuhren die Kinder von dem Jungen, der am Wochenende nach Sophienlust kommen sollte. Denise von Schoenecker hatte sich vorher noch überlegen müssen, wie sie ihren Schützlingen Simons Geschichte am besten beibringen sollte, damit in den Kindern Verständnis für den schwierigen Jungen geweckt wurde.

Da alle kleinen Bewohner von Sophienlust ausnahmslos ein schweres Schicksal hinter sich hatten, waren sie eher bereit, Simon zu helfen, als Kinder, die ihr ganzes Leben lang wohlbehütet in ihrem Elternhaus aufgewachsen waren. Nur das Nesthäkchen, die fünfjährige Heidi, begriff noch nicht so recht, warum Tante Isi, wie Denise von den Kindern genannt wurde, so ausführlich über den neuen Jungen sprach.

»Ist Simon denn sehr böse?« wollte sie wissen. »Hoffentlich tut er meinen Kaninchen Schneeweißchen und Rosenrot nichts.«

Denise wußte, daß es für Heidi besonders schwer war, das Problem zu verstehen. Die anderen Kinder waren schon älter und verständiger. Sie nahm das kleine Mädchen auf den Schoß und versuchte, ihr in möglichst einfachen Worten zu erklären, worum es ging.

»Weißt du, Simon ist nicht wirklich böse. Er hat nur viele schlimme Dinge erlebt. Deshalb glaubt er, daß niemand sein Freund sein will. Darüber ist er sehr traurig, und wenn man traurig ist, wird man manchmal auch unfreundlich. Das hast du doch selbst schon einmal erfahren.«

Heidi nickte verstehend. »Wir werden ihm alle sagen, daß wir seine Freunde sein wollen. Dann wird er bestimmt bald nicht mehr traurig und böse sein.«

Als die Kinder sich später im Aufenthaltsraum versammelt hatten, diskutierten sie natürlich sofort über den Neuankömmling. Für sie war es immer aufregend, wenn ein neues Kind nach Sophienlust kommen sollte.

»Tante Isi scheint tatsächlich sehr besorgt zu sein«, meinte Pünktchen, ein dreizehnjähriges Mädchen mit blondem Haar und lustigen Sommersprossen im Gesicht. Diesen Sommersprossen verdankte sie ihren Spitznamen. Eigentlich hieß sie Angelina Dommin. Sie lebte schon viele Jahr in Sophienlust, nachdem sie ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren hatte.

»Das wundert mich nicht«, entgegnete Nick. »Sie hat wahrscheinlich Angst, daß Simon hier alles durcheinander bringt. Er scheint ja nicht gerade ein unkomplizierter Typ zu sein. Das ginge mir aber auch nicht anders, wenn ich nie ein richtiges Zuhause gehabt hätte.«

Fabian, ein elfjähriger schmächtiger Junge, dessen Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren, meldete sich zu Wort. »Ich kann diesen Simon gut verstehen. Als ich nach Sophienlust kam, war das für mich nicht leicht. Anfangs dachte ich auch, daß mich keiner mag. Erst später habe ich gemerkt, daß das gar nicht stimmt. Simon wird es sicher genauso gehen.«

»Von allein schafft er das nicht. Wir müssen ihm dabei helfen«, sagte die zwölfjährige Angelika Langenbach. »Wir dürfen uns auf keinen Fall einschüchtern lassen, wenn er grob und unfreundlich zu uns ist.«

Ihre zwei Jahre jüngere Schwester nickte zustimmend. »Wenn wir immer nett zu ihm sind, wird er schon merken, daß wir seine Freunde sind. Außerdem ist es so schön in Sophienlust. Hier wird es ihm ganz sicher gefallen.«

Die Geschwister Langenbach konnten sich wirklich keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen als Sophienlust. Nachdem sie ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren hatten, war Sophienlust für sie zu einer zweiten Heimat geworden.

»Wir können mit Simon ins Tierheim Waldi und Co gehen«, schlug Angelika vor. »Das hat schon vielen Kindern geholfen, die traurig und verstört bei uns ankamen. Tiere wird er bestimmt mögen.«

Waldi und Co war ein kleines Tierheim, das Andrea und Hans-Joachim von Lehn auf ihrem Grundstück eingerichtet hatten. Viele Tiere, die niemand mehr haben wollte, hatten dort Aufnahme gefunden.

»Ich weiß nicht, ob das alles so klappt, wie wir es uns vorstellen«, gab Pünktchen zu bedenken. »Vielleicht ist Simon viel zu verstockt, um zu erkennen, daß wir ihm nur helfen wollen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Nick zuversichtlich. »Wenn es von vornherein aussichtslos wäre, hätte meine Mutter nicht sofort zugestimmt, ihn bei uns aufzunehmen. Dann wäre sie zumindest erst einmal nach Tübingen gefahren, um sich den Jungen näher anzusehen, bevor sie sich entscheidet.«

Das sahen die Kinder ein. Besonders Pünktchen bewunderte Nicks Weitblick. Sie schwärmte ohnehin für den Sechzehnjährigen. Zwar sprach sie nicht gern offen darüber, aber für alle Bewohner von Sophienlust stand bereits fest, daß aus Nick und Pünktchen später einmal ein Paar werden würde. Nick wurde immer ein bißchen verlegen, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Er mochte Pünktchen gern, aber wie alle Jungen in seinem Alter empfand er es als peinlich, wenn darüber geredet wurde.

Denise hatte inzwischen auch die Kinder- und Krankenschwester Regine Nielsen, die Köchin Magda und das Hausmädchen Ulla von der bevorstehenden Ankunft des neuen Jungen unterrichtet. Sie alle gingen davon aus, daß es mit Simon große Schwierigkeiten geben würde. Gleichzeitig empfanden sie Mitleid mit dem Kind. Er hatte in seinem jungen Leben schon so viel Schweres hinnehmen müssen. Das war eben einfach mehr gewesen, als er verkraften konnte. Sie waren bereit, ihm zu zeigen, daß die Welt nicht nur aus Kummer bestand, und daß Sophienlust eine große Familie war, in der er einen dauerhaften und festen Platz finden konnte.

*

Stumm und mit mißmutigem Gesicht hockte Simon im Flur auf seinem Koffer, den eine Erzieherin für ihn gepackt hatte. Die Kinder um ihn herum beachteten ihn überhaupt nicht. Sie waren froh, daß er das Kinderheim heute verlassen sollte. Sie hatten oft versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber diese Versuche waren stets erfolglos verlaufen. Simon hatte ihnen immer nur kurze unfreundliche Antworten gegeben, so daß sie ihn mit der Zeit schließlich gar nicht mehr beachtet hatten.

Frau Hofer, die den Flur entlangkam, sprach den Jungen an. »Du brauchst nicht hier im Flur zu warten, Simon. Geh doch in den Tagesraum. Ich werde dich rufen, wenn Frau von Schoenecker eingetroffen ist.«

Simon sah die Heimleiterin nicht an. »Ich warte lieber hier«, erwiderte er knapp.

Er fühlte sich wieder einmal abgeschoben. Schon so oft hatte er auf seinem Koffer gesessen und darauf gewartet, in ein anderes Heim gebracht zu werden. Im Grunde genommen war es ihm schon ganz egal, wo er hinkam. Es war ja doch überall dasselbe. Während er auf seinem Gepäck hockte, und trübsinnig die Wand anstarrte, öffnete sich die Eingangstür, und Denise trat ein. Sie erblickte den Jungen und wußte sofort, daß es Simon sein mußte. Langsam ging sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Guten Tag. Du bist sicher Simon Graupner«, grüßte sie freundlich. Der Junge nickte nur und ließ Denises Hand unbeachtet. »Ich bin gekommen, um dich abzuholen«, fuhr sie fort. »Du wirst von jetzt an bei uns in Sophienlust wohnen. Dort gibt es zwar nicht so viele Kinder wie hier, aber wir freuen uns schon alle auf dich.«

»Das haben immer alle behauptet. Aber es hat nie gestimmt. Auch hier sind die Kinder froh, daß sie mich endlich los sind«, entgegnete Simon knapp.

Es tat Denise weh, den Jungen so verbittert reden zu hören. »Ich belüge dich nicht, Simon«, sagte sie mit Nachdruck. »Wir freuen uns wirklich auf dich. Bei uns sind nur wenige Kinder. Sie sind froh, daß sie wieder einen neuen Spielkameraden bekommen.«

Der Junge sah sie mißtrauisch an. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er kein Wort glaubte.

Frau Hofer kam die Treppe herunter und begrüßte Denise. »Frau von Schoenecker?« fragte sie. Als Denise nickte, fuhr sie fort: »Ich hoffe, daß Sie eine gute Fahrt hatten. Darf ich Sie kurz ins Büro bitten?« Zu Simon gewandt sagte sie: »Es dauert nicht lange. In ein paar Minuten bin ich wieder zurück.«

Die Heimleiterin führte ihre Besucherin in ein kleines, zweckmäßig eingerichtetes Büro. Sie berichtete noch einmal von Simons Schwierigkeiten.

»Seit sieben Monaten ist das Kind nun bei uns. Anfangs haben wir geglaubt, daß er sich mit der Zeit einleben würde. Aber er schaffte das einfach nicht. Das Gegenteil war der Fall. Simon kapselte sich immer mehr ab. Er ist ein typischer Einzelgänger. Mit keinem anderen Kind will er etwas zu tun haben, und mit den Erzieherinnen spricht er nur das Nötigste. Wir werden mit ihm wirklich nicht mehr fertig. Ich gebe Ihnen seine Akte mit. Darin finden Sie alle Einzelheiten über seinen Werdegang und auch die Adresse seiner Tante, Frau Brackler. Ich habe mit ihr telefoniert. Sie ist damit einverstanden, daß ihr Neffe nach Sophienlust gebracht wird. Wenn Sie nicht mit ihm zurechtkommen, können Sie ihn natürlich jederzeit zu uns zurückbringen.«

»Ich hoffe nicht, daß das nötig sein wird«, meinte Denise. »Aber wir müssen zunächst einmal abwarten, wie Simon sich verhält. Ich werde mich in den nächsten Wochen auf jeden Fall mit seiner Tante in Verbindung setzen. Für mich ist es wichtig, mir von den Verwandten meiner Schützlinge ein Bild machen zu können.«

Nachdem Denise sich von Frau Hofer verabschiedet hatte, ging sie hinaus zu Simon, der noch immer im Flur auf seinem Koffer saß.

»Jetzt kann es losgehen«, sagte sie betont fröhlich. »Wenn wir nicht zu sehr bummeln, sind wir rechtzeitig zum Mittagessen in Sophienlust.« Sie griff nach dem Koffer, aber der Junge wehrte sofort ab.

»Den kann ich selber tragen«, meinte er und schleppte das ziemlich schwere Gepäckstück zum Wagen.

Während der Fahrt verhielt sich Simon ausgesprochen still. Denise versuchte immer wieder, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sie erhielt jedoch nur knappe Antworten. Schließlich kam sie auf ein Thema, das bisher fast jedes Kind aus der Reserve gelockt hatte.

»Sag mal, magst du eigentlich Tiere?« fragte sie. »Wir haben eine ganze Menge davon in Sophienlust.«

»Ich weiß nicht«, antwortete Simon unentschlossen. »Aber ich glaube nicht.«

Denise von Schoenecker wußte nicht, wie sie an diesen Jungen herankommen sollte. Die meisten Einzelgänger fühlten sich wenigstens zu Tieren hingezogen. Simon aber hatte um sich herum eine solch massive Mauer errichtet, die ihm selbst eine Verbindung zu Tieren unmöglich machte. Denise setzte ihre Hoffnung auf die Kinder. Ihnen war es schon oft gelungen, schwierige und zurückhaltende Kinder in die Gemeinschaft einzugliedern.

Um die Mittagszeit erreichten sie Sophienlust. Die Kinder warteten bereites neugierig auf den Neuankömmling. Frau Rennert hatte sie jedoch zurückgehalten, damit sie den Jungen nicht gleich am Auto bestürmten. So saßen sie nun brav in der Halle und warteten darauf, daß Denise mit ihm hereinkam.

Simon stieg offenbar desinteressiert neben der Frau die Freitreppe hinauf. Als er die Halle betrat und die fremden Kinder erblickte, blieb er schüchtern an der Eingangstür stehen.

Pünktchen erhob sich von dem Bärenfell, auf dem sie gesessen hatte, ging auf den Jungen zu und reichte ihm die Hand.

»Guten Tag, Simon. Wir haben schon auf dich gewartet. Schön, daß du da bist. Wir freuen uns darüber.«

»Quatsch«, entgegnete der Junge, ohne Pünktchen dabei anzusehen. »Auf mich freut sich keiner.«

»Das ist doch Unsinn«, begehrte Fabian auf. »Natürlich freuen wir uns auf dich. Ich bin übrigens Fabian Schöller. Ich bin auch elf Jahre alt, genau wie du. Wir werden in einem Zimmer schlafen. Ich hoffe, daß wir uns vertragen werden.«

»Wer schläft denn sonst noch in dem Zimmer?« wollte Simon wissen und schielte zu den anderen Kindern hinüber.

»Nur wir beide. Die meisten Kinder wohnen zu zweit zusammen. Es kommt nur selten vor, daß ein Kind allein in einem Zimmer schläft.«

Das war neu für Simon. Er war schon in so vielen Heimen gewesen, und überall waren eine ganze Menge Kinder in einem Zimmer untergebracht. Sechs bis acht Betten entsprachen dem Normalfall. So konnte sich nie jemand zurückziehen, wenn er einmal allein sein wollte.

»Am besten, du zeigst Simon gleich euer Zimmer«, schlug Denise vor. »Danach könnt ihr zum Mittagessen kommen. Magda hat bestimmt schon alles gerichtet. Beim Essen wird Simon auch die anderen Kinder kennenlernen.«

Widerspruchslos nahm der ›Neue‹ seinen Koffer und folgte Fabian die Treppe hinauf. Die Blicke der Kinder folgten ihm. Auch Henrik sah ihm nach. Er war von Gut Schoeneich, wo er mit seinen Eltern und seinem Bruder Nick wohnte, nach Sophienlust herübergeradelt, um sich den neuen Jungen anzusehen.

»Na, das ist aber ein komischer Vogel«, meinte er respektlos und fing für diese Bemerkung einen tadelnden Blick von seiner Mutter auf.

»Ich wollte doch nur sagen, daß Simon ziemlich ungewöhnlich ist«, fügte Henrik beschwichtigend hinzu. »Er ist so..., na eben anders als wir.«