Ein gefährlicher Gegner - Agatha Christie - E-Book

Ein gefährlicher Gegner E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

»Zwei junge Abenteurer suchen Beschäftigung. Bereit zu allem, gleich wo. Gute Bezahlung Voraussetzung. Unvernünftige Angebote werden berücksichtigt.« Mit dieser Anzeige suchen der vorsichtige Tommy und die unerschrockene Tuppence Arbeit, und sie müssen nicht lange auf ihren ersten Fall warten: Beim Untergang des Luxusschiffes S.S. Lusitania sind hochsensible Regierungspapiere verloren gegangen. Gleichzeitig müssen sie auch die mysteriöse Jane Finn suchen. Mehrmals gerät das ungleiche Paar in Gefahr und stößt auf eine abgründige Verschwörung ...

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Agatha Christie

Ein gefährlicher Gegner

Ein Fall für Tommy und Tuppence

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Atlantik

All denen,

die ein eintöniges Dasein fristen in der Hoffnung,

die Freuden und Gefahren des Abenteuers aus zweiter Hand

erleben zu können.

Prolog

Es war der 7. Mai 1915, zwei Uhr mittags. Die Lusitania war von zwei Torpedos in Folge getroffen worden und sank rasch, während die Boote mit größtmöglicher Eile zu Wasser gelassen wurden. Frauen und Kinder standen in einer Schlange und warteten darauf, einsteigen zu dürfen. Manche klammerten sich noch verzweifelt an Ehemänner und Väter; andere hielten ihre Kinder fest an die Brust gedrückt. Ein Mädchen stand, etwas abseits von den Übrigen, allein da. Sie war sehr jung, nicht älter als achtzehn. Sie schien sich nicht zu fürchten, und ihre ernsten Augen blickten unerschrocken geradeaus.

»Bitte entschuldigen Sie.«

Als die Männerstimme neben ihr erklang, zuckte sie zusammen und drehte sich um. Der Sprecher war ihr unter den Passagieren der ersten Klasse bereits mehrmals aufgefallen. Ihn hatte ein Hauch von Geheimnis umgeben, der ihre Einbildungskraft angesprochen hatte. Er wechselte mit niemandem ein Wort. Sprach ihn jemand an, reagierte er schroff und abweisend. Er hatte außerdem die nervöse Angewohnheit, immer wieder hastige, argwöhnische Blicke über die Schulter zu werfen.

Jetzt erkannte sie, dass er zutiefst aufgewühlt war. Auf seiner Stirn lagen Schweißtropfen. Er war sichtlich von unbeherrschbarer Angst erfüllt. Und dennoch schien er ihr kein Mann zu sein, der sich vor dem Tod gefürchtet hätte.

»Ja?« Ihre ernsten Augen begegneten fragend den seinigen.

Er sah sie mit einem Ausdruck verzweifelter Unentschiedenheit an.

»Es muss sein!«, murmelte er bei sich. »Ja – es ist die einzige Möglichkeit.« Dann sagte er laut und unvermittelt: »Sie sind Amerikanerin?«

»Ja.«

»Patriotin?«

Das Mädchen errötete.

»Sie haben wohl kaum das Recht, eine solche Frage zu stellen! Natürlich bin ich eine Patriotin!«

»Nehmen Sie es mir nicht übel. Wenn Sie nur wüssten, wie viel auf dem Spiel steht! Aber irgendjemandem muss ich trauen – und es muss eine Frau sein.«

»Warum?«

»Wegen ›Frauen und Kinder zuerst‹.« Er sah sich um und senkte die Stimme. »Ich habe Dokumente bei mir – äußerst wichtige Dokumente. Sie könnten für die Entente geradezu kriegsentscheidend sein. Begreifen Sie? Diese Papiere müssen gerettet werden! Bei Ihnen haben sie eher eine Chance als bei mir. Werden Sie sie an sich nehmen?«

Das Mädchen streckte die Hand aus.

»Warten Sie – ich muss Sie warnen. Es könnte riskant werden – falls man mir gefolgt ist. Ich glaube es zwar nicht, aber man kann nie wissen. Falls ja, ist es gefährlich. Trauen Sie sich zu, die Aufgabe zu Ende zu bringen?«

Das Mädchen lächelte.

»Und ob ich sie zu Ende bringen werde! Und ich bin wirklich stolz, dazu auserwählt zu sein! Was soll ich mit den Papieren anschließend machen?«

»Sehen Sie in die Zeitung! Ich werde in den Kontaktanzeigen der Times ein Inserat schalten, Stichwort ›Schiffskamerad‹. Wenn nach Ablauf von drei Tagen nichts erschienen ist – nun, dann wissen Sie, dass ich’s nicht geschafft habe. Bringen Sie dann das Päckchen in die Amerikanische Botschaft und händigen Sie es dem Botschafter persönlich aus. Ist das klar?«

»Vollkommen.«

»Dann machen Sie sich bereit – ich sage Lebewohl.« Er ergriff ihre Hände. »Leben Sie wohl. Viel Glück!«, sagte er mit lauterer Stimme.

Ihre Hand schloss sich um das in Öltuch gewickelte Paket, das er ihr heimlich zugesteckt hatte.

Die Lusitania krängte jetzt stärker nach Steuerbord. Auf ein knappes Kommando hin trat das Mädchen vor, um ihren Platz im Rettungsboot einzunehmen.

1Die Junge-Abenteurer-GmbH

»Tommy, alter Knabe!«

»Tuppence, altes Haus!«

Die zwei jungen Leute begrüßten sich herzlich und verstopften vorübergehend den U-Bahn-Ausgang Dover Street. Das Adjektiv »alt« war irreführend. Sie hätten gemeinsam kaum fünfundvierzig Jahre zusammengebracht.

»Hab dich ja seit Ewigkeiten nicht gesehen«, fuhr der junge Mann fort. »Wo wolltest du hin? Gehen wir doch zusammen einen Happen essen. Wir machen uns hier allmählich unbeliebt – wie wir sozusagen die Gangway blockieren. Lass uns hier verschwinden.«

Das Mädchen erhob keine Einwände, und sie schlugen die Dover Street in Richtung Piccadilly ein.

»So«, sagte Tommy, »und wo gehen wir jetzt hin?«

Die leise Spur von Beklommenheit in seinem Tonfall blieb dem scharfen Gehör von Miss Prudence Cowley (die in ihrem Freundeskreis aus unerfindlichen Gründen als »Tuppence« bekannt war) nicht verborgen. Sie legte sofort den Finger auf die Wunde.

»Tommy, du bist abgebrannt!«

»Nicht die Bohne«, behauptete Tommy wenig überzeugend. »Ich schwimme in Zaster.«

»Du warst schon immer ein miserabler Lügner«, sagte Tuppence streng, »auch wenn es dir damals gelungen ist, Sister Greenbank einzureden, der Arzt hätte dir Bier als Stärkungsmittel verschrieben, nur leider vergessen, das auf deiner Krankenkarte zu vermerken. Weißt du noch?«

Tommy gluckste.

»Na, und ob ich das noch weiß! Was ist die alte Schachtel fuchsig geworden, als sie das rausgefunden hat! Aber sie war schon keine üble Type, die alte Mutter Greenbank. Das gute alte Lazarett – ›ins Zivilleben entlassen‹, vermute ich mal, wie alles andere auch?«

Tuppence seufzte.

»Ja. Du auch?«

Tommy nickte.

»Vor zwei Monaten.«

»Abschiedssold?«, fragte Tuppence vorsichtig an.

»Ausgegeben.«

»Ach, Tommy!«

»Nein, altes Haus, nicht für zügellose Ausschweifungen. Schön wär’s! Ich weiß ja nicht, ob du dir bewusst bist, was das bloße Leben, das ganz gewöhnliche Feld-, Wald- und Wiesenleben, heutzutage so kostet, aber …«

»Mein lieber Junge«, unterbrach ihn Tuppence, »es gibt nichts, was ich über Lebenshaltungskosten nicht wüsste. Komm, wir gehen hier ins Lyons’, und jeder zahlt für sich. Fertig, aus!« Und Tuppence stieg vor ihm die Treppe hinauf.

Das Lokal war voll, und während sie auf der Suche nach einem Tisch herumwanderten, schnappten sie hier und da einzelne Gesprächsfetzen auf.

»Und wissen Sie, was? Wie ich ihr sagte, dass sie die Wohnung doch nicht haben könnte, da hat sie sich hingesetzt und losgeweint!« »Es war einfach ein Schnäppchen, meine Liebe! Exakt wie der, den Mabel Lewis aus Paris mitgebracht hat …«

»Komische Sachen, die man so zu hören bekommt«, murmelte Tommy. »Heute bin ich auf der Straße an zwei Burschen vorbeigegangen, die sich über eine gewisse Jane Finn unterhielten. Hast du je einen solchen Namen gehört?«

Aber gerade in dem Moment standen zwei ältere Damen auf und sammelten ihre Pakete ein, und Tuppence okkupierte geschickt einen der frei gewordenen Stühle.

Tommy bestellte Tee und Rosinenbrötchen. Tuppence bestellte Tee und Buttertoast.

»Und dass Sie den Tee ja in getrennten Kannen bringen!«, fügte sie streng hinzu.

Tommy nahm ihr gegenüber Platz. Jetzt ohne Hut, zeigte er einen dichten, tadellos glatt pomadisierten roten Schopf. Sein Gesicht war von einer sympathischen Hässlichkeit – ohne besondere Kennzeichen, aber unverwechselbar das Gesicht eines Gentleman und Sportsmanns. Sein brauner Anzug war gut geschnitten, hatte aber ganz entschieden schon bessere Tage gesehen.

Wie sie da zusammensaßen, waren sie das Inbild des modernen Paares. Tuppence konnte keinen Anspruch auf Schönheit erheben, aber in den elfenhaften Zügen ihres Gesichts mit dem entschlossenen Kinn und den großen, weit auseinanderstehenden Augen, die unter geraden schwarzen Brauen hervorsahen, lagen Charakter und Charme. Auf dem schwarzen Bubikopf trug sie eine kleine knallgrüne Toque, und ihr extrem kurzer und ziemlich abgetragener Rock offenbarte zwei ungewöhnlich wohlgeformte Waden. Ihre Erscheinung stellte einen tapferen Versuch zum Schicksein dar.

Endlich kam der Tee, und Tuppence raffte sich aus einem Anfall von Verinnerlichung auf und schenkte ein.

»Also dann«, sagte Tommy und biss herzhaft in ein Rosinenbrötchen, »bringen wir uns auf den neusten Stand. Und denk dran, ich hab dich seit damals im Lazarett, 1916, nicht mehr gesehen.«

»Schön.« Tuppence bediente sich großzügig vom Buttertoast. »Kurzbiographie Miss Prudence Cowley, fünfte Tochter von Erzdiakon Cowley von Little Missendell, Suffolk. Miss Cowley gab schon im ersten Kriegsjahr die Freuden (und Plagen) ihres Elternhauses auf und kam nach London, wo sie in einem Offizierslazarett den Dienst aufnahm. Erster Monat: spült täglich sechshundertachtundvierzig Teller. Zweiter Monat: rückt zum Abtrocknen obenerwähnter Teller auf. Dritter Monat: rückt zum Kartoffelschälen auf. Vierter Monat: rückt zum Portionieren von Brot und Butter auf. Fünfter Monat: rückt einen Stock höher zu den Pflichten eines Dienstmädchens mit Schrubber und Putzeimer auf. Sechster Monat: rückt zur Kantinenbedienung auf. Siebter Monat: rückt infolge eklatant ansprechenden Äußeren und ebensolcher Manieren zur Bedienung der Schwestern auf! Achter Monat: Karriere erleidet geringfügigen Rückschlag. Sister Bond hat Sister Westhavens Eier aufgegessen! Riesentrara! Schuld eindeutig beim Dienstmädchen! Unaufmerksamkeit in derlei wichtigen Dingen nicht streng genug zu ahnden: Zurück zu Schrubber und Eimer! Sic transit und so weiter! Neunter Monat: rückt zur Stationsschrubbkraft auf, in welcher Eigenschaft sie in Lieutenant Thomas Beresford (verbeug dich, Tommy!) einen Freund aus Kindertagen wiederfindet, den sie seit fünf langen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das Wiedersehen war herzergreifend! Zehnter Monat: wird von Oberin wegen Kinobesuchs in Begleitung eines Patienten, nämlich des obengenannten Lieutenant Thomas Beresford, gerügt. Elfter und zwölfter Monat: Putzmädchenpflichten mit vollem Erfolg wiederaufgenommen. Verlässt am Ende des Jahres das Lazarett mit Glanz und Gloria. Im Anschluss daran chauffierte die talentierte Miss Cowley nacheinander einen Lieferwagen, einen Lastkraftwagen und einen General. Letzterer war am angenehmsten. Es war ein sehr junger General!«

»Wer war der Kerl?«, erkundigte sich Tommy. »Absolut degoutant, wie diese Lamettaträger ständig zwischen Savoy und Kriegsministerium hin und her zu pendeln pflegten!«

»Der Name will mir momentan nicht einfallen«, gestand Tuppence. »Aber er stellte in gewissem Sinne den Höhepunkt meiner Karriere dar. Als Nächstes war ich Tippse in Staatsdiensten. Wir veranstalteten mehrere sehr vergnügliche Teegesellschaften. Ich hatte eigentlich vorgehabt, zur Abrundung meiner beruflichen Laufbahn noch Landhelferin, Postbotin und Busfahrerin zu werden – aber da kam mir der Waffenstillstand dazwischen! Viele Monate lang klammerte ich mich wie eine Klette an meinen Büroposten, doch ach, zuletzt wurde ich doch ausgekämmt. Seitdem bin ich auf Arbeitssuche. Und jetzt bist du dran.«

»In meiner Geschichte kommen nicht so viele Beförderungen vor«, sagte Tommy bedauernd. »Und erheblich weniger Abwechslung. Wie du weißt, bin ich damals wieder nach Frankreich zurück. Dann hat man mich nach Mesopotamien abkommandiert, und ich wurde zum zweiten Mal verwundet und kam dort in ein Lazarett. Dann blieb ich in Ägypten hängen, bis der Waffenstillstand kam, drehte dort noch eine Weile Däumchen und wurde schließlich, wie schon gesagt, aus der Armee entlassen. Und seit zehn langen, ermüdenden Monaten laufe ich mir die Hacken nach einer Stelle ab! Es gibt keine Stellen! Und selbst wenn’s welche gäbe, würde man mir keine geben! Wozu tauge ich schon? Was weiß ich vom Geschäftsleben? Gar nichts.«

Tuppence nickte düster.

»Wie steht’s mit den Kolonien?«, schlug sie vor.

Tommy schüttelte den Kopf.

»Die Kolonien wären mir nicht so recht – und ich bin mir absolut sicher, dass ich ihnen auch nicht recht wäre!«

»Reiche Verwandte?«

Wieder schüttelte Tommy den Kopf.

»Ach Tommy, nicht mal eine Großtante?«

»Ich hab einen alten Onkel, der in Moneten mehr oder weniger schwimmt, aber der kommt nicht infrage.«

»Warum nicht?«

»Wollte mich seinerzeit adoptieren. Hab dankend abgelehnt.«

»Ich meine, davon gehört zu haben«, sagte Tuppence langsam. »Du hattest es wegen deiner Mutter abgelehnt …«

Tommy errötete.

»Ja, es wäre ziemlich schofel gegenüber der alten Dame gewesen. Wie du weißt, war ich alles, was sie hatte. Der alte Knabe konnte sie nicht ausstehen – wollte mich von ihr trennen. Aus purer Gehässigkeit.«

»Deine Mutter ist tot, nicht?«, sagte Tuppence sanft.

Tommy nickte.

Tuppence’ große graue Augen verschleierten sich.

»Du bist ein anständiger Kerl, Tommy. Hab ich schon immer gewusst.«

»Quatsch!«, sagte Tommy hastig. »Tja, so sieht’s also mit mir aus. Ich steh kurz vor dem Strick.«

»Geht mir genauso! Ich hab so lange durchgehalten, wie ich konnte. Ich hab Klinken geputzt. Ich habe auf Annoncen geantwortet. Ich habe alles Menschenmögliche versucht, und noch ein bisschen extra. Ich hab gespart und geknausert und gedarbt! Aber es führt zu nichts. Ich werd wohl nach Hause zurückmüssen!«

»Willst du das nicht?«

»Natürlich nicht! Was sollen die Gefühlsduseleien? Vater ist ein Schatz – ich mag ihn furchtbar gern –, aber du machst dir keine Vorstellung, wie sehr er sich über mich aufregt! Er vertritt diese entzückende frühviktorianische Anschauung, kurze Röcke und Rauchen seien unmoralisch. Du kannst dir leicht denken, was für ein Pfahl in seinem Fleisch ich bin! Als ich kriegsbedingt auszog, hat er drei Kreuze gemacht. Du musst bedenken, wir sind zu Haus zu siebt. Es ist entsetzlich! Nichts wie Hausarbeit und Mütterkränzchen! Ich bin schon immer der Wechselbalg gewesen. Ich will nicht wieder zurück, aber – ach Tommy, was bleibt einem sonst denn noch übrig?«

Tommy schüttelte traurig den Kopf. Es entstand eine Pause, und dann platzte Tuppence heraus:

»Geld, Geld, Geld! Ich denke morgens, mittags und abends an Geld! Das ist bestimmt materialistisch von mir, aber so ist es nun mal!«

»Wem sagst du das«, pflichtete ihr Tommy aus tiefstem Herzen bei.

»Und ich habe mir auch über jede nur denkbare Methode, an welches zu kommen, den Kopf zerbrochen«, fuhr Tuppence fort. »Es gibt ja nur drei! Es zu erben, es zu heiraten oder es zu verdienen. Nummer eins scheidet aus. Ich habe keinerlei reiche betagte Verwandte. Was ich an Verwandtschaft habe, sitzt in irgendwelchen Heimen für abgehalfterte Damen! Ich helfe immer alten Omis über die Kreuzung und hebe alten Opis heruntergefallene Pakete wieder auf für den Fall, dass sie sich als exzentrische Millionäre entpuppen sollten. Aber noch nie hat mich jemand nach meinem Namen gefragt – und etliche von den Leutchen haben nicht einmal ›Danke schön‹ gesagt.«

Es entstand eine weitere Pause.

»Natürlich«, nahm Tuppence den Faden wieder auf, »ist Heirat noch meine beste Option. Ich habe bereits in sehr jungen Jahren beschlossen, reich zu heiraten. Kein vernünftiges Mädchen würde es da anders halten! Ich bin ja schließlich keine Romantikerin.« Sie schwieg kurz. »Jetzt komm schon, du kannst nicht behaupten, ich wäre eine Romantikerin«, fügte sie scharf hinzu.

»I wo«, pflichtete Tommy ihr hastig bei. »Niemand käme auf die Idee, dich mit Romantik in welche Verbindung auch immer zu bringen.«

»Das ist nicht besonders galant«, entgegnete Tuppence. »Aber ich will einfach mal annehmen, du meinst es nett. Na, und da hast du’s! Ich bin willens und bereit – aber ich lerne nie irgendwelche reichen Männer kennen! Alle Jungen, die ich kenne, sind haargenau so pleite wie ich.«

»Was ist mit dem General?«, erkundigte sich Tommy.

»Ich könnte mir denken, dass er in Friedenszeiten einen Fahrradladen führt«, erläuterte Tuppence. »Nein, es ist eben einfach so! Du könntest allerdings ein reiches Mädchen heiraten.«

»Mir geht’s genauso wie dir. Ich kenn auch keines.«

»Tut nichts zur Sache. Du kannst jederzeit eines kennenlernen. Wenn ich einen Mann in Pelzmantel aus dem Ritz rauskommen sehe, kann ich schlecht hinlaufen und sagen: ›Guter Mann, Sie sind reich. Ich würde Sie gern kennenlernen.‹«

»Regst du an, dass ich mit einer ähnlich gekleideten Frau so vorgehen sollte?«

»Sei nicht albern. Du trittst ihr auf den Fuß oder hebst ihr Taschentuch auf oder sonst was in der Art. Wenn sie merkt, dass du sie kennenlernen möchtest, fühlt sie sich geschmeichelt und richtet es irgendwie ein.«

»Du überschätzt meine männlichen Reize«, murmelte Tommy.

»In meinem Fall dagegen«, fuhr Tuppence unbeirrt fort, »würde der fragliche Millionär wahrscheinlich sein Heil in der Flucht suchen! Nein – Heiraten ist mit zu vielen Schwierigkeiten behaftet. Bleibt nur noch – Geld zu verdienen!«

»Wir haben’s versucht und sind kläglich gescheitert«, erinnerte Tommy sie.

»Wir haben alle orthodoxen Methoden versucht, ja. Aber angenommen, wir probieren es mal mit den unorthodoxen? Tommy, lass uns Abenteurer werden!«

»Klar doch«, entgegnete Tommy vergnügt. »Wie fangen wir’s an?«

»Das ist das Problem. Wenn wir es irgendwie schafften, bekannt zu werden, würden uns die Leute vielleicht dazu anheuern, Verbrechen für sie zu begehen.«

»Charmant«, bemerkte Tommy. »Besonders aus dem Mund einer Pfarrerstochter!«

»Im moralischen Sinne«, gab Tuppence zu bedenken, »läge die Schuld bei den Auftraggebern – nicht bei mir. Du musst doch zugeben, dass es ein Unterschied ist, ob man für sich selbst eine Diamantkette stiehlt oder dazu beauftragt wird, eine zu stehlen!«

»Wenn man dich schnappte, würde es nicht den geringsten Unterschied ausmachen!«

»Vielleicht nicht. Aber man wird mich nicht schnappen. Dazu bin ich viel zu gescheit.«

»Bescheidenheit war von jeher dein vorherrschendes Laster«, kommentierte Tommy.

»Keine Haarspaltereien. Jetzt sag schon, Tommy, sollen wir’s nicht machen? Wollen wir Geschäftspartner werden?«

»Eine Gesellschaft für die Entwendung von Diamantcolliers gründen?«

»Das war nur so als Beispiel. Gründen wir eine – wie nennt man das noch mal in der Buchhaltung?«

»Keine Ahnung. Hab keinerlei Erfahrung damit.«

»Ich schon – ich bin nur immer durcheinandergekommen und habe Einkünfte in die Sollspalte eingetragen und umgekehrt – also haben sie mich vor die Tür gesetzt. Ah, jetzt weiß ich’s wieder – eine Wagnisgemeinschaft! Ich fand es apart, inmitten von staubtrockenen, nüchternen Zahlen auf eine so romantische Bezeichnung zu stoßen. Sie hat so ein elisabethanisches Flair an sich – da muss man irgendwie an Galeonen und Dublonen denken. Eine Wagnisgemeinschaft!«

»Die als Junge-Abenteurer-GmbH firmieren soll? Ist es das, was dir vorschwebt, Tuppence?«

»Lach du nur – ich meine, das könnte eine vielversprechende Idee sein.«

»Und wie würdest du an deine Auftraggeber in spe rankommen?«

»Durch Werbung«, erwiderte Tuppence wie aus der Pistole geschossen. »Hast du Papier und einen Stift? Scheinen Männer irgendwie immer dabeizuhaben. So wie wir Haarnadeln und Puderquaste.«

Tommy reichte ihr ein ziemlich ramponiertes grünes Notizbuch, und Tuppence fing eifrig an zu schreiben.

»Sollen wir anfangen mit: ›Junger Offizier, im Krieg zweimal verwundet …‹«

»Mit Sicherheit nicht!«

»Ganz, wie du willst, mein Lieber. Aber ich kann dir versichern, dass genau so was das Herz eines ältlichen Fräuleins anrühren könnte, und vielleicht würde sie dich adoptieren, und dann bestünde für dich keinerlei Notwendigkeit mehr, ein junger Abenteurer zu sein.«

»Ich will nicht adoptiert werden.«

»Ja, ich hatte ganz vergessen, dass du dagegen voreingenommen bist. Ich hab dich doch nur auf den Arm genommen! Die Zeitungen sind gerammelt voll von solchen Sachen. Hör zu – wie klingt das? ›Zwei junge Abenteurer zu mieten. Zu allem und überall einsatzbereit. Honorar muss stimmen.‹ Kann nicht schaden, das gleich am Anfang klarzustellen. Dann könnten wir noch hinzufügen: ›Kein vernünftiges Angebot wird abgelehnt‹ – wie das bei Wohnungen und gebrauchten Möbeln immer dabeisteht.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass wir auf eine solche Anzeige hin ausschließlich hochgradig unvernünftige Angebote bekämen!«

»Tommy! Du bist ein Genie! Das ist ja noch viel schicker! ›Kein unvernünftiges Angebot wird abgelehnt – solange Honorar stimmt.‹ Wie wär’s damit?«

»Ich würde nicht zweimal vom Honorar sprechen. Das sieht zu sehr danach aus, als hätten wir’s nötig.«

»So nötig, wie ich’s habe, kann’s gar nicht aussehen. Aber vielleicht hast du ja recht. Jetzt lese ich’s dir im Zusammenhang vor: ›Zwei junge Abenteurer zu mieten. Zu allem und überall einsatzbereit. Honorar muss stimmen. Kein unvernünftiges Angebot wird abgelehnt.‹ Was wäre dein erster Gedanke, wenn du das lesen würdest?«

»Mein erster Gedanke wäre: Entweder ist das ein Jux, oder das hat ein Irrer inseriert.«

»Das ist nicht halb so geisteskrank wie etwas, was ich heute Morgen gelesen habe und mit ›Petunia‹ anfing und mit ›Goldjunge‹ unterschrieben war.« Sie riss das Blatt heraus und reichte es Tommy. »Da hast du’s. Die Times, würde ich sagen. Zuschrift an Chiffre soundso. Ich schätze, das dürfte um die fünf Shilling kosten. Hier hast du eine Half Crown als meinen Anteil.«

Tommy starrte nachdenklich auf das Blatt Papier. Sein Gesicht glühte noch ein bisschen röter.

»Sollen wir das wirklich versuchen?«, sagte er endlich. »Sollen wir, Tuppence? Einfach so aus Jux?«

»Tommy, du bist ein Pfundskerl! Ich hab’s gar nicht anders erwartet. Stoßen wir auf den Erfolg an!« Sie verteilte einen kalten Rest Tee auf die zwei Tassen.

»Auf unsere Wagnisgemeinschaft, und möge sie florieren!«

»Auf die Junge-Abenteurer-GmbH!«, entgegnete Tommy.

Sie setzten die Tassen wieder ab und lachten etwas unsicher. Tuppence stand auf.

»Meine herrschaftliche Suite im Wohnheim ruft.«

»Und für mich wäre es vielleicht an der Zeit, zum Ritz zurückzuschlendern«, pflichtete Tommy ihr grinsend bei. »Wo treffen wir uns wieder? Und wann?«

»Morgen zwölf Uhr Mittag. U-Bahnstation Piccadilly. Wäre Ihnen das recht, Sir?«

»Ich bin Herr meiner Zeit«, entgegnete Seine Lordschaft Mr Beresford.

»Bis dann also.«

»Ade, altes Haus.«

Die zwei jungen Leute entfernten sich in entgegengesetzten Richtungen. Tuppence’ Wohnheim befand sich in dem Teil Londons, der euphemistisch als »Süd-Belgravia« bezeichnet wurde. Aus Gründen der Sparsamkeit nahm sie nicht den Bus.

Sie hatte den St. James’ Park zur Hälfte durchquert, als eine Männerstimme hinter ihr sie zusammenfahren ließ.

»Verzeihen Sie«, sagte die Stimme, »aber dürfte ich Sie einen Augenblick sprechen?«

2Mr Whittingtons Angebot

Tuppence drehte sich abrupt um, aber die Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, blieben unausgesprochen, denn die Erscheinung und das Auftreten des Mannes bestätigten ihre erste und natürlichste Annahme nicht. Sie zögerte. Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte der Mann hastig:

»Ich darf Ihnen versichern, dass ich Ihnen nicht nahetreten möchte.«

Tuppence glaubte ihm. Obwohl er ihr missfiel und sie ihm instinktiv misstraute, war sie geneigt, ihn von dem bestimmten Motiv, das sie ihm anfänglich unterstellt hatte, freizusprechen. Sie musterte ihn kritisch. Er war ein großer, kräftiger Mann mit glatt rasiertem Gesicht und Hängebacken. Er hatte kleine listige Augen, die ihrem forschenden Blick auswichen.

»Nun, worum geht’s?«, fragte sie.

Der Mann lächelte.

»Ich konnte nicht umhin, einen Teil Ihrer Unterhaltung mit dem jungen Gentleman im Lyons’ mitzuhören.«

»Und, was war damit?«

»Nichts, nur dass ich glaube, Ihnen von einem gewissen Nutzen sein zu können.«

Eine weitere Schlussfolgerung drängte sich Tuppence auf.

»Sie sind mir gefolgt?«

»Ich war so frei.«

»Und in welcher Hinsicht glauben Sie, mir von Nutzen sein zu können?«

Der Mann zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche und überreichte sie ihr mit einer Verbeugung.

Tuppence nahm sie und sah sie sich gründlich an. Sie trug die Aufschrift »Mr Edward Whittington«. Unter dem Namen standen die Worte »Esthonia Glassware Co.« und die Adresse eines Büros in der City. Mr Whittington sprach weiter:

»Wenn Sie die Güte hätten, mich morgen Vormittag um elf Uhr aufzusuchen, könnte ich Ihnen mein Angebot im Detail darlegen.«

»Um elf?«, sagte Tuppence zweifelnd.

»Um elf.«

Tuppence gelangte zu einem Entschluss.

»Einverstanden. Ich werde da sein.«

»Ich danke Ihnen. Guten Abend.«

Er lüftete schwungvoll den Hut und entfernte sich. Tuppence blieb eine Zeit lang da stehen und starrte ihm nach. Dann vollführte sie eine kuriose Bewegung mit den Schultern, einem Terrier nicht unähnlich, der sich schüttelt.

»Das Abenteuer beginnt«, murmelte sie vor sich hin. »Was ich wohl für ihn tun soll? Sie haben etwas an sich, Mr Whittington, was mir kein bisschen gefällt. Allerdings habe ich nicht die geringste Angst vor Ihnen. Wie ich schon zu anderer Gelegenheit sagte – und zweifellos wieder sagen werde –, kann die kleine Tuppence durchaus auf sich aufpassen, verbindlichen Dank auch!«

Und mit einem knappen, entschiedenen Kopfnicken marschierte sie flotten Schritts weiter. Nach zusätzlichem Nachdenken bog sie jedoch von der direkten Route ab und betrat ein Postamt. Dort dachte sie, ein Telegrammformular in der Hand, noch ein paar weitere Augenblicke lang nach. Der Gedanke an möglicherweise umsonst ausgegebene fünf Shilling trieb sie aber zum Handeln an, und sie beschloss, die Vergeudung von neun Pence zu riskieren.

Die gespreizte Feder und zähe schwarze Tunke, die ein wohlmeinendes Postministerium bereitstellte, keines Blickes würdigend, holte Tuppence den Bleistift hervor, den sie Tommy nicht wiedergegeben hatte, und schrieb rasch: »Annonce nicht aufgeben. Näheres morgen.« Sie adressierte das Telegramm an Tommy, unter der Adresse des Klubs, aus dem er in einem Monat würde ausscheiden müssen, sofern ihn nicht ein unverhoffter warmer Regen in den Stand setzte, seinen nächsten Jahresbeitrag zu entrichten.

»Er könnte es noch rechtzeitig bekommen«, murmelte sie. »Auf jeden Fall ist es einen Versuch wert.«

Nachdem sie das Formular am Schalter abgegeben hatte, machte sie sich rasch auf den Heimweg und schaute nur noch kurz beim Bäcker vorbei, um sich für drei Pence frische Brötchen zu holen.

Wenig später saß sie in ihrem winzigen Kabuff unterm Dach, mampfte Rosinenbrötchen und sann über die Zukunft nach. Was war die Esthonia Glassware Co., und wofür in aller Welt mochte sie Tuppence’ Dienste benötigen? Ein Schauder gespannter Erregung durchrieselte sie. Auf alle Fälle hatte sich das drohende Landpfarrhaus wieder in den Hintergrund verzogen. Der morgige Tag verhieß neue Aussichten.

Lange konnte Tuppence in dieser Nacht nicht einschlafen, und als es ihr endlich doch gelang, träumte sie, dass Mr Whittington sie dazu abgestellt hatte, einen Stapel von Esthonia-Glaswaren zu spülen, die eine unerklärliche Ähnlichkeit mit Krankenhausgeschirr aufwiesen!

Es war fünf vor elf, als Tuppence den Gebäudekomplex erreichte, in dem sich die Geschäftsstelle der Esthonia Glassware Co. befand. Vor der Zeit zu erscheinen hätte übereifrig ausgesehen. Also beschloss Tuppence, bis zum Ende der Straße zu gehen und wieder zurück. Schlag elf betrat sie das Gebäude. Die Esthonia Glassware Co. saß im obersten Stockwerk. Es gab einen Aufzug, aber Tuppence entschied sich für die Treppe.

Leicht außer Atem blieb sie vor der Tür stehen, auf deren Milchglasscheibe der Name »Esthonia Glassware Co.« gemalt stand.

Tuppence klopfte an. Auf das »Herein!« hin drückte sie die Klinke herunter und trat in ein kleines, ziemlich schmutziges Büro.

Ein mittelalter Sekretär kletterte von seinem hohen Hocker, der vor einem Pult nah beim Fenster stand, und kam mit einem fragenden Blick auf sie zu.

»Ich habe einen Termin bei Mr Whittington«, sagte Tuppence.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Er ging zu einer Zwischentür, auf der »Privat« stand, klopfte an, öffnete und ließ Tuppence eintreten.

Mr Whittington saß an einem großen, mit Papieren übersäten Schreibtisch. Tuppence sah sich in ihrem ersten Eindruck bestätigt: Mit Mr Whittington stimmte irgendetwas nicht. Seine Kombination aus aalglatter Wohlgenährtheit und unstetem Blick war wenig ansprechend.

Er sah auf und nickte.

»Sie sind also gekommen. Das ist schön. Nehmen Sie doch Platz.«

Tuppence setzte sich auf den Besucherstuhl. An diesem Vormittag sah sie besonders klein und bescheiden aus. Sie saß mit sittsam niedergeschlagenen Augen da, während Mr Whittington geschäftig mit seinen Papieren raschelte. Schließlich schob er sie beiseite und beugte sich über den Schreibtisch nach vorn.

»Und jetzt, meine liebe junge Dame, zum Geschäftlichen.« Sein rundes Gesicht ging lächelnd noch mehr in die Breite. »Sie suchen Arbeit? Schön, ich kann Ihnen Arbeit anbieten. Was würden Sie zu hundert Pfund bar auf die Hand zuzüglich Spesen sagen?« Mr Whittington lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hakte die Daumen in die Armöffnungen seiner Weste.

Tuppence musterte ihn misstrauisch.

»Und die Natur dieser Arbeit …?«

»Nominell – rein nominell! Eine Vergnügungsreise, mehr nicht.«

»Wohin?«

Wieder lächelte Mr Whittington.

»Nach Paris.«

»Aha«, sagte Tuppence nachdenklich. Zu sich selbst sagte sie: Wenn Vater davon erfahren würde, bekäme er natürlich einen Anfall! Aber in der Rolle des liederlichen Verführers kann ich mir Mr Whittington irgendwie nicht vorstellen.

»Ja«, fuhr Whittington fort. »Was könnte angenehmer sein? Die Uhr um ein paar Jahre zurückzudrehen – bestimmt nicht mehr als ein paar – und in eines dieser bezaubernden pensionnats de jeunes filles zurückzukehren, an denen Paris so reich ist …«

Tuppence fiel ihm ins Wort:

»In ein pensionnat?«

»Exakt. In Madame Colombiers Institut in der Avenue de Neuilly, um genau zu sein.«

Der Name war Tuppence ein Begriff. Nichts hätte exklusiver sein können. Mehrere amerikanische Freundinnen von ihr waren dort gewesen. Sie war verdutzter denn je.

»Sie wollen, dass ich auf Madame Colombiers Pensionat gehe? Und für wie lange?«

»Hängt davon ab. Vielleicht drei Monate.«

»Und das ist alles? Es gibt keine weiteren Bedingungen?«

»Nicht die geringsten. Sie würden dort natürlich in der Rolle meines Mündels auftreten, und Sie müssten vorübergehend alle Kontakte zu Freundinnen und Bekannten abbrechen. Ich müsste Sie bis auf weiteres um absolutes Stillschweigen bitten. Apropos, Sie sind doch Engländerin, oder?«

»Ja.«

»Und trotzdem sprechen Sie mit einem leichten amerikanischen Akzent?«

»Meine beste Freundin im Lazarett war ein amerikanisches Mädchen. Den Akzent habe ich vermutlich von ihr übernommen. Ich kann ihn aber leicht wieder ablegen.«

»Im Gegenteil, es dürfte die Sache einfacher machen, wenn Sie sich für eine Amerikanerin ausgeben. Ein fiktives Vorleben in England könnte schwieriger zu verkaufen sein. Ja, ich glaube, das wäre entschieden besser. Dann …«

»Einen Augenblick, Mr Whittington! Sie scheinen mein Einverständnis für gegeben zu halten.«

Whittington machte ein überraschtes Gesicht.

»Sie ziehen doch wohl nicht in Betracht abzulehnen? Ich kann Ihnen versichern, dass Madame Colombiers Pensionat eine überaus vornehme und achtbare Institution ist. Und die Konditionen sind äußerst großzügig.«

»Exakt«, sagte Tuppence. »Genau das ist es. Die Konditionen sind fast zu großzügig, Mr Whittington. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich Ihnen so viel Geld wert sein kann.«

»Nein?«, sagte Whittington leise. »Schön, dann werde ich es Ihnen erklären. Ich könnte zweifellos jemand anders für erheblich weniger bekommen. Was ich zu zahlen bereit bin, ist die Gage für eine junge Dame, die genügend Intelligenz und Geistesgegenwart besitzt, um ihre Rolle gut zu spielen, und darüber hinaus so vernünftig ist, nicht zu viele Fragen zu stellen.«

Tuppence deutete ein Lächeln an. Der Punkt ging wohl an Mr Whittington.

»Da wäre noch etwas. Bislang ist von Mr Beresford nicht die Rede gewesen. Was wäre denn seine Aufgabe?«

»Mr Beresford?«

»Mein Geschäftspartner«, sagte Tuppence würdevoll. »Sie haben uns gestern zusammen gesehen.«

»Ach so, ja. Aber seine Dienste, fürchte ich, werden wir nicht benötigen.«

»Dann war’s das!« Tuppence stand auf. »Entweder beide oder keiner. Tut mir leid, aber so ist das. Einen guten Tag, Mr Whittington.«

»Warten Sie einen Moment! Sehen wir doch mal, ob sich das nicht irgendwie regeln lässt. Setzen Sie sich wieder, Miss …« Er legte eine fragende Pause ein.

Als Tuppence sich an den Erzdiakon erinnerte, zwackte sie kurz das Gewissen. Hastig nannte sie den ersten Namen, der ihr in den Sinn kam.

»Jane Finn«, sagte sie schnell und bekam dann angesichts der Wirkung dieser zwei schlichten Wörter den Mund nicht wieder zu.

Aus Whittingtons Miene war jede Spur von Leutseligkeit verschwunden. Er war violett vor Wut geworden, und an seiner Stirn traten die Adern hervor. Und hinter alldem spähte etwas wie ungläubiger Schrecken hervor. Er beugte sich nach vorn und zischte hasserfüllt:

»So läuft das bei Ihnen also, ja?«

Wenngleich völlig verdattert, bewahrte Tuppence einen kühlen Kopf. Sie hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, wovon er redete, aber sie besaß einen wachen Verstand und legte den allergrößten Wert darauf, sich ja keine Blöße zu geben.

Whittington schimpfte weiter:

»Treiben die ganze Zeit Ihre Spielchen mit mir, wie die Katze mit der Maus, ja? Wussten die ganze Zeit, wozu ich Sie brauchte, aber haben weiter Komödie gespielt! So ist es doch, hm?« Allmählich normalisierte sich seine Körpertemperatur wieder. Die Röte schwand langsam aus seinem Gesicht. Er musterte sie scharf. »Wer hat geplaudert? Rita?«

Tuppence schüttelte den Kopf. Sie wusste zwar nicht, wie lange sie dieses Missverständnis noch unaufgeklärt aufrechterhalten konnte, aber sie ahnte, dass es wichtig war, keine Rita dieser Welt da hineinzuziehen.

»Nein«, erwiderte sie vollkommen wahrheitsgemäß. »Rita weiß nichts von mir.«

Seine Augen bohrten sich weiter wie Sonden in sie.

»Wie viel wissen Sie?«, stieß er hervor.

»Herzlich wenig«, antwortete Tuppence und stellte zu ihrer Genugtuung fest, dass dies Whittingtons Unruhe nicht etwa beschwichtigte, sondern sogar noch mehrte. Hätte sie prahlerisch behauptet, eine ganze Menge zu wissen, wären ihm vielleicht eher Zweifel gekommen.

»Jedenfalls«, fauchte Whittington, »wussten Sie genug, um hier hereinspaziert zu kommen und mir diesen Namen an den Kopf zu knallen!«

»Ich könnte ja wirklich so heißen«, gab Tuppence zu bedenken.

»Es ist ja auch so wahrscheinlich, dass es zwei Mädchen mit einem derartigen Namen gibt!«

»Oder er könnte mir auch rein zufällig eingefallen sein«, fuhr Tuppence fort, vom Erfolg der Wahrhaftigkeit berauscht.

Mr Whittington schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.

»Schluss mit den Possen! Wie viel wissen Sie? Und wie viel verlangen Sie?«

Die letzten fünf Wörter übten auf Tuppence’ Phantasie, insbesondere nach ihrem kargen Frühstück und der gestrigen Abendmahlzeit aus Rosinenbrötchen mit nichts, eine ungemein beflügelnde Wirkung aus. Ihre momentane Rolle schlug zwar eher ins gewagte als ins wagnisgemeinschaftliche Fach, aber sie übersah durchaus nicht die Möglichkeiten, die sie verhieß. Sie richtete sich auf und lächelte mit der Miene derer, die die Situation vollkommen unter Kontrolle hat.

»Mein lieber Mr Whittington«, sagte sie, »lassen Sie uns doch unsere Karten auf den Tisch legen. Und regen Sie sich, bitte, nicht so auf! Sie hörten gestern, wie ich meine Absicht erklärte, mich mit Witz und Wagemut durchs Leben zu schlagen. Dass es mir am nötigen Witz nicht mangelt, glaube ich soeben unter Beweis gestellt zu haben! Ich gebe zu, Kenntnis von einem gewissen Namen zu haben, aber möglicherweise ist mein diesbezügliches Wissen damit auch schon erschöpft.«

»Ja – und möglicherweise auch nicht«, knurrte Whittington.

»Sie versteifen sich darauf, mich falsch einzuschätzen«, sagte Tuppence und seufzte nachsichtig.

»Ich sage es noch einmal«, sagte Whittington verärgert: »Schluss mit den Possen, und kommen Sie endlich zur Sache! Ich falle auf Ihre Nummer von der Unschuld vom Lande nicht herein. Sie wissen eine ganze Menge mehr, als Sie zuzugeben bereit sind.«

Tuppence hielt einen Augenblick inne, um ihre eigene Findigkeit zu bewundern, und sagte dann leise:

»Ich würde Ihnen ungern widersprechen, Mr Whittington.«

»Also kommen wir zur üblichen Frage: Wie viel?«

Tuppence steckte in einer Zwickmühle. Bis dahin hatte sie Whittington mit uneingeschränktem Erfolg hinters Licht geführt, aber jetzt eine eklatant unrealistische Forderung zu stellen hätte sein Misstrauen wecken können. Da schoss ihr eine Idee durch den Kopf.

»Angenommen, wir einigen uns zunächst auf eine kleine Anzahlung und vertagen die detaillierte Besprechung dieses Themas auf einen späteren Zeitpunkt?«

Whittington warf ihr einen bitterbösen Blick zu.

»Erpressung, hm?«

Tuppence lächelte hold.

»Nicht doch! Sagen wir, Honorarvorschuss auf noch zu erbringende Dienstleistungen?«

Whittington grunzte.

»Wissen Sie«, erklärte Tuppence sanft, »Geld bedeutet mir nicht sonderlich viel!«

»Sie sind wirklich das Letzte!«, knurrte Whittington mit etwas wie widerwilliger Bewunderung. »Sie haben mich nach Strich und Faden reingelegt. Ich hatte Sie für eine kleine graue Maus mit gerade eben genügend Grips für meine Zwecke gehalten.«

»Das Leben«, sinnierte Tuppence, »steckt voller Überraschungen.

»Wie dem auch sei«, fuhr Whittington fort, »irgendjemand hat geschwatzt. Rita, sagen Sie, war es nicht. War es … Ja, herein?«

Der Sekretär trat nach seinem diskreten Anklopfen ins Zimmer und legte einen Zettel neben den aufgestützten Ellbogen seines Chefs.

»Gerade für Sie eingegangenes Telefonat, Sir.«

Whittington hob das Blatt auf und las es. Seine Stirn umwölkte sich.

»Ist gut, Brown. Sie können gehen.«

Der Sekretär verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Whittington wandte sich wieder an Tuppence.

»Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit wieder. Jetzt habe ich zu tun. Hier haben Sie erst einmal fünfzig.«

Er blätterte rasch ein paar Banknoten hin und schob sie Tuppence über den Tisch zu, dann stand er auf, sichtlich bemüht, sie zum Gehen zu bewegen.

Das Mädchen zählte die Scheine mit geschäftsmäßiger Miene nach, verwahrte sie in ihrer Handtasche und stand dann auf.

»Einen guten Tag, Mr Whittington«, sagte sie höflich. »Oder au revoir, wie ich wohl besser sagen sollte.«

»Genau. Au revoir!« Whittington schien fast seine Leutseligkeit wiedergefunden zu haben – eine Verwandlung, die in Tuppence eine leichte Beklommenheit weckte. »Au revoir, meine kluge und charmante junge Dame!«

Tuppence eilte leichtfüßig die Treppe hinunter. Sie war von einem heftigen Hochgefühl erfasst. Die Uhr an einem Nachbargebäude zeigte fünf vor zwölf an.

»Bereiten wir Tommy doch eine Überraschung!«, murmelte Tuppence und winkte einem Taxi.

Die Droschke hielt vor der U-Bahnstation. Tommy stand direkt im Eingang. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er herbeieilte, um Tuppence beim Aussteigen zu helfen. Sie lächelte ihn strahlend an und bat ihn mit leicht affektierter Stimme:

»Bezahl den Burschen, sei so gut, alter Knabe. Ich habe nichts Kleineres als einen Fünf-Pfund-Schein dabei!«

3Ein Rückschlag

Der Augenblick wurde nicht ganz so triumphal, wie er es eigentlich verdient hätte. Zunächst einmal waren Tommys Barmittel etwas begrenzt. Am Ende bekam man das Fahrgeld zusammen (die Dame entsann sich zum Glück eines irgendwo versteckten Zwei-Pence-Stücks), und der Fahrer konnte, das bunte Sammelsurium von Kleingeld noch immer in der Hand, dazu bewogen werden weiterzufahren, allerdings erst nach einer letzten, knurrigen Frage, was der Herr eigentlich glaubte, was er ihm da gab.

»Ich glaube, du hast ihm zu viel gezahlt, Tommy«, sagte Tuppence mit harmloser Miene. »Er will dir anscheinend was davon zurückgeben.«

Möglicherweise war es letztere Bemerkung, die den Fahrer zur Abfahrt veranlasste.

»Also«, sagte Mr Beresford, endlich in der Lage, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen, »was zum – Donnerlittchen hast du dir dabei gedacht, ein Taxi zu nehmen?«

»Es war so spät geworden, und ich wollte dich nicht warten lassen«, sagte Tuppence friedfertig.

»Nicht – warten – lassen! Allmächtiger, ich geb’s auf!«, sagte Mr Beresford.

»Und ich habe wirklich und wahrhaftig«, fuhr Tuppence fort und machte dabei sehr große Augen, »nichts Kleineres als einen Fünf-Pfund-Schein dabei.«

»Den Teil hast du sehr glaubwürdig vorgetragen, altes Haus, aber der Bursche hat’s dir trotzdem nicht abgenommen – nicht eine Sekunde lang!«

»Nein«, sagte Tuppence nachdenklich, »er hat mir nicht geglaubt. Das ist das Komische daran, wenn man die Wahrheit sagt. Kein Mensch glaubt einem. Das ist mir heute Vormittag bewusst geworden. Jetzt gehen wir zum Lunch. Wie wär’s mit dem Savoy?«

Tommy grinste.

»Wie wär’s mit dem Ritz?«

»Wenn ich’s mir recht überlege, wäre ich eher für was auf Piccadilly. Liegt näher. Dann brauchen wir nicht wieder ein Taxi zu nehmen. Jetzt komm.«

»Ist das eine neue Sorte von Humor? Oder bist du wirklich übergeschnappt?«, erkundigte sich Tommy.

»Letztere Vermutung ist die zutreffende. Ich bin zu Geld gekommen, und der Schock war zu viel für mich! Bei dieser bestimmten Form von psychischer Störung empfiehlt ein namhafter Arzt die unbegrenzte Einnahme von Horsd’œuvres, Hummer à l’américaine, Hähnchen Newberg und Pfirsich Melba! Los, besorgen wir uns die Sachen!«

»Tuppence, altes Mädchen, was ist denn wirklich über dich gekommen?«

»O du Kleingläubiger!« Tuppence riss ihre Handtasche auf. »Schau, hier und hier und hier!«

»Meine Liebe, wedle nicht so offen mit Pfundscheinen herum!«

»Das sind keine Pfundscheine. Die sind fünfmal so gut, und der hier sogar zehnmal.«

Tommy stöhnte.

»Ich muss mich, ohne es zu merken, irgendwie betrunken haben. Träume ich, Tuppence, oder gewahre ich wirklich eine große Menge Fünf-Pfund-Scheine, die auf Unheil herausfordernde Weise durch die Gegend geschwenkt werden?«

»So ist es, mein König! Kommst du jetzt mit zum Lunch?«

»Ich geh mit dir überall hin! Aber was hast du angestellt? Eine Bank ausgeraubt?«

»Alles zu seiner Zeit. Piccadilly Circus ist wirklich ein grässlicher Ort! Da kommt gerade ein riesiger Bus direkt auf uns zugedonnert. Es wäre entsetzlich, wenn er die Fünf-Pfund-Scheine totführe!«

»In den Grill Room?«, fragte Tommy, als sie den gegenüberliegenden Bürgersteig unbeschadet erreicht hatten.

»Das Restaurant oben ist teurer«, hielt Tuppence dagegen.

»Das wäre eine krasse, verwerfliche Extravaganz. Komm mit unten rein!«

»Bist du dir auch sicher, dass ich hier all die Dinge bekomme, die ich haben will?«

»Dieses äußerst unbekömmliche Menü, das du gerade umrissen hast? Natürlich, alles – oder zumindest so viel, wie du davon verträgst.«

Als sie hochherrschaftlich inmitten der vielen Horsd’œuvres saßen, die sich Tuppence erträumt hatte, sagte Tommy, außerstande, seine aufgestaute Neugier noch länger einzudämmen: »Und jetzt erzähl!«

Und Miss Cowley erzählte.

»Das Komischste ist«, sagte sie abschließend, »dass ich mir den Namen Jane Finn wirklich so, aus dem Stegreif, ausgedacht habe! Meinen richtigen wollte ich wegen meines armen Vaters nicht angeben – für den Fall, dass ich in etwas Dubioses hineinschlittern sollte.«

»Das mag schon sein«, sagte Tommy langsam. »Aber ausgedacht hast du ihn dir nicht.«

»Was?«

»Nein, den habe ich dir gesagt. Erinnerst du dich nicht, dass ich dir gestern erzählt habe, ich hätte zufällig mitgehört, wie sich zwei Leute über eine Frau namens Jane Finn unterhielten? Deswegen ist dir der Name so schnell eingefallen.«

»Stimmt. Jetzt erinnere ich mich. Wie ausgesprochen merkwürdig …« Tuppence’ Stimme verebbte. Plötzlich fuhr sie zusammen. »Tommy!«

»Ja?«

»Wie sahen sie aus, die zwei Passanten von gestern?«

Tommy runzelte die Stirn, während er in seinem Gedächtnis kramte.

»Einer war so ein großer dicker Bursche. Bartlos, meine ich – und brünett.«

»Das isser!«, stieß Tuppence mit etwas schludriger Aussprache aus. »Das ist Whittington! Und wie sah der andere aus?«

»Weiß ich nicht mehr. Ich hab nicht besonders auf ihn geachtet. Es war eigentlich nur der absonderliche Name, der mir aufgefallen ist.«

»Und da sagen die Leute, es gäbe keine Zufälle!« Vergnügt nahm Tuppence ihre pêche Melba in Angriff.

Doch Tommy war ernst geworden.

»Hör mal, Tuppence, altes Mädchen, wo soll das alles noch hinführen?«

»Zu weiterem Geld«, erwiderte seine Kumpanin.

»Das ist mir klar. Du hast überhaupt nichts anderes im Kopf. Was ich meine, ist: Wie soll der nächste Schritt aussehen? Wie willst du das Spiel weiter in Gang halten?«

»Ach so!« Tuppence legte ihren Dessertlöffel hin. »Du hast recht, Tommy, das ist eine knifflige Frage.«

»Ich meine, schließlich kannst du ihn nicht unbegrenzt lange bluffen. Früher oder später verplapperst du dich garantiert. Und überhaupt würde ich nicht beschwören, dass das nicht strafbar ist – du weißt schon, Erpressung.«

»Unfug. Erpressung ist, wenn man sagt: Geld her, oder ich erzähl’s weiter. Nun gibt es aber nichts, was ich weitererzählen könnte, weil ich eigentlich gar nichts weiß.«

»Hm«, sagte Tommy zweifelnd. »Wie dem auch sei – wie gehen wir jetzt weiter vor? Heute Vormittag hatte Whittington es eilig, dich loszuwerden, aber das nächste Mal wird er schon etwas mehr wissen wollen, ehe er sich von weiterem Geld trennt. Er wird wissen wollen, wie viel du genau weißt und wie du an diese Informationen gelangt bist, und eine ganze Menge Dinge mehr, auf die du keine Antworten hast. Was machst du dann?«

Tuppence zog die Brauen zusammen.

»Wir müssen nachdenken. Bestell türkischen Mokka, Tommy. Regt die Gehirntätigkeit an. Ach herrje, was habe ich für Unmengen gegessen!«

»Du hast einem Schwein alle Ehre gemacht! Ich übrigens auch, wenngleich ich mir schmeichle, bei der Zusammenstellung meiner Speisenfolge vernünftiger als du vorgegangen zu sein. Zwei Kaffee, bitte.« (Dies an den Kellner gerichtet.) »Einmal türkisch, einmal französisch.«

Tuppence trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken und mit gedankenverlorener Miene, und als Tommy sie ansprach, fuhr sie ihm über den Mund.

»Sei still! Ich denke nach.«

»Ich höre förmlich, wie es rattert!«, sagte Tommy und verstummte.

»So!«, sagte Tuppence endlich. »Ich habe einen Plan. Offensichtlich müssen wir mehr Licht in die ganze Sache bringen.«

Tommy spendete Beifall.

»Spar dir den Spott! Mehr erfahren können wir nur durch Whittington. Wir müssen herausfinden, wo er wohnt, was er macht – kurzum: ihn beschatten! So – ich kann’s nicht machen, weil er mich kennt, aber dich hat er nur ein, zwei Minuten lang im Lyons’ gesehen. Nicht wahrscheinlich, dass er dich wiedererkennt. Schließlich sieht ein junger Mann aus wie der andere.«

»Ich weise diese Behauptung aufs entschiedenste zurück. Durch meine ansprechenden Züge und meine vornehme Erscheinung würde ich zweifelsfrei aus jeder Menge herausstechen.«

»Mein Plan lautet folgendermaßen«, fuhr Tuppence unbeirrt fort. »Ich gehe morgen allein zu ihm. Ich halte ihn wieder hin, so wie heute. Es spielt keine Rolle, wenn ich nicht direkt weiteres Geld von ihm bekomme. Mit fünfzig Pfund müssten wir schon ein paar Tage hinkommen.«

»Wenn nicht noch länger!«

»Du wartest draußen. Wenn ich wieder rauskomme, spreche ich dich nicht an für den Fall, dass er aus dem Fenster schaut. Aber ich bringe mich irgendwo in der Nähe in Stellung, und wenn er aus dem Gebäude herauskommt, lasse ich ein Taschentuch fallen oder so was in der Art, und los geht’s.«

»Was geht los?«

»Du folgst ihm natürlich, du Dussel! Nun, was hältst du von der Idee?«

»Das klingt wie aus irgendeinem Buch. Irgendwie habe ich den Verdacht, dass man sich im wirklichen Leben ziemlich idiotisch vorkommt, stundenlang auf der Straße herumzustehen und Däumchen zu drehen. Und die Leute werden sich fragen, was ich da eigentlich treibe.«

»Nicht in der City. Da haben es alle furchtbar eilig. Wahrscheinlich wird dich überhaupt niemand bemerken.«

»Das ist schon das zweite Mal, dass du eine solche Bemerkung machst. Aber egal, ich verzeih dir. Und überhaupt wird’s wahrscheinlich ein großer Spaß. Was hast du heute Nachmittag vor?«

»Tja«, sagte Tuppence zögernd. »Eigentlich hatte ich an Hüte gedacht! Oder vielleicht Seidenstrümpfe? Oder vielleicht …«

»Nicht so hastig«, mahnte Tommy. »Auch fünfzig Pfund haben ihre Grenzen! Aber lass uns auf jeden Fall heute Abend essen gehen und anschließend in eine Show.«

»Abgemacht!«

Der Tag verlief angenehm. Der Abend noch angenehmer. Von den Fünf-Pfund-Scheinen waren zwei jetzt unwiederbringlich perdu.

Am folgenden Vormittag trafen sie sich wie verabredet und machten sich auf den Weg in die City. Tommy blieb auf der anderen Straßenseite, während Tuppence im Gebäude verschwand.

Tommy schlenderte langsam bis zur nächsten Straßenecke weiter und dann wieder zurück. Gerade als er auf Höhe des Hauseingangs war, kam Tuppence über die Straße gerannt.

»Tommy!«

»Ja. Was gibt’s?«

»Das Büro ist geschlossen. Es hat niemand aufgemacht.«

»Das ist merkwürdig.«

»Ja, nicht? Komm mit, und wir versuchen’s zusammen noch mal.«

Tommy folgte ihr. Als sie den dritten Stock erreichten, trat aus einem Büro ein junger Angestellter. Er zögerte einen Moment, dann sprach er Tuppence an.

»Wollten Sie zu Esthonia Glassware?«

»Ja.«

»Ist geschlossen. Seit gestern Nachmittag. Firma wird aufgelöst, heißt es. Wohlgemerkt – ich weiß das auch nur vom Hörensagen. Aber jedenfalls ist das Büro wieder zu vermieten.«

»D-danke«, stotterte Tuppence. »Sie haben nicht zufällig Mr Whittingtons Adresse?«

»Nein, tut mir leid. Sie sind ziemlich überstürzt ausgezogen.«

»Vielen Dank«, sagte Tommy. »Komm, Tuppence, gehen wir.«

Sie stiegen die Treppe wieder hinunter; auf der Straße starrten sie sich ratlos an.

»Das war’s dann also«, sagte Tommy endlich.

»Und ich hab nicht den leisesten Verdacht gehabt!«, wehklagte Tuppence.

»Kopf hoch, altes Haus, es ist nun mal nicht zu ändern.«

»Von wegen!« Tuppence’ kleines Kinn schob sich trotzig vor. »Du meinst, das ist das Ende? Da täuschst du dich aber. Das ist erst der Anfang!«

»Der Anfang wovon?«

»Von unserem Abenteuer! Tommy, begreifst du denn nicht – wenn sie verschreckt genug sind, um sich so holterdiepolter zu verdrücken, muss an dieser Jane-Finn-Geschichte eine ganze Menge dran sein! Also gut, wir werden der Sache auf den Grund gehen. Wir werden die Bande zur Strecke bringen! Jetzt werden wir im Ernst Schnüffler spielen!«

»Ja, aber es ist keiner mehr da, dem wir nachschnüffeln könnten.«

»Nein, und deswegen müssen wir wieder ganz von vorne beginnen. Gib mir mal diesen Bleistiftstummel. Danke. Wart einen Moment, unterbrich mich nicht. Da!« Tuppence gab ihm den Bleistift zurück und las das, was sie geschrieben hatte, sichtlich zufrieden noch einmal durch.

»Was ist das?«

»Eine Annonce.«

»Du willst dieses Inserat doch wohl nicht trotzdem aufgeben?«

»Nein, das ist ein anderes.« Sie reichte ihm den Zettel.

Tommy las den Anzeigentext vor:

»GESUCHT: Jegliche Information betreffend Jane Finn. Zuschriften an J. A.«

4Wer ist Jane Finn?

Der nächste Tag verging schleppend. Es war notwendig, die Ausgaben zu drosseln. Klug verwaltet, reichen vierzig Pfund sehr weit. Zum Glück war das Wetter schön, und »laufen ist preiswert«, wie Tuppence befand. Ein Vorstadtkino sorgte für die Abendunterhaltung.

Der Tag der Enttäuschung war ein Mittwoch gewesen. Am Donnerstag war die Annonce planmäßig erschienen. Am Freitag konnte man mit Fug und Recht erwarten, dass erste Zuschriften bei Tommy eintreffen würden.

Er hatte bei seiner Ehre versprechen müssen, derlei Briefe, wenn sie denn kämen, nicht zu öffnen, sondern sich mit ihnen zur National Gallery zu verfügen, wo seine Kollegin ihn um zehn Uhr erwarten würde.

Tuppence war als Erste an der verabredeten Stelle. Sie machte es sich auf einer rotsamtenen Polsterbank bequem und starrte mit leerem Blick auf die Turners, bis sie die vertraute Gestalt den Saal betreten sah.

»Und?«

»Und?«, gab Mr Beresford neckend zurück. »Welches Bild gefällt dir am besten?«

»Sei kein Ekel. Ist denn überhaupt nichts gekommen?«

Tief, irgendwie übertrieben traurig schüttelte Tommy den Kopf.

»Ich wollte dich nicht gleich als Allererstes enttäuschen, altes Haus. Es ist wirklich ein Jammer. Das schöne Geld zum Teufel.« Er seufzte. »Und trotzdem – so ist es. Die Annonce ist erschienen, und – es sind nur zwei Briefe gekommen!«

»Tommy, du Scheusal!«, schrie Tuppence beinah. »Gib her! Wie kannst du nur so widerwärtig sein!«

»Deine Ausdrucksweise, Tuppence, deine Ausdrucksweise! In der National Gallery nehmen sie es sehr genau. Staatlicher Laden, du weißt schon. Und denk daran, dass du, wie ich dir schon mehrmals sagte, als Pfarrerstochter …«

»… beim Theater gelandet sein sollte!«, vollendete Tuppence seinen Satz.

»Das hatte ich nicht gemeint. Aber wenn du der Ansicht bist, dass du die Wirkung plötzlicher Freude nach tiefster Verzweiflung, die ich dir großherzigerweise völlig unentgeltlich verschafft habe, wirklich zur Gänze ausgekostet hast, dann lass uns ans Eingesandte gehen, wie man zu sagen pflegt.«