Nimm mich in deine Arme - Ursula Hellwig - E-Book

Nimm mich in deine Arme E-Book

Ursula Hellwig

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Sorgfältig überprüfte Denise von Schoenecker noch einmal ihre Einkaufsliste nach. Nein, sie hatte nichts vergessen. Der Kofferraum ihres Wagens war bis oben gefüllt mit Bettwäsche, Tischdecken und neuen Büchern und Spielen für Sophienlust. Zufrieden stieg die hübsche schwarzhaarige Frau ein und dachte wieder einmal daran, wie glücklich sie doch war. Dabei hatte sie vor Jahren eine schwere Zeit erlebt, als sie mit ihrem kleinen Sohn Dominik ganz allein auf der Welt stand. Sie hatte seinerzeit ihren Mann gegen den Willen seiner Familie geheiratet. Als Tänzerin paßte sie nach Meinung der von Wellentins nicht in diese Gesellschaftsschicht und wurde abgelehnt. Noch bevor Dominik, der nur Nick genannt wurde, auf die Welt kam, starb sein Vater, und Denise mußte sich mit dem Baby allein durch das Leben schlagen. Kurz vor ihrem Tod erkannte Nicks Ur-Großmutter Sophie von Wellentin jedoch, daß sie Denise zu Unrecht verachtet hatte. Sie vermachte ihrem Urenkel Dominik ihr schloßähnliches Gutshaus und ihr Vermögen mit der Auflage, aus diesem Haus ein Heim für unschuldig in Not geratene Kinder zu machen. Diese Auflage erfüllte Denise nur zu gern. So war aus dem Gutshaus das Kinderheim Sophienlust geworden, das Denise bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes verwaltete. Auch privat hatte Denise ihr Glück dann noch gefunden und den Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker geheiratet. Auch er hatte nach dem Tod seiner ersten Frau mit seinen beiden Kindern Sascha und Andrea traurige Zeiten erlebt. Später wurde dann der kleine Henrik geboren, das gemeinsame Kind von Denise und Alexander. Damit war das Glück der Familie komplett. Ein Lächeln umspielte Denises Mund, als sie daran dachte, daß inzwischen viele Jahre vergangen waren. Andrea war längst verheiratet und hatte selbst einen kleinen Sohn. Sascha studierte in Heidelberg. Nick war bereits ein großer Junge von sechzehn Jahren, der seine zukünftige Aufgabe als Besitzer von Sophienlust schon heute sehr ernst nahm.

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Sophienlust Bestseller – 36 –

Nimm mich in deine Arme

… denn du bist meine neue Mutti

Ursula Hellwig

Sorgfältig überprüfte Denise von Schoenecker noch einmal ihre Einkaufsliste nach. Nein, sie hatte nichts vergessen. Der Kofferraum ihres Wagens war bis oben gefüllt mit Bettwäsche, Tischdecken und neuen Büchern und Spielen für Sophienlust.

Zufrieden stieg die hübsche schwarzhaarige Frau ein und dachte wieder einmal daran, wie glücklich sie doch war. Dabei hatte sie vor Jahren eine schwere Zeit erlebt, als sie mit ihrem kleinen Sohn Dominik ganz allein auf der Welt stand.

Sie hatte seinerzeit ihren Mann gegen den Willen seiner Familie geheiratet. Als Tänzerin paßte sie nach Meinung der von Wellentins nicht in diese Gesellschaftsschicht und wurde abgelehnt. Noch bevor Dominik, der nur Nick genannt wurde, auf die Welt kam, starb sein Vater, und Denise mußte sich mit dem Baby allein durch das Leben schlagen.

Kurz vor ihrem Tod erkannte Nicks Ur-Großmutter Sophie von Wellentin jedoch, daß sie Denise zu Unrecht verachtet hatte. Sie vermachte ihrem Urenkel Dominik ihr schloßähnliches Gutshaus und ihr Vermögen mit der Auflage, aus diesem Haus ein Heim für unschuldig in Not geratene Kinder zu machen.

Diese Auflage erfüllte Denise nur zu gern. So war aus dem Gutshaus das Kinderheim Sophienlust geworden, das Denise bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes verwaltete.

Auch privat hatte Denise ihr Glück dann noch gefunden und den Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker geheiratet. Auch er hatte nach dem Tod seiner ersten Frau mit seinen beiden Kindern Sascha und Andrea traurige Zeiten erlebt.

Später wurde dann der kleine Henrik geboren, das gemeinsame Kind von Denise und Alexander. Damit war das Glück der Familie komplett. Ein Lächeln umspielte Denises Mund, als sie daran dachte, daß inzwischen viele Jahre vergangen waren. Andrea war längst verheiratet und hatte selbst einen kleinen Sohn. Sascha studierte in Heidelberg. Nick war bereits ein großer Junge von sechzehn Jahren, der seine zukünftige Aufgabe als Besitzer von Sophienlust schon heute sehr ernst nahm. Aus dem kleinen Henrik war ein neunjähriger lebhafter Junge geworden, der immer irgendwelche Streiche im Schilde führte.

Eine Weile hing Denise noch ihren Gedanken nach, dann steckte sie den Zündschlüssel ins Schloß, um nach Sophienlust zu fahren.

Bevor sie jedoch starten konnte, entdeckte sie auf einer Bank neben dem Parkplatz eine junge Frau. Sie war hochschwanger, und ihr langes blondes Haar glänzte in der Sonne wie Gold. Neben ihr stand eine braune Reisetasche. Eigentlich war an dieser Situation nichts Ungewöhnliches, aber Denise bemerkte, daß die junge Frau weinte. Das war nun wieder gar nicht normal.

Ohne weiter darüber nachzudenken, stieg sie entschlossen wieder aus und ging zu der Bank hinüber. Sie fühlte, daß hier ein Mensch Hilfe brauchte. Im Laufe der Jahre hatte sie ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, wann und wo Hilfe nötig war. Sie setzte sich neben die junge Frau, die ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken schien, und deshalb sprach Denise sie an.

»Entschuldigen Sie, ich habe Sie hier sitzen gesehen. Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Verstört sah die blonde Frau Denise an.

»Sie bieten mir Hilfe an? Verzeihen Sie, aber das kann ich kaum glauben. In den letzten Monaten hat es keinen Menschen gegeben, der mir wirklich helfen wollte. Ich kann das sogar verstehen. Ein Mädchen von nicht einmal zwanzig Jahren, das ein uneheliches Kind erwartet, ist keiner Hilfe wert. Außerdem kann mir auch niemand helfen. Ich bin in eine Sackgasse geraten und trage daran ganz allein die Schuld. Es ist nett von Ihnen, daß Sie Hilfe angeboten haben. Aber glauben Sie mir, mir ist nicht zu helfen.«

»Manchmal sieht man die Zukunft zu schwarz«, erwiderte Denise. »Irgendwie geht es dann doch weiter. Kann ich Sie nach Hause bringen? Mein Wagen steht gleich dort drüben. Die Tasche ist für Sie doch viel zu schwer in Ihrem Zustand.« Mit einem bitteren Lächeln wandte die junge Frau ihr Gesicht ab.

»Nach Hause? Ich habe kein Zuhause mehr. Bis heute morgen habe ich in einem kleinen Dachzimmer gewohnt. Aber dort mußte ich ausziehen, weil der Vermieter den Raum selbst braucht. Eine andere Bleibe konnte ich nicht finden. Seit acht Wochen bin ich auf der Suche – erfolglos. Ich weiß nicht, wohin ich gehen könnte. Alles was ich besitze, habe ich in dieser Reisetasche.«

Spontan entgegnete Denise: »Wenn Sie wollen, haben Sie wieder ein Zuhause. Sie können in Sophienlust wohnen, bis sich Ihre Zukunft geklärt hat. Ihr Baby ist bei uns auch herzlich willkommen. Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Denise von Schoenecker und verwalte das Kinderheim Sophienlust für meinen Sohn. Dort haben schon viele Kinder eine Heimat gefunden und manchmal auch vorübergehend Erwachsene, die in Not geraten waren. Sie können doch nicht auf dieser Bank übernachten. Gerade jetzt brauchen Sie ein richtiges Zuhause, und das werden Sie bei uns finden.« Mit ungläubigem Staunen hatte die werdende Mutter zugehört. Nun aber verfinsterten sich ihre Züge wieder.

»Es wäre schön, aber ich kann nicht mit Ihnen kommen. Zwar habe ich während der Schwangerschaft immer wieder Aushilfsarbeiten angenommen, um mich finanziell über Wasser zu halten, aber ich konnte nicht viel Geld auf die Seite legen. Wenn das Baby erst da ist, werde ich jeden Cent brauchen. Das Kind soll nicht darunter leiden, daß seine Mutter einmal sehr leichtsinnig war. Ich kann den Aufenthalt in Ihrem Haus nicht bezahlen. Sie sehen, mir kann niemand helfen.«

»Wenn das Ihr einziges Problem ist, kann ich Sie beruhigen. Sophienlust verfügt über einen Fond für Härtefälle. Sie brauchen kein Geld. Zunächst ist einmal wichtig, daß Sie einen gemütlichen Platz finden, wo Sie leben können. Alles andere wird sich später schon finden. Wann ist es denn soweit mit dem Baby?«

»In knapp vier Wochen«, murmelte die junge Frau, und dann fragte sie: »Ist es denn überhaupt möglich, daß es noch so selbstlose Menschen gibt? Jeder denkt doch nur noch an sein eigenes Wohlbefinden. Das alles kommt mir vor wie ein schöner Traum, und

ich habe Angst, daß ich gleich aufwache.«

»Es ist kein Traum«, versicherte Denise. »Kommen Sie, ich werde Ihre Tasche ins Auto bringen, und dann fahren wir heim.«

Schwerfällig erhob sich die künftige Mutter und folgte ihr zum Wagen. Während der Fahrt nach Sophienlust sagte die Fremde zu Denise:

»Sie müssen wirklich entschuldigen, daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Sonja Berghoff. Ich komme ursprünglich aus Regensburg. Dort habe ich im Hause meiner Eltern gelebt, bis ich… bis sie…, na ja, eben bis vor sechs Monaten.«

Denise von Schoenecker merkte, daß es Sonja schwerfiel, über die ganze Geschichte zu sprechen. Sie fragte deshalb auch nicht weiter.

Als die beiden Frauen das Kinderheim erreichten, sah Sonja Berghoff sich erstaunt um. Denise hatte das schon bei vielen Gästen erlebt. Fast alle waren von dem Anwesen sehr beeindruckt.

»Da sind wir«, sagte sie, »Sophienlust ist jetzt Ihr Zuhause. Sie werden sich hier bestimmt wohl fühlen.« Sonja nickte nur geistesabwesend. So wundervoll hatte sie sich das Kinderheim nicht vorgestellt. Denise half ihrem Gast aus dem Wagen.

Die kleine Heidi hatte ihre geliebte Tante Isi, wie alle Kinder Denise nannten, gesehen, und kam durch den Park angelaufen.

»Wen bringst du denn da mit, Tante Isi?« fragte sie und wandte sich ohne Scheu sofort an Sonja. »Bist du vielleicht eine Mutti?« Sonja strich dem fünfjährigen Mädchen über das blonde Haar.

»Noch nicht, aber bald werde ich eine Mutti sein. Es dauert gar nicht mehr lange, dann werde ich ein Baby haben.«

»Kommt dein Baby dann auch nach Sophienlust und bleibt bei uns?« wollte Heidi wissen.

»Das weiß ich noch nicht genau. Aber es könnte schon sein, daß das Baby und ich eine Weile hier wohnen werden.«

Diese Neuigkeit fand Heidi ganz großartig. Vor allem freute sie sich, daß sie sie zuerst erfahren hatte. Die größeren Kinder waren noch in der Schule. Heidi war immer ein bißchen traurig, daß sie noch nicht zur Schule gehen durfte. Aber manchmal hatte das auch seine Vorteile. So erfuhr sie stets zuerst, was sich an den Vormittagen in Sophienlust alles ereignete.

Sonja wurde von der Heimleiterin Frau Rennert herzlich begrüßt, und sie lernte auch die anderen Angestellten kennen. Alle diese Menschen, die hier arbeiten, hatten bereits eine Menge Erfahrung mit Leuten gesammelt, die Hilfe nötig hatten. Sie fragten deshalb nicht viel, sondern nahmen es als eine Selbstverständlichkeit hin, wenn ein neuer Gast ankam.

Sonja Berghoff wurde ein geschmackvoll eingerichtetes Gästezimmer zugewiesen. Sie war davon entzückt. Dieses Zimmer stand in keinem Verhältnis zu der Dachkammer, die sie während der letzten Monate bewohnt hatte.

Sie packte ihre Sachen aus und legte sie in den Schrank. Auch die Erstlingsausstattung, die sie für ihr Baby bereits besorgt hatte, sortierte sie ein. Liebevoll ließ sie ihre Hände über ein Babyjäckchen gleiten. Durch dieses Kind, das sie bekommen würde, hatte sie sich ihre Zukunft zerstört. Trotzdem freute sie sich auf das Baby. Sie konnte es kaum erwarten, dieses kleine Wesen im Arm zu halten.

In aller Eile machte Sonja sich ein wenig frisch. Denise hatte sie zu einer Tasse Kaffee eingeladen, und sie wollte nicht unpünktlich sein. Im Spiegel merkte sie, daß ihre Augen noch immer gerötet und verweint waren. Mit kaltem Wasser versuchte sie, die Spuren zu verwischen, was ihr auch einigermaßen gelang. Sie überlegte, ob sie Denise von Schoenecker ihre ganze traurige Geschichte erzählen sollte. Vielleicht tat ihr das sogar gut, sich einem Menschen anzuvertrauen, der soviel Verständnis für sie aufgebracht hatte.

Unwillkürlich mußte Sonja an Jan denken. Sie fragte sich, ob er überhaupt noch an sie dachte und an sein Kind, das sie nun bald zur Welt bringen sollte. Er hatte es sich so leicht gemacht, sich aller Verantwortung zu entziehen. Für ihn war das Baby nichts weiter als eine Panne, die man beheben mußte. Sonja war darüber ganz anderer Ansicht. Sie wußte genau, daß sie einen großen Fehler gemacht hatte. Aber sie war bereit, für diesen Fehler einzustehen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Das Baby konnte nichts für ihre Unüberlegtheit und ihren Leichtsinn. Es durfte niemals darunter leiden. Sie wollte es lieben und ihm jederzeit eine gute Mutter sein.

*

Stolz trug Lydia Wiede ihren kleinen roten Koffer zum Auto und stellte ihn neben den großen Lederkoffer, den ihr Vater bereits im Kofferraum verstaut hatte. Einerseits freute sie sich auf den Aufenthalt in Sophienlust, andererseits hatte sie auch ein wenig Angst davor.

Bisher war sie noch nie von ihrem Vater getrennt gewesen. Diesmal war die Trennung jedoch nicht zu vermeiden. Ihr Vater, der Architekt Roland Wiede, hatte den Wettbewerb für die Planung eines Ferienzentrums in Griechenland gewonnen. Nun mußte er an Ort und Stelle den Beginn der Bauarbeiten beaufsichtigen. Etwa fünf Wochen nahm diese Arbeit in Anspruch.

Es war nicht möglich, Lydia mitzunehmen. Daher sollte sie während dieser Zeit in Sophienlust bleiben.

Lydia lebte mit ihrem Vater allein in einem großen Haus, direkt am Waldrand. Nur tagsüber kam Frau Jandt, die Haushälterin. Seit Lydias Mutter vor über vier Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, sorgte Frau Jandt für Herrn Wiede und seine Tochter. Sie kochte, kümmerte sich um die Wäsche und hielt das Haus in Ordnung. Abends kehrte sie immer wieder nach Hause zurück zu ihrer Mutter, die jetzt schon über siebzig Jahre alt war.

Von einem Arbeitskollegen hatte Roland Wiede von dem Kinderheim Sophienlust, dem Haus der glücklichen Kinder, erfahren. Gemeinsam mit Lydia war er an einem Sonntag hingefahren, um sich dieses Heim anzusehen. Er hatte sich lange mit Denise von Schoenecker unterhalten und war anschließend sicher, daß seine Tochter hier gut untergebracht sein würde. Lydia selbst hatte sofort Freundschaft mit den Kindern geschlossen, die in Sophienlust lebten. Besonders Heidi, die nur knapp ein Jahr jünger war als sie, und Heidis Kaninchen Schneeweißchen und Rosenrot hatten es Lydia angetan.

Aber es war eben doch ein Unterschied, ob sie in Begleitung ihres Vaters oder allein für mehrere Wochen dort war. So ganz allein war Lydia jedoch nicht. Wusel, ihr geliebter Teddy, durfte mit auf die Reise gehen. Er war zwar schon ein bißchen abgegriffen, erwies sich aber immer wieder als Tröster in allen schwierigen Situationen.

Auf der Fahrt nach Sophienlust stellte Lydia ihrem Vater eine ganze Reihe von Fragen über Griechenland. Sie wollte wissen, wie lange es dauern würde, wenn man zu Fuß zu diesem Land ginge, ob das Wetter genauso wäre wie in Deutschland und ob die Leute in Griechenland ihren Vater überhaupt verstehen könnten, weil sie doch eine ganz andere Sprache sprachen. Geduldig gab Roland Wiede seiner kleinen Tochter auf jede Frage eine Antwort. Schließlich fragte sie noch:

»Schreibst du mir auch ganz bestimmt viele Briefe und erzählst darin, was du alles erlebt hast? Pünktchen, Vicky und Angelika oder ein anderes von den großen Kindern können mir die Briefe dann vorlesen. Ich werde dir auch schreiben.«

»Ich werde viele Briefe schreiben und jeden Tag an dich denken. Aber du kannst mir wahrscheinlich keine Briefe schreiben. Du gehst ja noch nicht zur Schule.«

Dieses Problem schien Lydia nicht im geringsten zu belasten. »Das ist doch nicht so schlimm. Ich sage einfach einem von den großen Kindern, was ich dir gern schreiben möchte. Dann werden sie bestimmt alles aufschreiben. Ich male dazu ein hübsches Bild für dich.«

Roland Wiede mußte unwillkürlich lächeln. Seine Tochter fand mit ihrer unkomplizierten Art immer schnell einen Ausweg für alle Probleme. In dieser Hinsicht schlug sie ganz nach ihrer Mutter. Auch ihre Mutter war überaus praktisch veranlagt gewesen, und es gab nie ein Problem, das sie nicht mit Leichtigkeit überwunden hätte.

Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand so plötzlich, wie es erschienen war, als er an seine verstorbene Frau Eva dachte. Wie glücklich hätte er heute noch mit seiner kleinen Familie sein können, wenn das Schicksal nicht so unerbittlich hart zugeschlagen hätte.

Ein betrunkener Autofahrer hatte damals das Leben seiner Frau ausgelöscht. Er war viel zu schnell gefahren, ins Schleudern gekommen und auf den Gehweg geraten. Eva, die gerade einen Brief in den Postkasten einwerfen wollte, wurde von dem Wagen erfaßt und auf der Stelle getötet. Was nützte es, daß dieser Fahrer bestraft wurde. Das brachte Eva auch nicht wieder. Nichts auf der Welt konnte sie wieder lebendig machen.

Energisch schüttelte der Mann diese Gedanken ab. Er wollte nicht mehr grübeln. Lydia war das Vermächtnis, das seine Frau ihm hinterlassen hatte. Er wollte versuchen, dem Kind Vater und Mutter zugleich zu sein. Bisher war ihm das einigermaßen gelungen.

Manchmal hatte er schon daran gedacht, wieder zu heiraten. Aber er hatte diesen Gedanken stets sofort wieder verworfen. Eine Frau zu finden, die auch für Lydia eine gute Mutter sein würde, hielt er für beinahe unmöglich. Die eigene Mutter war für ein Kind eben unersetzlich.

»Bist du traurig, Vati«, fragte das Mädchen und riß ihn damit aus seinen Gedanken. »Du siehst plötzlich so traurig aus.«

»Nein, ich bin nicht traurig, mein Schatz. Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht. Es war aber gar nicht wichtig. Es ist ein schöner, sonniger Tag. Da haben wir doch beide gar keinen Grund zur Traurigkeit, oder?«

»Nein, haben wir nicht«, bestätigte seine Tochter und lachte ihn an.

*

Sonja Berghoff trug jetzt ein zartgrünes Umstandskleid und darunter eine weiße Bluse. Sie besaß nur zwei Umstandskleider, die sie mit äußerster Sorgfalt pflegte. Im Spiegel prüfte sie noch einmal ihr Aussehen, war mit sich zufrieden und ging in das Biedermeierzimmer, wo Denise sie mit Kaffee und Apfelkuchen erwartete.

Sonjas Blick wanderte über das stilvolle Mobilar und ruhte schließlich auf dem Porträt einer Frau. Denise folgte diesem Blick.

»Das ist Sophie von Wellentin. Ihr haben wir zu verdanken, daß aus Sophienlust eine so segensreiche Einrichtung werden konnte. Bitte nehmen Sie Platz, Frau Berghoff, und genießen Sie den Apfelkuchen. Er gelingt unserer Köchin Magda immer vorzüglich. Ich bin sicher, daß er auch Ihnen schmecken wird.«

Nachdem die beiden Frauen den Kuchen verzehrt hatten, ergriff Sonja das Wort. »Frau von Schoenecker, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Sie sollten wissen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, daß Sie mich heute praktisch auf der Straße aufgelesen haben.«

Denise schüttelte den Kopf. »Sie sind mir keine Erklärung schuldig. Ich werde Ihnen gern zuhören, wenn Sie sich einmal alles von der Seele reden wollen, aber Sie müssen es nicht tun.«

»Ich möchte gern darüber sprechen«, entgegnete Sonja. »Bisher hat es niemanden gegeben, der meine Geschichte hören wollte.«

Die junge Frau senkte den Blick und machte eine Pause. Denise ließ ihr Zeit. Nach einer Weile begann Sonja zunächst stockend, dann aber immer freier zu erzählen:

»Aufgewachsen bin ich ausgesprochen behütet bei meinen Eltern in Regensburg. Mein Vater hatte nicht viel Zeit für seine Familie. Geschäftlich war er häufig unterwegs auf Möbelmessen. Er besitzt eine Kette von Möbelhäusern. Aber meine Mutter war immer da und hat uns alle Liebe und Wärme gegeben, die wir Kinder brauchten. Ich habe noch eine kleine Schwester, Caroline. Sie ist erst zehn Jahre alt. Im Urlaub und an den Wochenenden war mein Vater aber immer für uns da, und wir waren wirklich eine glückliche Familie.

Als ich das Abitur bestanden hatte, schenkten meine Eltern mir eine Nordland-Kreuzfahrt. Es war die erste große Reise, die ich allein unternehmen durfte.

Auf dem Schiff lernte ich Jan kennen, einen Studenten aus Holland. Seine Kabine lag gleich neben meiner. Wir freundeten uns an und verbrachten drei herrliche Wochen. In unserer Verliebtheit waren wir allerdings leichtsinnig, ohne daran zu denken, daß sich daraus Folgen ergeben könnten. Am letzten Ferientag tauschten wir unsere Adressen aus, weil wir auch weiterhin in Kontakt bleiben wollten.

Nun ja, zu Hause merkte ich ziemlich bald, daß ich schwanger war. Ich schrieb Jan sofort und fragte ihn, was wir jetzt tun sollten. Er antwortete umgehend und bat mich, nach Holland zu kommen. Er hätte inzwischen alles in die Wege geleitet, um diese Panne zu bereinigen. Die Kosten wollte er übernehmen. Ich war ehrlich entsetzt. An eine Abtreibung hatte ich nie gedacht und war damit nicht einverstanden. Das machte ich ihm auch klar.

In dem darauf folgenden Brief erklärte Jan, daß er sich unter keinen Umständen ein Kind leisten könne, solange er noch studiere. Eine Abtreibung sei nach seiner Meinung der einzige Ausweg.

Ich antwortete ihm nicht mehr und entschloß mich, das Kind allein aufzuziehen. Es ging mir in den ersten Wochen nicht gut. Das fiel auch meinen Eltern auf, und es kam der Tag, an dem ich ihnen alles beichtete und erklärte, daß ich das Baby auf jeden Fall austragen wolle.