Ein Hauch von Liebe - Jodi Lynn Anderson - E-Book

Ein Hauch von Liebe E-Book

Jodi Lynn Anderson

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Beschreibung

Perfekte Sommer- und Ferienlektüre

Als Maggie mit ihren Eltern in das einsame Haus in Door County zieht, hat sie keine Erwartungen an ihr neues Leben. Doch dann trifft sie das faszinierende Nachbarsmädchen Pauline – und Liam, Paulines besten Freund seit Kindertagen, der heimlich in sie verliebt ist. Mit ihren neuen Freunden verbringt Maggie eine verwunschene Zeit in den Wäldern, doch wie ein kalter Schatten legt sich die Angst über den Ort, als immer wieder Mädchen leblos im See gefunden werden. Um sie zu schützen, wird Pauline von ihrer Mutter fortgeschickt, und in dieser Zeit kommen Liam und Maggie sich näher. Doch was ist, wenn Pauline zurückkehrt – hält ihre Freundschaft und Liams und Maggies zarte Liebe?

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Seitenzahl: 290

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DIE AUTORIN

© Sharon Price

Jodi Lynn Anderson hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund in Washington, D. C.

Jodi Lynn Anderson

Ein

Hauch

vonLiebe

Aus dem Englischen

von Edith Beleites

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. 1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2015

© 2014 by Jodi Lynn Anderson

Published by Arrangement with Jodi Lynn Anderson

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»The Vanishing Season« bei HarperTeen,

an imprint of HarperCollins Publisher, New York

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe:

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,

30827 Garbsen.

Übersetzung: Edith Beleites

Umschlagbild: Shutterstock/Maisevich Alexey

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

kg · Herstellung: ReD

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15770-8V002

www.cbj-verlag.de

Auch ein glasklarer See hat Tiefen, die kein Taucher kennt.

Hans Christian Andersen

Unter der Treppe des Hauses Water Street 208 liegt ein angeschmorter Schlüssel auf der Erde. Hat er einen Brand überstanden? Wer hat ihn verloren und wann?

Für mich ist er eine Spur in die Vergangenheit. Denn der Garten dieses Hauses ist ein Friedhof der gelebten Momente, und alles, was zurückgelassen wird, enthält Erinnerungen: ein Stück Schmirgelpapier, ein Armband, ein Liebesbrief, ein Streichholz, ein abgerissenes Kinoticket, eine Postkarte. Ganz Door County ist ein Friedhof. Die ganze Welt. Und meine Aufgabe ist es, darin zu graben.

Diese Stadt scheint mit Vorliebe ihre jungen Bewohner zu verschlingen.

Unter der Treppe des Hauses in der Water Street liegt ein Schlüssel.

Verlorenem nachzuspüren, ist meine Aufgabe, und sie liegt mir am Herzen.

1. Kapitel

Schon am Abend ihres Umzugs nach Gill Creek erfuhren die Larsens von den Morden. Es war Mitte September und Maggies letztes Schuljahr hatte gerade begonnen. Als sie den Zeitungsartikel las, hatte sie das Gefühl, als braute sich ganz in der Nähe etwas Unheimliches zusammen. Am Nachmittag desselben Tags hatte sie Pauline Boden zum ersten Mal gesehen. Dünn wie ein Magermodel lehnte sie an den Uferfelsen und schaute über den See.

»Eine Gleichaltrige«, sagte Maggies Mom ganz begeistert und zeigte über die verwilderte Wiese auf die weiße Gestalt am Seeufer. Maggie warf ihrer Mom einen genervten Blick zu. Beide waren ganz außer Atem, weil sie ihre schweren Koffer durch den Garten zogen, aber trotz der Anstrengung versuchte ihre Mom ununterbrochen, Maggie positiv auf die neue Umgebung einzustimmen.

Kurz darauf stellte Maggie einen Karton mit Bettwäsche auf die Verandatreppe, sah zu dem Haus auf, das ihr neues Zuhause sein sollte, und dachte, dass sie damit noch reichlich Arbeit haben würden, bevor all das angeblich so Positive zum Tragen käme.

Sie hatten dieses Haus schon vor Jahren geerbt und Maggies Onkel hatte es als »rustikal« bezeichnet. Auf Fotos wirkte es ziemlich heruntergekommen, aber live und in Farbe fielen Maggie jetzt eher Begriffe wie »Bruchbude« und »verwahrlost« ein. Vor dem Umzug hatten sie sich nie die Mühe gemacht, herzukommen und das Haus einmal persönlich in Augenschein zu nehmen, denn sie hatten nie beabsichtigt, hier zu wohnen, sondern wollten das Haus verkaufen, sobald sie Zeit fanden, sich darum zu kümmern. Aber die Dinge hatten sich geändert.

Maggie stemmte die Hände in die Hüften und atmete erst mal durch. Schweiß tropfte ihr von der Stirn. Sie hatten schon mehrere Kartons aus dem großen Mietlaster auf die Veranda geschleppt, aber mit den Möbeln hatten sie noch nicht mal angefangen. Eine Umzugsfirma konnten sie sich nicht leisten, also tat Maggie so, als machte ihr das Anpacken nichts aus. Bevor sie weiterarbeitete, holte sie aber ihr Handy heraus, um nachzusehen, ob ihr jemand geschrieben hatte. Kein Empfang! Sie sah sich nach einem Hügel um, auf dem das Handy vielleicht funktionierte, aber die Gegend war platt wie ein Pfannkuchen und erhob sich keinen Millimeter über die Ebene des spiegelglatten Sees. Maggie vermisste ihre Freunde von zu Hause ohnehin schon und nun konnte sie nicht mal per Handy mit ihnen Kontakt halten?

Auch Mrs Larsen stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Garten um. »Natürlich muss noch viel getan werden, aber es ist doch schön hier, findest du nicht, Maggles?«

Widerwillig musste Maggie zugeben, dass es hier wirklich schön war, auf eine seltsam schäbig-romantisch-altmodische Art. Das Haus – ein sogenanntes viktorianisches – war ursprünglich weiß angemalt, aber jetzt gilbte es vor sich hin und wirkte uralt und nahezu unbewohnbar. Von ihrem Dad wusste sie, dass es 1886 erbaut worden war. Es stand inmitten einer Wiese mit hohen Gräsern, die jetzt im Spätsommer mehr braun als grün waren. Die Wiese reichte bis ans Ufer des Michigansees, der so endlos zu sein schien wie der blaue Himmel, der sich darin spiegelte. Grashüpfer schnellten von einem Landeplatz zum nächsten und die ersten Grillen begannen zu zirpen. Maggie wusste, was Grillen waren, aber da sie ihr Leben lang in Chicago gewohnt hatte, war sie noch keiner persönlich begegnet. Beim Einschlafen und Aufwachen hatte sie bis jetzt immer nur Verkehrslärm und die anderen Geräusche einer Großstadt gehört.

Noch schöner als ihr eigenes war das Nachbargrundstück, wo das Mädchen am See zu wohnen schien. Der Unterschied zwischen beiden hätte nicht größer sein können. Dort drüben war der Rasen grün und gepflegt, und etwa hundert Meter von dem der Larsens entfernt stand ein majestätisches weißes Haus direkt am See, halb verborgen vom Ausläufer eines Kiefernwalds.

»Wirklich schön«, sagte Maggie und lächelte ihrer Mutter zu, um ihr zu signalisieren, dass sie sich Mühe geben würde, hier heimisch zu werden. Dieses Lächeln war für sie in den letzten Tagen fast zur Routine geworden, jedenfalls wenn sie ihre Eltern ansah. Sie wollte ihnen zeigen, dass sie sich bei all den Problemen, die sie momentan zu bewältigen hatten, nicht noch zusätzlich über ihre Tochter zu sorgen brauchten.

»Hast du dir schon dein Zimmer angesehen?«, fragte ihr Dad, als er einen Bücherkarton auf die Veranda schleppte. Der kahle Fleck auf seinem Kopf, der immer größer wurde, glänzte in der Nachmittagssonne.

Maggie schüttelte den Kopf. Sie hatte das Haus noch gar nicht betreten, sondern Karton um Karton einfach vor oder auf die Veranda gestellt, während ihre Eltern schon mehrfach ins Haus gegangen waren. Auf diese Weise versuchte sie, den unvermeidlichen Moment hinauszuzögern, in dem nicht mehr zu leugnen war, dass sie nun ein neues Zuhause und ein neues Leben hatte, das sie nicht haben wollte. Jetzt war dieser Moment aber gekommen, also täuschte sie freudige Erregung vor und folgte ihren Eltern ins Haus.

Eine dicke Staubschicht bedeckte die Bodendielen, die in der Mitte durchsackten. Auch alles andere war aus Holz und antik und absolut deprimierend. Die Küchengeräte waren senffarben, die Wände zeigten ein verblichenes Pastell – als hätten die Siebziger eine Ladung Erbrochenes über die Fünfziger gekippt. Hier und da fanden sich Spuren der früheren Bewohner: Auf dem Küchenfußboden lag ein Dominostein, am Kühlschrank hing ein Rabattcoupon unter einem Mickey-Mouse-Magneten. Maggie ging durch die Küche ins Wohnzimmer, dessen verwahrloste Veranda zu dem blau schimmernden See hinausführte. Als sie links in einen Gang mit gewölbter Decke abbog, lief sie mit dem Mund in ein Spinnennetz, das sie hektisch abwischte. Dann folgte sie dem Flur bis zur Treppe.

Mit einer Hand auf dem wackligen Treppengeländer ging sie in den ersten Stock, begleitet vom Knarren jeder einzelnen Stufe. Linker Hand lag ein Zimmer, von dem sie instinktiv wusste, dass es ihrs war. Es hatte eine Dachschräge und ein großes Fenster, das den Blick über die Gärten und auf das weiße Nachbarhaus freigab. An einer Wand hing ein altmodischer, vergilbter Heizkörper. Alles in allem war es sehr gemütlich, ein kleines Refugium, das nach abgestandener Sommerluft roch, blumig und staubig zugleich.

Sie musste an die Dashwoods in Verstand und Gefühl denken, die ja auch in ein viel kleineres Haus am Meer umziehen mussten. Wenn die das Beste draus machen konnten, würde sie es auch schaffen. Und falls das Leben hier so langweilig sein sollte, wie es den Anschein hatte, dann … würde sie eben immer daran denken, dass sie es nur ein Jahr lang aushalten musste. Dann hätte sie ihren Schulabschluss und das richtige Leben konnte beginnen. Ihre beste Freundin, Jacie, sagte immer, dass Maggie alles, was sie vom Leben wusste, aus Büchern hatte, ohne es selbst auszuprobieren. Aber Jacie hackte gern auf Maggies Schwächen und Fehlern herum, ohne es böse zu meinen.

Sie ging wieder nach unten, auf die hintere Veranda, wo sich ihre Eltern eine kurze Pause auf einer alten Hollywoodschaukel gönnten, die jeden Moment zusammenzubrechen drohte. Auf der Fahrt durch die kleine Stadt hatte ihr Dad eine Zeitung gekauft und jetzt reichte er ihr den Lokalteil. »Zehn Minuten Verschnaufpause«, sagte er. »Schau doch mal, was hier so los ist.« Dabei warf er ihr ein Tut mir leid, dass wir dir das zumuten-Lächeln zu.

Nicht aus Interesse, sondern um ihrem Dad den Gefallen zu tun, nahm Maggie die Zeitung, setzte sich auf die oberste Stufe der Verandatreppe und blätterte sie von hinten auf (eine alte Angewohnheit). Da stand etwas über einen Fischer, der alte Schiffe restaurierte, den letzten Auftritt der Kirschenprinzessin beim Großen Kirschenfest und einen Unfall mit Blechschaden in Sturgeon Bay. Maggie tauschte einen amüsierten Blick mit ihrem Dad: Was für ein Käseblatt!

Beim Aufmacher des Lokalteils hörte der Spaß jedoch auf: Ein Teenager war in Whitefish Harbor gestorben, vier Städte entfernt von hier (Maggie erinnerte sich daran, gleich nach Erreichen der Halbinsel hindurchgefahren zu sein). Das Mädchen war im See ertrunken. Als man sie fand, trieb sie mit dem Gesicht nach unten, und es gab keinerlei Anzeichen äußerer Gewalt. Die Polizei ermittelte, ob es Selbstmord oder ein Unfall war, aber auch ein Verbrechen wurde nicht ausgeschlossen.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte Maggies Mom.

»Ein Mädchen ist gestorben«, sagte Maggie. »Wahrscheinlich Selbstmord.«

Entsetzt fuhr sich Mrs Larsen mit den Händen ans Kinn. »Wie furchtbar! Die armen Eltern!«

Maggie sah von der Zeitung auf. Das dünne Mädchen am Seeufer drehte sich um und ging auf das weiße Haus zu.

»Wahrscheinlich das erste Mal, dass so etwas in einer so kleinen Stadt passiert«, sagte Maggies Vater. »Muss ein ziemlicher Schock sein.«

Ihre Mutter seufzte, dann sagte sie: »Die Sonne geht in einer Stunde unter. Los, los, ihr Faulpelze! Lasst uns die restlichen Sachen ins Haus bringen.«

Widerspruchslos stand Maggie auf. Ihre Mom sagte immer, sie sei der pflegeleichteste Teenager der Welt.

2. Kapitel

Am nächsten Morgen wachte Maggie von einem Geräusch auf. Im Wald schien jemand zu hämmern. Sie setzte sich auf, reckte und streckte sich und sah aus dem Fenster. Vor ihr lagen die Gärten und der Ausläufer des Kiefernwalds, und die Sonne schien. Eine Weile ließ sie sich von den Sonnenstrahlen wärmen, dann stand sie auf.

Ihr Dad war auf der hinteren Veranda, die Hände in die Hüften gestemmt, und schaute sich verwirrt um. Maggie erkannte sofort, warum. Überall auf dem verwitterten Verandageländer standen Vasen mit Wildblumen und Schachteln mit … Maggie trat näher, um besser sehen zu können … Earl Grey Tee. Mindestens zwanzig Schachteln. Sie strich mit der Hand über die Wildblumen und fand einen weißen Umschlag, der an einer der Vasen klebte. Darin befand sich eine schlichte weiße Karte, auf die jemand eine einzige Zeile gekritzelt hatte: Willkommen in der Water Street.

Sie tauschte einen ebenso amüsierten wie überraschten Blick mit ihrem Vater.

»Sehr freundlich«, sagte er.

»Eher ein bisschen gaga«, sagte Maggie.

Die Karte enthielt keine Unterschrift.

»Dann können wir nur hoffen, dass der edle Spender noch einmal vorbeischaut«, sagte Maggies Dad, gähnte und fügte kopfschüttelnd hinzu: »Was für eine Gegend! Porte des Morts. Tote Teenager und anonyme Geschenke. Ein Wunder, dass wir die erste Nacht heil überstanden haben.« Ironisch zwinkerte er Maggie zu.

Eine Fahrstunde südlich von hier – das wusste Maggie von der Straßenkarte im Auto – zweigte die Halbinsel Door County vom Festland Wisconsins ab und ragte wie der Daumen eines Trampers in den See, isoliert vom Rest der Welt. Door County – so die Reiseführer, die Maggie während der Fahrt von ihrem Dad auf den Schoß gestapelt bekommen hatte – war geprägt von unberührtem Marschland und Kiesstränden, einem schieferblauen Felsufer, Kiefernwäldern, alten Leuchttürmen, altmodischen Drive-ins und Motels. Die größeren Städte südlich der Countygrenze waren eine andere Welt – außer in den Sommermonaten, wenn die Städter zu Touristen mutierten, Ferienhäuser am See mieteten und Unmengen von Fudge, Frischkäse und Fish Boil verschlangen, die örtlichen Spezialitäten. Am interessantesten fand Maggie bei der Lektüre, woher das County seinen Namen hatte: Französische Siedler hatten es Porte des Morts genannt, Tor des Todes, weil es in der Meerenge zwischen Halbinsel und Festland von Schiffswracks nur so wimmelte. Angeblich lagen hier mehr Wracks pro Quadratkilometer am Grunde des Sees als in irgendeinem anderen Fließgewässer der Erde. Diese Meerenge, hieß es, sei Schiffen über die Jahrhunderte aus verschiedenen Gründen zum Verhängnis geworden: Es gab Untiefen, die man mit bloßem Auge nicht erkennen konnte, eine starke Unterströmung, drehende Winde und häufige Stürme.

»Ich mag Earl Grey«, sagte Maggies Dad und sammelte die Teeschachteln ein. »Wenn ich ihn trinke, fühle ich mich immer so … britisch.«

Die ganze Woche über – außer wenn Maggie von ihrem Vater unterrichtet wurde – waren sie damit beschäftigt, das Haus bewohnbar zu machen, während Maggies Mutter ihren neuen Job bei der kleinen Kommunalbank von Gill Creek aufnahm. Für sie war es ein enormer Abstieg, verglichen mit ihrer Position im gehobenen Management einer Chicagoer Bank, aber es war der beste Job, den sie finden konnte. Auch Maggie musste sich einen suchen. Seit ihrer Mutter vor drei Jahren zum ersten Mal gekündigt worden war, hatte sie jeden Penny gespart, um sich das College leisten zu können.

Zunächst aber zog sie sich jeden Morgen einen alten Overall an und schrubbte unter großzügiger Verwendung von Seifenlauge Küche, Wohnzimmer, Diele und Flur vom Boden bis zur Decke, während ihr Dad den Küchentresen, das Treppengeländer und diverse Türen reparierte. Da er kein geübter Heimwerker war, musste er alles, was er in Angriff nahm, erst einmal in dem dicken Do-it-yourself-Buch nachschlagen, das er in einem Baumarkt gekauft hatte. Nach und nach kam unter den dicken Schmutzschichten das wahre Gesicht des Hauses zum Vorschein: zart geblümtes Linoleum aus den Vierzigern oder Fünfzigern und pastellfarbene Wände, aber auch tiefe, alte Kratzer in den Bodendielen. In die Rückwand des Medizinschränkchens hatte jemand mit krakeliger Schrift Kitty geritzt und die Jahreszahl 1890 hinzugefügt. Offenbar war damals ein kleines Mädchen wild entschlossen gewesen, Spuren für die Ewigkeit zu hinterlassen.

Es war noch sehr warm, aber die große Sommerhitze war vorbei. Trotzdem ließen sie den ganzen Tag über Fenster und Türen offen und ignorierten die Mücken und Käfer, die durch die rissigen Fliegengitter ins Haus drangen. Während Maggie fleißig putzte, hörte sie die Wellen seicht ans Seeufer schlagen und manchmal auch wieder das Gehämmer im Kiefernwald. An den See zu gehen und die Füße ins Wasser zu tunken, dazu hatte sie bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden.

In ihrem eigenen Zimmer ließ sie sich mit dem Schrubben, Staubwischen und Einrichten Zeit. Von den pinkfarbenen Rosen, mit denen die Wände bemalt waren, blätterte überall die Farbe ab, und Maggie rückte ihnen mit einem Spachtel, einem Eimer heißen Wassers und Weichspüler zu Leibe. Als sie fertig war, malte sie die Wände mit der hellblauen Farbe an, die ihr Dad im Sonderangebot erwischt hatte. Das sah schon besser aus, wenn auch ziemlich nüchtern. Sie holte sich Bleistift und Papier und setzte sich an ihren Schreibtisch, um ein Wandgemälde zu skizzieren. Aber nachdem sie eine Weile dagesessen und lediglich an dem Bleistift herumgeknabbert hatte, fiel ihr immer noch kein Motiv ein, wenigstens kein überzeugendes. Also beschloss sie, mit der Skizze zu warten, bis sie eine Inspiration hatte. Ob das je der Fall sein würde, bezweifelte sie jedoch. Als Kind hatte Maggie ständig gemalt und gezeichnet, aber irgendwann war es ihr nutzlos vorgekommen, und da hatte sie es sein lassen, obwohl sie ziemlich talentiert war.

Als ihre schlichten weißen Regale strahlend sauber waren, stellte sie Fotos von sich und Jacie sowie von sich und ihren Eltern hinein, daneben ihre Lieblingsbücher (Jane Eyre, Einer flog über das Kuckucksnest und Menschenkind), ihr altes Skizzenbuch, das sie seit Jahren nicht aufgeschlagen hatte, und eine Figur, die eine Spinne im Netz darstellte und an Wilbur und Charlotte erinnerte (ihr Lieblingsbuch als Kind). Ihre Stehlampe stellte sie so auf, dass sie nicht geblendet würde, wenn sie im Bett las. Aufs Bett selbst warf sie ihre weiße Tagesdecke und stopfte sie so stramm unter die Matratze, wie sie es gern hatte. Dann legte sie ihre Farben, Pinsel und Leinwände in die unterste Schublade eines Schränkchens, ganz weit hinten, und rechnete nicht damit, diese Dinge in absehbarer Zeit wieder herauszuholen.

An diesem Abend zog sie zum ersten Mal wieder ihre Laufschuhe an, band sich das lange Haar zum Pferdeschwanz und joggte die Water Street hinunter – die einzige Straße in der näheren Umgebung. Fast drei Kilometer lang zog sie sich zwischen Wiesen und Wäldern dahin, bis sie auf eine richtige Landstraße stieß. Zu Fuß sah alles ganz anders aus als auf der Fahrt hierher: Das Land war nicht so flach, wie Maggie zuerst gedacht hatte. Die Wiesen zu ihrer Linken fielen sanft zum schimmernden Band des Michigansees ab, während der Waldrand mit seinen stämmigen dunklen Kiefern zu ihrer Rechten etwas erhöht lag. Ab und an folgte die Straße einer leichten Erhebung, von der Maggie die Blechdächer vereinzelter Farmen in der Ferne leuchten sah. Wenn sie an diesen Stellen ihr Handy herausholte, musste sie jedoch feststellen, dass sie auch hier keinen Empfang hatte. Außer dem weißen Nachbarhaus gab es weit und breit nur ein anderes. Man konnte zwar nichts davon sehen, weil es hinter dem Wald lag, aber dass es existierte, war aus einem verbeulten und verrosteten Briefkasten an der Straße zu schließen. Zwei Sticker klebten darauf, einer mit den Worten Betreten verboten, ein anderer mit Vorsicht Hund. Dahinter begann eine lange, gewundene Einfahrt, die sich irgendwo zwischen den Bäumen verlor. Wahrscheinlich kam das Gehämmer, das Maggie so oft hörte, von dort, aber sie hatte keine Lust, ihren Lauf zu unterbrechen und sich das Grundstück näher anzusehen.

Inzwischen war ihr Kreislauf auf Touren gekommen. Auch der Himmel war in Bewegung. Jedes Mal wenn sie aufschaute, bot sich ein anderes Bild: Erst zog eine Parade fluffiger weißer Wölkchen auf, dann zeichnete sich ein Schnittmuster aus den Kondensstreifen von Flugzeugen ab, die immer breiter und grauer wurden und langsam auf die Erde herabzusinken schienen. Beim Laufen stellte Maggie sich gern vor, sie sei ein Wolf – stark und schnell. Das half gegen ihre innere Unruhe und das Gefühl, in der eigenen Haut gefangen zu sein. Sie pushte sich und lief schneller als sonst. Am Ende der Strecke, die sie sich vorgenommen hatte, stützte sie die Hände keuchend auf die Knie und sah zu einem großen grauen Silo auf, das ein Stück weiter aus dem hohen Gras ragte. In dem Moment zuckte ein Blitz über den Himmel. Ein Sommergewitter zog auf. Das Silo leuchtete auf und zeichnete sich gespenstisch weiß gegen den in Rekordzeit ergrauten Himmel ab. Höchste Zeit, umzukehren. Von der Herfahrt wusste sie – denn seither hatte sie die Water Street ja nicht betreten –, dass in ihrer ursprünglichen Laufrichtung noch gut anderthalb Kilometer nichts als unberührte Natur lag.

Zu Hause hatte sich ihr Dad in das Zimmer zurückgezogen, das er zu seinem Arbeitszimmer erklärt hatte. Wahrscheinlich ordnete er seine Bücher (er besaß weit über tausend und hatte sich – sehr zum Unmut seiner Frau – geweigert, auch nur ein einziges vor dem Umzug wegzuwerfen) in alphabetischer Reihenfolge in die durchsackenden Regale des eingebauten Bücherschranks. Die Liebe zu Büchern war etwas, das Maggie mit ihm teilte. Auch äußerlich ähnelten sich Vater und Tochter: symmetrische Züge, dunkles Haar, Sommersprossen auf der Nase. »Aber«, pflegte Mr Larsen zu sagen, »Maggie ist viel hübscher als ich und außerdem hat sie keine Glatze.« Seit zwei Jahren hatte er keinen Vollzeitjob mehr, sondern unterrichtete Maggie zu Hause. Seiner Meinung nach war sie in der Schule unterfordert, obwohl sie bereits eine Klasse übersprungen hatte (ganz gegen ihren Willen, weil sie ihre Klassenkameraden gern hatte; umso mehr hatte sie sich dagegen gewehrt, die Schule ganz zu verlassen, aber ihr Protest hatte nichts genützt).

Das Haus war still und im aufziehenden Gewitter hatte es etwas Unheimliches. Maggie duschte, zog sich um und holte irgendein Buch aus dem Stapel vor der Tür des Arbeitszimmers. Sie nahm es mit auf die hintere Veranda, wo sie von der Hollywoodschaukel aus beobachten wollte, wie die aufziehenden Wolken dichter und dunkler wurden. Seit einer Woche hatte sie versucht, Momente wie diesen zu vermeiden – Momente, in denen sie allein wäre und einfach nur still dasäße. Sie ahnte nämlich, dass sie dann von Heimweh überwältigt würde. Jetzt war es so weit, und sie musste daran denken, dass sie nie wieder in ihrer Wohnung schlafen und sich samstagmorgens nie wieder mit Jacie in Cafés treffen würde, um über Gott und die Welt zu reden. Auf eine beängstigende Art fühlte sie sich schwerelos und konnte nicht fassen, dass das Leben, das sie kannte, plötzlich zu Ende sein sollte.

Erst jetzt sah sie, dass das Buch in ihrem Schoß kein Roman, sondern eins über Schmetterlinge und Motten war. Sie blätterte darin herum, las hier und da einen Absatz, konnte sich aber nicht konzentrieren.

Plötzlich trat jemand von der Seite her auf die Veranda zu und sie erschrak.

»Tut mir leid. Habe ich dich erschreckt?«

Unsicher stand ein Mädchen auf der untersten Stufe der Verandatreppe. Sie war so dünn, dass sie Maggie an eine Gazelle erinnerte. Ihr dunkelbraunes Haar war völlig zerzaust. Ihre Hände waren auf eine Art zusammengelegt, als hielte sie darin etwas fest. Und dieses Etwas schien sich zu bewegen. Hinter dem Mädchen stand ein großer, schlabbernder Hund. Maggie erkannte das Mädchen: Sie war es, die Maggie am Umzugstag am Seeufer gesehen hatte.

»Pauline«, sagte das Mädchen und streckte die zusammengelegten Hände aus, als wollte sie Maggie begrüßen. Maggie beugte sich vor und wollte ebenfalls die Hand ausstrecken, aber Pauline drehte sich zu dem Hund um. »Das ist Abe, mein Seelenzwilling.« Sie machte eine Hand frei und tätschelte Abe die Schnauze, bevor sie die Hände schnell wieder schloss.

Dann fasste sie sich ein Herz, kam die Treppe herauf und schaute neugierig ins Haus. »Für mich war es bisher immer das Geisterhaus. Ich bin froh, dass ihr jetzt hier seid. Bestimmt vertreibt ihr die Geister«, sagte sie und setzte sich zu Maggie auf die Hollywoodschaukel, ohne auf eine Einladung zu warten. »Natürlich glaube ich nicht an Geister. Ich bin ja nicht blöd. Aber manchmal habe ich mich doch gefragt … Vor allem, wenn so ein merkwürdiges Licht aus dem Haus kam.«

Maggie glaubte nicht an Geister. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass vermeintliche Geistererscheinungen auf Magnetfelder zurückzuführen waren. Oder in alten Häusern auf Kohlenmonoxid-Dämpfe.

Pauline öffnete die Hände und ein Entenküken kam zum Vorschein.

»Ich will es retten, aber ich dachte, vorher würdest du es vielleicht gern sehen. Verrückt – um diese Jahreszeit! Normalerweise werden sie viel früher geboren. Seine Mutter scheint es verlassen zu haben.« Behutsam strich Pauline dem Küken mit ihren dürren Fingern über den Kopf und etwas Sehnsüchtiges lag in dieser Geste. »Entenküken sind so süß. Ich bekomme schon ganz feuchte Augen. Passiert dir das auch manchmal?«

Maggie schüttelte den Kopf.

»Wo kommt ihr her?«

»Chicago«, sagte Maggie und wusste nicht, was sie von ihrer neuen, kükenliebenden Nachbarin halten sollte, die eigentlich nicht an Geister glaubte, aber irgendwie doch.

»Umziehen muss schrecklich sein.«

Maggie hatte keine Lust, mit jemandem darüber zu reden, den sie noch gar nicht kannte, aber Pauline wartete ihre Antwort sowieso nicht ab.

»Die Stadt ist klein, aber ganz okay«, sagte sie. »Ziemlich langweilig, aber der See bietet einige Möglichkeiten. Im Sommer ist es schön hier, wenn man sich die Touristen wegdenkt, aber die Winter sind endlos. Abgesehen davon …«

Pauline beugte sich zu Maggie und zog die Knie an. Sie nahm das Küken in eine Hand, mit der anderen hielt sie eine ihrer eigenen Haarsträhnen an Maggies Haar. »Fast die gleiche Farbe«, sagte sie. Paulines Haar war länger und ganz zerzaust, während Maggies sorgfältig gekämmt war. »Sorry. Ich hoffe, du hältst mich nicht für aufdringlich, aber ich bin wirklich froh, dass du da bist. Auf dieser Seite hatten wir noch nie Nachbarn.«

Nach Maggies Erfahrung waren so schöne Mädchen wie Pauline ziemlich hochnäsig. Pauline aber war irgendwie süß und zutraulich und vor allem schien sie schrecklich einsam zu sein. Nachdem sie sich auf der heruntergekommenen Veranda umgesehen hatte, strahlte sie Maggie an.

»Habt ihr den Tee bekommen?«

»Ja, danke … Ich habe noch nie … Tee geschenkt bekommen.«

»Die Familie meiner Mutter handelt mit Tee, Tidings Tea um genau zu sein. Deswegen bekommen wir ihn kiloweise umsonst.«

Maggie kannte die Marke und hatte im Fernsehen Werbung dafür gesehen. Tidings Tea war ein großes Unternehmen. »Wow!«

Pauline schien zu spüren, dass sie Maggie ein wenig eingeschüchtert hatte, lehnte sich zurück und räkelte sich wie eine Katze. Dann saß sie wieder still und sah in den Garten, auf den See und das Haus.

Maggie überlegte, was sie dieses merkwürdige Mädchen fragen könnte. Das Erste, was ihr einfiel, war: »Was hämmert da die ganze Zeit im Wald hinter eurem Haus?«

Pauline musste erst darüber nachdenken, dann blitzte etwas in ihren Augen auf, und sie schien zu begreifen, was Maggie meinte. »Oh, das ist mein Liam, Liam Witte, unser Nachbar auf der anderen Seite, ein ganzes Stück die Water Street runter. Er ist in unserem Alter und baut etwas zwischen unseren Häusern, wo wir uns im Winter treffen können.« Sie legte die Arme um die Knie. »Er weiß, dass ich den Winter hasse. Es soll eine Überraschung werden, deswegen darf ich noch nicht hingehen und nachsehen, was es ist. Du solltest ihn mal besuchen und Guten Tag sagen.«

»Wie süß von ihm.« Maggie wusste, was Jungen sich alles einfallen ließen, um schöne Mädchen zu beeindrucken. Auch sie hatte schon davon profitiert, aber mit Paulines Schönheit konnte sie nicht mithalten. Mädchen wie Pauline schlugen sofort alle Herzen entgegen, wohingegen Maggie es gewohnt war, erst auf den zweiten Blick als schön zu gelten – nur dass viele kein zweites Mal hinsahen.

»Hier gibt’s nur mich und Liam. Und die Erwachsenen natürlich. Komm doch Sonntagnachmittag mit uns Kanu fahren. Vielleicht ist es die letzte Gelegenheit, bevor es zu kalt wird. Das geht hier schneller, als du dir vorstellen kannst.«

»Ich kann nicht schwimmen«, sagte Maggie. Wie sehr sie Wasser hasste (außer zum Trinken), behielt sie lieber für sich. Seit sie denken konnte, hatte sie Angst vorm Ertrinken.

»Von Schwimmen hat ja auch keiner was gesagt«, sagte Pauline so sorglos, als stünde die Sache damit fest. Dann fragte sie, ob Maggie schon von dem Mädchen gelesen hatte, das man tot im See aufgefunden hatte.

»Ja«, sagte Maggie. »Traurige Geschichte.«

»Unheimlich«, sagte Pauline leise und strich sich das wirre Haar über die Schultern zurück. »Sie wissen noch nicht, wer es getan hat.«

»Ich dachte, es war ein Unfall … oder Selbstmord.«

Pauline schüttelte den Kopf. »Das haben sie am Anfang gesagt, als sie noch nichts Genaues wussten. Aber jetzt … Mein Cousin in Sturgeon Bay kennt einen Polizisten. Es stand nur noch nicht in der Zeitung.«

Maggie lief es kalt den Rücken herunter. »Wie schrecklich!«

Plötzlich stellte Abe die Pfoten auf die Hollywoodschaukel und begann, das Küken zu lecken.

Pauline lachte, und es klang, als kratzte jemand den Lack von einem Auto. In diesem Moment begann Maggie, sie zu mögen. Es war ein raues, heiseres, ganz und gar unweibliches Lachen.

»Also dann«, sagte Pauline, stand auf und blinzelte genau in dem Moment in den Himmel, als die ersten Tropfen fielen. »Ich bringe das Entchen lieber schnell zum Tierarzt, bevor es wie aus Kübeln schüttet. Du kannst jederzeit zu mir rüberkommen. Auf gute Nachbarschaft und so weiter, bla, bla, bla.«

»Danke. Alles klar«, sagte Maggie und stand auch auf.

Pauline winkte über die Schulter, als sie die Veranda hinabstieg. Statt durch die Einfahrt ging sie durchs hohe Gras, teilte es mit ihrem Körper und hinterließ eine Schneise für die Grashüpfer und Abe.

Am Abend trommelte starker Regen an die Fensterscheiben, und Gewitterwolken türmten sich über dem Haus, während Maggie im noch unbenutzten Wintergarten nach Hinterlassenschaften der früheren Bewohner Ausschau hielt. Sie hatte gerade eine Streichholzschachtel gefunden, als sie auf eine morsche Bodendiele trat, die krachend barst. Einen bangen Moment lang baumelte ihr Bein in den darunterliegenden Keller, und die kühle, muffige Luft kroch daran hinauf. Sie atmete tief durch, zog ihr Bein vorsichtig aus dem Loch und ging zu ihrem Vater, der immer noch im Schneidersitz in seinem Arbeitszimmer saß und seine Bücher sortierte.

»Ich bin im Fußboden eingebrochen und wäre beinahe in den Tod gestürzt«, sagte sie scherzhaft, aber in Wahrheit stand sie noch unter Schock.

»Du meinst also, das Haus würde dir besser gefallen, wenn du dich darin unfallfrei bewegen könntest?« Er nickte und seine Brillengläser blitzten im Schein seiner Leselampe auf. »Gut, ich denke, das kriege ich hin. Aber ich frage mich, was du noch alles verlangst.«

Maggie grinste ihn an.

Er versprach, gleich am nächsten Morgen in die Stadt zu fahren und alles zu kaufen, was er brauchte, um den Fußboden zu reparieren. Dann stand er auf und rieb ihr die Wangen – eine Geste der Zuneigung, mit der Maggie seit ihrer Kindheit vertraut war.

Als sie später zu Bett ging, fühlte sie sich im Vergleich zum Vorabend schon ein bisschen zu Hause. Jemanden kennengelernt zu haben, bedeutete ihr mehr, als sie gedacht hätte. Schon jetzt hatte sie Pauline sehr gern, obwohl sie sonst länger brauchte, um sich eine Meinung über jemanden zu bilden.

Da sie nicht einschlafen konnte, blinzelte sie in die dunklen Gärten. Warmes gelbes Licht schimmerte aus Paulines Haus durch den Regen und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Es war gut zu wissen, dass es in diesem Winkel der Welt noch jemand anders als nur sie und ihre Eltern gab.

In dieser Nacht träumte sie vom See, der schwarz in der Dunkelheit glänzte. Darüber schwebten Engel mit ausgebreiteten Flügeln, die auf und zu klappten, auf und zu, wie bei Motten.

Ich bin Teil dieses Hauses und seine Bewohner hören mich im Schlaf. Ich klappere mit dem Geschirr und kratze im Dunkeln über den Fußboden. Unten im Haus mache ich Licht und lasse es brennen, sodass sich am nächsten Morgen alle wundern, weil sie schwören könnten, dass sie es am Abend gelöscht hatten. Ich sehe ein Bein durch die Decke brechen und versuche, danach zu greifen. Aber ich habe keine Hände, keine Arme. Keine, die ich sehen kann. Hatte ich je welche?

Nur eins weiß ich sicher: Ich bin zeitlos. Ich bewege mich so mühelos durch Gegenwart und Vergangenheit, als schwebte ich von einem Zimmer ins andere. Bestimmte Ereignisse rufen mich und machen mich zum Augenzeugen, ob ich will oder nicht. Unbeabsichtigt habe ich auf diese Weise miterlebt, was hier über die Jahrhunderte geschah. Ich war schon hier, als im Hafen noch Schiffe gebaut wurden. In meinen Zeitreisen haben die Dinge ganz unwirkliche Farben. (Die Vergangenheit hat einen unverwechselbaren Glanz. Auch Momente und Gefühle haben eigene Farben.) Ich höre die Sterne, wenn sie übers Haus ziehen. Ein Geist wie ich kann überall und nirgends zugleich sein. Für mich liegen Vergangenheit und Gegenwart übereinander, nicht hintereinander, sodass ich durch einfaches Auf- und Abtauchen jederzeit an jeden beliebigen Ort gelangen kann. Aber immer wieder zieht es mich hierher zurück: in dieses Haus auf dieser Halbinsel, zu diesen Menschen und diesem Mädchen. Ich scheine in Door County festzustecken, in der Water Street. Auch wenn ich durch andere Städte geistere, lande ich am Ende immer wieder hier – als würde ich magnetisch nach Hause gezogen. Und ich weiß nicht, warum.

Ich denke oft darüber nach, was ich über Geister weiß, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, woher ich es weiß oder wer ich war, als ich es lernte. Jedenfalls gibt es verschiedene Geister. Manche sind auf Rache aus, andere beschützen jemanden, wieder andere stecken irgendwo fest, weil etwas zu Ende geführt werden muss. Bleibt nur die Frage, zu welcher Sorte ich gehöre – falls ich denn ein Geist bin.

Tag für Tag warte ich darauf, dass sich der Himmel auftut und ich mich in dem gleißenden Licht auflöse, das herausströmt. Noch scheint dieser Moment in weiter Ferne zu liegen. Deswegen glaube ich, dass ich hier bin, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen – zumindest hoffe ich es.

Neuerdings verhalten sich die Motten anders als sonst. Sie umschwirren mich, wo immer ich auftauche, und lassen sich auf meiner unsichtbaren Hülle nieder. Durchs Kellerfenster suche ich in den Seelen von Eulen und Bäumen und Spinnen nach Hinweisen, wohin ich gehen soll, nach einem Wesen, das mir gleicht, mich versteht und mir sagt, was ich tun soll. Das Haus atmet, wenn alles dunkel ist, aber es ist niemand da, der mir antwortet. Ich bin so einsam, wie man es nur sein kann.

3. Kapitel

Als Maggie acht Jahre alt war, wurde der Wagen ihrer Eltern auf der Heimfahrt vom Eisessen von einem Betrunkenen angefahren, und Maggie – die auf der Rückbank gerade ihren Sicherheitsgurt geöffnet hatte, weil sie sich ihre Jacke anziehen wollte (vom Eisessen war ihr kalt geworden) – schoss zwischen den Sitzen nach vorn und knallte mit dem Gesicht ans Armaturenbrett.

Der Arzt in der Notaufnahme sagte, offenbar sei sie aus Gummi, weil sie abgesehen von einigen Kratzern völlig unverletzt war. Aber damals hatte sie zum ersten Mal begriffen – beziehungsweise die Tatsache anerkannt –, dass sie verwundbar war.

Manchmal fragte sie sich, ob sie ohne den Unfall anders geworden wäre, mutiger und mehr wie ihre Freundinnen. Jacie zum Beispiel hielt sich für unsterblich und weigerte sich, erwachsen zu werden. Maggie dagegen dachte ständig an die Zukunft. Und fürs College und alles danach brauchte sie nun einmal Geld und folglich einen Job.

Gill Creek – das wurde ihr am folgenden Montag klar, als sie sich auf Jobsuche machte – war eine weiße Stadt: weiße Häuser, weiße Boote, weiße Bordsteine, weiße Kleidung. Die Stadt leuchtete regelrecht und reflektierte das gekräuselte, glitzernde Blau des Michigansees. Die wenigen Farbtupfer kamen hauptsächlich von den Laubbäumen, die sich langsam zu verfärben begannen und die verwinkelten Straßen säumten. Die letzten Touristen schlenderten durch die Main Street, verschwanden in kleinen, altmodischen Süßwarengeschäften, pastellfarbenen Boutiquen, Cafés und den typischen Fish Boil Re