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Die junge Bettina verlebt eine glückliche Kindheit mit ihren Eltern und den Geschwistern. Bis sie eines Tages erfahren muss, dass sie nicht die leibliche Tochter der Bürgers ist. Ihr leiblicher Vater Stefan Steutenberg gab sie nach dem tragischen Tod ihrer Mutter in Pflege – und jetzt fordert er die Tochter zurück. Nach Abschluss ihrer Schulzeit in einem vornehmen Genfer Internat holt Steutenberg Bettina nach Hamburg. Diese Welt und diese Familie ist ihr nicht nur neu, es kommt dort vielmehr schon bald zu massiven Spannungen, die Bettinas heile Welt noch weiter aus den Fugen geraten lässt. Wie soll ein Mensch, dessen Bindungen immer wieder in Frage gestellt wurden, damit fertigwerden? Doch bei allem, was jetzt geschieht, ist sie nicht ganz allein. Da ist noch ihr Jugendfreund Jürgen, der ihr mehr ist als nur ein Freund.-
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Seitenzahl: 464
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Ein Herz für mich allein
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2018 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1961 by Bach Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718681
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Bettina verhielt mitten im Tanz und blickte über ihre Schulter zurück zu dem Tisch, an dem sie und ihre Schwester gesessen hatten. »Wo ist Ursel?«
»Verdammt!« Jürgen Holbach, ihr Tanzpartner, war durch diesen unerwarteten Stillstand ins Stolpern geraten, fügte aber sofort reuig hinzu: »Entschuldige bitte, Bettina … was hast du gesagt?«
Sie wandte ihm ihr helles herzförmiges Gesicht mit dem vollen, schöngeschwungenen Mund und den klaren, weit auseinanderstehenden Augen zu. »Ob du Ursel irgendwo gesehen hast!«
»Bestimmt!« sagte er, bemüht, wieder in den Rhythmus des Tanzes zurückzufinden. »Noch vor ein paar Minuten … warum?«
»Ich seh’ sie nirgends!« Bettina blickte über Jürgen Holbachs Schulter suchend in das Gewühl. Die kleine Tanzfläche des Hinterzimmers vom Café ›Lorzing‹, das die Schüler und Schülerinnen der Städtischen Mittelschule für ihre Abschlußfeier gemietet hatten, war gesteckt voll. Bettina sah lauter bekannte Gesichter, aber das ihrer Schwester war nicht darunter.
»Und wenn schon!? Was soll’s?« sagte Jürgen Holbach. »Sie kann sich ja nicht verflüchtigt haben!«
Die Musik klang aus, die Paare blieben stehen. Bettina wollte die Gelegenheit benutzen, sich auf die Suche nach Ursel zu machen.
Jürgen Holbach hielt sie fest. »Hör mal, Bettina«, sagte er bittend, »sei doch nicht so … du kannst dich doch jetzt nicht einfach verkrümeln!«
»Bloß auf einen Sprung! Ich will sehen, wo sie steckt … ich bin gleich wieder zurück.«
»Das kenne ich. Sobald man dich aus den Augen läßt, hat dich ein anderer geschnappt … wenigstens den nächsten Tanz noch, Bettina!«
Die Schulband – vier Jungen und ein Mädchen am Klavier – stimmten mit nicht ganz gelungenem Einsatz einen feurigen Cha-cha-cha an. Es fiel Bettina nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen. Sie tanzte gut und leidenschaftlich gerne. Aber ihre Sorge um die Schwester war stärker. Geschickt löste sie sich aus Jürgen Holbachs Armen, bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden.
Jürgen Holbach versuchte ihr zu folgen, aber ehe er die Tür erreichte, war Bettinas blonder Schopf schon verschwunden.
Er stellte sich in die Nähe der Wand, zündete sich eine Zigarette an. Er war enttäuscht und verärgert, dennoch konnte er auf Bettina nicht böse sein. –
Bettina begriff selber nicht, warum sie die Abwesenheit ihrer Schwester so beunruhigt hatte. Vielleicht kam es einfach daher, daß sie und Ursel, im Gegensatz zu den anderen, ohne ihre Eltern zur Abschlußfeier gekommen waren. Der Vater war verreist, und die Mutter hatte den kleinen Heiner, der mit einer Grippe zu Bett lag, nicht allein lassen mögen. Bettina fühlte sich für die Schwester verantwortlich, obwohl sie sehr gut wußte, daß das eigentlich unsinnig war. Schließlich war Ursel fast ein Jahr älter als sie selber und durchaus imstande, auf sich aufzupassen. Trotzdem stieg Bettinas Unruhe von Sekunde zu Sekunde, während sie die Nebenräume absuchte, jeden, der ihr begegnete, nach Ursel fragte, ohne sie jedoch zu finden.
Möglicherweise war sie schon nach Haus gegangen. Aber ohne ihr etwas zu sagen? Auch das war unwahrscheinlich.
Auf gut Glück öffnete Bettina eine Tür, von der sie nicht ahnte, wohin sie führte, und – sah ihre Schwester Ursel. Sie hockte auf einer kleinen Treppenleiter in einem Abstellraum. Bettina erkannte in dem schwachen Licht, das vom Flur in das dunkle kleine Zimmer schien, nur undeutlich ihren weißen Spitzenkragen und die dazu passenden großen Manschetten.
»Sag mal … bist du wahnsinnig geworden?« sagte sie verblüfft.
»Laß mich in Ruh!« Ursels Stimme klang wütend und verzweifelt.
Bettina zog die Tür hinter sich ins Schloß, knipste das Licht an. Eine winzige Glühbirne an der sehr hohen Decke der Kammer warf ihr Licht auf Stöße von Tellern und Tassen in Wandregalen, auf Stapel von Tischtüchern, Handtüchern, auf Besen und Eimer und auf Ursels verweintes Gesicht.
»Ursel«, fragte Bettina, »ist was passiert?«
»Das fragst du mich?«
Bettina hob hilflos die Hände. »Ja, aber … habe ich dir etwa was getan?«
»Nein. Du nicht. Du bist ja immer der reinste Unschuldsengel!«
»Ich weiß wirklich nicht, Ursel …«
»Nein, dir ist es bestimmt nicht aufgefallen, daß du mir alle Tänzer weggeschnappt hast, wie? Wie solltest du auch was dabei finden! Du bist es ja so gewohnt! Du bist die schöne, die begabte, die kluge Bettina! Du kannst verlangen, daß alles sich um dich dreht! Was interessiert es dich denn, wenn du mir mein ganzes Leben kaputt machst?! Du, du bist so gemein … so gemein!« Ursel hob die zu Fäusten geballten Hände und schüttelte sie in verzweifelter Wut.
Bettina holte tief Luft. »Ursel«, sagte sie eindringlich, »du weißt sehr gut, daß alles, was du jetzt redest, Unsinn ist. Ich habe dir nicht einen einzigen Tänzer weggeschnappt, das redest du dir ja bloß ein! Du hast genau soviel getanzt wie ich …«
»Ja, das habe ich. Das stimmt haargenau. Weil du jedesmal nur mit einem tanzen konntest. Und wer bei dir zu spät kam, hat sich dann gnädig meiner erbarmt. Glaubst du etwa, so was macht Spaß?«
Bettina wurde blaß. Sie spürte, daß die Vorwürfe ihrer Schwester nicht ganz unberechtigt waren. »Ursel!« sagte sie. »Du weißt genau … ich kann doch nichts dafür!«
»Dafür! Dafür! Was interessiert es mich, ob du etwas dafür kannst! Ich habe es satt … verstehst du!« Ursula griff sich mit der Hand an die Kehle. »Satt bis hierhin, immer nur in deinem Schatten zu stehen. Weißt du, wie sie in der Stadt von mir reden … weißt du das? Für niemanden bin ich Ursel Bürger … nein! Bettinas Schwester nennen sie mich! Verdammt … das ist ja wirklich nicht mehr zu ertragen.«
»Bildest du dir das nicht alles nur ein, Ursel?« sagte Bettina. »Das ist doch alles … furchtbar übertrieben. Du bist doch mindestens so hübsch wie ich …«
»Ich? Mit meiner Figur?«
Bettina versuchte zu lachen. »Da haben wir’s. Du hast Minderwertigkeitskomplexe, das ist es. Bloß weil du ein bißchen dicker bist. Jeder Mensch weiß, daß sich so was von selber wieder gibt. Das liegt einfach … na, du weißt schon, woran. Wie kann man nur aus so was eine Tragödie machen?«
Ursel sprang auf und trat dicht auf Bettina zu. »Ich übertreibe also. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten! Ja? Dann beantworte mir jetzt mal ganz ehrlich eine Frage … wie kommt es, daß dein Zeugnis besser ist als meines?«
»Herrgott, Ursel! Als wenn das nicht ganz gleichgültig wäre, ob man …«
»Für dich vielleicht … aber für mich nicht. Mir ist es ganz und gar nicht gleichgültig, wenn ich ungerecht behandelt werde. Ich weiß genau, daß ich mindestens soviel gelernt habe wie du. Nein, noch viel mehr. Und trotzdem … bin ich etwa dümmer als du?«
»Bestimmt nicht!« sagte Bettina impulsiv.
»Na also. Da hast du’s. Gib selber zu, ich bin nicht dümmer und nicht fauler als du. Trotzdem hast du das bessere Zeugnis bekommen. Also … warum? Ja, guck mich nur so an mit deinem Unschuldsblick. Bei mir zieht der nicht. Damit hast du die Lehrer eingewickelt, aber …«
Jetzt riß Bettina die Geduld. »Ursel!« sagte sie aufgebracht. »Wie kannst du so etwas behaupten! Das geht nun wirklich zu weit. Noch nie habe ich versucht, mich irgendwo lieb Kind zu machen … noch nie!«
»Aber du bist es eben. Von Natur aus. Ich mache dir auch gar keinen Vorwurf. Ich sage dir nur klipp und klar … ich kann es nicht länger ertragen. Ich halte das einfach nicht mehr aus … immer und immer nur in deinem Schatten zu stehen. So, und nun weißt du Bescheid. Verschwinde und laß mich gefälligst in Ruh!«
»Willst du etwa hier in diesem Kabuff bleiben?« fragte Bettina. »Was versprichst du dir davon?«
»Hier habe ich wenigstens meine Ruhe! Niemand kann mich hier demütigen. Weiter will ich ja schon gar nichts mehr.«
»Du wirst dir dein Kleid schmutzig machen, Ursel.«
»Das ist mir egal!« behauptete Ursel, aber dennoch blickte sie unwillkürlich besorgt an dem Rock ihres blauseidenen Kleides herunter.
»Du siehst so süß aus heute abend, wirklich! Bitte … bitte, komm doch mit zurück! Ohne dich ist es einfach langweilig!«
»Für dich etwa? Daß ich nicht lache! Du amüsierst dich prächtig … auch ohne mich.«
»Aber ich will mich nicht amüsieren, ohne daß du dabei bist, Ursel! Begreifst du das denn nicht? Glaubst du wirklich, ich könnte vergnügt sein … lachen und tanzen, wenn ich weiß, daß du hier in diesem stickigen Kämmerchen hockst? Für was hältst du mich eigentlich?«
»Jedenfalls wird die Luft nicht besser, wenn du auch noch hier herumstehst!« sagte Ursel mürrisch.
»Komm mit!« bat Bettina noch einmal.
Ursel schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Ich habe genug.«
Einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Bettina sah den Trotz um Ursels Lippen, sah ihre verdüsterte Stirn und wußte, daß die Schwester sich zu sehr verbissen hatte, um von sich aus noch zurückzukönnen.
»Glaubst du«, fragte Bettina ruhig, »wenn du heute abend allein gekommen wärst … glaubst du, daß es dann besser gewesen wäre?«
»Was fragst du mich? Bin ich schon einmal ohne dich irgendwo gewesen? Kannst du dich an irgendeine Gelegenheit erinnern? Na, siehst du. Nie. Selbst im Kindergarten waren wir immer zusammen. Woher soll ich dann wissen, ob …«
Bettina schnitt ihrer Schwester das Wort ab. »Na schön. Dann probiere es aus. Ich gebe dir dazu die Gelegenheit. Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Du? Aber warum? Du brauchst doch nicht …«
Ehe Ursel ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, war Bettina auf den Flur zurückgegangen, eilte mit raschen Schritten zur Garderobe. Sie ließ sich ihren Mantel geben und verließ dann fluchtartig das Café. Sie wollte nicht, daß Ursel sie einholte, sie wollte mit sich und ihren Gedanken allein sein.– –
Als Bettina nach Hause kam, sah sie, daß im Wohnzimmer noch Licht brannte. Ein heller Strahl fiel durch die Spalte des nicht völlig geschlossenen Vorhanges in den Garten hinaus. Die Mutter war noch wach.
Ganz leise und vorsichtig schloß Bettina die Haustür auf, schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, bei jedem Schritt ängstlich lauschend. Aber nichts rührte sich im Haus. Aufatmend öffnete sie die Tür des niedrigen, geräumigen Zimmers im Dachgeschoß, das sie mit der Schwester zusammen bewohnte. Rasch zog sie sich im Dunkeln aus, schlüpfte unter die Bettdecke. Sie war froh und erleichtert, daß die Mutter nichts von ihrem frühen Heimkommen gemerkt hatte. Sie hätte nicht gewußt, wie sie ihre Fragen hätte beantworten können. Sie begriff ja selber nicht ganz, was eigentlich geschehen war.
Ursel war eifersüchtig auf sie, soviel stand fest. Aber warum nur? Warum? Weil ihr Zeugnis ein wenig besser ausgefallen war als das der Schwester? Weil mehr Jungen sie zum Tanz aufgefordert hatten als Ursel? Was bedeutete das schon? Nichts. Gar nichts. Unter all den Jungen war keiner, für den sich Bettina wirklich interessierte. Sie wußte, daß das bei Ursel genauso wenig der Fall war. Sie waren ja gleichaltrig wie sie selber, die meisten kannten sie von klein auf. Es war doch völlig gleichgültig, ob diese Jünglinge einen nett oder weniger nett fanden, ob sie gern oder weniger gern mit einem tanzten.
Warum war Ursel so verzweifelt gewesen? Bettina verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte in die Dunkelheit und versuchte das Problem zu lösen. Es gelang ihr nicht. Ihr Gefühl sagte ihr, daß der Fehler bei ihr liegen mußte, aber sie begriff nicht, was sie wirklich falsch machte. Sie wußte nur, daß sie Ursel von Herzen lieb hatte, und dennoch hatte aus der Stimme der Schwester beinahe Haß geklungen.
Bettina schauderte zusammen, als sie daran dachte. Wenn sie nur einen Menschen gehabt hätte, mit dem sie darüber sprechen konnte. Aber es gab niemanden. Ihr Bruder Bernd war ein Flegel und hatte bestimmt kein Verständnis für ihre Probleme, Heiner war noch viel zu klein, und die Mutter – plötzlich wurde Bettina klar, daß die Mutter, solange sie denken konnte, immer auf Ursels Seite gestanden hatte. Nicht, als wenn Ursel Bettina wirklich vorgezogen worden wäre, aber Bettina schien es, als wenn die Schwester immer ein wenig liebevoller, ein wenig nachsichtiger, ein wenig zärtlicher behandelt worden wäre.
Der Vater, ja, der Vater war immer gerecht gewesen. Ob er sie lieb hatte? Wenigstens er?
Bettina konnte sich diese Frage nicht beantworten. Sie fühlte sich einsam, fast ausgestoßen. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie übermüdet war, noch immer aufgeregt durch den Streit, verletzt durch Ursels Vorwürfe. Sie versuchte sich einzureden, daß jetzt in der Nacht alle Dinge anders und verzerrt aussahen. Aber dennoch krampfte sich ihr Herz zusammen vor Traurigkeit. Es war ihr, als wenn eine Zentnerlast auf ihre Brust drückte.
Bettina lag noch wach, als die Zimmertür vorsichtig geöffnet wurde und Ursel hereinhuschte. Auch sie zog sich aus, ohne das Licht anzuknipsen. »Bettina«, rief sie leise, »schläfst du schon?«
Bettina schwieg. Sie hörte, wie Ursel sich auf nackten Sohlen ihrem Bett näherte, schloß die Augen.
Sie spürte den Atem ihrer Schwester an ihrer Wange. »Bist du mir noch böse?« fragte Ursel. »Du schläfst ja noch nicht … ich weiß, daß du noch nicht schläfst! Bitte, sag doch ein Wort!«
Bettina öffnete die Lider nicht, bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen wie eine Schlafende. Ganz nahe an ihrem Ohr hörte sie die Stimme ihrer Schwester: »Bettina, ich war gräßlich zu dir! Es tut mir leid, wirklich! Bitte, verzeih mir!«
Bettina hob die Arme, legte sie im Dunkeln zart um Ursels Hals, küßte die Schwester zärtlich auf beide Wangen. »Wir wollen uns nicht mehr zanken, Ursel, ja?« bat sie. »Es ist so dumm … und es tut so weh!«
Wortlos schlüpfte Ursel zu Bettina ins Bett. Wange an Wange schliefen sie ein, Bettina mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen.
In der Samstagausgabe des ›Westfälischen Anzeigers‹ gab es acht Seiten Stellenangebote. Bettina und Ursel rissen sich die Blätter gegenseitig aus der Hand.
»Sieh dir das an, Mutti«, sagte Bernd mit vollem Mund, »wie die Hyänen!«
»Bettina … Ursel!« mahnte Frau Bürger. »Legt die Zeitung aus der Hand! Sofort, wenn ich bitten darf! Nicht irgendwie, sondern wieder schön zusammengelegt … ja, so ist es gut. Ihr wißt genau, beim Frühstück wird nicht gelesen.«
»Aber, Mutter«, versuchte Bettina zu erklären, »wir wollten doch bloß …«
»Schließlich ist es furchtbar wichtig für uns, daß wir eine gute Lehrstelle finden«, fügte Ursel hinzu.
»Aber das muß doch nicht in diesem Augenblick sein, wie?«
»Wenn wir nicht sofort schreiben, sind die guten Angebote futsch!« behauptete Ursel schmollend.
»Vor Montag können eure Werbungen sowieso nicht dort sein … es ist also ganz gleichgültig, ob ihr sie jetzt oder erst heute nachmittag schreibt. Aber da ihr es so eilig habt … von mir aus, bitte. Sobald der Frühstückstisch abgeräumt und das Geschirr gespült ist, könnt ihr euch ins Vergnügen stürzen.«
Frau Bürger nahm einen Schluck Kaffee, fügte hinzu: »Aber denkt bitte immer daran … eure zukünftige Arbeitsstätte muß von hier aus täglich zu erreichen sein, verstanden? Bildet euch nur ja nicht ein, daß ihr nun erwachsen seid, um in die Welt hinauszuziehen. Wunschträume wie möblierte Zimmer oder dergleichen sind schon gestrichen!«
Bernd zögerte sein Frühstück so lange wie möglich hinaus, nur um die Schwestern zu ärgern. Er machte erst Schluß, als die Mutter endlich ein Machtwort sprach. In fliegender Eile deckten Bettina und Ursel den Tisch ab. Nie hatten sie so schnell gespült, abgetrocknet und aufgeräumt. Dann setzten sie sich zusammen, mit Papier und Bleistift bewaffnet, an den Wohnzimmertisch, nahmen sich den Zeitungsteil mit den Stellenangeboten heraus. Bernd schaute ihnen dabei über die Schultern.
Ursel schubste ihn mit dem Ellbogen zurück. »Hast du wirklich nichts Besseres zu tun, als uns bei der Arbeit zu stören?« fragte sie schnippisch.
»Bestimmt nicht!« Bernd lachte. »Ich hab’ mir gedacht, bei euch kann ich was lernen!«
»Wenn du nicht sofort abhaust, rufe ich Mutter!«
»Na, na, na … man nicht so giftig!« Bernd schwang sich rittlings auf einen Stuhl, schlug die Arme über der Lehne zusammen, legte sein Kinn darauf, betrachtete die Schwestern amüsiert.
»Laß ihn doch, Ursel«, sagte Bettina besänftigend, »den wirst du nicht ändern.« Sie zog die Zeitung etwas näher zu sich hin, blätterte um. »Lehrstellen kommen sicher ziemlich zuletzt … da, siehst du, hier sind sie schon!« Sie tippte mit dem Bleistift auf eine bestimmte Anzeige. »Hier … da wäre schon was für uns!« Sie las: »Kaufmännische Lehrlinge, in Klammern: auch weiblich, intelligent und anpassungsfähig, für chemisches Industriewerk gesucht …« Bettina unterbrach sich. »Zu blöd … es steht nicht drin, wo das Industriewerk liegt … na, ich denke, wir schreiben auf alle Fälle mal dorthin. Was meinst du, Ursel?«
Ursel zuckte schweigend die Achseln.
Bettina bemerkte nicht die aufkommende Verstimmung der Schwester. Sie studierte eifrig weiter die Stellenangebote, machte sich Notizen, gab Kommentare dazu. »So«, sagte sie endlich, »fünfzehn habe ich gefunden, die für uns in Frage kommen … bitte, überzeug dich selber, Ursel. Ich hab’ sie alle angestrichen. Eins klingt verlockender als das andere. Aber fünfzehn Angebote mit handgeschriebenem Lebenslauf loszuschicken, das scheint mir doch ein bißchen happig, wie? Wäre es nicht besser, wir würden noch mal sortieren?«
»Wie du willst«, sagte Ursel kurz angebunden.
Jetzt erst wurde Bettina aufmerksam. »Sag mal, was ist eigentlich los mit dir, Ursel? Habe ich dir wieder was getan?«
»Nichts. Gar nichts. Wie kommst du darauf?« sagte Ursel, aber ihre Stimme klang durchaus nicht überzeugend
»Du hast das gnädige Fräulein verletzt, Bettina«, spottete Bernd, zog die Augenbrauen hoch und säuselte affektiert: »Ich bin sehr enttäuscht von dir, meine Liebe … etwas mehr Takt dürfte ich doch wohl erwarten.«
»Aber … ich weiß gar nichts«, sagte Bettina verwirrt, »das ist doch alles Quatsch, Ursel. Oder habe ich wirklich wieder etwas falsch gemacht? Bist du mir böse, weil ich die Angebote vorgelesen habe? Bitte, hier ist die Zeitung … überzeug dich selber, ich wollte dir doch nur Arbeit ersparen.«
Ursel schwieg und biß sich auf die Lippen. Sie machte keine Anstalten, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Bernd grinste unverschämt.
»Bitte, geh raus, Bernd!« sagte Bettina ärgerlich. »Laß uns allein! Du störst uns wirklich. Begreifst du das denn nicht?«
Bernd grinste noch breiter und rührte sich nicht von der Stelle.
Bettina übersah ihn und wandte sich an Ursel. »Bitte«, sagte sie, »bitte, hilf mir doch jetzt. Wir müssen die Angebote ’raussuchen, an die wir wirklich schreiben wollen … ich kann das nicht allein entscheiden … wirklich nicht, Ursel, Wir dürfen doch nicht …«
Endlich tat Ursel den Mund auf. »Wir … wieso sagst du dauernd … wir? Bildest du dir etwa ein, ich hätte Lust, meine Bewerbungen mit dir gemeinsam loszuschicken?«
»Ja, aber … Ursel … nein, jetzt versteh ich dich nicht«, sagte Bettina hilflos.
»Dann muß ich mich deutlicher ausdrücken!« Ursel beugte sich vor. »Ich habe nicht die geringste Lust, mit dir im gleichen Betrieb zu arbeiten, daß du es nur weißt. Ich habe es satt, hinter dir zurückzustehen. Ich will endlich mein eigenes Leben leben. Schließlich sind wir ja keine siamesischen Zwillinge … oder?«
»Natürlich, Ursel, wenn du das so siehst«, sagte Bettina, »aber das hindert uns doch nicht daran … wir können uns doch bei derselben Firma bewerben, nicht wahr? Wahrscheinlich nehmen sie ja doch nur einen von uns.«
»Sehr richtig. Und zwar dich! Und damit rechnest du doch wohl, wie?«
»Ursel … nein … aber wie kannst du …«
»Tu doch nicht so scheinheilig, ich bitte dich. Du weißt genau, daß dein Zeugnis besser ist als meines … und du weißt auch genau, daß du hübscher bist. Ich habe neben dir überhaupt keine Chance. Du hältst mich wohl für einen Idioten, daß ich das nicht begreife!«
»Ich halte dich für einen Idioten, daß du dir so was einredest!« Jetzt wurde auch Bettina heftig. »Du mit deinen blöden Komplexen … langsam habe ich aber wirklich genug davon! Ich habe keine Lust, mich dauernd mit dir herumzuzanken, Ursel … wirklich nicht. Weshalb regst du dich so auf? Wenn du dich nicht bei den gleichen Firmen wie ich bewerben willst … dann teilen wir die Angebote doch einfach auf … es sind ja genug da.«
»Eine glänzende Idee«, sagte Ursel wild. »Du die guten, und ich die schlechten. So was konnte auch nur dir einfallen, Bettina!« Sie schob ihren Stuhl zurück und sprang auf. »Danke. Vielen Dank für deine Almosen.«
Ursel drehte sich auf dem Absatz um und wollte aus dem Zimmer rennen, stieß dabei in der Wohnungstür fast mit der Mutter zusammen, die den kleinen Heiner, fest in eine Decke gewickelt, auf dem Arm trug.
»Was ist hier los?« fragte Frau Bürger erstaunt. »Zankt ihr euch etwa? Hier geblieben Ursel! Ich will wissen, was vorgeht!« Sie bettete den kleinen Heiner sanft auf der Couch.
»Das Übliche, Mutter«, sagte Bernd voller Schadenfreude, »die beiden liegen sich mal wieder in den Haaren … Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land!«
»Dich habe ich nicht gefragt, Bernd«, sagte Frau Bürger unwillig. »Lauf bitte nach oben und hol Heiners Märchenbuch herunter. Und überhaupt, du könntest jetzt ein bißchen mit deinem kleinen Bruder spielen. Das ist eine entschieden bessere Beschäftigung, als deine Schwestern gegeneinander aufzuhetzen.«
Bernd erhob sich und tippte sich, mit der Miene einer beleidigten Unschuld, gegen die Brust: »Ich? Ich hätte sie aufgehetzt? Nein, das ist nun wirklich das Neueste. Jetzt soll ich auch noch schuld dran sein, daß diese beiden Zimtzicken sich nicht vertragen können … na, Pustekuchen!« Er schlenderte hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer.
»Was war nun wirklich los?« fragte Frau Bürger die Mädchen.
Ursel und Bettina wechselten einen Blick. Bettina preßte die Lippen zusammen, sie wollte die Schwester nicht anschwärzen. Ursel zupfte nervös an ihrem Pullover herum.
»Na … wird’s bald?«
Ursel gab sich einen Ruck: »Es ist nur so, Mutter«, sagte sie, »ich will mich nicht mit Bettina zusammen bewerben … du weißt schon, warum. Ich will es nicht! Ich …«
Frau Bürger unterbrach ihre Tochter. »So etwas Dummes«, sagte sie und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Jetzt hätte ich’s doch bald vergessen … ganz gut, daß ihr mich daran erinnert. Du kannst dich noch gar nicht bewerben, Bettina … der Vater hat mich ausdrücklich gebeten, dir zu sagen, daß er vorher noch mit dir reden möchte … verstehst du? Du bist nicht böse deswegen, nicht wahr? Ich glaube, Vater hat dir etwas Wichtiges zu sagen.«
Das Blut schoß Bettina in den Kopf. In ihren Ohren dröhnte es. Sie war nicht imstande, die Worte der Mutter wirklich aufzunehmen. Sie begriff nur das eine, daß sie ausgeschaltet werden sollte. Sie war überzeugt, daß die Mutter nur eingegriffen hatte, um Ursel zu helfen. Alle waren gegen sie, niemand hatte sie lieb.
Als Bettina, Ursel und Bernd am Sonntagmorgen aus der Kirche kamen, sahen sie schon von weitem das Auto vor ihrem Haus stehen. Wie auf Kommando rannten sie alle drei los, jagten die Straße hinunter, stürmten durch den Vorgarten. Während Ursel die Haustür aufschloß, klingelte Bernd Sturm. Sie stürzten, sich gegenseitig stoßend, drängend und lachend ins Haus. Ursel erreichte die Wohnzimmertür als erste, riß sie auf.
Der Vater saß mit der Mutter und Heiner beim Frühstückstisch, blickte ihnen lachend entgegen. »Na, da sind ja meine Großen«, sagte er und breitete die Arme aus.
Sie flogen auf ihn zu, umarmten ihn so stürmisch, daß es der Mutter nur noch mit Mühe und Not gelang, seine volle Kaffeetasse in Sicherheit zu bringen.
»Vati … ich bin so froh, daß du wieder da bist!« rief Bettina.
»Hast du mir einen Flugzeugmotor mitgebracht, Vati?« fragte Bernd.
»Wie war es, Vati? Erzähl doch mal, was du erlebt hast«, drängte Ursel.
»Mir hat Vati eine Eisenbahn mitgebracht«, piepste Heiner triumphierend.
»Ist es wahr, Vati, daß du mir etwas Wichtiges zu sagen hast?« wollte Bettina wissen.
»Nun aber Schluß, Kinder! Genug! Man kann ja sein eigenes Wort nicht mehr verstehen!« sagte die Mutter energisch. »Setzt euch jetzt erst mal hin, ganz ruhig und gesittet, wie es sich gehört … Vater hat euch etwas sehr Überraschendes zu sagen.«
»Eine richtige Überraschung, Vati?« rief Bernd aufgeregt.
»Ruhe, Bernd!« sagte die Mutter. »Mund halten!«
Der Vater wartete ab, bis jeder einen Platz gefunden hatte und absolute Ruhe eingetreten war. Dann begann er, und es war ihm anzumerken, daß er seine Worte sehr sorgfältig setzte: »Also, paßt mal auf, ihr Bande … ich glaube, es ist wirklich eine große Überraschung, die ich euch zu berichten habe … bitte, nehmt sie mit Haltung auf … kein Indianergeheul, keine Freudentänze! Unser Leben wird sich in absehbarer Zeit von Grund auf ändern. Eine Angelegenheit, die schon seit langem in der Schwebe war … ihr habt nichts davon gewußt, Mutter und ich haben es euch absichtlich verschwiegen, um keine falschen Hoffnungen in euch zu wecken … hat sich jetzt entschieden. Wir werden Dörtlingen verlassen, bei der Josef-Karl-Hütte habe ich schon gekündigt … ich habe einen Vertrag als leitender Ingenieur einer Eisenerzgrube in Indien abgeschlossen, um es genauer auszudrücken … in Bihar …«
Bernd konnte sich nicht länger zurückhalten. »Und wir?!« platzte er heraus. »Wo bleiben wir?«
Herr Bürger lächelte. »Euch nehme ich natürlich mit!«
»Ist das wahr?« Bernd sprang in die Höhe. »Nach Indien? Wir … wir reisen wirklich alle zusammen nach Indien?«
»Ja, aber nur, wenn du dich jetzt nicht wie ein Kindskopf benimmst, sondern wie ein großer Junge, auf den man sich schon ein bißchen verlassen kann. Es ist eine weite Reise, und es wird eine große Umstellung sein … also, Haltung, Herrschaften, Haltung!«
Bettina hatte die Hände gefaltet und sah Herrn Bürger aus strahlenden Augen an. »Vati … das ist zu schön, um wahr zu sein!«
»Jetzt habe ich meine ganzen Bewerbungen umsonst geschrieben«, sagte Ursel. »Zehn handgeschriebene Lebensläufe … die Arbeit hätte ich mir sparen können.«
»Macht doch nichts, Ursel«, sagte Bettina vergnügt. »Wenn ich denke, was wir alles erleben werden … ich könnte wahnsinnig werden vor Freude. Nie, nie, nie hätte ich geglaubt, daß ausgerechnet wir so ein Glück haben würden!«– –
Natürlich gab es an diesem Tag nur ein einziges Gesprächsthema, und das hieß: Indien. Bernd holte seinen Atlas hervor, und Bettina schlug das Lexikon auf; Ursel suchte das Erdkundebuch heraus, in dem Indien behandelt wurde. Sie stellten fest, daß sie eine Menge über Indien gehört und gelesen hatten, und dennoch konnten sie sich von dem neuen Leben, das auf sie wartete, nur eine sehr ungenaue Vorstellung machen. Ihre Phantasie malte ihnen ein paradiesisches Leben aus, und vergeblich bemühten sich die Eltern, ihre Begeisterung ein wenig zu dämpfen.
Vor lauter Aufregung konnte Bernd in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Er wälzte sich hin und her und her und hin, erlebte im Geiste die aufregendsten Abenteuer, ritt auf Elefanten durch den Dschungel, kämpfte mit wilden Tigern.
Dann bekam er Hunger. Er hatte den ganzen Tag nur wenig essen können, jetzt knurrte ihm der Magen. Ganz leise, um Heiner nicht zu wecken, stand er auf, öffnete vorsichtig die Tür und schlich auf nackten Sohlen in den Gang hinaus, die Treppe hinunter.
Die Wohnzimmertür war einen Spalt breit offen, Licht fiel in die Diele. Die Eltern waren noch auf.
Damit hatte Bernd gerechnet. Er zögerte einen Augenblick. Dann pirschte er sich vorsichtig näher an die Wohnzimmertür heran, hörte von drinnen die Stimme der Mutter.
»Du mußt es ihr sagen, Bernhard«, bat sie eindringlich. »Du mußt! Bettina ist jetzt alt genug. Sie hat einfach ein Recht darauf, endlich die Wahrheit zu erfahren.«
»Du tust gerade so, als wenn wir sie ihr bisher aus Böswilligkeit verheimlicht hätten«, sagte Herr Bürger, »wir haben es doch nur gut mit ihr gemeint …«
»Ja, ja ich weiß. Dennoch ist es eine Lüge. Glaub mir, Bernhard, Lügen bringen nie etwas Gutes. Manchmal … ja, ich weiß, du wirst mich auslachen … aber manchmal habe ich geradezu Angst.«
»Angst! Wovor denn?«
»Daß sie es von alleine herausbekommt, verstehst du das denn nicht? Bernhard, das darf nicht geschehen, wir müssen dem zuvorkommen.«
»Ich bitte dich, Edith, was sind das für Hirngespinste! Wer sollte ihr denn das sagen? Niemand weiß doch davon etwas außer uns beiden … und natürlich Stefan Steutenberg. Na, siehst du.«
»Du willst sie nicht verlieren«, sagte Frau Bürger, »du hast sie immer sehr lieb gehabt.«
»Du etwa nicht?«
»Doch, schon. Ganz bestimmt. Aber … deshalb meine ich ja gerade, muß es jetzt sein … manchmal ertappe ich mich dabei, daß ich für Ursel eben doch mehr Verständnis habe. Ich versuche dagegen anzugehen, Bernhard, aber … es ist stärker als ich. Du darfst mir keinen Vorwurf machen deswegen, bitte. Es ist nur so … ich sehe, wie unglücklich Ursel ist, weil sie immer in ihrem Schatten steht … ich leide einfach mit ihr.«
»Unsinn!« sagte Herr Bürger ärgerlich. »Hirngespinste! Ich hoffe nur, du unterstützt das nicht auch noch. Ja, ja, ich weiß, daß wir es Bettina sagen müssen … ich möchte es nur aus einem einzigen Grund jetzt noch nicht tun. Ich habe Stefan Steutenberg telegrafiert. Ich rechne fest damit, daß er kommt. Dann kann er es ihr selber sagen. Findest du nicht auch, daß das die beste Lösung wäre? Schließlich …«
Die Stimme des Vaters wurde leiser.
Bernd schlich sich näher zur Tür. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Mit angehaltenem Atem stand er da und lauschte. Dies war der aufregendste Tag seines Lebens.
Die Tatsache, daß Bürgers nach Indien auswandern wollten, verbreitete sich mit Windeseile durch die kleine Stadt. Bettina, Ursel und Bernd waren nicht ganz unschuldig daran. Sie hatten alle drei nichts Eiligeres zu tun, als ihre Freunde und Freundinnen von der großen Umwälzung in ihrem Leben zu unterrichten. Sie fanden es wundervoll, auf einmal im Mittelpunkt zu stehen.
Aber als die Wochen vergingen, ohne daß sie den Neugierigen sagen konnten, wann die große Reise tatsächlich losging, verloren ihre Pläne langsam an Interesse, ja, sie begannen unglaubhaft zu wirken.
Jürgen Holbach war der erste, der es offen aussprach. Er war eines Nachmittags auf einen Sprung zu Bürgers gekommen, um sich zu verabschieden. Sein Vater hatte ihm eine Stelle als kaufmännischer Lehrling in einem bedeutenden Industrie-Unternehmen in Düsseldorf verschafft. Er traf die Geschwister im Garten beim Tischtennisspiel.
»Sagt mal ehrlich … mit Indien … das war doch wohl bloß ein Ulk von euch, wie?« fragte er.
»Wie kommst du darauf?« Ursel sah ihn ärgerlich an.
»Ich weiß schon … hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens«, behauptete Bernd. »Weil du verschossen in Bettina bist, willst du nicht …«
»Das hat doch damit gar nichts zu tun«, widersprach Jürgen Holbach ruhig. »Ich bin ja nicht der einzige. Damit ihr genau Bescheid wißt … niemand glaubt mehr daran, daß ihr wirklich nach Indien geht.«
»Niemand? Sag das noch einmal!« Bernd trat mit drohend erhobenem Tischtennisschläger auf Jürgen Holbach zu.
»Also, bitte«, sagte Jürgen mit einer großartigen Handbewegung, »gib dir keine Mühe, Bernd … von so einer halben Portion wie dir lasse ich mich noch lange nicht ins Bockshorn jagen. Es tut mir leid, wenn du die Wahrheit nicht ertragen kannst.«
»Die Wahrheit! Ausgerechnet ich soll die Wahrheit nicht ertragen können? Da kann ich ja nur kichern.« Bernd knallte den Schläger heftig auf die Platte. »Ich bin der einzige, der sie kennt … ich! Nur ich! Sonst niemand!«
»Was meinst du damit, Bernd?« fragte Bettina verwundert. »Von was für einer Wahrheit redest du?«
»Na, warum wir noch immer hier rumsitzen … warum es immer noch nicht losgeht …«
»Aber das wissen wir doch alle, Bernd«, sagte Bettina, »hab’ dich doch bloß nicht so. Es handelt sich noch um ein paar Formalitäten. Ja, Jürgen, das kannst du uns schon glauben. Für so eine große Reise ist ein schrecklicher Papierkram nötig, und Vater sagt …«
»Ich hab’ dich ja nicht kränken wollen, Bettina«, unterbrach Jürgen Holbach sie. »Nur … Bernd hat vielleicht ganz recht … mir wär’s lieber, wenn du hier bliebst. Indien ist ein bißchen weit, findest du nicht?«
»Du kannst sie behalten, wenn du willst!« rief Bernd wütend. »Heirate sie doch, dann sind wir sie los. Dann können wir endlich abhauen!«
»Bernd! Was soll denn nun das wieder heißen?!« rief Ursel.
»Genau das, was ich gesagt habe. Glotzt mich nicht so an, ich bin nicht verrückt.« Er zeigte mit einem nicht ganz sauberen Finger auf Bettinas Brust. »Sie ist schuld! Bettina! Sonst niemand! Wegen der hocken wir immer noch hier und müssen uns auslachen lassen. Sonst wären wir doch schon längst über alle Berge.«
Bettina war blaß geworden.
Jürgen legte schützend seinen Arm um ihre Schultern. »Hör gar nicht hin«, sagte er, »der Knabe spinnt ja. Das merkt ein Blinder ohne Krückstock.«
»Bernd!« sagte Ursel. »Was soll das? Los, jetzt hast du angefangen … jetzt erklär es auch richtig! Wie kommst du darauf, daß Bettina schuld ist? Woher willst du das überhaupt wissen?«
»Weil ich es eben weiß«, sagte Bernd halb trotzig, halb verlegen, »ich hab’s gehört. Neulich abends, als Vater zurückgekommen ist. Sie haben es ja gesagt.«
»Schäm dich! Du hast gehorcht«, sagte Jürgen verächtlich, »pfui Teufel!«
»Was geht dich das an?« rief Bernd wild. »Ich kann tun und lassen, was ich will. Du hast mir gar nichts zu sagen!«
»Bernd, bitte. Es ist doch ganz egal, woher du’s weißt. Wir verraten dich nicht, ganz bestimmt nicht«, drängte Ursel. »Aber sag es uns endlich. Du mußt es uns sagen. Was ist mit Bettina nicht in Ordnung?«
»Wie kannst du ihn das fragen?« sagte Jürgen Holbach zornig, »merkst du denn nicht, daß er bloß angibt? Er will Bettina schlecht machen … er weiß nichts, gar nichts. Woher sollte er auch?«
Bernd ging mit erhobenen Fäusten auf Jürgen Holbach los. »Bist du dessen so sicher?!« schrie er außer sich vor Wut, »dann paß mal auf! Paß gut auf! Bettina gehört gar nicht zu uns! Sie ist nicht unsere Schwester. Sie …«
Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn Jürgen Holbachs Faust traf ihn mit voller Wucht unter dem Kinn. Bernd stürzte zu Boden.
Bettina benutzte die Sekunde, in der Jürgen Holbach sie aus den Augen ließ, sich umzudrehen und ins Haus zu rennen. Sie raste die Treppe hinauf, hörte nicht, wie Frau Bürger hinter ihr herrief, stürzte in die Dachkammer, lehnte sich keuchend mit dem Rücken an die Tür.
Ihre Welt war zusammengebrochen. Rote Kreise drehten sich vor ihren Augen. Sie wußte mit tödlicher Gewißheit, daß Bernd nicht gelogen hatte, aber sie wollte es nicht wahrhaben.
»Nein!« schrie sie in letzter Verzweiflung. »Nein!«
Dann löschte Dunkelheit ihr Denken.
Als Bettina wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Schmerzend kehrte die Erinnerung zurück.
Sie spürte, daß sie nicht allein im Zimmer war, hielt die Augen geschlossen. Sie vermochte es nicht, die Tränen, die in ihr hochstiegen, zurückzuhalten, sie perlten unter den geschlossenen Lidern hervor, rollten über ihre Wangen, liefen ihr salzig in die Mundwinkel.
»Sie ist wach, Mutter«, hörte sie Ursels Stimme in unterdrückter Freude sagen. »Gott sei Dank … sie kommt wieder zu sich!«
Frau Bürgers Hand strich zärtlich über Bettinas Haar. »Bitte, Liebes«, sagte sie, »weine nicht. Wir sind bei dir. Mutter und Ursel. Bitte, schau uns doch an.«
Bettina schluchzte auf, suchte nach Worten. »Hat Bernd … es ist doch nicht wahr, Mutter … Bernd hat gelogen. Sag, daß er gelogen hat!« Sie öffnete ihre klaren, weitauseinanderstehenden Augen, die voll Tränen waren, sah Frau Bürger flehend an.
»Bernd hat seine Strafe schon weg, Bettina«, sagte Ursel eifrig. »Jürgen Holbach hat ihn fürchterlich verhauen … er wird noch vierzehn Tage was davon spüren.«
»Außerdem, denke ich, wird Vati auch noch ein Wörtchen mit ihm reden wollen, wenn er nach Hause kommt«, sagte Frau Bürger. »Fühlst du dich wieder besser, Bettina? Hast du einen Wunsch? Vielleicht … vielleicht etwas zu trinken? Ja, sicher bist du durstig …« Sie stand auf.
»Bitte, bleib«, sagte Bettina. »Bitte,« Sie richtete sich halb in ihren Kissen auf. »Ich muß wissen … ist es wahr? Ich … ich gehöre nicht zu euch?«
»Was für ein Unsinn.« Frau Bürger setzte sich wieder, nahm Bettinas schmale Hand. »Natürlich gehörst du zu uns … wir haben dich lieb … alle. Sehr lieb.«
»Aber ich bin nicht euer Kind?«
»Ist das denn so wichtig? Seit du denken kannst, hast du bei uns gelebt … du gehörst zu unserer Familie wie Ursel und Bernd … und wie Heiner. Wir gehören doch alle zusammen. Fühlst du das denn nicht?«
Bettina schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »nein …« Ihre Lippen zitterten. »Du hast Ursel immer lieber gehabt als mich … immer. Ich habe es gespürt … aber ich habe gedacht …« Sie zuckte hilflos die Schultern. »Ich konnte ja nicht ahnen, wie es wirklich war. Wer bin ich? Bitte, sagt es mir … Wißt ihr wenigstens, wer ich wirklich bin?«
»Natürlich, Bettina«, sagte Frau Bürger rasch, »du wirst doch hoffentlich nicht glauben, wir haben dich irgendwo auf der Straße gefunden? Nein, so ist es doch nicht. Dein Vater ist Stefan Steutenberg … Onkel Stefan, der immer die schönen Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag geschickt hat. Wenn du gut nachdenkst, wirst du dich auch noch an ihn erinnern. Er war zum letztenmal hier, als du und Ursel gerade aus der Schule kamt.«
»Warum … aber warum hat er mich fortgegeben?«
»Deine Mutter ist kurz nach deiner Geburt gestorben, Bettina. Vater und Stefan Steutenberg waren Freunde … sehr gute Freunde, sie hatten zusammen auf der Hochschule studiert, jahrelang im gleichen Zimmer gewohnt … sie verstanden sich sehr gut. Wir waren damals schon verheiratet, Ursel war noch nicht ganz ein Jahr alt … es schien selbstverständlich, daß wir dich aufnahmen. Zuerst sollte es natürlich nur vorübergehend sein, bis du ein bißchen größer sein würdest. Dann kam alles anders. Für Ursel warst du einfach das Schwesterchen, und Vati und ich gewannen dich sehr lieb. Du sahst in uns deine Eltern. Als Stefan Steutenberg zum erstenmal zu Besuch kam … du warst damals zwei Jahre … da hattest du Angst vor ihm. Es wäre uns auch sehr schwergefallen, dich wieder herzugeben. Also blieb alles beim alten.«
»Aber … ich verstehe es doch nicht«, sagte Bettina, »wieso hat er …« Sie brachte es noch nicht über sich, den Mann, den sie als Onkel Stefan kannte, Vater zu nennen, »wieso hat er es einfach zugelassen? Wenn ich wirklich seine Tochter bin, warum …«
»Stefan Steutenberg ist ein sehr unruhiger Mensch«, sagte Frau Bürger, »vielleicht hat ihn auch nur das Schicksal so gemacht. Er hat deine Mutter sehr geliebt, Bettina, und als er sie dann verlor … das hat ihn aus dem Gleichgewicht geworfen. Er konnte es nie mehr lange an einem Ort aushalten, reiste ruhelos kreuz und quer durch die Welt. Er hätte dir weder ein Heim bieten können, Bettina, noch eine wirkliche Erziehung. Das wußte er selber. Deshalb …«
»Ich verstehe«, sagte Bettina leise. »Ja, ich verstehe … es ist ihm lästig, ein Kind zu haben. Ich bedeute ihm nichts.«
»Bettina! Wie kannst du so hart urteilen! Stefan Steutenberg ist, wenn du ihn erst näher kennenlernen wirst …«
»Ich will nicht«, sagte Bettina. »Nein, ich will nicht. Er hat sich um mich nie gekümmert. Was geht er mich an?«
»Er hat all die Jahre für dich bezahlt, Bettina … von den Geschenken ganz abgesehen. Wir hätten es uns nicht leisten können, ein fremdes Kind …« Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Verzeih bitte, Bettina … du bist für uns kein fremdes Kind, wirklich nicht. Ich … es war alles so schwer.«
Bettina sah Ursel an, um ihre Mundwinkel zuckte ein wehes Lächeln. »Du bist froh, daß du mich jetzt los wirst, nicht wahr? Endlich bist du allein … endlich brauchst du nicht mehr …«
»Bettina«, sagte Ursel ehrlich. »Sag doch so etwas nicht. Bitte, nicht. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich oft so eklig zu dir war … aber ich dachte ja immer, du wärst meine Schwester. Wenn ich gewußt hätte … ich hätte mich bestimmt besser benommen. Du darfst es mir nicht nachtragen, Bettina … du darfst nicht böse sein. Bitte, bleib bei uns … bitte!«
»Natürlich bleibt Bettina bei uns«, sagte Frau Bürger rasch, »das ist doch ganz selbstverständlich. Wenn sie nicht zu ihrem Vater will …«
»Würde er mich denn wollen? Nein. Bestimmt nicht. Er macht sich nichts aus mir. Da gibt es nichts dran zu deuteln.«
»Du bleibst also?« fragte Ursel.
Ehe Bettina noch antworten konnte, sagte Frau Bürger: »Vater hat Stefan Steutenberg telegrafiert … Daß wir nach Indien wollen. Er muß ja seine Einwilligung geben. Vielleicht … Vati hatte gehofft, er würde selber kommen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Bettina bitter. »Wegen mir?«
»Sprich doch nicht so«, sagte Ursel, »du tust ja gerade so, als wenn du von aller Welt verlassen wärst. Davon kann doch keine Rede sein … wir haben dich lieb … wir alle, auch Bernd, selbst wenn er so blöd gequatscht hat. Das kam doch bloß, weil er Jürgen Holbach nicht riechen kann. Im Grunde, es ist doch ganz egal, ob du wirklich unsere Schwester bist … vielleicht verstehen wir uns viel besser, wenn wir einfach Freundinnen sind.«
»Ich werde arbeiten«, sagte Bettina, »Stenografie und Schreibmaschine haben wir ja gelernt, damit kommt man heutzutage überall weiter. Ich … ich will niemanden zur Last fallen.«
»Bettina!« rief Ursel empört. »Wie kannst du?«
»Sei still, Ursel«, unterbrach Frau Bürger sie. »Bettina hat einen schlimmen Schock erlebt, du darfst nicht ernst nehmen, was sie jetzt spricht.« Sie erhob sich. »So, und jetzt gebe ich dir etwas zur Beruhigung … einen Löffel flüssiges Lecithin, das hilft mir auch immer … am besten versuchst du dann ein bißchen zu schlafen. Wenn Vati nach Hause kommt …«
»Wie soll ich ihn nennen?« fragte Bettina. »Ich kann doch jetzt nicht mehr … wo ich weiß, ihr seid ja nicht meine Eltern.«
Frau Bürger beugte sich über Bettina und küßte sie auf die Stirn. »Nenn uns, wie du’s immer getan hast, Liebes«, sagte sie, »selbst wenn es dir jetzt ganz falsch vorkommt, du kannst sechzehn Jahre deines Lebens … vielleicht die wichtigsten Jahre … nicht einfach streichen. Wenn du ruhiger geworden bist, wirst du die Dinge mit anderen Augen sehen.«– –
Eine Nachricht von Stefan Steutenberg kam erst zwei Tage später. Sie bestand aus einem ungemein ausführlichen Telegramm aus Kapstadt. Herr Bürger brachte es mit, als er abends nach Hause kam.
»Ein Telegramm von Stefan Steutenberg. Das geht dich an, Bettina«, sagte er und holte das gelbe Formular aus seiner Brieftasche. »Hier, lies selber.«
»Was telegrafiert er?« rief Ursel aufgeregt. »Darf Bettina bei uns bleiben? Wann …«
Herr Bürger legte mahnend den Finger auf die Lippen. »Ruhe, Ursel … Bettina wird es sicher gleich selber sagen.«
Bettina hatte das Telegramm überflogen, jetzt sah sie die erwartungsvollen Augen von Bernd, Ursel und Heiner auf sich gerichtet, las noch einmal laut von Anfang an: »alter junge was machst du für geschichten stop wieso ausgerechnet indien stop kann nicht zulassen dass du mir mein kind entführst stop habe haus bei münchen gekauft stop werde mich selber bald dort ansässig machen stop aber noch nicht spruchreif stop habe bettina im internat von madame jeuni genf angemeldet stop ausgezeichnetes institut stop geld kommt ebenfalls telegrafisch stop melde mich wieder stop grüsst mir bettina stop alles gute für euch stop hals- und beinbruch stop stefan steutenberg«
»So eine Gemeinheit!« platzte Ursel heraus. »Erst ist er froh, daß er Bettina los ist … und jetzt auf einmal …«
»Ursel, ich bitte dich«, sagte Frau Bürger unwillig. »Wie kannst du so töricht daherreden. Stefan Steutenberg ist niemals froh gewesen, Bettina los zu sein. Er hatte nur keine Möglichkeit, sich um sie zu kümmern.«
»Willst du denn überhaupt in dieses blöde Internat, Bettina?« fragte Bernd.
»Selbstverständlich wird Bettina das tun, was ihr Vater wünscht«, sagte Herr Bürger nachdrücklich. »Du kannst es dir am allerwenigsten erlauben, deinen Mund so aufzureißen, Bernd.«
Der Junge wurde rot und rieb sich unwillkürlich die Kinnspitze, die immer noch einen beachtlichen blauen Fleck aufwies, der langsam ins Grünliche hinüberzuspielen begann. »Bettina hätte es ja doch erfahren müssen«, sagte er trotzig vor sich hin.
»Sicher hätte sie das, Bernd«, sagte Frau Bürger, »aber nicht von dir. Und nicht auf solch rücksichtslose Art und Weise. Nein, Bernd! Du hast wahrhaftig kein Heldenstück vollbracht, und du tätest besser, uns nicht immer wieder daran zu erinnern.«
»Mein Gott, ist das aufregend!« rief Ursel. »Wir gehen nach Indien, und Bettina fährt in die Schweiz. Toll! Wenn uns jemand das noch vor ein paar Monaten gesagt hätte …«
»Ich will aber nicht, daß Bettina weggeht!« rief der kleine Heiner mit zorniger Stimme. »Ich will es nicht! Warum geben wir nicht Ursel weg?«
»Heiner!« rief Frau Bürger entsetzt.
»Ist doch wahr«, sagte Heiner kleinlaut. »Ursel kann lange nicht so schön Kasperle spielen wie Bettina.«
Bernd holte schon aus, um seinem kleinen Bruder eins hinter die Ohren zu geben.
Herr Bürger hinderte ihn daran. »Laß das, Bernd«, sagte er, »Heiner weiß nicht, was er redet … ich verstehe ihn schon.« Er legte seinen Arm um Bettinas Schultern, zog sie an sein Herz. »Wir alle werden dich sehr vermissen, Bettina … du hast uns mehr bedeutet, als du selber weißt. Daß du uns wirklich verlassen wirst … ich mag noch gar nicht daran denken.«
Einen Herzschlag lang fühlte Bettina sich an Herrn Bürgers Brust geborgen, dann begegneten ihre Augen zufällig dem Blick der Pflegeschwester. Sie spürte Ursels aufglimmende Eifersucht.
Sie löste sich aus Herrn Bürgers Armen, sagte in gezwungenem, heiterem Ton: »Gibt’s bald was zu essen, Mutti? Ich habe einen Mordshunger. Wahrscheinlich kommt das durch die Aufregung.«
Nur Herr Bürger merkte, daß Bettina trotz dieser großartigen Ankündigung beim Abendbrot kaum etwas aß. Er hätte ihr gerne geholfen, sie wenigstens getröstet, aber auch er spürte die Spannung, die in der Luft lag.
Schweren Herzens entschied er sich zu schweigen.– –
Die nächsten Tage waren so bis zum Rand mit Arbeit ausgefüllt, daß für niemanden Zeit blieb, traurigen oder auch hoffnungsfrohen Gedanken nachzuhängen. Das Haus mußte vollständig geräumt werden. Geschirr, Bettwäsche, Bücher und die hunderttausend Kleinigkeiten, die zu einem richtigen Haushalt gehören, wurden in großen Kisten verpackt, die Teppiche wurden eingerollt und eingemottet, die Vorhänge mußten gewaschen werden, bevor auch sie auf dem Speicher verschwanden.
Herr Bürger hatte die Pässe für seine Angehörigen schon vorsorglich vor Wochen beantragt. Als Bettina auf dem Polizeiamt zum erstenmal mit ihrem wirklichen Namen – Bettina Steutenberg – unterschreiben mußte, war ihr sehr merkwürdig zumute. Sie fühlte sich fast ein wenig stolz auf ihr seltsames Schicksal, das sie von allen jungen Leuten, die sie kannte, hervorhob.
Am Tag der Trennung brachte die ganze Familie sie zum Flughafen Düsseldorf-Lohausen. Bettinas Herz tat weh, als sie alle der Reihe nach noch einmal küßte und umarmte. Es wurde ihr schmerzhaft deutlich, wie lieb sie jeden einzelnen von ihnen gehabt hatte. Dennoch wußte sie, daß sie nicht zu ihnen gehörte und niemals wirklich zu ihnen gehört hatte. Ihre Tränen galten weniger den Menschen, die sie Jahre, vielleicht nie mehr in ihrem Leben wiedersehen würde, sie galten dem Abschied von der eigenen Kindheit.
Als die viermotorige Maschine der Deutschen Lufthansa sich nach langem Dahinrollen endlich vom Boden abhob und in die Lüfte hinausschwang, waren Bürgers für Bettina nur noch winzige kleine Figuren in unendlicher Ferne. Sie wandte den Blick vom Fenster, lehnte sich aufatmend in die Polster. Ihr war zumute, als wenn sie eine unangenehme aber notwendige Operation hinter sich gebracht hätte.
»Sie dürfen sich jetzt losschnallen, gnädiges Fräulein«, sagte eine etwas rauhe männliche Stimme in ihre Gedanken hinein.
Sie fuhr herum und sah in zwei sehr helle Augen, die mit einem sonderbaren Ausdruck auf ihr ruhten.
Bettina wurde klar, daß sie die Anweisung aus dem Lautsprecher nicht wirklich zur Kenntnis genommen hatte, weil sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen war.
»Natürlich … vielen Dank«, sagte sie leicht errötend. »Ich muß es überhört haben.«
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte der Herr neben ihr.
»Nein, danke. Ich … ich komme selbst zurecht.«
Mit nervösen Fingern zerrte Bettina an den Sicherheitsgurten, war erleichtert, als es ihr endlich gelang, sie zu lösen.
Der Herr mit den hellen Augen zog ein Zigarettenetui aus der Rocktasche, klappte es auf, zögerte einen Augenblick, reichte es dann Bettina. »Bitte …«
Bettina wollte schon dankend ablehnen, als ihr plötzlich klar wurde, daß ihr neues Leben schon begonnen hatte. Sie war eine junge Dame, die allein durch die Welt reiste – warum sollte sie nicht rauchen? Sie nahm eine Zigarette, ließ sich Feuer geben.
Sie hatte noch nie geraucht. Es schmeckte ihr schauderhaft, und es gelang ihr nur mit Mühe, den Rauch wieder auszustoßen, ohne daß sie husten mußte. Trotzdem drückte sie die Zigarette nicht aus, denn sie wollte sich ihre Unerfahrenheit nicht anmerken lassen.
»Sie fliegen zum erstenmal, gnädiges Fräulein?«
Bettina warf ihrem Nebenmann unter den dichten Wimpern her einen verstohlen prüfenden Blick zu, während sie überlegte, ob sie antworten sollte oder nicht. Sie stellte fest, daß er nicht mehr jung war, sehr gut angezogen war, bis auf den maisgelben Schlips, der zwar zu seinem grauen Anzug, nicht aber zu seiner blassen Gesichtsfarbe paßte. Eigentlich wirkte er ziemlich vertrauenerweckend, dachte Bettina, aber war das ein Grund, sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen? Schließlich war er ihr wildfremd.
Der Herr schien Gedanken lesen zu können. Er verbeugte sich leicht, sagte mit einem halben Lächeln: »Entschuldigen Sie bitte, ich vergaß mich vorzustellen … Ewald Bäumler. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich … aber ich finde immer, bei einer kleinen Unterhaltung vergeht die Zeit viel rascher.«
Bettina drückte die Zigarette aus. »Ich finde es herrlich zu fliegen«, sagte sie ehrlich. »Von mir aus könnte es noch viel länger dauern …«
Ewald Bäumler lachte. »Das glaube ich Ihnen gern. Aber wenn Sie soviel unterwegs sein müßten wie ich, würde Ihnen die Lust am Reisen bald vergehen. Heute zum Beispiel fliege ich nach Genf, und morgen muß ich weiter nach Paris.«
»Paris?« wiederholte Bettina. »Paris muß eine herrliche Stadt sein, stell’ ich mir vor …«
»Stimmt. Es ist allerhand los dort. Besonders jetzt im Frühling … im Bois de Boulogne, am Seinekai, im Park von Versailles, auf den Champs d’Elysées, überall elegante Menschen, Leben und Frohsinn. Ja, ich würde Ihnen das schon gern einmal zeigen.«
Bettina lachte. »Sie … mir?«
»Warum nicht? Hätten Sie nicht Lust, einen kleinen Abstecher zu machen?«
»Ausgeschlossen! Was für eine Idee?«
»Bestimmt keine schlechte. Wenn Sie erwartet werden, brauchen Sie nur ein Telegramm zu schicken …«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, wehrte Bettina ab. »Sie … ich fürchte, Sie schätzen mich falsch ein. Ich bin nicht so abenteuerlich, wie Sie zu glauben scheinen.«
»Alle jungen Mädchen wollen etwas erleben.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß«, sagte Bettina, »aber ich wünsche mir nichts weiter, als wohlbehalten in Genf anzukommen.« Sie holte ein Taschenbuch, das ihr Herr Bürger noch auf dem Flughafen gekauft hatte, aus ihrer Reisetasche, schlug es auf.
»Sie fliegen nach Genf?« Herr Bäumler ließ sich nicht so leicht abschütteln. »Das trifft sich wunderbar. Dann haben wir ja dasselbe Ziel. Auch in Genf könnte ich Ihnen dies und jenes zeigen.«
»Herr Bäumler«, sagte Bettina lächelnd, »geben Sie sich keine Mühe. »Mein Vater hat mich in einem Genfer Internat angemeldet. Ich muß noch heute abend dort sein. Sie meinen es sicher gut mit mir … aber es ist vollkommen sinnlos.«
»Schade« sagte Herr Bäumler und seufzte tief. »Wirklich schade. Na ja, da kann man nichts machen.«
Als Bettina nichts mehr darauf sagte, sondern sich sehr vertieft in ihre Lektüre gab, zog er eine Zeitung aus der Manteltasche und begann zu lesen.
Bettina war sehr mit sich zufrieden. Sie fand, daß sie die etwas merkwürdige Situation ausgezeichnet gemeistert hatte.
Herr Bäumler schien die Abfuhr, die Bettina ihm erteilt hatte, nicht übelzunehmen. Beim Umsteigen in Zürich-Kloten bestand er darauf, Bettinas Reisetasche zu tragen.
Sie hatten fünfundvierzig Minuten Aufenthalt, und Bettina wußte nicht, wie sie Herrn Bäumler abschlagen sollte, sie im Flughafenrestaurant zu einer Tasse Kaffee einzuladen. Herr Bäumler machte jetzt auch keine Versuche mehr, sie zu irgendwelchen Abstechern zu verleiten. Im Gegenteil, er gab sich ausgesprochen nett, erzählte ganz offen, daß er in Österreich lebe, verheiratet war, zeigte Fotografien seiner Kinder, und es stellte sich heraus, daß eine seiner Töchter gerade so alt war wie Bettina.
Er erfuhr von Bettina die Adresse ihres Genfer Internats, und Bettina, die sich schon gefürchtet hatte, wie sie sich in der fremden Stadt zurechtfinden sollte, war dankbar, als er sich erbot, sie im Taxi bis dorthin zu bringen.
Von Zürich bis Genf – Bettina und Herr Bäumler hatten die Maschine wechseln müssen – dauerte knapp dreißig Minuten. Sie landeten am späten Nachmittag. Herr Bäumler war Bettina beim Aussteigen behilflich und trug wieder ihre Reisetasche. Als er ihr, halb scherzhaft, halb galant, seinen Arm bot, hakte Bettina sich lachend ein.
Nebeneinander traten sie durch die Drehtür ins Freie. Weder Bettina, noch Herr Bäumler achteten auf die junge Frau mit dem blauschwarzen, streng gescheitelten Haar und dem schicken kleinen Hut, die suchend unter den Passagieren Ausschau hielt. Bettina ahnte nicht, daß Madame Jeuni ihre Sekretärin, Mademoiselle Legrand, zum Flugplatz geschickt hatte, um sie abzuholen. Wenn sie es gewußt hätte, wäre ihr manches erspart geblieben.
Mademoiselle Legrand hielt das junge Mädchen mit dem herzförmigen Gesicht für die Tochter des älteren Herrn, bei dem sie sich eingehakt hatte.
Herr Bürger hatte telegrafiert, daß Bettina allein fliegen würde.
Mademoiselle Legrand verließ, nachdem sie die Passagiere noch einmal hatte vorbei passieren lassen, unverrichteter Dinge den Flughafen.
Herr Bäumler und Bettina ließen sich vom Zubringerauto ins Zentrum der Stadt bringen.
Das Internat der Madame Jeuni lag etwas außerhalb von Genf, auf der rechten Seite der Rhone – ein verwittertes, schloßartiges Sandsteingebäude, dessen weitläufiger Park bis zum See hinunter führte.
Neben dem breiten, kunstvoll geschmiedeten Gartentor duckte sich das kleine gelbe Pförtnerhaus, in dem der Concierge wohnte, ein gutmütiger Zerberus, der – wie Bettina bald erfahren sollte – dafür verantwortlich war, daß keines der jungen Mädchen das Internat ohne Erlaubnis verließ, noch außer der Zeit Besuche empfing. Er telefonierte zum Internat hinüber und erst, als er entsprechende Anweisungen erhalten hatte, gab er Bettina den Weg frei.
Er warf einen kurzen Blick auf Herrn Bäumler, der wieder einmal Bettinas Reisetasche trug, fragte: »Sind Sie der Vater?«
Herr Bäumler schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ein guter Freund.«
»Sie wollen das Fräulein zu Madame begleiten?«
Bettina sah Herrn Bäumler flehend an. Sie fühlte sich plötzlich dem großen imponierenden Gebäude gegenüber sehr klein und verlassen. Herr Bäumler war der einzige Mensch, den sie noch kannte, und sie hätte sich am liebsten an ihn geklammert.
Aber er wich ihrem Blick aus. »Nein … nein, danke«, sagte er rasch, »das ist nicht nötig. Ich denke, Sie sind jetzt in guter Obhut, Bettina.«
Bettina verbarg ihre Enttäuschung. Sie reichte Herrn Bäumler mit niedergeschlagenen Augen die Hand, murmelte ein paar Worte des Dankes. Der Concierge nahm Herrn Bäumler die Reisetasche, dem Taxichauffeur den Koffer ab, wartete, bis die beiden Männer den Park verlassen hatten, stellte das Gepäck zu Boden, schloß hinter ihnen die Tür ab, nahm das Gepäck wieder auf und schlurfte vor Bettina her dem Hauptgebäude zu. Er war ein alter Mann – sicher schon an die Siebzig, dachte Bettina – mit einer gesunden rötlichen Hautfarbe und silberweißem Haar. Er hatte nichts Beängstigendes an sich, und doch fühlte Bettina sich beklommen. Ihr war, als wenn sie hinter den funkelnden Glasscheiben des Institutes Hunderte von neugierigen Augenpaaren beobachteten. Sie kam sich mit ihrem dunkelblauen Mantel, der weißen Baskenmütze und den weißen Handschuhen sehr unerfahren und schulmädchenhaft vor.
Der Concierge klingelte an der Haustür, musterte Bettina, während er auf das Öffnen der Tür wartete. Bettina bemühte sich, ihn anzulächeln, aber sie fühlte selber, daß dieses Lächeln mißlang; ihre Lippen zitterten.
Dann wurde die Haustür geöffnet. Ein adrettes Mädchen in schwarzem Satinkleid mit weißem Schürzchen und weißem Häubchen erschien, sagte sehr rasch etwas auf französisch zu dem Concierge – Bettina verstand es nicht, es klang wie eine Zahl. Der Mann schlurfte mit dem Gepäck davon.
Das Mädchen führte Bettina in eine große, sehr eindrucksvolle Diele, bat sie einen Augenblick zu warten. Schüchtern sah Bettina sich um. Die Diele war dunkel getäfelt, der gepflegte Parkettboden mit schweren Perserteppichen belegt; es gab einen offenen Kamin mit einem gebogenen Kupferdach.
Bettina stand mitten im Raum. Sie wagte es nicht, sich zu setzen. Voll nervöser Unruhe zog sie ihre weißen Handschuhe aus und wieder an. Die Sekunden des Wartens erschienen ihr wie eine Ewigkeit.