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Als die lebensfrohe Fotografin Paula Rubens am Traualtar steht und unter den Hochzeitsgästen ihre alte Jugendliebe entdeckt, zieht ihr das unerwartete Wiedersehen den Boden unter den Füßen weg. „Kronprinz“ Julian, Sohn einer traditionsreichen Siegerländer Unternehmerfamilie, und Paula, ein Mädchen aus schwierigen Verhältnissen … Damals fand das junge Glück des ungleichen Paares durch das intrigante Spiel seiner missgünstigen Schwester ein schmerzvolles Ende. Gibt es für Paula und Julian doch noch eine unverhoffte zweite Chance in der Krönchenstadt?
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Anmerkung:
Sollten Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Institutionen auftreten, sind diese rein zufällig.
Alle Charaktere sind frei erfunden und entspringen meiner Fantasie.
Anette Schäfer
Ein Herz und ein Krönchen
Liebesroman
Weitere Titel der Autorin:
ABGELEHNTGEKRÖNT
ENTZWEIT
Ihr letztes „Moin!“
November 2019
Copyright © by Anette Schäfer
Umschlaggestaltung: Katrin Storm, Berlin
Korrektorat: Vorländer GmbH & Co. KG, Siegen
Anette SchäferRobert-Schumann-Str. 1457076 Siegenwww.kroenchenverlag.deISBN 978-3-9819795-8-9
Für meine Töchter
Für schöne Augen,sieh das Gute im anderen.
Für schöne Lippen,sprich nur nette Worte.
Und für dein Gleichgewicht,lebe mit dem Wissen,dass du nie alleine bist.Audrey Hepburn
Paula stand inmitten eines Blumenmeeres im Garten des Oberen Schlosses und hatte sich lange und intensiv auf diesen besonderen Tag vorbereitet.
Heute war es endlich soweit. Sie stand unter einem aus Birkenzweigen und mit viel Liebe gebundenen Hochzeitsbogen im wunderschön dekorierten Musikpavillon am Fuße des Schlossgartens. Links und rechts von ihr standen zwei große fünfarmige Kerzenleuchter auf antikweiß lasierten Obstkisten.
Paula war sich der Blicke der gesamten Hochzeitsgesellschaft nur allzu sehr bewusst. Die Gäste klebten förmlich an ihren Lippen. Alle warteten gespannt auf die Krönung, auf das Treueversprechen, auf ihre Worte, an denen sie so lange überlegt und immer wieder gefeilt hatte.
Paula hatte den Trauzeugen von Samuel vor der Trauung leider nicht kennenlernen können. Sie wusste aber, dass er derjenige sein sollte, der die liebevoll ausgesuchten Ringe im entscheidenden Moment nach vorne bringen sollte.
Die Hochzeitssängerin spielte leise ein Klavierstück aus dem Film ‚Die fabelhafte Welt der Amelie‘. Paula konnte erkennen, dass sich kleine Schweißtropfen auf der Stirn von Samuel gebildet hatten. Während der Traugespräche hat er noch behauptet, dass er kein emotionaler Typ sei, erinnerte sich Paula schmunzelnd. In diesem Moment fand sie daher jeden einzelnen Schweißtropfen auf seiner Stirn sehr sympathisch.
Ihre Anspannung und auch die der Gäste hatte ihren Höhepunkt erreicht, als nun aus der letzten Reihe heraus langsam ein Mann in dunkelblauem Anzug und rosafarbener Fliege auf sie zukam.
Samuels Trauzeuge schien sein Part in dieser Zeremonie so ganz und gar nicht recht zu sein. Sein Blick war fest auf die Ringe gerichtet, die er, wie ein rohes Ei, vor sich her auf einem mit weißer Spitze besetzten Kissen trug.
Paula musste lächeln und beobachtete den Mann, der langsamen Schrittes immer näher kam, nun etwas genauer. Sein Haar war dunkelblond und kurz geschnitten, der Anzug saß tadellos, die schwarzen Schuhe waren frisch gewienert und glänzten in der Sonne. Sie schätzte ihn auf gute 1,90 Meter und vermutete, dass er viel Zeit an der frischen Luft verbrachte, oder frisch aus dem Urlaub zu der Hochzeit seines besten Freundes angereist war.
Er war noch wenige Meter von ihr entfernt, als er die Augen hob und sie mit festem Blick ansah. Scham, Freude, Trauer, Verletzung … all das spiegelte sich in seinen meerblauen Augen.
Paula verlor schlagartig die Fassung.»Julian?«
Hilflos musste sie zusehen, wie die kostbaren Ringe zu Boden fielen und sie ohnmächtig in Julians Armen zusammensank.
Nein, nein, nein, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt brettert dieser dicke Benz erst an mir vorbei und nimmt mir auch noch den letzten Parkplatz weg. Typisch!, ärgerte sich Paula. Sie hätte wirklich früher losfahren sollen. Sie wusste doch, dass die Parkplätze am Oberen Schloss begrenzt waren. Aber es half alles nichts! Sie musste zusehen, dass sie schnellstmöglich den Berg wieder hinunter kam und ihren süßen kleinen Mazda wohl oder übel im Parkhaus abstellte.
Auf dem Weg bergab, vorbei an einem netten Restaurant und der Realschule, steuerte sie geradewegs auf die Nikolaikirche zu. Das goldene Krönchen, das Wahrzeichen der Stadt Siegen, glänzte und funkelte in der Maisonne.
Paula wollte gerade nach rechts abbiegen, als sie aus dem Augenwinkel heraus zwei freie Parkplätze entdeckte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Eilig stellte sie ihr Auto ab, nahm die schwere Tasche vom Beifahrersitz und verfluchte sich selbst, weil sie vergessen hatte, ihre Wechselschuhe mitzunehmen. So war sie wohl oder übel gezwungen, auf High Heels den steilen Berg hinaufzueilen. Ihr schlechtes Gewissen darüber, dass ihr Auto für die nächsten zwei Stunden auf einem Behindertenparkplatz stehen würde, beruhigte Paula erfolgreich mit einem: Ich tue es ja nicht für mich!
Jetzt musste sie sich allerdings eilen, dass sie schleunigst in den Schlossgarten kam – schließlich wurde sie dort oben sehnlichst erwartet. Paula raffte ihr langes hellblaues Kleid zusammen, damit sie sich mit ihren dünnen Absätzen nicht darin verhedderte, warf sich die Tasche über die Schulter, schnappte sich das geliehene Rednerpult und eilte die steile Straße hinauf. Am Parkplatz angekommen, verfluchte sie noch einmal den Benz-Fahrer, der vor ihrer Nase in die letzte freie Parklücke gefahren war, und rannte auf den Seiteneingang des Schlossgartens zu.
Paula musste einen Moment innehalten, als sie durch das Tor in den Garten des Oberen Schlosses lief. Zum einen musste sie etwas Luft schnappen, zum anderen wurde sie förmlich von der bunten Farbenpracht überwältigt, die kein Fotograf der Welt auf einem Foto hätte festhalten können. Die mit viel Liebe bepflanzten Beete schillerten in den buntesten Farben um die Wette. Sie hatte in der Siegener Zeitung gelesen, dass 45.000 Zwiebeln, davon allein 35.000 Tulpen, in der Erde rund um das Schloss steckten, von denen mehr als die Hälfte an diesem herrlichen Samstagnachmittag im Mai noch immer in der Blüte standen. Fünf Mitarbeiter der Stadt hatten im Frühjahr zusätzlich 25.000 unterschiedlichste Blumen gepflanzt und im Sommer kamen noch einmal 35.000 Stück hinzu. Insgesamt, so hatte es in dem Artikel geheißen, erblühten im Schlossgarten übers Jahr verteilt 105.000 Blumen. Was für eine unfassbare Zahl.
Wie sie nun im Tor vor diesem Blütenzauber stand, ertappte sie sich selbst bei ihrem geheimen Gedanken: Wie gerne würde ich selbst in diesem herrlichen Schlossgarten und vor solch einer Kulisse der Liebe meines Lebens das Jawort geben.
Aber das war hier und heute nicht der Plan. Deshalb war sie nicht hier. Paula sammelte ihre Gedanken, sah in der Ferne das Brautpaar, das gemeinsam mit den Trauzeugen von der Fotografin an der Aussichtsplattform in Beschlag genommen wurde, und eilte in die andere Richtung zum Musikpavillon.
Wie das Pärchen es geschafft hatte, den Pavillon für ihre Freie Trauung zu buchen, war ihr zwar nach wie vor ein Rätsel, aber jetzt, wie sie so dastand und die traumhafte Location betrachtete, war es ihr eine Ehre, hier sein zu dürfen.
Für sie war es heute das erste Mal, dass sie als Hochzeitsrednerin durch eine Freie Trauung führte. Sie hatte zwar oft genug zugehört, wenn sie als Fotografin gebucht worden war, um den wichtigsten Moment des Lebens auf einem Foto festzuhalten, aber selbst durch die Zeremonie zu führen, das war schon etwas anderes.
Warum bloß bin ich für Rike eingesprungen? Was ist, wenn ich mich verhasple? Wenn meine Rede nicht gut ist? Wenn sich alle langweilen, oder noch schlimmer, wenn ich vor Aufregung die Ringe fallen lasse? Wie konnte ich nur ‚Ja‘ sagen?
Paula wusste natürlich warum – weil sie eine gute Seele war. Rike hatte sie vor drei Wochen angerufen und unter Tränen gefragt, ob sie bereit sei, für sie die Trauung zu übernehmen. Ihre Schwester war krank geworden, musste für einige Zeit ins Krankenhaus und hatte niemanden, der sich um die Kinder kümmern konnte.
Paula hatte zwar nicht weiter nachfragen wollen, aber ihr war bei Rikes Tonfall sofort klar gewesen, dass es etwas Ernstes sein musste. Dennoch hatte sie ihre Zweifel: »Hey Rike, ich helfe dir wirklich gerne, aber ich habe das doch noch nie gemacht.«
»Paula, bei wie vielen Hochzeiten bist du jetzt schon als Fotografin dabei gewesen? Hundertfünfzig? Zweihundert? Also hast du mindestens genauso viele Traureden gehört. Du kannst das! Du zeigst einfach dein bezauberndes Lächeln und alle werden dahinschmelzen. Ganz sicher! Bitte, bitte!«
»Na gut, wenn du mir das wirklich zutraust. Einverstanden!«, hatte sich Paula über ihre spontane Zusage gewundert.
Rike brauchte Hilfe, daher war es für sie keine Frage gewesen, für ihre Bekannte einzuspringen. Und nun stand sie hier mit zitternden Knien und zugleich mit einer Vorfreude, die sie selbst überraschte.
Sie hatte sich gut vorbereitet und Julia mit ihrem Mann Samuel während der Traugespräche kennenlernen dürfen. Sie hatte die beiden schnell in ihr Herz geschlossen und es sich zur Aufgabe gemacht, für die zwei eine Hochzeitszeremonie zu planen, die kein Auge trocken lassen würde.
Ganz besonders freute sich Paula auf ihre Traurede.
Julia und Samuel hatten sich in einer Kletterhalle in Siegen in der Nähe der Siegerlandhalle kennengelernt. Also war sie losgezogen, hatte einen Karabinerhaken besorgt und freute sich nun darauf, während alle Gäste gespannt auf ihre Worte lauschen würden, die Ehe mit diesem Karabinerhaken zu vergleichen.
Ja, Paula freute sich auf ihre Rede, auf die ausgesuchten Lieder, das Trauversprechen und auch auf die Überraschung, die sich die Trauzeugen für das glückliche Brautpaar ausgedacht hatten und von der Julia und Samuel noch nichts ahnten.
Jetzt musste sie sich aber beeilen, bevor die ersten Hochzeitsgäste eintrudelten. Schnell stellte sie Rikes antikweißes Rednerpult auf, legte die Mappe mit ihrer Rede darauf und kontrollierte, ob die Stühle des Brautpaares an der richtigen Stelle standen. Sie waren aus dunkelbraunem Holz, auf der Sitzfläche lag ein gemütliches helles Fell. An die Rückenlehne hatte eine Freundin von Julia zwei Schilder mit den Worten: ‚Bride und Groom‘ gehängt und sie mit Mistelzweigen verziert. Die Fotografin hatte das erste Fotoshooting beendet und kam nun lächelnd auf sie zu.
»Hey Paula, wie schön, dass du heute die Trauung hältst. Bist du sehr aufgeregt? So, wie ich dich kenne, wirst du das bestimmt richtig prima machen. Ich bin auf jeden Fall schon gespannt, was du dir für das Brautpaar ausgedacht hast.« Paula fühlte sich leicht unter Druck gesetzt. Sie wusste, dass Rike eine ganz besondere Art hatte, die Brautpaare und deren Gäste mit ihren Worten zu berühren. Sie würde sie niemals ersetzen können. Sei einfach du selbst, ermutigte sie sich selbst.
»Danke für die Blumen, Andrea«, gab Paula zurück. »Gib mir ein Zeichen, wenn ich einen Schritt zur Seite gehen soll.«
Nach ihrer ersten Trauzeremonie, für die sie als Fotografin gebucht worden war, hatte sie sich etwas erschrocken als sie die entwickelten Fotos abgeholt hatte und entdecken musste, dass sie als Hochzeitsrednerin auf fast jedem Bild im Mittelpunkt stand.
Daher wusste sie genau, wie sie sich heute bei den vertauschten Rollen zu verhalten hatte. An diesem Tag war nicht sie die Hauptperson, sondern das Brautpaar. Klar, beim Ringtausch ging zwar kein Weg daran vorbei – aber beim Brautkuss, nein, da hatte sie nun wirklich nichts auf dem Foto zu suchen.
Sie würde sich für einen Moment zurückziehen, damit Andrea in Ruhe das Glück der beiden wahren Hauptpersonen einfangen konnte.
Paula freute sich. Der Wettergott meinte es heute gut mit ihnen. Durch das Eingangstor zum Schlossgarten schritten die ersten Hochzeitsgäste und kamen langsam auf den Musikpavillon zu. Lange Kleider, kurze Röcke, Anzüge in schwarz, dunkelgrau und blau waren vertreten. Eine fröhliche und buntgemischte Gesellschaft …
Eines Tages, so dachte sich Paula, werde auch ich hier stehen – in einem traumhaften Brautkleid, neben einem Mann, der mich aus tiefstem Herzen liebt, und vor Gästen, die mir von Herzen alles Glück dieser Erde wünschen und sich mit mir freuen!
Bei diesem Gedanken füllten sich Paulas Augen mit Tränen.
Er wusste, dass sie enttäuscht sein würde. Das war ihm schon in dem Moment klargeworden, als er die Haustür aufgeschlossen und auf der Kommode einen Briefumschlag entdeckt hatte, auf dem mit kalligrafischer Schrift sein Name geschrieben stand.
Seit mittlerweile vier Jahren wohnten sie nun schon zusammen und noch immer wurde sie nicht zu Empfängen, auf Hochzeiten und andere Feierlichkeiten eingeladen. Er hatte alles versucht, hatte mit Samuel gesprochen und ihm sogar angeboten, das Essen für Simone selbst zu zahlen, aber Samuel hatte seinen Vorschlag beleidigt abgelehnt.
»Simone auf unserer Hochzeit? Bei aller Liebe, aber das geht nicht. Wie sähe das denn aus?«
Er konnte Samuels Einwand verstehen, sonst hätte er sicher auch nicht zugesagt, sein Trauzeuge zu werden. Und dennoch! Für Simone tat es ihm aufrichtig leid. Er wusste, wie gerne sie ihn auf die Feier begleitet hätte. Wortlos hatte sie ein weißes Hemd, seinen festlichen dunkelblauen Anzug und eine rosafarbene Fliege auf sein Bett gelegt. Danach hatte sie das Schlafzimmer schweigend verlassen.
Er musste sich beeilen. Die Sitzung, die kurzfristig anberaumt worden war und zu der die Mitarbeiter seines Vaters nur widerwillig erschienen waren – wer konnte ihnen das an einem Samstagmorgen verübeln – hatte länger gedauert als erwartet. Schnell sprang er unter die Dusche, zog Hemd und Anzug an, ohne Simones Auswahl auch nur für einen Moment in Frage zu stellen. Er vertraute ihr voll und ganz.
»Simone! Das Kissen! Wo hab ich bloß dieses verdammte Kissen?«
Simone stand in der Haustür und hielt in der einen Hand den wohl kostbarsten Gegenstand des heutigen Tages – das Kissen mit den Eheringen. Mit der anderen Hand hielt sie ihm den Autoschlüssel hin.
Dankbar steckte Julian beides ein, drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Stirn und eilte zur Garage. Er startete den Motor und sah auf die Uhr.
Wie soll ich das jemals pünktlich schaffen? In die Oberstadt, an einem Samstag bei so herrlichem Wetter?Das kann ja heiter werden.
Er fuhr die Fließenhardtstraße hinunter an der Pizzeria vorbei und bog links auf die Olper Straße ab. In solchen Momenten bereute er seine Entscheidung nach Freudenberg an Gambachsweiher gezogen zu sein. Nach Siegen in die Oberstadt zu fahren, das dauerte einfach seine Zeit.
Er hatte diese Wahl damals ganz bewusst getroffen. Er wollte raus, weg von seinen Eltern, die ihre eigenen Pläne für sein Leben geschmiedet hatten. Nach Freudenberg zu ziehen war eindeutig die beste Entscheidung seines Lebens gewesen.
Die Peimbach hoch gab er Gas und bretterte bei dunkelgelb über die Kreuzung, geradeaus Richtung Lindenberg. Als er zehn Minuten später über Koch’s Ecke fuhr, kurz darauf links abbog und das Stadtbad rechts liegen ließ, hatte er noch ganze zwei Minuten Zeit.
»Und sieh bloß zu, dass du pünktlich kommst. Die Fotografin kostet eine Stange Geld. Die können wir unmöglich warten lassen«, waren Samuels eindringliche Worte gewesen.
»Wieso macht ihr die Fotos nicht nach der Trauung? Wäre doch viel romantischer, wenn du Julia zum ersten Mal beim Einzug sehen würdest. Julia in ihrem Brautkleid, wie sie an der Hand ihres Vaters den Gang entlangschreitet, romantische Musik im Hintergrund und ein heulender Bräutigam, der es kaum erwarten kann, endlich seine Freiheit aufzugeben … «, hatte er seinen besten Freund aufgezogen. Doch leider ohne Erfolg.
Es blieb nur noch eine Minute Zeit als er am Rathaus vorbeifuhr und an der Eisdiele rechts abbog. Dass er zu schnell fuhr, merkte er erst, als ein türkisfarbener Mazda rechts vom überfüllten Parkplatz der Realschule fuhr und ihm fast die Vorfahrt genommen hätte.
Typisch Frau am Steuer. Tut mir leid, aber ich habe es eilig. Er gab Gas und bog zügig auf den Parkplatz des Oberen Schlosses ein. Leicht verzweifelt musste er feststellen, dass nicht eine Parklücke mehr frei war.
Und jetzt? Weiter hinten stieg gerade eine Dame zu ihrem Mann ins Auto. Glück muss man haben, freute sich Julian und wartete ungeduldig, bis der ältere Herr freundlich grüßend an ihm vorbei vom Parkplatz fuhr. Im Rückspiegel sah er, dass sich ihm der kleine Mazda mit einer wild um sich fuchtelnden Frau hinter dem Lenkrad näherte.
Sorry, aber dieser Parkplatz gehört mir!
»Mama, das ist jetzt nicht dein ernst! Ich mache mich ja zum Gespött der ganzen Schule. Ich ziehe auf gar keinen Fall meine schwarzen Konfirmationsschuhe an. Das kannst du knicken«, schimpfte Paula lauthals.
Es war schon schlimm genug, dass sie mitten im Schuljahr mit ihren Eltern von Wilgersdorf nach Dahlbruch hatte ziehen müssen, da würde sie sich auf keinen Fall an ihrem ersten Tag vor ihren Mitschülern lächerlich machen.
Wilgersdorf war perfekt gewesen. Zwar etwas außerhalb, dafür aber mitten in der Natur. Außerdem hatte sie dort ihre Freunde. Besonders Jenny. Sie war ihre beste Freundin und wohnte nur zwei Straßen unter ihr im Sangweg. Morgens waren sie immer gemeinsam mit dem Bus zum Gymnasium nach Wilnsdorf gefahren.
Es hatte zwar anfangs etwas gedauert, aber mittlerweile war ihre Klassengemeinschaft richtig gut gewesen, zumindest die der Mädchen untereinander. Selbst die Lehrer am Gymnasium waren alle ganz in Ordnung gewesen. Besonders ihre Englischlehrerin, Frau Baumhaus, konnte sie gut leiden. Sie würde sie vermissen.
Auch wenn Wilgersdorf und Dahlbruch nicht wirklich weit auseinander lagen, war ein Schulwechsel dennoch unumgänglich. Das hatte sie mit Enttäuschung feststellen müssen. Sie hatte einfach keine Chance, dort morgens pünktlich in der Schule zu sein. Es sei denn, sie würde um fünf nach sechs in der Frühe den Bus ab Dahlbruch Richtung Siegen nehmen und dort am Hauptbahnhof in den Bus nach Wilnsdorf umsteigen. Sie wäre eine gefühlte Ewigkeit unterwegs. Vom Rückweg ganz zu schweigen.
Schuld an der ganzen Misere war ihr Vater. Für ihn wäre es kein Problem gewesen, die dreißig Kilometer mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Aber nein … Warum musste er auch eine neue Arbeitsstelle annehmen und gleichzeitig mit ihrer Mutter nach einem Einfamilienhaus für sie drei suchen? Ihre Vier-Zimmer-Wohnung in Wilgersdorf war doch perfekt gewesen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, sie wäre niemals dort weggezogen. Musste sie jetzt wirklich auf eine Schule gehen, wo die Direktorin ‚Stiftsoberin‘ genannt wurde?
Wenn sie ehrlich war, musste sie allerdings zugeben, dass ihr neues Zuhause super war. Der Immobilienservice der Siegerländer Blau-Orange-Bank hatte alles gegeben und ein tolles Einfamilienhaus für sie gefunden. Leider lag das Haus nicht, wie gewünscht, in Wilgersdorf und Umgebung, dafür aber war es erschwinglich und lag nah am Waldesrand. Es war sogar so großzügig geschnitten, dass ihre Eltern ihr gleich zwei Zimmer im Dachgeschoss zur freien Verfügung gestellt hatten, die sie ganz nach ihren Wünschen hatte streichen lassen dürfen.
Ihr Schlafzimmer erstrahlte nun in einem Mix aus rosa und bordeaux. Ihre Mutter hatte sie zwar angefleht, die Wände nicht gleich wieder mit ihren geliebten Postern zu tapezieren, aber es hatte nichts genützt. Egal, wo sie sich in ihrem Schlafzimmer auch aufhielt, sie wurde von Audrey Hepburn und Gregory Peck beobachtet. Zwei Schauspieler, die Paulas Herz im Sturm erobert hatten, als sie den Film ‚Ein Herz und eine Krone‘ zum ersten Mal gesehen hatte.
Ihr erstes eigenes Wohnzimmer war in der Farbe Taupe gestrichen und war an den Wänden noch recht kahl. Sie wusste ja nicht, wer sie hier oben einmal besuchen kommen würde und wollte auf keinen Fall den Eindruck eines unreifen Mädchens erwecken, das noch immer auf Pink und Rosa stand.
Ihre Eltern hatten wirklich alles gegeben, um ihr das neue Zuhause schmackhaft zu machen und ihr zusätzlich ein eigenes kleines Fotolabor im Keller versprochen. Allerdings war dieses Versprechen mit der Auflage verknüpft, sich auf Dahlbruch und die neue Schule einzulassen – und das erste Zeugnis abzuwarten.
Paula war sich ziemlich siegessicher, dass sie in den Sommerferien damit beginnen konnte, ihr eigenes Fotolabor einzurichten. Sie war schon immer eine gute Schülerin gewesen. Es würde ihr mit Sicherheit nicht schwerfallen, mit guten Noten nach Hause zu kommen.
Ihr Vater hatte sich im Januar als Ingenieur bei einer Maschinenbaufirma in Kreuztal beworben und schon einen Monat später, im Februar, die Zusage bekommen. Voller Freude hatte er beim gemeinsamen Abendessen in ihrer kleinen aber feinen Wohnung am Tisch gesessen und ihnen die Nachricht verkündet.
Wiederum zwei Monate später war es ihre Mutter, die freudestrahlend berichtete, dass sie ihr Traumhaus gefunden hätten. Leider nicht in Siegen, auch nicht in Kreuztal, sondern in einem angeblich ganz bezaubernden Vorort von Hilchenbach. Sie hatte ihr von den vielen Wäldern und Hügeln vorgeschwärmt und von der neuen Schule, die eine Stiftskirche und einen Abteigarten besaß und Stift Keppel hieß.
»Sag mal, Mama, glaubst du ernsthaft, die Wälder und Hügel sehen in Dahlbruch wirklich anders aus?«, fragte sie ironisch.
»Naja«, kam ihr Vater seiner Frau zu Hilfe, »auf jeden Fall hast du dort bisher noch nicht jeden Baum und jeden Stein fotografiert.«
Paula musste grinsen. Ihr Vater hatte recht. Sie liebte es, draußen zu sein und durch die Wiesen und Wälder zu streifen. Immer bewaffnet mit ihrem Fotoapparat, um die Schönheit der Natur auf einem Foto festzuhalten. Letztes Jahr hatte sie sogar beim Sommerfoto-Wettbewerb der Siegener Zeitung den zweiten Platz gewonnen.
Für das Foto hatte sie sämtliche Sommerschuhe, die sie Zuhause finden konnte, mit in den Wald genommen und sie an einer bunten Kordel in einen Baum gehängt, der völlig frei mitten auf einem Feld gestanden hatte. Sie hatte Stunden gewartet, bis die Sonne fast untergegangen war – nur, um die von ihr geschaffene Szenerie im perfekten Licht zu fotografieren.
Ein anderes Mal, als sie wieder durch den Wald gepirscht war, hatte sie ein Pärchen erwischt, das im Wäldchen hinter dem Tennisclub damit beschäftigt war, sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu reißen.
Paula erinnerte sich daran, wie sie sich zwischen Weglaufen und fasziniertem Fotografieren entscheiden musste. Natürlich war sie gut erzogen und wusste, wie man sich in dieser seltsamen Situation zu verhalten hatte: umdrehen und leise zurückschleichen.
Sie hatte sich allerdings anders entschieden. Und ganz manchmal holte sie die von ihr in brillanten Farben entwickelten Fotos aus der Kiste unter ihrem Bett hervor, betrachtete das verzückte Gesicht der unbekannten Frau.
In ihre Gedanken versunken, musste sie sich zwingen, sich wieder auf das Gespräch mit ihren Eltern zu fokussieren. Es war aber auch zu lustig, wie ihre Eltern versuchten, ihr das Örtchen Dahlbruch schmackhaft zu machen.
Mittlerweile waren sie bereits bei einem Kino, einem
Naturfreibad in Müsen, einer Burg und einem geheimen Stolleneingang ganz in der Nähe. Sie taten gerade so als läge ihr neues Zuhause in Paris, London oder Barcelona. Was sie letztlich allerdings geködert hatte, war der Hinweis ihres Vaters, dass es auf Stift Keppel eine Foto-AG gab, in der sie ihrer Leidenschaft voll und ganz nachgehen konnte.
Ihre Eltern hatten entschieden, ihre Konfirmation abzuwarten, um ein paar Tage später die letzten Koffer zu packen, das Auto ein letztes Mal zu beladen und sich endgültig auf den Weg ins nördliche Siegerland zu machen. Es war keine lange Fahrt. Lediglich vierzig Minuten. Das und auch die feste Zusage ihrer besten Freundin Jenny, sie jeden Abend anzurufen und zu berichten, was es auf ihrer alten Schule an Neuigkeiten gab, waren ihr ein Trost gewesen.
Jetzt aber war sie doch aufgeregt. Aus welchem Grund sollte sie sonst ihre Mutter so anfahren? Paula erkannte sich selbst nicht wieder. So war sie doch sonst nicht. Aber in den schwarzen Pumps, die sie letzte Woche zu ihrer Konfirmation getragen hatte, konnte sie nun wirklich nicht an ihrem ersten Tag in der Schule auftauchen. Also zog sie ihre Chucks an, die vor langer Zeit einmal weiß gewesen waren, warf sich den Rucksack über die Schulter und hängte sich ihren Fotoapparat um den Hals.
Ihr Vater hatte gestern auf Dienstreise in die USA fliegen müssen. Schade! Gerne hätte sie sich noch einmal von ihm in den Arm nehmen lassen, bevor sie das Haus verlassen musste. Er hatte aber an sie gedacht und trotz der Zeitverschiebung heute Morgen angerufen, um ihr alles Gute für den ersten Tag in Stift Keppel zu wünschen.
»Hey, Süße! Das wird schon! Dich muss man einfach gern haben. Das werden auch die Stift-Keppel-Mädels schnell herausfinden.«
Hoffentlich auch die Jungs!, war ein kurzer Gedanke, über den sich Paula selbst wunderte. Sie versuchte, sich am Telefon nichts anmerken zu lassen. Das Gesicht ihrer Mutter allerdings, die mit einem breiten Grinsen in der Tür stand, zeigte ihr jedoch das Gegenteil.
Ich kann ihr einfach nichts vormachen. Daran muss ich unbedingt noch arbeiten, entschied sie.
Von ihrem neuen Zuhause in der Waldstraße bis zur Schule brauchte sie knapp vierzig Minuten. Das hatte sie gestern bei ihrer Erkundigungstour in und um Dahlbruch und Allenbach schon ausgetestet. Heute war das Wetter sonnig und so machte sich Paula zu Fuß auf den Weg. Schließlich gab es viel Neues zu entdecken.
Sie lief ein ganzes Stück an der Hauptstraße entlang, die nach Hilchenbach führte, vorbei an einer großen Firma, zu der ein endlos langer Parkplatz zu gehören schien. Ein großer Supermarkt lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite und Paula wusste, dass jetzt bald das Restaurant erscheinen musste, das in einer sehr auffälligen und interessanten Farbe gestrichen worden war.
Hier konnte sie die Hauptstraße verlassen und einen ruhigeren Waldweg nehmen. Vor der Schule angekommen, hielt sie einen Moment inne, nahm ihren Fotoapparat in die Hand und konnte nicht anders – sie musste diesen Moment einfach festhalten. Dieser Schulwechsel war für sie ein neuer Lebensabschnitt, und der erste Schritt sollte unbedingt dokumentiert werden. Sie stellte die Blende ihrer Kamera ein, stellte das Objektiv scharf und drückte just in dem Moment ab, als ihr jemand mitten ins Bild sprang.
»Und? Hast du mich gut getroffen?«, lachte sie frech ein Junge an, ließ sie mit ihrem missglückten Foto stehen und lief hinter seinem Kumpel her in Richtung Haupteingang.
Na, das wird ja was geben. Die Jungs sind hier genauso frech wie in Wilnsdorf, dachte sie. Aber etwas hübscher ...
Plötzlich tippte ihr von hinten jemand auf die Schulter. Eine Blondine aus der Oberstufe mit kurzem Rock und hohen Schuhen zischte: »Lass bloß die Finger von meinem Bruder!«
»Welcher Bruder? Was …?«
»Mach dir nichts draus. Lass die dumme Kuh einfach reden«, hörte Paula jemanden neben sich flüstern.
Ohne zu fragen hakte sich ein lachendes Mädchen bei ihr unter und sagte:
»Hey, ich bin Lina, und wer bist du?«
»Bist du endlich fertig?«, ich habe echt keinen Bock schon wieder wegen dir zu spät zu kommen.«
»Dann geh doch zu Fuß! Ist mir doch egal!«
»Vicki, jetzt sieh endlich zu, dass du fertig wirst!«
»Ach Bruderherz, ich rufe mir einfach ein Taxi, dann werden wir ja sehen, wer von uns beiden zu spät kommt.«
Julian war den allmorgendlichen Streit leid. Jeden Morgen musste er auf seine Schwester warten, weil Viktoria mal wieder eine halbe Ewigkeit brauchte, bis sie endlich mit ihrem Aussehen zufrieden war. Auf ihrem Bett lagen regelmäßig mindestens drei Outfits, weil sie sich schlichtweg nie entscheiden konnte. Hätte es eine Abstimmung über eine Schuluniform gegeben, er wusste, wo er sein Kreuzchen gesetzt hätte.
Sein Vater war schon früh zur Arbeit gefahren, seine Mutter jettete mal wieder mit einer ihrer Freundinnen um den Globus. Und Viktoria? Die meinte, die Tochter aus adeligem Hause spielen zu müssen und mit dem Taxi vor der Schule vorzufahren.
Julian hatte lange dafür gebraucht, um in der Klasse als ganz normaler Mitschüler akzeptiert zu werden. Er machte sich nichts aus Standesdünkel, teuren Klamotten und erst recht würde er sich nie, wirklich niemals, von einem Taxi in die Schule fahren lassen. Er wollte nicht als Sohn vom Heinbach, für den die meisten Väter seiner Freunde arbeiteten, gesehen werden, sondern als Julian, der gerne Handball spielte, Playstation zockte und sich darauf freute, eines Tages offiziell sein erstes Bierchen trinken zu dürfen. Die Allüren seiner Schwester gingen ihm daher mächtig auf den Geist.
»Ich bin dann mal weg!«, rief er nach oben und zog die Haustür hinter sich zu. Wollen wir doch mal sehen, wer von uns zuerst in der Schule ist. Er hatte gerade die Hälfte des Schulweges geschafft, als ihm ein leeres Taxi entgegenkam. Sie hat doch nicht wirklich ein Taxi gerufen?, schämte sich Julian für seine Schwester. Er konnte die anderen schon förmlich reden hören: »Da kommt ja unsere Prinzessin … hat Papa mal wieder einen Zwanziger fürs Taxi springen lassen?«
Zeitgleich mit Viktoria kam er bei der Schule an. Während sie sich von ihren angeblichen Freundinnen aus dem Taxi helfen ließ, warf er sich noch schnell ein paar Mal mit Philipp die Frisbee-Scheibe zu, bevor gleich der Gong ertönte und sie hoch in den Unterricht mussten.
Philipp fing die Frisbee gekonnt auf. Dann, mitten im Wurf, stoppte er plötzlich ab, gab ihm ein Zeichen und zeigte mit dem Finger auf ein Mädchen, das mit einem Fotoapparat vorm Gesicht einfach nur dastand und in eine andere Welt versunken zu sein schien. Noch bevor Julian begriff, was Philipp vorhatte, hatte der schon feixend die Frisbee geworfen und genau auf die Brüste des Mädchens gezielt.
Dieser Idiot! Geistesgegenwärtig sprintete Julian los und schaffte es gerade noch, die Scheibe abzufangen, ohne dabei gegen die Unbekannte zu stoßen, oder noch schlimmer, dabei ihren für ihr Alter üppigen Busen zu berühren. Puh, das ist ja nochmal gutgegangen, dachte er und funkelte Philipp böse an. Zu dem verdutzen Mädchen gewandt, fiel ihm nichts Besseres ein als: »Und? Hast du mich gut getroffen?«
Aus dem Augenwinkel heraus sah er seine Schwester mit ihrem Gefolge auf ihn zukommen. Zeit zu verschwinden war angesagt und so rannte er mit seinem Freund auf den Haupteingang zu, lief die Treppe hinauf und einmal über die Seufzerbrücke in den Trakt, in dem sein Klassenzimmer lag. Sie mussten sich beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollten.
Julian musste an das Mädchen mit dem Fotoapparat denken. Er hatte sie zuvor noch nie gesehen. Ein süßes Lächeln hatte sie gehabt, als sie die Kamera heruntergenommen und ihm für einen kurzen Moment in die Augen gesehen hatte. Hoffentlich hatte sie seinen abweisenden Blick nicht falsch interpretiert. Der hatte nicht ihr, sondern Viktoria gegolten, die plötzlich hinter ihr aufgetaucht war. Auf ihrem Spurt Richtung Klassenzimmer hatte ihm Philipp zugeraunt:
»Hast du den Busen gesehen?« So war Philipp.
»Kannst du mal aufhören, immer nur an Brüste zu denken?«, hatte er wohl etwas zu laut und just in dem Moment, in dem sie das Klassenzimmer betraten, erwidert. Leider war Frau Winkel mal wieder überpünktlich und wartete schon mit einem Stück Kreide in der Hand vor der Tafel.
»Julian Heinbach, Sie haben ja am frühen Morgen schon sehr interessante Gesprächsthemen drauf. Da wollen wir doch mal sehen, dass wir Sie auf den Pfad der Tugend zurückbringen«, hatte Frau Winkel entschieden und ihm das Stück Kreide in die Hand gedrückt. Die Klasse hatte gelacht. Allen voran Philipp, der sich klammheimlich und breitgrinsend auf seinen Platz verdrückt hatte.
Richtig peinlich aber wurde es, als es an der Tür klopfte und die Stiftsoberin, Frau Brücher, in Begleitung von Lina und einer Schülerin, die etwas schüchtern, aber mit funkelnder Vorfreude in den Augen, in der Tür stand. Die Jungs aus seiner Klasse sahen zu ihm, dann zu dem Mädchen und dann wieder zurück zu ihm. Ein schallendes Gelächter durchdrang den Raum. In diesem Moment registrierte wohl jeder, um welche Brüste es sich in dem kurzen Gespräch zwischen Philipp und ihm gehandelt haben musste.
Einschließlich Frau Winkel. Hilflos und beschämt musste er mitansehen, wie die Vorfreude seiner neuen Mitschülerin Stück für Stück wich und sich eine Unsicherheit in ihr breitzumachen schien, die Julian von Herzen leid tat. Diesen Start in ihr Schulleben auf Stift Keppel hatte sie nicht verdient. Julian fühlte sich schuldig, dabei hatte er sich nichts vorzuwerfen. Ganz im Gegenteil! Aber nun war er derjenige, der vorne an der Tafel stand und für das Gelächter verantwortlich zu sein schien. Das jedenfalls interpretierte die Direktorin genau so und bedachte ihn mit einem strafenden Blick.
»Das ist Paula Rubens, sie ist mit ihren Eltern neu nach Dahlbruch gezogen und wird ab heute Teil eurer Klassengemeinschaft sein. Ich erwarte von euch, dass ihr sie freundlich aufnehmt. Lina, du hast Paula ja eben schon etwas unter deine Fittiche genommen. Ich wäre dir dankbar, wenn du das auch weiterhin tun würdest.«
»Nur Mut, Kleines!«, sagte die Stiftsoberin, warf Frau Winkel einen vielsagenden Blick zu und schob Paula ein Stück weiter ins Klassenzimmer, bevor sie sich umdrehte und den Raum verließ – doch nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und auch ihm einen Blick zuzuwerfen.
Der allerdings war alles andere als freundlich.
Langsam schlug Paula die Augen auf. Wo bin ich? Was ist passiert?
Paula drehte den Kopf und entdeckte aus dem Augenwinkel heraus einen Monitor, an dem ein paar Lichter blinkten. Ich bin in einem Krankenhaus, aber warum?, dachte sie erschrocken.An der Wand gegenüber hing ein Kruzifix, darunter ein Abreißkalender mit Bibelversen für jeden neuen Tag. Ansonsten war das Krankenzimmer kahl. Keine Blumen, kein Rotbäckchensaft, keine Schnuckereien, keine Zeitschriften. Nichts, was darauf hindeuten würde, dass sie Besuch gehabt hätte.
Paula versuchte sich zu erinnern, was passiert war und vor allem, wie lange sie schon in diesem Zimmer lag. Es gelang ihr nicht. So sehr sie es auch versuchte, das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war der Moment, in dem sie durch das Tor des Schlossgartens am Oberen Schloss gegangen war. Sie sah die bunten Blumenbeete vor sich und bildete sich ein, ihren Duft zu riechen.
Aber was habe ich dort gemacht?
Verzweiflung machte sich in ihr breit. Sie wollte die Bettdecke zurückschlagen und aufstehen, als sie bemerkte, dass in ihrem Arm eine Kanüle steckte. Neben ihrem Bett stand ein Infusionsständer, an dem ein Beutel mit der Aufschrift NaCl hing. Nur Kochsalzlösung, dachte sie erleichtert. Dann kann es so schlimm nicht sein.
Sie wollte ihre Beine aus dem Bett schwingen, doch sie gehorchten ihr nicht. Panisch versuchte es Paula noch einmal und spannte ihre Muskeln an, doch wieder gelang es ihr nicht. Ihre Beine lagen vor ihr auf dem Bett und schienen nicht zu ihr zu gehören.
Entschlossen nahm sie eins nach dem anderen in die Hand und schubste es aus dem Bett. Endlich saß sie auf der Bettkante. Das wäre doch gelacht, dachte sie und stützte sich mit den Armen ab, um aufzustehen. Eins – zwei – und hoch!, ermutigte sie sich selbst. Sie stieß sich von der Bettkante ab und musste hilflos zusehen, wie ihre Beine plötzlich wie Pudding nachgaben und sie vornüber auf den Boden stürzte.
Ein Schrei entwich ihrer Kehle. Doch niemand schien sie gehört zu haben. Sie rief noch einmal, suchte nach der Klingel, um eine Schwester zu alarmieren. Ohne Erfolg! Unerreichbar baumelte sie an einer Schnur, die jemand umsichtig um den Galgen über ihrem Bett geschwungen hatte, damit sie sie jederzeit erreichen konnte, ohne lange suchen zu müssen. Welch Ironie!
Verzweifelt robbte sie bis zu ihrer Zimmertür, doch die Klinke war zu hoch angebracht, als dass sie eine Chance gehabt hätte, sie zu erreichen.
Hilflos und mit vom Aufprall schmerzenden Handgelenken lag sie auf dem kalten Boden in irgendeinem Krankenzimmer, von dem sie keine Ahnung hatte, wie sie hier hergekommen war.
Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass sich irgendwann die Tür öffnete und ihr endlich jemand half.
Still lag sie da – sich der Tränen bewusst, die ihr langsam die Wangen hinabliefen.
»Lassen Sie mich sofort zu ihr!«
»Herr Heinbach, verstehen Sie doch. Sie können dort nicht rein. Sie sind kein Angehöriger!«
»Ja und? Ich habe Sie immerhin hierher gebracht. Wir sind gute Freunde. Zählt das nichts?«
»Wenn Sie Ihrer Freundin wirklich helfen wollen, dann holen Sie schleunigst ihre Familie herbei«, blieb Schwester Astrid unerbittlich.