Ein Herz und ein Krönchen - Anette Schäfer - E-Book

Ein Herz und ein Krönchen E-Book

Anette Schäfer

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Beschreibung

Als die lebensfrohe Fotografin Paula Rubens am Traualtar steht und unter den Hochzeitsgästen ihre alte Jugendliebe entdeckt, zieht ihr das unerwartete Wiedersehen den Boden unter den Füßen weg. „Kronprinz“ Julian, Sohn einer traditionsreichen Siegerländer Unternehmerfamilie, und Paula, ein Mädchen aus schwierigen Verhältnissen … Damals fand das junge Glück des ungleichen Paares durch das intrigante Spiel seiner missgünstigen Schwester ein schmerzvolles Ende. Gibt es für Paula und Julian doch noch eine unverhoffte zweite Chance in der Krönchenstadt?

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An­mer­kung:

Soll­ten Ähn­lich­kei­ten mit re­a­len Per­so­nen oder In­sti­tu­ti­o­nen auf­tre­ten, sind die­se rein zu­fäl­lig.

Alle Cha­rak­tere sind frei er­fun­den und ent­sprin­gen mei­ner Fan­ta­sie.

 

Anette Schä­fer 

Ein Herz und ein Krön­chen

 

Lie­bes­ro­man

 

 

 

 

 

Wei­te­re Ti­tel der Au­to­rin:

AB­GE­LEHNTGE­KRÖNT

ENT­ZWEIT

Ihr letz­tes „Moin!“

 

No­vem­ber 2019

Co­py­right © by Anette Schä­fer

Um­schlag­ge­stal­tung: Ka­trin Storm, Ber­lin

Kor­rek­to­rat: Vor­län­der GmbH & Co. KG, Sie­gen

Anette Schä­ferRo­bert-Schu­mann-Str. 1457076 Sie­genwww.kro­en­chen­ver­lag.deISBN 978-3-9819795-8-9

 

 

 

Für mei­ne Töch­ter

 

 

 

Für schö­ne Au­gen,sieh das Gute im an­de­ren.

Für schö­ne Lip­pen,sprich nur net­te Wor­te.

Und für dein Gleich­ge­wicht,lebe mit dem Wis­sen,dass du nie al­lei­ne bist.Au­drey Hep­burn

Prolog

Pau­la stand in­mit­ten ei­nes Blu­men­mee­res im Gar­ten des Obe­ren Schlos­ses und hat­te sich lan­ge und in­ten­siv auf die­sen be­son­de­ren Tag vor­be­rei­tet.

Heu­te war es end­lich so­weit. Sie stand un­ter ei­nem aus Bir­ken­zwei­gen und mit viel Lie­be ge­bun­de­nen Hoch­zeitsbo­gen im wun­der­schön de­ko­rier­ten Mu­sik­pa­vil­lon am Fuße des Schloss­gar­tens. Links und rechts von ihr stan­den zwei gro­ße fün­far­mi­ge Ker­zen­leuch­ter auf an­tik­weiß la­sier­ten Obst­kis­ten.

Pau­la war sich der Bli­cke der ge­sam­ten Hoch­zeits­ge­sell­schaft nur all­zu sehr be­wusst. Die Gäs­te kleb­ten förm­lich an ih­ren Lip­pen. Alle war­te­ten ge­spannt auf die Krö­nung, auf das Treue­ver­spre­chen, auf ihre Wor­te, an de­nen sie so lan­ge über­legt und im­mer wie­der ge­feilt hat­te.

 

Pau­la hat­te den Trau­zeu­gen von Sa­mu­el vor der Trau­ung lei­der nicht ken­nen­ler­nen kön­nen. Sie wuss­te aber, dass er der­je­ni­ge sein soll­te, der die lie­be­voll aus­ge­such­ten Rin­ge im ent­schei­den­den Mo­ment nach vor­ne brin­gen soll­te.

Die Hoch­zeits­sän­ge­rin spiel­te lei­se ein Kla­vier­stück aus dem Film ‚Die fa­bel­haf­te Welt der Ame­lie‘. Pau­la konn­te er­ken­nen, dass sich klei­ne Schweiß­trop­fen auf der Stirn von Sa­mu­el ge­bil­det hat­ten. Wäh­rend der Trau­ge­sprä­che hat er noch be­haup­tet, dass er kein emo­ti­o­na­ler Typ sei, er­in­ner­te sich Pau­la schmun­zelnd. In die­sem Mo­ment fand sie da­her je­den ein­zel­nen Schweiß­trop­fen auf sei­ner Stirn sehr sym­pa­thisch.

Ihre An­span­nung und auch die der Gäs­te hat­te ih­ren Hö­he­punkt er­reicht, als nun aus der letz­ten Rei­he her­aus lang­sam ein Mann in dun­kel­blau­em An­zug und ro­sa­fa­r­be­ner Flie­ge auf sie zu­kam.

Sa­mu­els Trau­zeu­ge schien sein Part in die­ser Ze­re­mo­nie so ganz und gar nicht recht zu sein. Sein Blick war fest auf die Rin­ge ge­rich­tet, die er, wie ein ro­hes Ei, vor sich her auf ei­nem mit wei­ßer Spit­ze be­setz­ten Kis­sen trug.

 

Pau­la muss­te lä­cheln und be­ob­ach­te­te den Mann, der lang­sa­men Schrit­tes im­mer nä­her kam, nun et­was ge­nau­er. Sein Haar war dun­kel­blond und kurz ge­schnit­ten, der An­zug saß ta­del­los, die schwa­r­zen Schu­he wa­ren frisch ge­wie­nert und glänz­ten in der Son­ne. Sie schätz­te ihn auf gute 1,90 Me­ter und ver­mu­te­te, dass er viel Zeit an der fri­schen Luft ver­brach­te, oder frisch aus dem Ur­laub zu der Hoch­zeit sei­nes bes­ten Freun­des an­ge­reist war.

Er war noch we­ni­ge Me­ter von ihr ent­fernt, als er die Au­gen hob und sie mit fes­tem Blick an­sah. Scham, Freu­de, Trau­er, Ver­let­zung … all das spie­gel­te sich in sei­nen meer­blau­en Au­gen.

Pau­la ver­lor schlag­ar­tig die Fas­sung.»Ju­li­an?«

Hilf­los muss­te sie zu­se­hen, wie die kost­ba­ren Rin­ge zu Bo­den fie­len und sie ohn­mäch­tig in Ju­lians Ar­men zu­sam­men­sank.

Früher

1. Paula

Nein, nein, nein, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt bret­tert die­ser di­cke Benz erst an mir vor­bei und nimmt mir auch noch den letz­ten Park­platz weg. Ty­pisch!, är­ger­te sich Pau­la. Sie hät­te wirk­lich frü­her los­fah­ren sol­len. Sie wuss­te doch, dass die Park­plät­ze am Obe­ren Schloss be­grenzt wa­ren. Aber es half al­les nichts! Sie muss­te zu­se­hen, dass sie schnellst­mög­lich den Berg wie­der hin­un­ter kam und ih­ren sü­ßen klei­nen Maz­da wohl oder übel im Park­haus ab­stell­te.

Auf dem Weg berg­ab, vor­bei an ei­nem net­ten Re­stau­rant und der Re­al­schu­le, steu­er­te sie ge­ra­de­wegs auf die Ni­ko­lai­kir­che zu. Das gol­de­ne Krön­chen, das Wahr­zei­chen der Stadt Sie­gen, glänz­te und fun­kel­te in der Mai­son­ne.

Pau­la woll­te ge­ra­de nach rechts ab­bie­gen, als sie aus dem Au­gen­win­kel her­aus zwei freie Park­plät­ze ent­deck­te. Sie konn­te ihr Glück kaum fas­sen. Ei­lig stell­te sie ihr Auto ab, nahm die schwe­re Ta­sche vom Bei­fah­rer­sitz und ver­fluch­te sich selbst, weil sie ver­ges­sen hat­te, ihre Wech­sel­schu­he mit­zu­neh­men. So war sie wohl oder übel ge­zwun­gen, auf High Heels den stei­len Berg hin­auf­zu­ei­len. Ihr schlech­tes Ge­wis­sen dar­über, dass ihr Auto für die nächs­ten zwei Stun­den auf ei­nem Be­hin­der­ten­park­platz ste­hen wür­de, be­ru­hig­te Pau­la er­folg­reich mit ei­nem: Ich tue es ja nicht für mich!

Jetzt muss­te sie sich al­ler­dings ei­len, dass sie schleu­nigst in den Schloss­gar­ten kam – schließ­lich wur­de sie dort oben sehn­lichst er­war­tet. Pau­la raff­te ihr lan­ges hell­blau­es Kleid zu­sam­men, da­mit sie sich mit ih­ren dün­nen Ab­sät­zen nicht dar­in ver­hed­der­te, warf sich die Ta­sche über die Schul­ter, schnapp­te sich das ge­lie­he­ne Red­ner­pult und eil­te die stei­le Stra­ße hin­auf. Am Park­platz an­ge­kom­men, ver­fluch­te sie noch ein­mal den Benz-Fah­rer, der vor ih­rer Nase in die letz­te freie Park­lü­cke ge­fah­ren war, und rann­te auf den Sei­ten­ein­gang des Schloss­gar­tens zu.

 

Pau­la muss­te einen Mo­ment in­ne­hal­ten, als sie durch das Tor in den Gar­ten des Obe­ren Schlos­ses lief. Zum einen muss­te sie et­was Luft schnap­pen, zum an­de­ren wur­de sie förm­lich von der bun­ten Fa­r­ben­pracht über­wäl­tigt, die kein Fo­to­graf der Welt auf ei­nem Foto hät­te fest­hal­ten kön­nen. Die mit viel Lie­be be­pflanz­ten Bee­te schil­ler­ten in den bun­tes­ten Fa­r­ben um die Wet­te. Sie hat­te in der Sie­ge­ner Zei­tung ge­le­sen, dass 45.000 Zwie­beln, da­von al­lein 35.000 Tul­pen, in der Erde rund um das Schloss steck­ten, von de­nen mehr als die Hälf­te an die­sem herr­li­chen Sams­tag­nach­mit­tag im Mai noch im­mer in der Blü­te stan­den. Fünf Mit­a­r­bei­ter der Stadt hat­ten im Früh­jahr zu­sätz­lich 25.000 un­ter­schied­lichs­te Blu­men ge­pflanzt und im Som­mer ka­men noch ein­mal 35.000 Stück hin­zu. Ins­ge­samt, so hat­te es in dem Ar­ti­kel ge­hei­ßen, er­b­lüh­ten im Schloss­gar­ten übers Jahr ver­teilt 105.000 Blu­men. Was für eine un­fass­ba­re Zahl.

Wie sie nun im Tor vor die­sem Blü­ten­zau­ber stand, er­tapp­te sie sich selbst bei ih­rem ge­hei­men Ge­dan­ken: Wie ger­ne wür­de ich selbst in die­sem herr­li­chen Schloss­gar­ten und vor solch ei­ner Ku­lis­se der Lie­be mei­nes Le­bens das Ja­wort ge­ben.

Aber das war hier und heu­te nicht der Plan. Des­halb war sie nicht hier. Pau­la sam­mel­te ihre Ge­dan­ken, sah in der Fer­ne das Braut­paar, das ge­mein­sam mit den Trau­zeu­gen von der Fo­to­gra­fin an der Aus­sichts­platt­form in Be­schlag ge­nom­men wur­de, und eil­te in die an­de­re Rich­tung zum Mu­sik­pa­vil­lon.

Wie das Pär­chen es ge­schafft hat­te, den Pa­vil­lon für ihre Freie Trau­ung zu bu­chen, war ihr zwar nach wie vor ein Rät­sel, aber jetzt, wie sie so da­s­tand und die traum­haf­te Lo­ca­ti­on be­trach­te­te, war es ihr eine Ehre, hier sein zu dür­fen.

Für sie war es heu­te das ers­te Mal, dass sie als Hoch­zeits­red­ne­rin durch eine Freie Trau­ung führ­te. Sie hat­te zwar oft ge­nug zu­ge­hört, wenn sie als Fo­to­gra­fin ge­bucht wor­den war, um den wich­tigs­ten Mo­ment des Le­bens auf ei­nem Foto fest­zu­hal­ten, aber selbst durch die Ze­re­mo­nie zu füh­ren, das war schon et­was an­de­res.

War­um bloß bin ich für Rike ein­ge­sprun­gen? Was ist, wenn ich mich ver­hasp­le? Wenn mei­ne Rede nicht gut ist? Wenn sich alle lang­wei­len, oder noch schlim­mer, wenn ich vor Auf­re­gung die Rin­ge fal­len las­se? Wie konn­te ich nur ‚Ja‘ sa­gen?

Pau­la wuss­te na­tür­lich war­um – weil sie eine gute See­le war. Rike hat­te sie vor drei Wo­chen an­ge­ru­fen und un­ter Trä­nen ge­fragt, ob sie be­reit sei, für sie die Trau­ung zu über­neh­men. Ihre Schwes­ter war krank ge­wor­den, muss­te für ei­ni­ge Zeit ins Kran­ken­haus und hat­te nie­man­den, der sich um die Kin­der küm­mern konn­te.

Pau­la hat­te zwar nicht wei­ter nach­fra­gen wol­len, aber ihr war bei Ri­kes Ton­fall so­fort klar ge­we­sen, dass es et­was Erns­tes sein muss­te. Den­noch hat­te sie ihre Zwei­fel: »Hey Rike, ich hel­fe dir wirk­lich ger­ne, aber ich habe das doch noch nie ge­macht.«

»Pau­la, bei wie vie­len Hoch­zei­ten bist du jetzt schon als Fo­to­gra­fin da­bei ge­we­sen? Hun­dert­fünf­zig? Zwei­hun­dert? Also hast du min­des­tens ge­nau­so vie­le Trau­re­den ge­hört. Du kannst das! Du zeigst ein­fach dein be­zau­bern­des Lä­cheln und alle wer­den da­hin­schmel­zen. Ganz si­cher! Bit­te, bit­te!«

»Na gut, wenn du mir das wirk­lich zu­traust. Ein­ver­stan­den!«, hat­te sich Pau­la über ihre spon­ta­ne Zu­sa­ge ge­wun­dert.

Rike brauch­te Hil­fe, da­her war es für sie kei­ne Fra­ge ge­we­sen, für ihre Be­kann­te ein­zu­sprin­gen. Und nun stand sie hier mit zit­tern­den Kni­en und zu­gleich mit ei­ner Vor­freu­de, die sie selbst über­rasch­te.

Sie hat­te sich gut vor­be­rei­tet und Ju­lia mit ih­rem Mann Sa­mu­el wäh­rend der Trau­ge­sprä­che ken­nen­ler­nen dür­fen. Sie hat­te die bei­den schnell in ihr Herz ge­schlos­sen und es sich zur Auf­ga­be ge­macht, für die zwei eine Hoch­zeits­ze­re­mo­nie zu pla­nen, die kein Auge tro­cken las­sen wür­de.

Ganz be­son­ders freu­te sich Pau­la auf ihre Trau­re­de.

Ju­lia und Sa­mu­el hat­ten sich in ei­ner Klet­ter­hal­le in Sie­gen in der Nähe der Sie­ger­land­hal­le ken­nen­ge­lernt. Also war sie los­ge­zo­gen, hat­te einen Ka­ra­bi­ner­ha­ken be­sorgt und freu­te sich nun dar­auf, wäh­rend alle Gäs­te ge­spannt auf ihre Wor­te lau­schen wür­den, die Ehe mit die­sem Ka­ra­bi­ner­ha­ken zu ver­glei­chen.

Ja, Pau­la freu­te sich auf ihre Rede, auf die aus­ge­such­ten Lie­der, das Trau­ver­spre­chen und auch auf die Über­ra­schung, die sich die Trau­zeu­gen für das glü­ck­li­che Braut­paar aus­ge­dacht hat­ten und von der Ju­lia und Sa­mu­el noch nichts ahn­ten.

 

Jetzt muss­te sie sich aber be­ei­len, be­vor die ers­ten Hoch­zeits­gäs­te ein­tru­del­ten. Schnell stell­te sie Ri­kes an­tik­wei­ßes Red­ner­pult auf, leg­te die Map­pe mit ih­rer Rede dar­auf und kon­trol­lier­te, ob die Stüh­le des Braut­paa­res an der rich­ti­gen Stel­le stan­den. Sie wa­ren aus dun­kel­brau­nem Holz, auf der Sitz­flä­che lag ein ge­müt­li­ches hel­les Fell. An die Rü­cken­leh­ne hat­te eine Freun­din von Ju­lia zwei Schil­der mit den Wor­ten: ‚Bri­de und Groom‘ ge­hängt und sie mit Mi­stel­zwei­gen ver­ziert. Die Fo­to­gra­fin hat­te das ers­te Fo­to­s­hoo­ting be­en­det und kam nun lä­chelnd auf sie zu.

»Hey Pau­la, wie schön, dass du heu­te die Trau­ung hältst. Bist du sehr auf­ge­regt? So, wie ich dich ken­ne, wirst du das be­stimmt rich­tig pri­ma ma­chen. Ich bin auf je­den Fall schon ge­spannt, was du dir für das Braut­paar aus­ge­dacht hast.« Pau­la fühl­te sich leicht un­ter Druck ge­setzt. Sie wuss­te, dass Rike eine ganz be­son­de­re Art hat­te, die Braut­paa­re und de­ren Gäs­te mit ih­ren Wor­ten zu be­rüh­ren. Sie wür­de sie nie­mals er­set­zen kön­nen. Sei ein­fach du selbst, er­mu­tig­te sie sich selbst.

»Dan­ke für die Blu­men, An­drea«, gab Pau­la zu­rück. »Gib mir ein Zei­chen, wenn ich einen Schritt zur Sei­te ge­hen soll.«

Nach ih­rer ers­ten Trau­ze­re­mo­nie, für die sie als Fo­to­gra­fin ge­bucht wor­den war, hat­te sie sich et­was er­schro­cken als sie die ent­wi­ckel­ten Fo­tos ab­ge­holt hat­te und ent­de­cken muss­te, dass sie als Hoch­zeits­red­ne­rin auf fast je­dem Bild im Mit­tel­punkt stand.

Da­her wuss­te sie ge­nau, wie sie sich heu­te bei den ver­tausch­ten Rol­len zu ver­hal­ten hat­te. An die­sem Tag war nicht sie die Haupt­per­son, son­dern das Braut­paar. Klar, beim Ring­tausch ging zwar kein Weg dar­an vor­bei – aber beim Braut­kuss, nein, da hat­te sie nun wirk­lich nichts auf dem Foto zu su­chen.

Sie wür­de sich für einen Mo­ment zu­rück­zie­hen, da­mit An­drea in Ruhe das Glück der bei­den wah­ren Haupt­per­so­nen ein­fan­gen konn­te.

 

Pau­la freu­te sich. Der Wet­ter­gott mein­te es heu­te gut mit ih­nen. Durch das Ein­gang­s­tor zum Schloss­gar­ten schrit­ten die ers­ten Hoch­zeits­gäs­te und ka­men lang­sam auf den Mu­sik­pa­vil­lon zu. Lan­ge Klei­der, kur­ze Rö­cke, An­zü­ge in schwa­rz, dun­kel­grau und blau wa­ren ver­tre­ten. Eine fröh­li­che und bunt­ge­misch­te Ge­sell­schaft …

Ei­nes Ta­ges, so dach­te sich Pau­la, wer­de auch ich hier ste­hen – in ei­nem traum­haf­ten Braut­kleid, ne­ben ei­nem Mann, der mich aus tiefs­tem Her­zen liebt, und vor Gäs­ten, die mir von Her­zen al­les Glück die­ser Erde wün­schen und sich mit mir freu­en!

Bei die­sem Ge­dan­ken füll­ten sich Pau­las Au­gen mit Trä­nen.

 

2. Julian

Er wuss­te, dass sie ent­täuscht sein wür­de. Das war ihm schon in dem Mo­ment klar­ge­wor­den, als er die Haus­tür auf­ge­schlos­sen und auf der Kom­mo­de einen Brief­um­schlag ent­deckt hat­te, auf dem mit kal­li­gra­fi­scher Schrift sein Name ge­schrie­ben stand.

Seit mitt­ler­wei­le vier Jah­ren wohn­ten sie nun schon zu­sam­men und noch im­mer wur­de sie nicht zu Emp­fän­gen, auf Hoch­zei­ten und an­de­re Fei­er­lich­kei­ten ein­ge­la­den. Er hat­te al­les ver­sucht, hat­te mit Sa­mu­el ge­spro­chen und ihm so­gar an­ge­bo­ten, das Es­sen für Si­mo­ne selbst zu zah­len, aber Sa­mu­el hat­te sei­nen Vor­schlag be­lei­digt ab­ge­lehnt.

»Si­mo­ne auf un­se­rer Hoch­zeit? Bei al­ler Lie­be, aber das geht nicht. Wie sähe das denn aus?«

Er konn­te Sa­mu­els Ein­wand ver­ste­hen, sonst hät­te er si­cher auch nicht zu­ge­sagt, sein Trau­zeu­ge zu wer­den. Und den­noch! Für Si­mo­ne tat es ihm auf­rich­tig leid. Er wuss­te, wie ger­ne sie ihn auf die Fei­er be­glei­tet hät­te. Wort­los hat­te sie ein wei­ßes Hemd, sei­nen fest­li­chen dun­kel­blau­en An­zug und eine ro­sa­fa­r­be­ne Flie­ge auf sein Bett ge­legt. Da­nach hat­te sie das Schlaf­zim­mer schwei­gend ver­las­sen.

Er muss­te sich be­ei­len. Die Sit­zung, die kurz­fris­tig an­be­raumt wor­den war und zu der die Mit­a­r­bei­ter sei­nes Va­ters nur wi­der­wil­lig er­schie­nen wa­ren – wer konn­te ih­nen das an ei­nem Sams­tag­mor­gen ver­übeln – hat­te län­ger ge­dau­ert als er­war­tet. Schnell sprang er un­ter die Du­sche, zog Hemd und An­zug an, ohne Si­mo­nes Aus­wahl auch nur für einen Mo­ment in Fra­ge zu stel­len. Er ver­trau­te ihr voll und ganz.

»Si­mo­ne! Das Kis­sen! Wo hab ich bloß die­ses ver­damm­te Kis­sen?«

Si­mo­ne stand in der Haus­tür und hielt in der einen Hand den wohl kost­bars­ten Ge­gen­stand des heu­ti­gen Ta­ges – das Kis­sen mit den Ehe­rin­gen. Mit der an­de­ren Hand hielt sie ihm den Au­to­sch­lüs­sel hin.

Dank­bar steck­te Ju­li­an bei­des ein, drück­te ihr einen schnel­len Kuss auf die Stirn und eil­te zur Ga­ra­ge. Er star­te­te den Mo­tor und sah auf die Uhr.

Wie soll ich das je­mals pünkt­lich schaf­fen? In die Ober­stadt, an ei­nem Sams­tag bei so herr­li­chem Wet­ter?Das kann ja hei­ter wer­den.

Er fuhr die Flie­ßen­hardt­stra­ße hin­un­ter an der Piz­ze­ria vor­bei und bog links auf die Ol­per Stra­ße ab. In sol­chen Mo­men­ten be­reu­te er sei­ne Ent­schei­dung nach Freu­den­berg an Gam­bachs­wei­her ge­zo­gen zu sein. Nach Sie­gen in die Ober­stadt zu fah­ren, das dau­er­te ein­fach sei­ne Zeit.

Er hat­te die­se Wahl da­mals ganz be­wusst ge­trof­fen. Er woll­te raus, weg von sei­nen El­tern, die ihre ei­ge­nen Plä­ne für sein Le­ben ge­schmie­det hat­ten. Nach Freu­den­berg zu zie­hen war ein­deu­tig die bes­te Ent­schei­dung sei­nes Le­bens ge­we­sen.

Die Peim­bach hoch gab er Gas und bret­ter­te bei dun­kel­gelb über die Kreu­zung, ge­ra­deaus Rich­tung Lin­den­berg. Als er zehn Mi­nu­ten spä­ter über Koch’s Ecke fuhr, kurz dar­auf links ab­bog und das Stadt­bad rechts lie­gen ließ, hat­te er noch gan­ze zwei Mi­nu­ten Zeit.

 

»Und sieh bloß zu, dass du pünkt­lich kommst. Die Fo­to­gra­fin kos­tet eine Stan­ge Geld. Die kön­nen wir un­mög­lich war­ten las­sen«, wa­ren Sa­mu­els ein­dring­li­che Wor­te ge­we­sen.

»Wie­so macht ihr die Fo­tos nicht nach der Trau­ung? Wäre doch viel ro­man­ti­scher, wenn du Ju­lia zum ers­ten Mal beim Ein­zug se­hen wür­dest. Ju­lia in ih­rem Braut­kleid, wie sie an der Hand ih­res Va­ters den Gang ent­lang­schrei­tet, ro­man­ti­sche Mu­sik im Hin­ter­grund und ein heu­len­der Bräu­ti­gam, der es kaum er­war­ten kann, end­lich sei­ne Frei­heit auf­zu­ge­ben … «, hat­te er sei­nen bes­ten Freund auf­ge­zo­gen. Doch lei­der ohne Er­folg.

Es blieb nur noch eine Mi­nu­te Zeit als er am Rat­haus vor­bei­fuhr und an der Eis­die­le rechts ab­bog. Dass er zu schnell fuhr, merk­te er erst, als ein tür­kis­fa­r­be­ner Maz­da rechts vom über­füll­ten Park­platz der Re­al­schu­le fuhr und ihm fast die Vor­fahrt ge­nom­men hät­te.

Ty­pisch Frau am Steu­er. Tut mir leid, aber ich habe es ei­lig. Er gab Gas und bog zü­gig auf den Park­platz des Obe­ren Schlos­ses ein. Leicht ver­zwei­felt muss­te er fest­stel­len, dass nicht eine Park­lü­cke mehr frei war.

Und jetzt? Wei­ter hin­ten stieg ge­ra­de eine Dame zu ih­rem Mann ins Auto. Glück muss man ha­ben, freu­te sich Ju­li­an und war­te­te un­ge­dul­dig, bis der äl­te­re Herr freund­lich grü­ßend an ihm vor­bei vom Park­platz fuhr. Im Rück­spie­gel sah er, dass sich ihm der klei­ne Maz­da mit ei­ner wild um sich fuch­teln­den Frau hin­ter dem Lenk­rad nä­her­te.

 

Sor­ry, aber die­ser Park­platz ge­hört mir!

 

 

Früher

3. Paula

»Mama, das ist jetzt nicht dein ernst! Ich ma­che mich ja zum Ge­spött der gan­zen Schu­le. Ich zie­he auf gar kei­nen Fall mei­ne schwa­r­zen Kon­fir­ma­ti­ons­schu­he an. Das kannst du kni­cken«, schimpf­te Pau­la laut­hals.

Es war schon schlimm ge­nug, dass sie mit­ten im Schul­jahr mit ih­ren El­tern von Wil­gers­dorf nach Dahl­bruch hat­te zie­hen müs­sen, da wür­de sie sich auf kei­nen Fall an ih­rem ers­ten Tag vor ih­ren Mit­schü­lern lä­cher­lich ma­chen.

Wil­gers­dorf war per­fekt ge­we­sen. Zwar et­was au­ßer­halb, da­für aber mit­ten in der Na­tur. Au­ßer­dem hat­te sie dort ihre Freun­de. Be­son­ders Jen­ny. Sie war ihre bes­te Freun­din und wohn­te nur zwei Stra­ßen un­ter ihr im Sang­weg. Mor­gens wa­ren sie im­mer ge­mein­sam mit dem Bus zum Gym­na­si­um nach Wilns­dorf ge­fah­ren.

Es hat­te zwar an­fangs et­was ge­dau­ert, aber mitt­ler­wei­le war ihre Klas­sen­ge­mein­schaft rich­tig gut ge­we­sen, zu­min­dest die der Mäd­chen un­ter­ein­an­der. Selbst die Leh­rer am Gym­na­si­um wa­ren alle ganz in Ord­nung ge­we­sen. Be­son­ders ihre Eng­lisch­leh­re­rin, Frau Baum­haus, konn­te sie gut lei­den. Sie wür­de sie ver­mis­sen.

 

Auch wenn Wil­gers­dorf und Dahl­bruch nicht wirk­lich weit aus­ein­an­der la­gen, war ein Schul­wech­sel den­noch un­um­gäng­lich. Das hat­te sie mit Ent­täu­schung fest­stel­len müs­sen. Sie hat­te ein­fach kei­ne Chan­ce, dort mor­gens pünkt­lich in der Schu­le zu sein. Es sei denn, sie wür­de um fünf nach sechs in der Frü­he den Bus ab Dahl­bruch Rich­tung Sie­gen neh­men und dort am Haupt­bahn­hof in den Bus nach Wilns­dorf um­stei­gen. Sie wäre eine ge­fühl­te Ewig­keit un­ter­wegs. Vom Rü­ck­weg ganz zu schwei­gen.

Schuld an der gan­zen Mi­se­re war ihr Va­ter. Für ihn wäre es kein Pro­blem ge­we­sen, die drei­ßig Ki­lo­me­ter mit dem Auto zur Ar­beit zu fah­ren. Aber nein … War­um muss­te er auch eine neue Ar­beits­stel­le an­neh­men und gleich­zei­tig mit ih­rer Mut­ter nach ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus für sie drei su­chen? Ihre Vier-Zim­mer-Woh­nung in Wil­gers­dorf war doch per­fekt ge­we­sen. Wenn es nach ihr ge­gan­gen wäre, sie wäre nie­mals dort weg­ge­zo­gen. Muss­te sie jetzt wirk­lich auf eine Schu­le ge­hen, wo die Di­rek­to­rin ‚Stifts­o­be­rin‘ ge­nannt wur­de?

Wenn sie ehr­lich war, muss­te sie al­ler­dings zu­ge­ben, dass ihr neu­es Zu­hau­se su­per war. Der Im­mo­bi­li­en­ser­vice der Sie­ger­län­der Blau-Oran­ge-Bank hat­te al­les ge­ge­ben und ein tol­les Ein­fa­mi­li­en­haus für sie ge­fun­den. Lei­der lag das Haus nicht, wie ge­wünscht, in Wil­gers­dorf und Um­ge­bung, da­für aber war es er­schwing­lich und lag nah am Wal­des­rand. Es war so­gar so groß­zü­gig ge­schnit­ten, dass ihre El­tern ihr gleich zwei Zim­mer im Da­ch­ge­schoss zur frei­en Ver­fü­gung ge­stellt hat­ten, die sie ganz nach ih­ren Wün­schen hat­te strei­chen las­sen dür­fen.

Ihr Schlaf­zim­mer er­strahl­te nun in ei­nem Mix aus rosa und bor­deaux. Ihre Mut­ter hat­te sie zwar an­ge­fleht, die Wän­de nicht gleich wie­der mit ih­ren ge­lieb­ten Pos­tern zu ta­pe­zie­ren, aber es hat­te nichts genützt. Egal, wo sie sich in ih­rem Schlaf­zim­mer auch auf­hielt, sie wur­de von Au­drey Hep­burn und Gre­go­ry Peck be­ob­ach­tet. Zwei Schau­spie­ler, die Pau­las Herz im Sturm er­obert hat­ten, als sie den Film ‚Ein Herz und eine Kro­ne‘ zum ers­ten Mal ge­se­hen hat­te.

Ihr ers­tes ei­ge­nes Wohn­zim­mer war in der Fa­r­be Tau­pe ge­stri­chen und war an den Wän­den noch recht kahl. Sie wuss­te ja nicht, wer sie hier oben ein­mal be­su­chen kom­men wür­de und woll­te auf kei­nen Fall den Ein­druck ei­nes un­rei­fen Mäd­chens er­we­cken, das noch im­mer auf Pink und Rosa stand.

Ihre El­tern hat­ten wirk­lich al­les ge­ge­ben, um ihr das neue Zu­hau­se schmack­haft zu ma­chen und ihr zu­sätz­lich ein ei­ge­nes klei­nes Fo­to­la­bor im Kel­ler ver­spro­chen. Al­ler­dings war die­ses Ver­spre­chen mit der Auf­la­ge ver­knüpft, sich auf Dahl­bruch und die neue Schu­le ein­zu­las­sen – und das ers­te Zeug­nis ab­zu­war­ten.

Pau­la war sich ziem­lich sie­ges­si­cher, dass sie in den Som­mer­fe­ri­en da­mit be­gin­nen konn­te, ihr ei­ge­nes Fo­to­la­bor ein­zu­rich­ten. Sie war schon im­mer eine gute Schü­le­rin ge­we­sen. Es wür­de ihr mit Si­cher­heit nicht schwer­fal­len, mit gu­ten No­ten nach Hau­se zu kom­men.

 

Ihr Va­ter hat­te sich im Ja­nu­ar als In­ge­ni­eur bei ei­ner Ma­schi­nen­bau­fir­ma in Kreuz­tal be­wor­ben und schon einen Mo­nat spä­ter, im Fe­bru­ar, die Zu­sa­ge be­kom­men. Vol­ler Freu­de hat­te er beim ge­mein­sa­men Abend­es­sen in ih­rer klei­nen aber fei­nen Woh­nung am Tisch ge­ses­sen und ih­nen die Nach­richt ver­kün­det.

Wie­der­um zwei Mo­na­te spä­ter war es ihre Mut­ter, die freu­de­strah­lend be­rich­te­te, dass sie ihr Traum­haus ge­fun­den hät­ten. Lei­der nicht in Sie­gen, auch nicht in Kreuz­tal, son­dern in ei­nem an­geb­lich ganz be­zau­bern­den Vor­ort von Hil­chen­bach. Sie hat­te ihr von den vie­len Wäl­dern und Hü­geln vor­ge­schwärmt und von der neu­en Schu­le, die eine Stifts­kir­che und einen Ab­tei­g­ar­ten be­saß und Stift Kep­pel hieß.

»Sag mal, Mama, glaubst du ernst­haft, die Wäl­der und Hü­gel se­hen in Dahl­bruch wirk­lich an­ders aus?«, frag­te sie iro­nisch.

»Naja«, kam ihr Va­ter sei­ner Frau zu Hil­fe, »auf je­den Fall hast du dort bis­her noch nicht je­den Baum und je­den Stein fo­to­gra­fiert.«

Pau­la muss­te grin­sen. Ihr Va­ter hat­te recht. Sie lieb­te es, drau­ßen zu sein und durch die Wie­sen und Wäl­der zu strei­fen. Im­mer be­waff­net mit ih­rem Fo­to­ap­pa­rat, um die Schön­heit der Na­tur auf ei­nem Foto fest­zu­hal­ten. Letz­tes Jahr hat­te sie so­gar beim Som­mer­fo­to-Wett­be­werb der Sie­ge­ner Zei­tung den zwei­ten Platz ge­won­nen.

Für das Foto hat­te sie sämt­li­che Som­mer­schu­he, die sie Zu­hau­se fin­den konn­te, mit in den Wald ge­nom­men und sie an ei­ner bun­ten Kor­del in einen Baum ge­hängt, der völ­lig frei mit­ten auf ei­nem Feld ge­stan­den hat­te. Sie hat­te Stun­den ge­war­tet, bis die Son­ne fast un­ter­ge­gan­gen war – nur, um die von ihr ge­schaf­fe­ne Sze­ne­rie im per­fek­ten Licht zu fo­to­gra­fie­ren.

Ein an­de­res Mal, als sie wie­der durch den Wald ge­pirscht war, hat­te sie ein Pär­chen er­wi­scht, das im Wäld­chen hin­ter dem Ten­nis­club da­mit be­schäf­tigt war, sich ge­gen­sei­tig die Klei­der vom Leib zu rei­ßen.

Pau­la er­in­ner­te sich dar­an, wie sie sich zwi­schen Weg­lau­fen und fas­zi­nier­tem Fo­to­gra­fie­ren ent­schei­den muss­te. Na­tür­lich war sie gut er­zo­gen und wuss­te, wie man sich in die­ser selt­sa­men Si­tua­ti­on zu ver­hal­ten hat­te: um­dre­hen und lei­se zu­rück­schlei­chen.

Sie hat­te sich al­ler­dings an­ders ent­schie­den. Und ganz manch­mal hol­te sie die von ihr in bril­lan­ten Fa­r­ben ent­wi­ckel­ten Fo­tos aus der Kis­te un­ter ih­rem Bett her­vor, be­trach­te­te das ver­zück­te Ge­sicht der un­be­kann­ten Frau.

 

In ihre Ge­dan­ken ver­sun­ken, muss­te sie sich zwin­gen, sich wie­der auf das Ge­spräch mit ih­ren El­tern zu fo­kus­sie­ren. Es war aber auch zu lus­tig, wie ihre El­tern ver­such­ten, ihr das Ört­chen Dahl­bruch schmack­haft zu ma­chen.

Mitt­ler­wei­le wa­ren sie be­reits bei ei­nem Kino, ei­nem

Na­tur­frei­bad in Mü­sen, ei­ner Burg und ei­nem ge­hei­men Stol­len­ein­gang ganz in der Nähe. Sie ta­ten ge­ra­de so als läge ihr neu­es Zu­hau­se in Pa­ris, Lon­don oder Ba­r­ce­lo­na. Was sie letzt­lich al­ler­dings ge­kö­dert hat­te, war der Hin­weis ih­res Va­ters, dass es auf Stift Kep­pel eine Foto-AG gab, in der sie ih­rer Lei­den­schaft voll und ganz nach­ge­hen konn­te.

Ihre El­tern hat­ten ent­schie­den, ihre Kon­fir­ma­ti­on ab­zu­war­ten, um ein paar Tage spä­ter die letz­ten Kof­fer zu pa­cken, das Auto ein letz­tes Mal zu be­la­den und sich end­gül­tig auf den Weg ins nörd­li­che Sie­ger­land zu ma­chen. Es war kei­ne lan­ge Fahrt. Le­dig­lich vier­zig Mi­nu­ten. Das und auch die fes­te Zu­sa­ge ih­rer bes­ten Freun­din Jen­ny, sie je­den Abend an­zu­ru­fen und zu be­rich­ten, was es auf ih­rer al­ten Schu­le an Neu­ig­kei­ten gab, wa­ren ihr ein Trost ge­we­sen.

 

Jetzt aber war sie doch auf­ge­regt. Aus wel­chem Grund soll­te sie sonst ihre Mut­ter so an­fah­ren? Pau­la er­kann­te sich selbst nicht wie­der. So war sie doch sonst nicht. Aber in den schwa­r­zen Pumps, die sie letz­te Wo­che zu ih­rer Kon­fir­ma­ti­on ge­tra­gen hat­te, konn­te sie nun wirk­lich nicht an ih­rem ers­ten Tag in der Schu­le auf­tau­chen. Also zog sie ihre Chucks an, die vor lan­ger Zeit ein­mal weiß ge­we­sen wa­ren, warf sich den Ruck­sack über die Schul­ter und häng­te sich ih­ren Fo­to­ap­pa­rat um den Hals.

Ihr Va­ter hat­te ges­tern auf Dien­st­rei­se in die USA flie­gen müs­sen. Scha­de! Ger­ne hät­te sie sich noch ein­mal von ihm in den Arm neh­men las­sen, be­vor sie das Haus ver­las­sen muss­te. Er hat­te aber an sie ge­dacht und trotz der Zeit­ver­schie­bung heu­te Mor­gen an­ge­ru­fen, um ihr al­les Gute für den ers­ten Tag in Stift Kep­pel zu wün­schen.

»Hey, Süße! Das wird schon! Dich muss man ein­fach gern ha­ben. Das wer­den auch die Stift-Kep­pel-Mä­dels schnell her­aus­fin­den.«

Hof­fent­lich auch die Jungs!, war ein kur­z­er Ge­dan­ke, über den sich Pau­la selbst wun­der­te. Sie ver­such­te, sich am Te­le­fon nichts an­mer­ken zu las­sen. Das Ge­sicht ih­rer Mut­ter al­ler­dings, die mit ei­nem brei­ten Grin­sen in der Tür stand, zeig­te ihr je­doch das Ge­gen­teil.

Ich kann ihr ein­fach nichts vor­ma­chen. Dar­an muss ich un­be­dingt noch ar­bei­ten, ent­schied sie.

Von ih­rem neu­en Zu­hau­se in der Wald­s­tra­ße bis zur Schu­le brauch­te sie knapp vier­zig Mi­nu­ten. Das hat­te sie ges­tern bei ih­rer Er­kun­di­gungs­tour in und um Dahl­bruch und Al­len­bach schon aus­ge­tes­tet. Heu­te war das Wet­ter son­nig und so mach­te sich Pau­la zu Fuß auf den Weg. Schließ­lich gab es viel Neu­es zu ent­de­cken.

Sie lief ein gan­zes Stück an der Haupt­stra­ße ent­lang, die nach Hil­chen­bach führ­te, vor­bei an ei­ner gro­ßen Fir­ma, zu der ein end­los lan­ger Park­platz zu ge­hö­ren schien. Ein gro­ßer Su­per­markt lag auf der ge­gen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te und Pau­la wuss­te, dass jetzt bald das Re­stau­rant er­schei­nen muss­te, das in ei­ner sehr auf­fäl­li­gen und in­ter­es­san­ten Fa­r­be ge­stri­chen wor­den war.

Hier konn­te sie die Haupt­stra­ße ver­las­sen und einen ru­hi­ge­ren Wald­weg neh­men. Vor der Schu­le an­ge­kom­men, hielt sie einen Mo­ment inne, nahm ih­ren Fo­to­ap­pa­rat in die Hand und konn­te nicht an­ders – sie muss­te die­sen Mo­ment ein­fach fest­hal­ten. Die­ser Schul­wech­sel war für sie ein neu­er Le­bens­ab­schnitt, und der ers­te Schritt soll­te un­be­dingt do­ku­men­tiert wer­den. Sie stell­te die Blen­de ih­rer Ka­me­ra ein, stell­te das Ob­jek­tiv scha­rf und drück­te just in dem Mo­ment ab, als ihr je­mand mit­ten ins Bild sprang.

»Und? Hast du mich gut ge­trof­fen?«, lach­te sie frech ein Jun­ge an, ließ sie mit ih­rem miss­glück­ten Foto ste­hen und lief hin­ter sei­nem Kum­pel her in Rich­tung Haup­t­ein­gang.

Na, das wird ja was ge­ben. Die Jungs sind hier ge­nau­so frech wie in Wilns­dorf, dach­te sie. Aber et­was hüb­scher ...

Plötz­lich tipp­te ihr von hin­ten je­mand auf die Schul­ter. Eine Blon­di­ne aus der Ober­stu­fe mit kur­z­em Rock und ho­hen Schu­hen zisch­te:       »Lass bloß die Fin­ger von mei­nem Bru­der!«

»Wel­cher Bru­der? Was …?«

»Mach dir nichts draus. Lass die dum­me Kuh ein­fach re­den«, hör­te Pau­la je­man­den ne­ben sich flüs­tern.

Ohne zu fra­gen hak­te sich ein la­chen­des Mäd­chen bei ihr un­ter und sag­te:

 

»Hey, ich bin Lina, und wer bist du?«

 

 

4. Julian

»Bist du end­lich fer­tig?«, ich habe echt kei­nen Bock schon wie­der we­gen dir zu spät zu kom­men.«

»Dann geh doch zu Fuß! Ist mir doch egal!«

»Vicki, jetzt sieh end­lich zu, dass du fer­tig wirst!«

»Ach Bru­der­herz, ich rufe mir ein­fach ein Taxi, dann wer­den wir ja se­hen, wer von uns bei­den zu spät kommt.«

Ju­li­an war den all­mor­gend­li­chen Streit leid. Je­den Mor­gen muss­te er auf sei­ne Schwes­ter war­ten, weil Vik­to­ria mal wie­der eine hal­be Ewig­keit brauch­te, bis sie end­lich mit ih­rem Aus­se­hen zu­frie­den war. Auf ih­rem Bett la­gen re­gel­mä­ßig min­des­tens drei Out­fits, weil sie sich schlicht­weg nie ent­schei­den konn­te. Hät­te es eine Ab­stim­mung über eine Schu­l­uni­form ge­ge­ben, er wuss­te, wo er sein Kreuz­chen ge­setzt hät­te.

Sein Va­ter war schon früh zur Ar­beit ge­fah­ren, sei­ne Mut­ter jet­te­te mal wie­der mit ei­ner ih­rer Freun­din­nen um den Glo­bus. Und Vik­to­ria? Die mein­te, die Toch­ter aus ade­li­gem Hau­se spie­len zu müs­sen und mit dem Taxi vor der Schu­le vor­zu­fah­ren.

 

Ju­li­an hat­te lan­ge da­für ge­braucht, um in der Klas­se als ganz nor­ma­ler Mit­schü­ler ak­zep­tiert zu wer­den. Er mach­te sich nichts aus Stan­des­dün­kel, teu­ren Kla­mot­ten und erst recht wür­de er sich nie, wirk­lich nie­mals, von ei­nem Taxi in die Schu­le fah­ren las­sen. Er woll­te nicht als Sohn vom Hein­bach, für den die meis­ten Vä­ter sei­ner Freun­de ar­bei­te­ten, ge­se­hen wer­den, son­dern als Ju­li­an, der ger­ne Hand­ball spiel­te, Play­sta­tion zock­te und sich dar­auf freu­te, ei­nes Ta­ges of­fi­zi­ell sein ers­tes Bier­chen trin­ken zu dür­fen. Die Al­lü­ren sei­ner Schwes­ter gin­gen ihm da­her mäch­tig auf den Geist.

»Ich bin dann mal weg!«, rief er nach oben und zog die Haus­tür hin­ter sich zu. Wol­len wir doch mal se­hen, wer von uns zu­erst in der Schu­le ist. Er hat­te ge­ra­de die Hälf­te des Schul­we­ges ge­schafft, als ihm ein lee­res Taxi ent­ge­gen­kam. Sie hat doch nicht wirk­lich ein Taxi ge­ru­fen?, schäm­te sich Ju­li­an für sei­ne Schwes­ter. Er konn­te die an­de­ren schon förm­lich re­den hö­ren: »Da kommt ja un­se­re Prin­zes­sin … hat Papa mal wie­der einen Zwan­zi­ger fürs Taxi sprin­gen las­sen?«

 

Zeit­gleich mit Vik­to­ria kam er bei der Schu­le an. Wäh­rend sie sich von ih­ren an­geb­li­chen Freun­din­nen aus dem Taxi hel­fen ließ, warf er sich noch schnell ein paar Mal mit Phil­ipp die Fris­bee-Schei­be zu, be­vor gleich der Gong er­tön­te und sie hoch in den Un­ter­richt muss­ten.

Phil­ipp fing die Fris­bee ge­konnt auf. Dann, mit­ten im Wurf, stopp­te er plötz­lich ab, gab ihm ein Zei­chen und zeig­te mit dem Fin­ger auf ein Mäd­chen, das mit ei­nem Fo­to­ap­pa­rat vorm Ge­sicht ein­fach nur da­s­tand und in eine an­de­re Welt ver­sun­ken zu sein schien. Noch be­vor Ju­li­an be­griff, was Phil­ipp vor­hat­te, hat­te der schon fei­xend die Fris­bee ge­wor­fen und ge­nau auf die Brüs­te des Mäd­chens ge­zielt.

Die­ser Idi­ot! Geis­tes­ge­gen­wär­tig sprin­te­te Ju­li­an los und schaff­te es ge­ra­de noch, die Schei­be ab­zu­fan­gen, ohne da­bei ge­gen die Un­be­kann­te zu sto­ßen, oder noch schlim­mer, da­bei ih­ren für ihr Al­ter üp­pi­gen Bu­sen zu be­rüh­ren. Puh, das ist ja noch­mal gut­ge­gan­gen, dach­te er und fun­kel­te Phil­ipp böse an. Zu dem ver­dut­zen Mäd­chen ge­wandt, fiel ihm nichts Bes­se­res ein als: »Und? Hast du mich gut ge­trof­fen?«

Aus dem Au­gen­win­kel her­aus sah er sei­ne Schwes­ter mit ih­rem Ge­fol­ge auf ihn zu­kom­men. Zeit zu ver­schwin­den war an­ge­sagt und so rann­te er mit sei­nem Freund auf den Haup­t­ein­gang zu, lief die Trep­pe hin­auf und ein­mal über die Seuf­zer­brü­cke in den Trakt, in dem sein Klas­sen­zim­mer lag. Sie muss­ten sich be­ei­len, wenn sie nicht zu spät kom­men woll­ten.

Ju­li­an muss­te an das Mäd­chen mit dem Fo­to­ap­pa­rat den­ken. Er hat­te sie zu­vor noch nie ge­se­hen. Ein sü­ßes Lä­cheln hat­te sie ge­habt, als sie die Ka­me­ra her­un­ter­ge­nom­men und ihm für einen kur­z­en Mo­ment in die Au­gen ge­se­hen hat­te. Hof­fent­lich hat­te sie sei­nen ab­wei­sen­den Blick nicht falsch in­ter­pre­tiert. Der hat­te nicht ihr, son­dern Vik­to­ria ge­gol­ten, die plötz­lich hin­ter ihr auf­ge­taucht war. Auf ih­rem Spurt Rich­tung Klas­sen­zim­mer hat­te ihm Phil­ipp zu­ge­raunt:

»Hast du den Bu­sen ge­se­hen?« So war Phil­ipp.

»Kannst du mal auf­hö­ren, im­mer nur an Brüs­te zu den­ken?«, hat­te er wohl et­was zu laut und just in dem Mo­ment, in dem sie das Klas­sen­zim­mer be­tra­ten, er­wi­dert. Lei­der war Frau Win­kel mal wie­der über­pünkt­lich und war­te­te schon mit ei­nem Stück Krei­de in der Hand vor der Ta­fel.

 

»Ju­li­an Hein­bach, Sie ha­ben ja am frü­hen Mor­gen schon sehr in­ter­es­san­te Ge­sprächs­the­men drauf. Da wol­len wir doch mal se­hen, dass wir Sie auf den Pfad der Tu­gend zu­rück­brin­gen«, hat­te Frau Win­kel ent­schie­den und ihm das Stück Krei­de in die Hand ge­drückt. Die Klas­se hat­te ge­lacht. Al­len vor­an Phil­ipp, der sich klamm­heim­lich und breit­grin­send auf sei­nen Platz ver­drückt hat­te.

Rich­tig pein­lich aber wur­de es, als es an der Tür klopf­te und die Stifts­o­be­rin, Frau Brü­cher, in Be­glei­tung von Lina und ei­ner Schü­le­rin, die et­was schüch­tern, aber mit fun­keln­der Vor­freu­de in den Au­gen, in der Tür stand. Die Jungs aus sei­ner Klas­se sa­hen zu ihm, dann zu dem Mäd­chen und dann wie­der zu­rück zu ihm. Ein schal­len­des Ge­läch­ter durch­drang den Raum. In die­sem Mo­ment re­gis­trier­te wohl je­der, um wel­che Brüs­te es sich in dem kur­z­en Ge­spräch zwi­schen Phil­ipp und ihm ge­han­delt ha­ben muss­te.

Ein­schließ­lich Frau Win­kel. Hilf­los und be­schämt muss­te er mit­an­se­hen, wie die Vor­freu­de sei­ner neu­en Mit­schü­le­rin Stück für Stück wich und sich eine Un­si­cher­heit in ihr breitz­u­ma­chen schien, die Ju­li­an von Her­zen leid tat. Die­sen Start in ihr Schul­le­ben auf Stift Kep­pel hat­te sie nicht ver­dient. Ju­li­an fühl­te sich schul­dig, da­bei hat­te er sich nichts vor­zu­wer­fen. Ganz im Ge­gen­teil! Aber nun war er der­je­ni­ge, der vor­ne an der Ta­fel stand und für das Ge­läch­ter ver­ant­wort­lich zu sein schien. Das je­den­falls in­ter­pre­tier­te die Di­rek­to­rin ge­nau so und be­dach­te ihn mit ei­nem stra­fen­den Blick.

»Das ist Pau­la Ru­bens, sie ist mit ih­ren El­tern neu nach Dahl­bruch ge­zo­gen und wird ab heu­te Teil eu­rer Klas­sen­ge­mein­schaft sein. Ich er­war­te von euch, dass ihr sie freund­lich auf­nehmt. Lina, du hast Pau­la ja eben schon et­was un­ter dei­ne Fit­ti­che ge­nom­men. Ich wäre dir dank­bar, wenn du das auch wei­ter­hin tun wür­dest.«

»Nur Mut, Klei­nes!«, sag­te die Stifts­o­be­rin, warf Frau Win­kel einen viel­sa­gen­den Blick zu und schob Pau­la ein Stück wei­ter ins Klas­sen­zim­mer, be­vor sie sich um­dreh­te und den Raum ver­ließ – doch nicht ohne sich noch ein­mal um­zu­dre­hen und auch ihm einen Blick zu­zu­wer­fen.

 

Der al­ler­dings war al­les an­de­re als freund­lich.

 

Heute

5. Paula

Lang­sam schlug Pau­la die Au­gen auf. Wo bin ich? Was ist pas­siert?

Pau­la dreh­te den Kopf und ent­deck­te aus dem Au­gen­win­kel her­aus einen Mo­ni­tor, an dem ein paar Lich­ter blink­ten. Ich bin in ei­nem Kran­ken­haus, aber war­um?, dach­te sie er­schro­cken.An der Wand ge­gen­über hing ein Kru­zi­fix, dar­un­ter ein Ab­reiß­ka­len­der mit Bi­bel­ver­sen für je­den neu­en Tag. An­sons­ten war das Kran­ken­zim­mer kahl. Kei­ne Blu­men, kein Rot­bäck­chen­saft, kei­ne Schnu­cke­rei­en, kei­ne Zeit­schrif­ten. Nichts, was dar­auf hin­deu­ten wür­de, dass sie Be­such ge­habt hät­te.

Pau­la ver­such­te sich zu er­in­nern, was pas­siert war und vor al­lem, wie lan­ge sie schon in die­sem Zim­mer lag. Es ge­lang ihr nicht. So sehr sie es auch ver­such­te, das Letz­te, an das sie sich er­in­nern konn­te, war der Mo­ment, in dem sie durch das Tor des Schloss­gar­tens am Obe­ren Schloss ge­gan­gen war. Sie sah die bun­ten Blu­men­bee­te vor sich und bil­de­te sich ein, ih­ren Duft zu rie­chen.

Aber was habe ich dort ge­macht?

Ver­zweif­lung mach­te sich in ihr breit. Sie woll­te die Bett­de­cke zu­rück­schla­gen und auf­ste­hen, als sie be­merk­te, dass in ih­rem Arm eine Ka­nü­le steck­te. Ne­ben ih­rem Bett stand ein In­fu­si­ons­s­tän­der, an dem ein Beu­tel mit der Auf­schrift NaCl hing. Nur Koch­sa­lz­lö­sung, dach­te sie er­leich­tert. Dann kann es so schlimm nicht sein.

Sie woll­te ihre Bei­ne aus dem Bett schwin­gen, doch sie ge­horch­ten ihr nicht. Pa­nisch ver­such­te es Pau­la noch ein­mal und spann­te ihre Mus­keln an, doch wie­der ge­lang es ihr nicht. Ihre Bei­ne la­gen vor ihr auf dem Bett und schie­nen nicht zu ihr zu ge­hö­ren.

Ent­schlos­sen nahm sie eins nach dem an­de­ren in die Hand und schubs­te es aus dem Bett. End­lich saß sie auf der Bett­kan­te. Das wäre doch ge­lacht, dach­te sie und stütz­te sich mit den Ar­men ab, um auf­zu­ste­hen. Eins – zwei – und hoch!, er­mu­tig­te sie sich selbst. Sie stieß sich von der Bett­kan­te ab und muss­te hilf­los zu­se­hen, wie ihre Bei­ne plötz­lich wie Pud­ding nach­ga­ben und sie vorn­über auf den Bo­den stürz­te.

Ein Schrei ent­wich ih­rer Keh­le. Doch nie­mand schien sie ge­hört zu ha­ben. Sie rief noch ein­mal, such­te nach der Klin­gel, um eine Schwes­ter zu alar­mie­ren. Ohne Er­folg! Un­er­reich­bar bau­mel­te sie an ei­ner Schnur, die je­mand um­sich­tig um den Gal­gen über ih­rem Bett ge­schwun­gen hat­te, da­mit sie sie je­der­zeit er­rei­chen konn­te, ohne lan­ge su­chen zu müs­sen. Welch Iro­nie!

Ver­zwei­felt robb­te sie bis zu ih­rer Zim­mer­tür, doch die Klin­ke war zu hoch an­ge­bracht, als dass sie eine Chan­ce ge­habt hät­te, sie zu er­rei­chen.

Hilf­los und mit vom Auf­prall schmer­zen­den Hand­ge­len­ken lag sie auf dem kal­ten Bo­den in ir­gend­ei­nem Kran­ken­zim­mer, von dem sie kei­ne Ah­nung hat­te, wie sie hier her­ge­kom­men war.

Es blieb ihr wohl nichts an­de­res üb­rig, als dar­auf zu war­ten, dass sich ir­gend­wann die Tür öff­ne­te und ihr end­lich je­mand half.

 

Still lag sie da – sich der Trä­nen be­wusst, die ihr lang­sam die Wan­gen hin­a­b­lie­fen.

6. Julian

»Las­sen Sie mich so­fort zu ihr!«

»Herr Hein­bach, ver­ste­hen Sie doch. Sie kön­nen dort nicht rein. Sie sind kein An­ge­hö­ri­ger!«

»Ja und? Ich habe Sie im­mer­hin hier­her ge­bracht. Wir sind gute Freun­de. Zählt das nichts?«

»Wenn Sie Ih­rer Freun­din wirk­lich hel­fen wol­len, dann ho­len Sie schleu­nigst ihre Fa­mi­lie her­bei«, blieb Schwes­ter As­trid un­er­bitt­lich.

---ENDE DER LESEPROBE---