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Der siebenjährige Karl verschwindet spurlos aus einem Wilgersdorfer Kinderheim und taucht nach drei Tagen unversehrt in Wittgenstein wieder auf. Zur selben Zeit kehrt eine totgeglaubte Witwe, auf der Flucht vor den Mördern ihres Mannes, zurück ins Siegerland. Noch sieht Kriminaloberkommissarin Johanna Daub keinen Zusammenhang, bis auf dem Kreuztaler Weihnachtsmarkt vor ihren Augen ein weiteres Kind entführt wird. Bei dem Versuch, das Puzzle zu lösen, bringt sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Team in höchste Gefahr. Ein Fall, der das Siegerland auf spannende Weise mit Wittgenstein verbindet.
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Anette Schäfer
ENTZWEIT
Siegerland-Krimi
Oktober 2020
Copyright © by Krönchenverlag, Anette Schäfer
Umschlagsfoto: Living-Moment Fotografie, Wenden
Umschlaggestaltung: DTP-Medien GmbH, Dillenburg
Lektorat: Anke Becker, Paderborn
Korrektorat: Vorländer GmbH & Co. KG, Siegen
Anette Schäfer
Robert-Schumann-Str. 14
57076 Siegen
www.kroenchenverlag.de
ISBN 978-3-9819795-6-5
Für meine Jungs
Anmerkung:
Sollten Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Institutionen auftreten, sind diese rein zufällig.
Alle Charaktere sind frei erfunden und entspringen meiner Fantasie.
»Die tiefe Liebe zum eigenen Kind ist ein Gut, das niemals entzweit werden darf!«
»Schneller, los, komm! Lauf schneller!«, rief er Anna panisch zu und zog sie hinter sich her. »Sie dürfen uns nicht einholen!«
Tannenzweige schlugen ihm ins Gesicht, als er mit ihr an der Hand durch den Wald stolperte. Kalter Angstschweiß lief ihm den Nacken hinunter und durchtränkte sein Shirt, das er unter einer dunkelblauen Jacke trug. Arme Anna, er hatte sie aus ihrem Bettchen gescheucht – Zeit, ihr etwas überzuziehen hatten sie keine gehabt. Er spürte, wie sie in ihrem dünnen Nachthemdchen am ganzen Leib zu zittern begann, doch er konnte es nicht ändern. Sie mussten weiter.
Aus der Ferne hörte er sie rufen. Deutlich konnte er hören, dass ihre Stimmen näherkamen. Kurzerhand hob er Anna auf seinen Rücken und rannte weiter. »Halte dich gut fest, Kleines!«
Seine Kräfte ließen nach. Er merkte, dass er langsamer wurde. Irgendwo muss doch diese verdammte Straße sein. Er hatte die Orientierung verloren – suchte nach einem Licht, einem Scheinwerfer, der ihm den Weg zur Rettung zeigte.
Mit ihren sieben Jahren war Anna kein Leichtgewicht mehr. Er musste sie kurz absetzen. Sie war ihm zu schwer geworden. Er lehnte sich an einen Baumstamm und rang nach Atem. Anna sah ihn aus ängstlichen Augen an. Er musste Ruhe bewahren. Sie sollte ihm seine Verzweiflung nicht anmerken.
»Alles wird gut! Vertrau mir!«, flüsterte er ihr ins Ohr, während er sie wieder hochnahm.
Es mussten mehrere sein, die hinter ihnen her waren. Ihre Verfolger waren mittlerweile so nahegekommen, dass er ihre Stimmen unterscheiden konnte. Zwei Männer und eine Frau. Wenn er nicht bald die Straße erreichen würde, wäre seine einzige Chance, Anna zurückzulassen und allein weiter zu fliehen. Doch das war keine Option. Sie mussten es gemeinsam schaffen.
Plötzlich wurde er vom Strahl einer Taschenlampe geblendet. Ein Aufschrei durchdrang den Wald.
»Hier, hier sind sie. Kommt schnell!«
Er sammelte seine letzten Kräfte und rannte weiter. Anna blieb mit ihren Haaren an einem Ast hängen. Ein schmerzerfüllter Laut drang an sein Ohr.
Gerade wollte er die Hoffnung aufgeben, als er in der Ferne die Scheinwerfer eines Autos sah. Seine Lunge schmerzte. Er spürte, wie sich die Muskeln in seiner linken Wade verkrampften und ihn zwingen wollten, stehen zu bleiben.
Doch er blieb nicht stehen. Er musste es schaffen!
Das Auto hatte angehalten und war nur noch knappe fünfzig Meter von ihnen entfernt.
»Anna, gleich haben wir es geschafft. Halte durch!«
Er wagte es nicht, sich umzudrehen und stürmte mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte, auf den Wagen zu, riss die Autotür auf und schmiss Anna auf die Rückbank. Er wollte gerade die Beifahrertür öffnen, als ihn ein unfassbarer Schmerz durchfuhr.
Sie haben auf mich geschossen! Damit hatte er nicht gerechnet. Er spürte, wie das Blut warm seinen linken Arm hinabfloss, ignorierte den Schmerz, öffnete die Tür und sprang hinein.
»Das war ganz schön knapp, mein Freund! Ach, und nimm der Kleinen mal den Knebel ab. Wir wollen doch, dass sie sich bei uns wohlfühlt.«
»Jo, du musst es ihnen endlich sagen! Sofort! Hast du mich verstanden? Ich mache das nicht länger mit!«, schimpfte Daniel. »Weißt du eigentlich, in welche Gefahr du dich und unser Baby bringst?«
So ging das jetzt schon seit einer Woche. Sie hätte es ihm nicht erzählen sollen – noch nicht! Sie war nicht krank, sie war einfach nur schwanger. Ja und? Was heißt das schon? Darf man deshalb nicht mehr in Ruhe seiner Arbeit nachgehen? Und überhaupt – sobald ihr Chef Wind von ihrer Schwangerschaft bekam, würde er sie schlichtweg an ihren Schreibtisch verbannen. Und das kam für Kriminaloberkommissarin Johanna Daub definitiv nicht infrage.
»Was soll das denn bringen? Du weißt doch ganz genau, dass wir zurzeit jeden Mann auf der Wache gebrauchen können, jetzt, wo Holger noch für mindestens drei Monate ausfällt.«
»Aber genau das ist doch der Punkt! Meine liebe Johanna, hast du mal für einen kurzen Moment darüber nachgedacht, warum dein Partner für weitere drei Monate ausfällt? Kann es sein, dass er im Dienst angeschossen wurde? Und kann es sein, dass du und ich bei deinem letzten Fall nur knapp überlebt haben?«, ging Daniels Schimpftirade weiter. »Du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft weißmachen wollen, dass dein Job völlig ungefährlich für dich und unser Kind ist.«
So komme ich nicht weiter. Ich muss wohl eine andere Taktik ausprobieren, überlegte Johanna. Sie legte die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Schatzebär, gib mir noch ein paar Wochen. Ich verspreche dir auch, dass ich besonders gut auf uns beide aufpassen werde … Bitte!«
Bei dem Wort ‚Bitte‘ hatte sie ihn aus ihren smaragdgrünen Augen angesehen, ihn angelächelt, mit der Zunge lasziv ihre Lippen befeuchtet und ihm dann einen langen und intensiven Kuss gegeben. Das hatte bisher immer gewirkt.
Bevor der völlig überrumpelte Daniel sich gefangen hatte und etwas erwidern konnte, hatte sie ihre Jacke vom Haken genommen, sich Mütze und Schal geschnappt und hielt die Türklinke schon in der Hand, als sie verführerisch sagte:
»Du bekommst auch heute Abend eine Belohnung!«
»Das kann sie nicht machen! Dafür gibt es doch Gesetze, oder nicht?«
»Das stimmt, aber für die Hormone unserer Johanna scheinen die wohl nicht zu gelten«, lächelte Kriminalhauptkommissar Holger Stein.
Na toll, jetzt bin ich extra nach Bad Berleburg gefahren, um mir die Unterstützung von Holger zu sichern und dann schlägt der sich auf Johannas Seite.
»War ja klar, dass du sie mal wieder in Schutz nimmst. Aber so geht das nicht. Nicht nachdem, was vor zwei Monaten passiert ist.«
Langsam wusste sich Daniel keinen Rat mehr. War er denn der Einzige, der dagegen war, dass eine schwangere Polizistin, die bei der Kriminalpolizei arbeitete, weiterhin auf Verbrecherjagd ging, als sei nichts Außergewöhnliches in ihrem Leben geschehen? Das würde er nicht hinnehmen. Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.
Während er über einen Plan nachdachte, bemerkte er, dass er von Holger beobachtet wurde.
»Mach keinen Fehler! Wage es bloß nicht, hinter Johannas Rücken irgendwem von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Das wird nicht gut ausgehen – das kann ich dir versichern.«
Holger hatte recht. Das würde sie ihm nie verzeihen und das wollte er auf keinen Fall riskieren.
»Aber jetzt sag doch mal!«, forderte ihn Holger interessiert auf. »Habt ihr schon einen Termin?«
»Was denn für einen Termin?« Daniel stand auf dem Schlauch. Zu sehr war er noch mit dem Gedanken beschäftigt, gegen Holgers Rat Johannas Chef Achenbach einzuweihen.
»Tatatata, tatatata …«, stimmte Holger fröhlich Richard Wagners Hochzeitsmarsch an, während er an einem Rolla- tor humpelnd mit ihm in Richtung Cafeteria ging.
Daniel entging nicht, dass Holger offensichtlich noch immer Schmerzen hatte. Jetzt tat es ihm leid, dass er ihn, statt nach seinem Oberschenkel zu fragen, sofort mit seinen eigenen Sorgen bombardiert hatte.
Als er ihn vor zwei Jahren als Hauptkommissar und Partner von Johanna kennengelernt hatte, hätte er sich niemals träumen lassen, dass sie eines Tages Freunde werden würden. Zum einen war Holger ein ganzes Stück älter als er, zum anderen hatte er stets eine besondere Art der Eifersucht ihm gegenüber an den Tag gelegt, die eine unüberwindbare Barriere zu sein schien.
Johanna war für Holger Stein die Tochter, die er selbst nie haben durfte. Daniel hatte eine ganze Zeit gebraucht, um dieses besondere Band zwischen den beiden zu verstehen und zu akzeptieren.
Johanna hatte ihm erzählt, dass Holger gar nicht amüsiert darüber gewesen war, als er sie gefragt hatte, ob sie nicht zu ihm nach Brauersdorf ziehen wolle.
»Da kommt einfach so ein Bankheini dahergelaufen und schnappt sich meine Johanna?«, sollen seine Worte gewesen sein.
Doch während ihres letzten gemeinsamen Falles, an dem auch er nicht unbeteiligt gewesen war, hatte Daniel ihm bewiesen, dass Holger Stein sich zu einhundert Prozent auf ihn verlassen konnte – und umgekehrt. Seitdem war das Eis zwischen ihnen endgültig gebrochen.
»Du wirst es als unser Trauzeuge natürlich als erster erfahren«, antwortete Daniel auf die Frage nach dem Hochzeitstermin und zwang sich zu einem Lächeln.
Das Thema Hochzeit hatten er und Johanna schon längst ad acta gelegt. »Zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen man um des lieben Friedens willen sofort heiraten muss, nur weil man ein Kind erwartet«, waren ihre Worte gewesen, bevor sie sich ein Brötchen in den Mund schob, das sie zuvor liebevoll mit Nutella und Zwiebelwurst bestrichen hatte.
Johanna darauf hinzuweisen, dass sie in ihrem Zustand keine rohe Zwiebelwurst essen sollte, hatte er sich für den Moment verkniffen.
Ihre Worte ‚Ja, ich will!‘, die sie sich vor gerade mal zwei Monaten extra für ihn als Henna-Tattoo in ihre Leiste hatte malen lassen, waren längst verblasst – und scheinbar auch ihr Gedanke daran, dieses Versprechen in naher Zukunft vor einem Standesbeamten zu wiederholen.
Er hatte einige Wochen daran zu knabbern gehabt. Vielleicht war er altmodisch, aber für ihn war es selbstverständlich, dass ein Paar heiratete, bevor das Baby zur Welt kam. Vorausgesetzt natürlich, beide Partner liebten sich.
Wie dem auch sei, er würde Johanna auf keinen Fall bedrängen. Stattdessen wollte er versuchen, sich in Geduld zu üben.
Jetzt aber musste er sich erst einmal darum kümmern, dass ihr Baby überhaupt die Chance bekam, munter und gesund das Licht der Welt zu erblicken.
Und genau aus diesem Grund war er hier. Er hatte auf Holgers Unterstützung gehofft. Aber der hatte zurzeit wirklich andere Probleme. Also schluckte er seine eigenen hinunter. Er nahm Holgers Bestellung aus der Cafeteria auf und kam kurze Zeit später mit einem Tablett zurück, das er vor Holger auf den Tisch stellte. »Berliner Ballen und Kaffee mit viel Zucker, richtig?«
»Genau richtig! Danke mein Freund!«, freute sich Johannas Partner. »Und jetzt erzähl mal. Was gibt es Neues auf der Wache? Meine Kollegen lassen mich hier ganz schön auf dem Trockenen sitzen.«
»Das glaube ich dir sofort. Du würdest dich ja auch aus purer Langeweile heraus wahrscheinlich überall und ungefragt einmischen«, grinste Daniel. »Aber ich muss dich enttäuschen, bis auf ein paar Einbrüche ist zurzeit glücklicherweise nicht so viel los. Es sei denn …« sinnierte er.
»Es sei denn was?«, wollte Holger gespannt wissen und setzte sich mit leicht verzerrtem Gesicht aufrecht.
»Es sei denn, Johanna verschweigt mir etwas!«
Er hatte versucht, sich seinen Schmerz nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
Auf keinen Fall wollte er, dass Daniel nach seinem Besuch nach Hause fuhr und Johanna brühwarm davon berichtete, wie schlecht es ihrem Kollegen offensichtlich noch immer ging und es mit Sicherheit noch länger als die bisher veranschlagten drei Monate dauern würde, bis er wieder einsetzbar war.
Wenn das überhaupt jemals wieder der Fall sein sollte. Er wusste es nicht.
Als sich die Wunde nach zwei Monaten derart entzündet hatte, war er gezwungen worden, die Therapie in der orthopädischen Abteilung der Rehaklinik in Bad Berleburg auszusetzen, bis die Entzündung den Körper wieder verlassen hatte. Und das hatte gedauert.
Hätte er Martina nicht an seiner Seite gehabt, er wüsste nicht, wie er die Zeit überstanden hätte. Und das, nachdem er seiner Frau ziemlich übel mitgespielt hatte. Doch sie hatte ihm verziehen und das rechnete er ihr hoch an.
Sie hatten sich wieder zusammengerauft und so oft es ging, Zeit miteinander verbracht – sogar in der Küche. Im Kartoffelschälen war er mittlerweile Weltmeister.
Mitten im Herbst hatten sie einen zweiten Frühling erleben dürfen und dafür war er unglaublich dankbar.
Jetzt war er zurück. Man hatte ihm dasselbe Zimmer gegeben. Das einzig Gute, das er seinem kaputten Oberschenkel abgewinnen konnte, war, dass er ihm jede Möglichkeit genommen hatte, weiter seiner Spielsucht nachzugehen. Der Aufenthalt in Bad Berleburg war nicht nur zu einer Therapie für sein Bein, sondern auch für seine innere Stärke, seine Ausgeglichenheit und Willenskraft geworden.
Er wollte Martina beweisen, dass er wieder ein stabiler und ehrlicher Mann geworden war, auf den sie sich zu einhundert Prozent verlassen konnte – wenn auch leider noch nicht körperlich.
Vielleicht hatte ihre Milde auch etwas damit zu tun, dass er bei seinem letzten Einsatz schwer verwundet ins Krankenhaus eingeliefert worden war und bis heute nicht feststand, ob er jemals wieder mit Johanna auf Verbrecherjagd gehen würde. Wenn es schlimm kam, würde er seine letzten Dienstjahre eingepfercht hinter einem Schreibtisch auf der Wache in Weidenau verbringen müssen.
Martina schien durch die Kugel, die ihn getroffen hatte, bewusst geworden zu sein, wie schnell sich das Leben ändern konnte.
Womit habe ich eine Frau wie Martina bloß verdient?, fragteer sich nach jedem Telefonat und jedem Besuch.
Die Ärzte hatten ihm zugesagt, dass er in drei Wochen entlassen werden könnte, sollte er weiterhin so gut mitarbeiten. Er würde alles dafür geben, an Weihnachten zu Hause zu sein. Vielleicht kämen auch Johanna und Daniel an einem der Feiertage bei ihnen vorbei.
Das war zu seiner Motivation geworden, die ihn antrieb, fleißig seine Übungen zu machen: Weihnachten zu Hause im Kreise seiner Lieben zu feiern.
Das war auch der Grund, warum er es sich nicht hatte nehmen lassen, Daniel nach ihrem Plauderstündchen bis zum Ausgang zu begleiten. Er musste und er wollte seine Muskulatur trainieren.
Über den Besuch hatte er sich sehr gefreut und wusste es zu schätzen, dass sich Daniel extra für ihn auf den Weg ins idyllische Wittgenstein gemacht hatte.
Zum Abschied hatte er allerdings seine Leidensmiene aufgesetzt, für die er lange geübt hatte und die er eigentlich nur aufsetzte, um den Schwestern nachmittags ein zweites Stückchen Kuchen abzuluchsen.
Doch glücklicherweise hatte sie auch bei seinem Freund Daniel Wirkung gezeigt. Er hatte es tatsächlich geschafft, ihm das Versprechen abzuringen, ihn sofort zu unterrichten, sobald er von Johanna Neuigkeiten über seine geliebte Weidenauer Polizeiwache erfuhr.
Zufrieden wollte er sich gerade umdrehen und auf den Weg zurück in sein Zimmer machen, als er aus dem Augenwinkel heraus ein junges Mädchen beobachtete, das in Jogginghose und Sweatshirt vorm Eingang in der Eiseskälte stand und eine Zigarette rauchte.
Sie wird sich noch den Tod holen, dachte er und humpelte mit seinem Rollator langsam auf den Ausgang zu. Als sich die automatische Eingangstür öffnete, durchfuhr ihn ein heftiger Kälteschauer, gefolgt von einem tiefen Schmerz, der wie der Biss eines Raubtieres in seinen Oberschenkel zog. Die Kälte schien seiner Verletzung nicht gut zu tun. Er biss die Zähne aufeinander und rief dem Mädchen zu: »Hey, wollen Sie nicht lieber reinkommen? Sonst müssen Sie bald wegen Lungenentzündung ins Akutkrankenhaus verlegt werden und das wäre doch bitter schade.«
Das Mädchen sah ihn lange an und sagte kein Wort. Dann nahm sie einen letzten tiefen Zug, drückte die Zigarette im Sand des Aschenbechers aus und lief zischend an ihm vorbei:
»Was ist das denn bitte für eine blöde Anmache, du alter Sack!«
»Nein, nicht, bitte nicht! Nehmen Sie mich, aber nicht mein Kind! Bitte! Ich tue alles was Sie wollen, aber nehmen Sie mir mein Kind nicht weg!«, schrie sie verzweifelt und versuchte sich mit dem Kinderwagen an den beiden Männern vorbeizuschlängeln, die sich ihr in den Weg gestellt hatten. In die andere Richtung zu fliehen war keine Option. Das hatte sie überprüft. Auch dort standen zwei finstere Typen und blockierten hinter ihr den Wanderweg. Schritt für Schritt kamen sie bedrohlich näher.
Sie war umzingelt. Mit Zweien fertig zu werden, das hätte sie sich vielleicht noch zugetraut. Sie hatte viel trainiert und fühlte sich der Männerwelt keineswegs unterlegen. Doch gleich vier von diesem Kaliber, da hatte sie keine Chance. Vorsichtig nahm sie Karl aus dem Kinderwagen und presste ihn an sich. Sie versuchte alle Optionen abzuwägen, versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, so, wie sie es in den vielen Praxiseinheiten gelernt hatte.
Was ist das kleinere Übel?, fragte sie sich. Sie fand keine Antwort. Jedes Szenario, das sie sich in Sekundenschnelle ausmalte, war grausam. Entweder, sie nahmen sie mit und ließen Karl dort liegen. Wenn er Glück hatte, würde er von einem Spaziergänger gefunden, bevor er erfroren war.
Die Alternative war, dass die Männer sie beide mitnahmen. Aber so konnte sie wenigstens in Karls Nähe sein und hätte etwas Zeit gewonnen, um sich einen Fluchtplan auszudenken.
Die dritte Option war die Schlimmste: Sie nehmen Karl mit und machen mich vorher unschädlich. Dann würde ich mein Kind wahrscheinlich nie wiedersehen.
Sie spürte, wie die beiden Männer hinter ihr Stück für Stück näher rückten. Gleich wären sie bei ihr.
Mein Kind gebe ich nicht her! Sie versuchte, sich aus ihrer Schockstarre zu lösen. Versuchte nachzudenken.
Zwei vor ihr, zwei hinter ihr – rechts von ihr die Talsperre, links der Wald. Der Wald! Das war die Lösung …
»Bitte! Ich gebe auf! Hier, nehmen Sie das Kind, aber bitte tun Sie mir nichts!«, schluchzte sie flehend und hielt ihnen Karl entgegen.
Die Männer sahen sich breit grinsend an. Sie hatten sie gebrochen. Die Frau hatte aufgegeben.
Doch da kannten sie Johanna Daub schlecht. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind setzte ungeahnte Kräfte frei. Sie würde niemals aufgeben. Sie würde wie eine Löwin um ihr Kind kämpfen. Sollen sie doch denken, dass ich leichte Beute für sie bin.
Erleichtert bemerkte sie, dass sich die Anspannung der vier Gestalten gelöst hatte und ihre Taktik scheinbar aufgegangen war. Lächelnd und siegessicher schlenderten die Männer auf sie zu. Noch fünf Meter und sie hätten sie erreicht.
Johanna nutzte das Überraschungsmoment. Nun war sie es, die all ihre Muskeln anspannte und hochkonzentriert agierte. Das hatte sie diesen schwerfälligen Muskelprotzen voraus. Sie war geschult, sie war schnell und … sie hatte etwas zu verlieren.
Karl lag mucksmäuschenstill in ihren Armen und schlief. Dieses Glück würde sie niemals hergeben. Dafür würde sie kämpfen. Dafür würde sie laufen, so lang und soweit sie ihre Kräfte tragen würden.
Und dann spurtete sie los. Karl fest an sich gepresst, rannte sie in den Wald. Sie rannte und rannte bis ihre Lungenflügel zu platzen schienen.
Ich kann nicht mehr! Verzweiflung machte sich in ihr breit und schien sie zu übermannen. Nein! Reiß dich zusammen, du musst weiter!
Doch nach weiteren fünfhundert Metern verließen sie ihre Kräfte.Voller Panik drehte sie sich suchend nach ihren Verfolgern um. Sie konnteniemandenentdecken. Gut so! Schnell versteckte sie sich hinter dem dicken Stamm einer Eiche und hockte sich auf den Boden. Nur kurz – nur so lange, bis ich wieder etwas Luft bekomme.
Sie musste Karl ablegen, um ihre Arme auszuschütteln. Gerade wollte sie ihn wieder hochnehmen und sich aufrichten, als sie eine kalte Hand in ihrem Nacken spürte.
»Ich hab sie!«, rief einer der Männer triumphierend. »Und jetzt her mit dem Kind!«
»Nein, neeeeein!«, schrie sie und fuchtelte wild um sich. »Loslassen! Lass mich sofort los!«
»Aua! Johanna, wach endlich auf! Du tust mir weh!«
Schweißgebadet wachte Johanna neben Daniel auf. Völlig orientierungslos brauchte sie einen langen Moment, um zu realisieren, wo sie sich befand. Sie hatte geträumt! Konnte das sein? Der Traum war so unfassbar real gewesen. Vorsichtig strich sie sich über ihren Bauch.
»Karl!«, flüsterte sie leise.
Daniel reichte ihr ein Taschentuch und nahm sie fest in den Arm, während sie sich die Tränen abwischte.
»Hey Jo, du zitterst ja am ganzen Leib. Was ist los? Was hast du geträumt? Und wer ist Karl?«, fragte Daniel besorgt und strich ihr eine Strähne aus dem erhitzten Gesicht.
»Ich, äh, nichts, ich habe wirklich nur schlecht geträumt. Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut!«
Ihr war klar, dass Daniel diese Antwort nicht auf sich beruhen lassen würde. Dennoch hatte sie gehofft, er hätte das Licht ausgeschaltet und sich wieder auf seine Seite gedreht, wenn sie zurück aus dem Badezimmer käme.
Sobald sie Daniel erzählte hätte, dass sie von der Entführung ihres und seines Babys geträumt hatte, er würde sofort darauf bestehen, dass sie morgen früh als erstes ihren Chef darüber informierte, dass sie ein Kind erwartete.
Und das wäre das Ende ihrer Karriere!
Nein, Achenbach muss noch etwas warten. Zumindest so lange, bis ich diesen Fall gelöst habe.
Sie musste nur versuchen, professioneller mit der Situation umzugehen und ihn nicht zu sehr an sich heranzulassen. Daniel würde sich sicher nicht noch einmal von seiner träumenden Freundin im Schlaf ein blaues Auge verpassen lassen.
»Jo, komm her, jetzt erzähl schon!«, wurde sie wartend von ihm empfangen. Ich wusste es!
Er hatte die Decke für sie aufgeschlagen und sie war zu ihm ins Bett gekrabbelt. Sie sehnte sich nach seinen beschützenden Armen um ihren noch immer zitternden Körper. Dankbar schmiegte sie sich an ihn.
»Das erzähle ich dir morgen, mein Schatz, versprochen!«
Als Daniel am Morgen wach wurde, war Johanna schon längst verschwunden.
War ja klar, dachte er mit einer Mischung aus Besorgnis und Verständnis. Sie hatte keine Lust mit ihm über den Traum der letzten Nacht zu reden. Daniel war sich sicher, dass er etwas mit einem aktuellen Fall zu tun hatte, und das bereitete ihm Unbehagen.
Offiziell durfte Jo sowieso nichts über ihre Polizeiarbeit erzählen, inoffiziell aber hatte sie ihn immer mit einbezogen. Seine Meinung war ihr wichtig gewesen. Sie hatte ihm vertraut. Und außerdem – ohne ihn wäre ihr letzter Fall ganz sicher anders ausgegangen.
Es musste einen Grund dafür geben, warum sie ihn dieses Mal außen vorließ. Er machte sich Sorgen. Erst recht, als er rüber ins Badezimmer ging und den riesigen Berg an schmutziger Wäsche betrachtete, der vor der Waschmaschine lag. Johanna machte Sport. Viel Sport! Jedes Mal, wenn sie etwas umtrieb, fing sie an zu rennen. Sie rannte um die Obernau, um die Sieg-Arena, rannte im Tiergarten … sie rannte ihren Sorgen davon. Das versuchte sie jedenfalls. Das war ihre Therapie.
Aber jetzt war sie schwanger und er war sich ganz und gar nicht sicher, ob es für Mutter und Kind gesund war, wenn sich Johanna derart auspowerte. Dazu kamen ihre unruhigen Nächte. Der Albtraum der letzten Nacht bestätigte nur seine Vermutung, dass sich seine Lebensgefährtin wieder in einen Fall verbissen hatte, von dem sie ihm nichts erzählen wollte. Aber warum?
Nachdenklich knöpfte er sein hellblaues Hemd zu und steckte es in seine Anzugshose. Er ging in die offene Wohnküche, stellte die Kaffeemaschine an und sah zu, wie sein Lebenselixier langsam in die Tasse tropfte.
An der Fensterscheibe hingen kleine Eiskristalle und bildeten ein funkelndes Kunstwerk. Es war kalt. Die Sonne kam hinter dem Berg hervor. Es würde ein schöner Tag werden. Zumindest für viele Siegerländer, die es an seiner Wohnung vorbei an die Obernau ziehen würde. Solange es nicht geschneit hatte und die Wege nicht vereist waren, war die Talsperre ein perfektes Ausflugsziel für kalte Wintertage – und für Johanna die perfekte Laufstrecke.
Und damit war er wieder beim Thema. Johanna hatte Spätdienst und da sie keinen Zettel für ihn hinterlassen hatte, schien sie gerade dabei zu sein, ihren Traum der letzten Nacht mit einer schnellen Runde um die Talsperre wegzutrainieren. Das war nicht gut!
Daniel nahm den Kaffee und setzte sich an den Esstisch. Er wollte sich ablenken. Also klappte er sein Tablet auf, öffnete die App der Siegener Zeitung und begann sie zu überfliegen. Den Wirtschaftsteil hatte er schnell gelesen. Nichts Wichtiges, was für seine Arbeit als Leiter der Kreditabteilung in der Siegener Stadtbank von Belang wäre.
Er wischte mit seinem Zeigefinger auf die nächste Seite und sah sich einem kleinen Jungen gegenüber, der fröhlich in einem FC-Bayern-Trikot in die Kamera lächelte. Die Überschrift, die in großen Lettern über dem Foto prangte, ließ ihn allerdings innehalten. Sie passte so ganz und gar nicht zu der heiteren Stimmung, die der Junge ausstrahlte:
»Siebenjähriger Karl in Wilgersdorf vermisst!«
»Hattest du mir nicht versprochen, mich sofort zu informieren, sobald es einen spannenden Fall gibt?«, polterte Holger ins Telefon. Auf eine freundliche Begrüßung hatte er bewusst verzichtet. Ihm war nicht danach. Er hatte schlechte Laune und da kam ihm Daniel als Blitzableiter gerade recht.
Noch immer hatte er nicht verdaut, als ‚alter Sack‘ bezeichnet worden zu sein. Das hatte ihn schwer getroffen. Das Mädchen hätte sich draußen den Tod geholt, recht-fertigte er sich vor sich selbst. Kein Grund, direkt so unverschämt zu werden!
Anscheinend aber hatte er vergessen, dass er als ganz normaler Patient in Jogginghose und mit Rollator eine andere Figur abgab, als er es als Kriminalhauptkommissar mit Dienstwaffe und Ausweis während der Arbeit tat.
Er hatte nur nett sein wollen. Doch der Schuss war gehörig nach hinten losgegangen. Ich bin nun wirklich der Letzte, der eine Sechzehnjährige anmachen würde, ärgerte er sich. Vielleicht war sie auch vierzehn oder zwanzig. Diese jungen Dinger konnte man heutzutage ja nicht mehr einschätzen.
Er hatte am Abend noch lange darüber gegrübelt, ob er sich bei ihr entschuldigen sollte, war aber zu der Erkenntnis gekommen, dass er sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen.
Aber dass sie ihn als alten Sack betitelt hatte, das würde er so schnell nicht vergessen.
Im Speisesaal hatte sie sich beim Frühstück demonstrativ mit dem Rücken zu ihm hingesetzt – oder hatte er sich das nur eingebildet?
Vielleicht sollte ich das Missverständnis doch aufklären. Schließlich sind wir heute Nachmittag wieder zusammen in der Physiotherapie-Gruppe.
Er hatte gerade zu ihr gehen wollen, als er auf dem Tisch neben ihr eine aufgeschlagene Zeitung entdeckte.
Vergessen war das Mädchen und seine Entschuldigung. Stattdessen hatte er sich die Siegener Zeitung geschnappt und war wütend auf sein Zimmer gegangen.
»Also, was ist? Hast du mir nichts zu sagen?«, wollte Holger ungeduldig von Daniel wissen. Es war ihm egal, dass er ihn mit seinem Anruf wahrscheinlich beim Frühstück störte. »Ihr lasst mich wohl extra hier versauern. Hat Johanna dir gesagt, dass du mir nichts erzählen sollst?«
Es herrschte Schweigen in der Leitung.
»Hallo? Gibst du mir mal eine Antwort?«, forderte er.
»Sie hat mir nichts erzählt«, drang es leise zu ihm durchs Telefon. »Ich weiß es auch erst durch die Zeitung.«
»Oh!« Mehr fiel Holger nicht dazu ein. »Das wusste ich nicht. Sorry!«
»Tja, wie konntest du das auch wissen. Es wäre doch wohl normal gewesen, wenn Johanna zumindest erwähnt hätte, dass sie gerade am Fall eines vermissten Jungen arbeitet, oder sehe ich das falsch? Holger, warum sagt sie mir nichts?«
»Hormone!« Mehr fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
»Ach, so ein Unsinn! Hör mir auf mit diesen Hormonen! Sie liegt nachts neben mir, hat Albträume und ruft dabei den Namen ‚Karl‘, und hält es nicht für nötig, mich einzuweihen?« Holger konnte seine Enttäuschung verstehen. »Hätte ich heute Morgen nicht zufällig in der Zeitung von dem vermissten Jungen aus Wilgersdorf gelesen, wüsste ich bis jetzt noch nicht, was Johanna derart aufwühlt.«
Während Daniel im Redefluss gewesen war, hatte Holger etwas Zeit gehabt nach einer Erklärung zu suchen.
»Kannst du ihr das denn verübeln? Sie ist schwanger. Sie erwartet ein Kind und dann wird sie zu einer Familie gerufen, deren Sohn vermisst wird. Daniel, du hast keine Vorstellung davon, was es mit einem macht, wenn man einer weinenden Mutter gegenübersteht, die um ihr Kind bangt.«
»Nein, das weiß ich nicht«, gab Daniel ehrlich zu. »Aber du hast den Artikel nicht richtig gelesen. Es gibt keine weinende Mutter. Karl scheint aus einem Kinderheim verschwunden zu sein«, wurde er aufgeklärt. »Und all das erfahre ich nicht von Johanna, sondern aus der Siegener Zeitung. Das ist doch nicht zu fassen.«
»Gib ihr etwas Zeit. Sie wird es noch lernen. Bisher musste sie immer alles mit sich allein ausmachen. Johanna ist es nicht gewohnt, Schwäche zu zeigen. Gerade als Frau in unserem Beruf«, nahm Holger seine Partnerin in Schutz. »Und wenn ich dir einen Tipp geben darf – du solltest sie nicht bedrängen.«
»Ja, ja, schon klar!«, hörte er Daniels halbherzige Antwort.
Armer Daniel. Holger arbeitete jetzt schon viele Jahre mit Johanna an seiner Seite und kannte ihre Arbeitsweise. Sie war eine gute Kommissarin. Mit ihren langen roten Locken, ihren funkelnden grünen und stets wachsamen Augen hatte sie ihn schnell in den Bann gezogen. Aber nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich täglich gegen ihre männlichen Kollegen behauptete, ohne dabei die ‚Frauenkarte‘ auszuspielen. Sie arbeitete schlichtweg besser als so manch anderer und hatte sich dafür den neidlosen Respekt fast aller auf der Wache verdient.
Holger konnte nur vermuten, warum es seiner Partnerin offenbar mit diesem Fall so schlecht ging: Sie hatte es wieder getan. Schon zweimal hatte er miterlebt, wie Johanna den Angehörigen eines Opfers ein Versprechen gegeben hatte. Gerade das nicht zu tun, lernte man in einer der ersten Psychologie-Stunden in der Ausbildung.
Damit wurde ein Fall auf eine persönliche Ebene gehoben und das sollte man tunlichst vermeiden. »Ich werde aufpassen, dass Ihnen nichts geschieht«, hatte sie Sarah Jakobs versprochen, die von einem Stalker bedroht worden war. »Ich werde den Täter finden«, waren ihre Worte zu einem Bräutigam gewesen, dessen Frau mit einem Messer in der Brust und einer tätowierten Krone im Nacken aufgefunden worden war.
Natürlich hatte sie alles darangesetzt, diese Versprechen zu halten, auch wenn sie das an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte.
Wie ihr Versprechen dieses Mal ausgesehen hatte, konnte er an drei Fingern abzählen: »Ich werde Karl finden!« Nur, dass es dieses Mal kein Angehöriger war, dem sie dieses Versprechen gegeben hatte, sondern wahrscheinlich der Heimleitung, dem Betreuer oder den anderen Heimkindern. Ob es das besser machte?
So war Johanna. Auch wenn er jedes Mal mit ihr geschimpft hatte, so waren es doch ihr unbändiger Ehrgeiz und ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die ihm imponiert hatte.
Er glaubte, sie zu verstehen. Sie versuchte die Tatsache, dass sie ein Baby erwartete, während ihrer Arbeitszeit auszublenden und vollsten Einsatz für den Fall zu geben.
Aber nachts, dann, wenn sie eigentlich zur Ruhe kommen sollte, konnte sie diese Tatsache nicht ignorieren. Es überkam sie das Gefühl von einem heranwachsenden Glück, mit dem sie noch nicht umzugehen wusste.
Das Zusammentreffen dieser beiden Gefühlswelten bescherte ihr diese Albträume.
Holger registrierte überrascht, wie sehr ihn die Zeit in der Reha verändert hatte. Zu solchen Analysen der weiblichen Psyche wäre er früher niemals fähig gewesen.
»Daniel, hab Geduld!«, empfahl er seinem Freund. »Und tu nichts Unüberlegtes!« Eine bessere Lösung hatte er nicht.
Es herrschte Schweigen in der Leitung bis Daniel antwortete: »Danke für dein Zuhören, Holger, aber so kann das nicht weitergehen. Ich werde mit Johannas Chef sprechen.«
»Bitte, tu das nicht – diesen Vertrauensbruch wird sie dir niemals verzeihen!«
»Darf ich denn wenigstens noch zu Ende frühstücken?«, schimpfte Eberhard Stracke. »Schließlich habe ich ein Heidengeld für dieses Wochenende ausgegeben. Da darf ich doch wohl noch in Ruhe meinen Obstteller zu Ende essen und das Glas Sekt austrinken!«
Mechthild hatte ihn wochenlang bedrängt, bis er schließlich nachgegeben und seiner Frau drei Übernachtungen in einem exklusiven Fünf-Sterne-Hotel geschenkt hatte, das in einem kleinen Dorf namens Volkholz lag. Dieses abgelegene Örtchen gehörte zur Stadt Bad Laasphe, die wiederum im Wittgensteiner Land lag.
Er selbst machte sich nichts aus der Anzahl der Sterne. Vier Stück hätten es für ihn allemal getan. Doch als er gestern Abend mit Mechthild in die warm erleuchtete Einfahrt zum Hotel eingebogen war, war auch er überwältigt gewesen.
Überall funkelten Lichterketten an Büschen und Bäumen. Ein röhrender Hirsch vor dem Haupteingang wurde rot angestrahlt, Weihnachtskugeln in Hülle und Fülle waren in der Lobby auf fast zwei Meter hohen Etageren drapiert worden.
Im Kamin brannte ein heimeliges Feuer. Gäste saßen mit einem Aperitif in der Hand in gemütlichen Ohrensesseln und sahen zufrieden zu, wie die Flammen zwischen den Holzscheiten züngelten und eine wohlige Wärme verbreiteten.
Mechthild hatte seine Hand fest gedrückt und mit ihren Lippen ein stilles ‚Danke‘ geformt. Das hatte es lange nicht mehr gegeben.
Nach einer kurzen Nacht – sie hatten noch länger an der Bar gesessen und sich mit einem anderen Ehepaar unterhalten – saßen sie nun gemeinsam an einem schön gedeckten Tisch und genossen das von ihm gebuchte Gourmet-Frühstück, das keine Wünsche offenließ. Mechthild war eine schnellere Esserin als er und scharrte unter dem Tisch schon wieder gehörig mit den Hufen.
Die kleinen Läden in der gemütlichen Shopping-Arkade hatte sie schon am Abend ihrer Ankunft durchforstet, während er sich um den Check-In gekümmert hatte. Jetzt brannte sie darauf, ihm – und seiner Kreditkarte – ihre Entdeckungen zu zeigen. Er ahnte, dass es teuer für ihn werden würde.
Und auch, wenn ihm mit über siebzig die Knie oft schmerzten, so hatte er dennoch zugestimmt, mit Mechthild eine Winterwanderung von Volkholz nach Feudingen zu machen, damit sie ihre neu erworbene Winterjacke entsprechend ausführen konnte. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, in Feudingen eine Kirche zu besuchen, die in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts erbaut worden sein und eine sehenswerte Orgel beheimaten sollte.
Dass die evangelischen Kirchen in der Regel für Touristen nicht geöffnet sind, verkniff er sich, sonst käme seine Frau noch auf die Idee, eine andere Tour auszusuchen, die womöglich bei Weitem länger war als die geplanten fünf Kilometer.
Draußen war es klirrend kalt. Zum Glück hatte er daran gedacht, seinen Hut und die Handschuhe einzupacken. Mechthild hatte sich von ihm, passend zur neuen Jacke, ein Set, bestehend aus Schal, Mütze und Handschuhen, kaufen lassen und lief nun gut gelaunt vor ihm her.
Der Wanderweg war beeindruckend. Das musste er ihr lassen. Der Blick von der Höhe hinab ins Tal und nach Feudingen hinüber war faszinierend. Felder und Wälder soweit das Auge reichte. Der Raureif war von der Sonne noch nicht ganz vertrieben worden, sodass die Wiesen um sie herum funkelten, als seien sie mit Tausenden von Diamanten besetzt.
In der Ferne konnte er den Kirchturm sehen. Die Kirche wirkte unspektakulär und war ganz sicher keine Wanderung wert. Er mochte die katholischen Kapellen und Kirchen in Bayern wesentlich mehr. Die hatten wenigstens etwas zu bieten. Aber sei’s drum.
Eine halbe Stunde später sah er seiner Frau dabei zu, wie sie am Tor der Kirche rappelte. Es war verschlossen. Er wusste, dass das albern war, aber er war tatsächlich schadenfroh.
»Das glaube ich jetzt nicht! Die Tür ist zu … na warte! Es gibt ja schließlich noch ein paar andere Eingänge. Wäre doch gelacht, wenn ich da nicht reinkäme!«
Mechthild verschwand hinter der Kirche und Eberhard sah sich um. Ein Hahn zierte nicht etwa als Wetterhahn den Kirchturm, sondern stand aus Holz geschnitzt mitten auf der Wiese und schien die Gottesdienstbesucher zu beobachten, die sonntags an ihm vorbei in das Gotteshaus gingen.
»Eberhard, tu etwas! Die Kirche ist zu!«, rief ihm seine Frau schon aus der Ferne zu.«
»Ach!«, antwortete er belustigt. Wer hätte das geahnt!
»Was grinst du denn so blöd? Ich will in diese Kirche!«
Eberhard wusste genau, was jetzt gleich kam. Mechthild würde einen ihrer berühmten ‚Ich-spiele-die-beleidigte- Leberwurst-Anfälle‘ bekommen, ihn vor der Kirche stehen lassen und sich wutentbrannt auf den Heimweg machen, wenn er sie nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten in diese gottverdammte Kirche brachte. In Gedanken entschuldigte er sich für ausgerechnet diesen Fluch, den man nun wirklich nicht vor einer Kirche aussprechen sollte.
Doch Mechthild schaffte es immer wieder, diese Seite an ihm zu wecken. So war sie. Warum er noch immer mit ihr zusammen war? Manchmal wusste er es selbst nicht. Wahrscheinlich hatte er sich irgendwann an ihre Launen gewöhnt – so wie sie sich an seinen für sie stets geöffneten Geldbeutel.
Er wollte gerade sein Handy aus der Jackentasche zie-hen, um für sich ein Taxi zu rufen – Mechthild hatte sich, wie erwartet, ohne ihn auf den Heimweg gemacht – als er aus der Kirche ein Geräusch hörte. Er konnte es nicht genau definieren, doch es klang eindeutig nach einem menschlichen Laut. War dort jemand eingeschlossen? Hatte Mechthild einen Eingang übersehen? Langsam ging er am Kirchturm vorbei um die Kirche herum. Beide Seiteneingänge waren fest verschlossen. Wieder hörte er das seltsame Geräusch. Dieses Mal etwas lauter. Es muss jemand in der Kirche sein!
»Hallo?«, rief er. »Ist da jemand? Brauchen Sie Hilfe?«
Eberhard bekam keine Antwort. Dann bemerkte er plötzlich Scherben unter einem Seitenfenster. Es musste jemand eingeschlagen haben. Er konnte deutliche Blutspritzer auf dem Boden rund um das Fenster entdecken.
Das wurde ihm nun doch etwas zu unheimlich. Schnell lief er zurück, eilte die Treppen hinunter auf das Gemeindebüro zu, das er unterhalb der Kirche entdeckt hatte und klingelte. Niemand öffnete ihm die Tür. Kein Wunder, es war Samstagnachmittag.
Was sollte er tun? Die Polizei rufen? Doch was sollte er den Beamten sagen? »Herr Wachtmeister, kommen Sie schnell, hier stimmt etwas nicht?« Das war nun doch etwas zu banal. Er brauchte mehr Informationen. Allerdings war er im Urlaub und was in dieser Kirche, in diesem abgelegenen Kaff vor sich ging, musste ihn nun wirklich nicht tangieren.
Noch einmal ging er um die Kirche herum. Er war neugierig. Vielleicht wartete im Inneren ein Abenteuer auf ihn. Vielleicht brauchte jemand Hilfe?
Eberhard erinnerte sich an die Zeit, in der er noch regelmäßig den Gottesdienst besucht hatte: ‚Was du dem Geringsten unter meinen Brüdern getan hast, das hast du mir getan!‘
Sein Herz war berührt und verwundert zugleich, dass er sich an dieses Bibelzitat erinnern konnte. Es war sein Konfirmationsspruch gewesen. Aus welcher Geschichte war er noch gleich? Irgendwo aus dem Neuen Testament … klar, im Alten Testament gab es Jesus noch nicht!, lachte er über sich selbst.
Der Gedanke, dass dort jemand seine Hilfe brauchen könnte, ließ ihn nicht mehr los. Ob es der Heilige Geist, seine Neugierde oder die pure Abenteuerlust war – er nahm seinen Spazierstock und schlug damit beherzt die Reste der Glasscheibe ab, um nicht an den scharfen Kanten hängenzubleiben, an denen das getrocknete Blut wie eine Warnung zu kleben schien. Das laute Klirren ließ ihn zusammenzucken.
Mutig kletterte er in die Kirche. Dabei verrenkte er sich das eh schon lädierte Knie, sodass ein schmerzerfüllter Laut seiner Kehle entwich. Sein Schrei hallte vom Altarraum zurück und erfüllte die Kirche. Erschrocken zuckte er zusammen. Das hatte er nun von seiner eigenen Courage. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das Dunkel im Inneren gewöhnt hatten.
Eberhard hielt inne. Leise hinkte er zu der Kirchenbank, die ihm am nächsten war, und setzte sich. Still saß er da und lauschte. Doch außer seinem eigenen Herzschlag hörte er nichts.
Da! Da war es wieder, dieses seltsame Geräusch. Jetzt hörte er es laut und deutlich. Es war ein Jammern, ein Weinen, ein Schluchzen. Er war sicher, dass sich jemand in der Kirche befand, der in Not war.
»Hallo? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
Keine Antwort.
Vorsichtig quälte er sich aus der Bank und humpelte auf den Altar zu. Aus dieser Richtung hatte er das Geräusch gehört. Das vermutete er jedenfalls.
»Hallo?«, versuchte er es erneut.
Es hilft nichts, ist muss wohl doch die Polizei rufen, dachte er unsicher. Auch wenn sie sich umsonst auf den Weg machen, aber die eingeschlagene Scheibe, das Blut,das Wimmern … irgendjemand ist doch hier! Das kann ich ganzdeutlich spüren. Bei dem Gedanken daran, wie sorglos er auf der Suche nach einem Abenteuer in die Kirche geklettert war, bekam er Angst. Was, wenn ein Verbrecher hier Zuflucht gesucht hatte? Was, wenn er sich völlig naiv in Gefahr gebracht hatte? Er spürte einen Luftzug in seinem Nacken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er traute sich kaum zu atmen. Wie von Geisterhand gemalt sah er einen Schatten an der Wand ihm gegenüber. Völlig verängstigt zog er das Handy aus seiner Tasche und wählte die 110.
Noch bevor er etwas sagen konnte, durchfuhr ihn ein gewaltiger Schmerz. Das rettende Mobiltelefon fiel ihm aus der Hand auf den kalten Steinboden. Irritiert registrierte Eberhard, dass etwas Warmes seine Wange hinunterrann und vor ihm auf den Boden tropfte.
Erstaunt setzte er sich zurück in die Kirchenbank, wo er kurz darauf hilflos in sich zusammensank.
Johanna saß an ihrem Schreibtisch und starrte an die Decke. Der Traum der letzten Nacht hatte sie noch bis in die frühen Morgenstunden verfolgt, sodass sie nicht wieder hatte einschlafen können.
Sie war früh aufgestanden und hatte sich aus dem Schlafzimmer geschlichen. Daniel war neben ihr noch im Tiefschlaf gewesen.
Karl, ein fröhlicher siebenjähriger Junge war aus dem Kinderheim in Wilnsdorf weggelaufen – oder Schlimmeres. Noch wussten sie es nicht. Dass dieser Fall sie dermaßen beschäftigen würde, so, dass er ihr sämtliches Herzblut in Beschlag nahm, erschreckte sie selbst. Johanna wusste, dass sie aufpassen musste. Sie wollte auf keinen Fall in ihre alten Muster verfallen.
Sport zu treiben, um den Kopf frei zu bekommen war völlig legitim. Doch was sie mit ihrem Körper veranstaltete, ging über jegliches gesunde Maß hinaus. Sie wusste das. Dennoch konnte sie nicht anders. Ihre Sucht war gerade dabei, wieder Besitz von ihr zu ergreifen. Das durfte sie nicht zulassen.
Aber heute Morgen musste es einfach sein. Außerdem hatte sie auf keinen Fall Daniel begegnen wollen. Wenn sie sich ihm erklärte, würde er ihr sofort verbieten, weiter in dem Fall zu ermitteln. Sie konnte seine Einwände förmlich hören: »Das ist viel zu gefährlich! Du musst deine Kräfte schonen …« Wer weiß, was ihm noch alles an Argumenten einfallen würde.
Also war sie geflohen. Sie hatte sich ihre Laufsachen anzogen und war im Eiltempo um die Obernau gerannt. Sie hatte es unter fünfzig Minuten geschafft. Unter anderen Umständen wäre sie stolz darauf gewesen.
Nach ihrer Runde hatte sie es sich verkniffen, bei Daniel zu Hause unter die Dusche zu springen. Stattdessen hatte sie sich im Keller auf der Polizeiwache den mittlerweile kalten Schweiß vom Körper abgewaschen, sich ihre nassen Locken zum Pferdeschwanz zusammengebunden und sich an ihren Schreibtisch gesetzt, obwohl ihr Spätdienst eigentlich erst um 14 Uhr begonnen hätte.
Sie vermisste Holger. Sie vermisste ihr alltägliches Ritual, wenn sie ihn damit aufzog, dass er viel zu viel Zucker in sich hineinstopfte, während er sich einen Berliner Ballen aus seiner bevorzugten Bäckerei in der Waldhausstraße zwischen die Kiemen schob.
Holger war mehr für sie als nur ihr Partner. Er war ihr Mentor, ihr väterlicher Freund, der sie unter seine Fittiche genommen hatte, als sie frisch ins Siegerland gezogen war. Sie hatte aufgehört, die Wochen zu zählen, die sie nun schon durch die Glasscheibe auf seinen leeren Schreibtisch starrte, während Holger in Bad Berleburg fleißig versuchte, seinen durchschossenen Oberschenkel wieder auf Trab zu bringen.
Achenbach hatte ihr etwas Gutes tun wollen und ihr einen Praktikanten zugewiesen, der sie unterstützen sollte. Dabei wusste er ganz genau, dass ihr damit nicht geholfen war. Ein Praktikant machte zusätzliche Arbeit und war definitiv keine Arbeitserleichterung.
Aber sie hatte den Mund gehalten. Letzten Endes war sie dankbar gewesen, nicht allein zu sein. Und Holger konnte eh nicht ersetzt werden. Egal von wem. Dann konnte sie auch mit einem Praktikanten vorliebnehmen.
Vor zwei Wochen hatte Niklas Schreiber allerdings bereits seinen letzten Tag bei ihr im KK3 in Weidenau gehabt, bevor er an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Hagen weiterstudieren musste.
Mit Verwunderung musste sie feststellen, dass er es tatsächlich geschafft hatte, dass sie ihrem Praktikanten nachtrauerte.
Niklas Schreiber hatte sich gar nicht so schlecht angestellt. Nachdem sie beide ihre ersten Anlaufschwierigkeiten überwunden hatten – er hatte vor den anderen Praktikanten laut gestöhnt, dass er einer Frau zugeteilt worden war – hatte sie neidlos anerkennen müssen, dass er eine schnelle Auffassungsgabe besaß, die richtigen Fragen stellte, und, was sie bei einem Mann selten entdeckt hatte, sehr einfühlsam mit den Opfern umging.
Am dritten gemeinsamen Arbeitstag hatte sie ihm seinen Seufzer verziehen, nachdem er ihr völlig unaufgefordert versichert hatte, dass er mit ihr und dem KK3 das große Los gezogen hätte.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihren Praktikanten nach der Arbeit zufällig im Supermarkt in Dreis-Tiefenbach gesehen und sich darüber gewundert hatte, was sich alles im Einkaufswagen dieses jungen Hüpfers getürmt hatte. Seine Mutter schien ihm einen langen Einkaufszettel für die ganze Familie mitgegeben zu haben. Neben Mehl, Zucker, Nudeln, Kaffee und vielen weiteren Dingen, war ihr besonders ein Bilderrahmen aufgefallen, den er an einem der Wühltische ergattert haben musste.
Zwei Tage später hatte sie das Haus der achtundsiebzigjährigen Frau Zimmermann betreten, um noch einmal mit ihr über den Einbruch in deren Einfamilienhaus zu sprechen, der eine Woche zuvor völlig unbemerkt stattgefunden hatte. Zum Glück war die alte Dame nicht aufgewacht. Wer weiß, wie die Sache sonst ausgegangen wäre.
Die Einbrecher waren auf der Suche nach Bargeld ziemlich rüde vorgegangen und hatten in der Küche ein Chaos verursacht, das Frau Zimmermann niemals allein würde beseitigen können.
Auch im Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes, er war Lehrer gewesen, hatten die Diebe gewütet. Aktenordner waren aus den Schränken gezogen und Bücher aus den Regalen auf den Boden geworfen worden. Selbst vor den Trauerkarten mit Beileidsbekundungen der Freunde und Nachbarn war nicht Halt gemacht worden. Neben einem mittlerweile völlig veralteten Duden hatte sie das Hochzeitsfoto der beiden entdeckt. Der Bilderrahmen war zerbrochen, das Glas zersplittert gewesen. Dennoch hatte es sie gerührt, welch tiefempfundenes Glück das frisch vermählte Paar auf diesem Foto ausgestrahlt hatte.
Das Bild hatte eine Sehnsucht in ihr geweckt, die sie überrascht und die sie bisher nicht gekannt hatte.
Ein paar Tage nach dem Einbruch hatte sie erneut im Haus der Achtundsiebzigjährigen gestanden und musste sie nach den Zertifikaten einiger Schmuckstücke fragen, die sie bei Johannas erstem Besuch als gestohlen gemeldet hatte.
»Frau Zimmermann, es tut mir leid, dass ich sie erneut behelligen muss, aber ich wollte mit Ihnen noch einmal kurz über die Liste der gestohlenen Gegenstände sprechen. Darf ich hereinkommen?«, hatte sie behutsam gefragt.
Sie wollte die alte Dame auf keinen Fall überfordern. Für ihr Alter hatte sie nun wirklich Aufregung genug gehabt. Hinzu kam, dass es ihr sicher schwerfallen würde, in den nächsten Tagen das Chaos in ihrem Haus zu beseitigen und wieder Ordnung zu schaffen. Die Einbrecher hatten bei ihr ganze Arbeit geleistet.
»Aber natürlich, Fräulein. Kommen Sie herein!«, wurde sie freundlich hereingebeten.
Als Johanna nach ihr die Küche betreten hatte, musste sie sich sehr wundern. Alles schien wieder an seinem Platz zu sein. Die durchsichtigen Vorratsdosen waren aufgefüllt worden und Johanna vermutete, dass auch der Kaffee wieder in der rot gepunkteten Metalldose auf dem Kühlschrank zu finden war.
»Gut sieht es bei Ihnen aus. Wie haben Sie das denn so schnell geschafft?«, hatte sie beeindruckt gefragt.
Johanna bekam eine Antwort, mit der sie nicht gerechnet hätte: »Die Heinzelmännchen waren hier«, scherzte die Dame.
Frau Zimmermann scheint den Einbruch in ihr Haus erstaunlich gut weggesteckt zu haben, wenn sie schon wieder zu solchen Scherzen aufgelegt ist, wunderte sie sich. Da hatte sie schon ganz andere Reaktionen erlebt. Manche Frauen trauten sich in den ersten Wochen nach solch einer Verletzung der Privatsphäre nicht mehr allein in ihr eigenes Zuhause. Doch diese Achtundsiebzigjährige war da anders. Oder sie war schlichtweg zu alt, um zu verstehen, dass fremde Menschen bei ihr eingedrungen und nicht gerade zimperlich mit ihren persönlichen Sachen umgegangen waren.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Frau Oberkommissarin?« Auf jeden Fall ist sie nicht zu alt, um sich daran zu erinnern, dass ich Oberkommissarin bin, registrierte Johanna.
»Sehr gerne!«, hatte sie höflich geantwortet, nur um sich kurz darauf zu korrigieren. »Oder hätten Sie vielleicht auch einen Tee?« Sie sollte wirklich langsam damit beginnen, auf ihren Kaffeekonsum zu achten.
Kurze Zeit später und mit einer Tasse Pfefferminztee bewaffnet, waren sie hinüber ins Arbeitszimmer gegangen. Dort hatten die Diebe das meiste mitgehen lassen.
Völlig verblüfft hatte sie registriert, dass auf dem Schreibtisch von Wilhelm Zimmermann wieder das Hochzeitsfoto stand – und das in einem Rahmen, den sie noch vor Kurzem im Einkaufswagen eines jungen Mannes entdeckt hatte.
»Frau Zimmermann, kann es sein, dass ihr persönliches Heinzelmännchen zufällig unser Kommissaranwärter Niklas Schreiber ist?«
Ein Schulterzucken war die Antwort gewesen.
Jetzt war er wieder weg. Niklas Schreiber, ihr Praktikant, den sie in der kurzen Zeit sehr zu schätzen gelernt hatte. Als vor drei Tagen der Anruf wegen eines vermissten Kindes aus einem Kinderheim in Wilgersdorf bei ihr einging, saß er mit vielen anderen Kollegen in einem nüchternen Hörsaal in Hagen. Er hätte sicher gerne mit ihr an diesem Fall gearbeitet.
Stattdessen hatte Achenbach ihr jemand anderen zugeteilt.
Die letzten drei Tage hatte sie gelitten. Sie hatte alles gegeben. Bis zur Erschöpfung hatte sie auf ihren Schlaf verzichtet, um den Jungen zu finden. Selbst in ihren Träumen sah sie ihn vor sich.
So konnte das nicht weitergehen! Sie musste mit Daniel reden!
Sie konnte nicht ahnen, dass dieser Tag im Fall des vermissten Karl eine Wende mit sich bringen würde.
Zwei Wochen zuvor.
»Hey, mein Schatz, warum siehst du dich so hektisch um? Ist alles in Ordnung?«, fragte Klaus besorgt.
Katrin wusste auch nicht, was los war. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Mehr nicht. Ein Gefühl, das sie seit so vielen Jahren immer wieder beschlich, sobald sie das Haus verließ. Sie hatte Angst und konnte nichts dagegen tun. Da half es auch nicht, dass Klaus ihre Hand hielt, während sie wie jeden Sonntag am Spreeufer entlang spazieren gingen.
Katrin fühlte sich beobachtet. Doch das kam häufiger vor. Sie wollte ihren Mann daher nicht unnötig beunruhigen. Warum auch sollte sich jemand für ihr Leben interessieren? Sie waren nach außen hin ein glückliches Ehepaar mit zwei unspektakulären Jobs, das in einer kleinen aber feinen Eigentumswohnung in Berlin-Pankow lebte und eine Laube in der Kleingartenanlage Bornholm besaß.
Und dennoch wurde sie dieses seltsame Gefühl nicht los.
»Ja, Klaus, es ist alles in Ordnung. Mir ist nur etwas kalt geworden. Ich hätte doch den wärmeren Mantel anziehen sollen«, log sie ihren Mann an, mit dem sie nun schon fast dreißig Jahre verheiratet war.
Sie hatten in den Hackescher Höfen zu Mittag gegessen und waren anschließend zu Fuß durch den Monbijoupark gegangen, bis sie die Promenade an der Spree erreicht hatten.
Katrin liebte es, an diesem Fluss zu sitzen und von dort den Berliner Dom zu betrachten, der sich mit seinen drei Spitzen altehrwürdig gen Himmel streckte. Dieser Ausblick hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Doch nicht heute.
»Dann lass uns zurückgehen«, sagte Klaus besorgt. »Wir wollen ja nicht, dass du dir hier draußen den Tod holst.«
Sehrwitzig!, dachte sie. Treib du ruhigdeine Scherze.
Katrin mochte es nicht, wenn ihr Mann besorgt um sie tat. Das hätte er früher sein sollen, bevor er sich mit einer Nutte im Puff vergnügt hatte.
Dieser Fehltritt war schnell aufgeflogen und damals in der Presse groß breitgetreten worden. Von diesem Tage an war alles anders gewesen und das konnte und wollte sie ihm nicht verzeihen.
Dennoch war sie heute noch bei ihm. Auch wenn sie sich manchmal fragte, warum. Die Antwort war einfach: sie hatte keine andere Wahl. Auch das warf sie ihm vor.
Es lag nicht an den Temperaturen, dass sie so fror. Ihr zog eine Gänsehaut bis in den Nacken hinauf, die ihre kleinen Härchen aufstellen ließ.
»Klaus, etwas stimmt nicht. Ich glaube, wir werden beobachtet«, vertraute sie sich nun doch ihrem Mann an.
»Schatz, nicht schon wieder«, stöhnte er. »Es ist ganz sicher alles in Ordnung. Wie immer, wenn du ein komisches Gefühl hast! Vielleicht solltest du dir trotz allem mal einen Therapeuten suchen.«
War ja klar, dass du mich nicht ernst nimmst!
»Oder glaubst du, die junge Frau mit dem Kinderwagen würde dir etwas antun?«, machte er sich lustig. »Nein warte, vielleicht doch eher einer der Jogger dort hinten? Ach nein, die laufen ja in die falsche Richtung …«, tat er ihre Sorge lachend ab.
Katrin war sauer. Seine Überheblichkeit ärgerte sie. Sie verstand nicht, warum er von Anbeginn an derart sorglos mit ihrer Situation umgegangen war. Er hatte nie Verständnis für ihre Angst gehabt, die seit so vielen Jahren zu ihrem ständigen Begleiter geworden war.
»Weißt du was, mein Schatz«, zischte sie wütend zurück, »ich glaube, wenn hier einer eine Therapie braucht, dann bist du das. Scheinbar haben sie bei deinem Reitunterricht im Puff vergessen dir beizubringen, wie man von seinem hohen Ross wieder absteigt.«
Sie hatte keine Lust mehr, weiter friedlich neben ihm her zu spazieren, als seien sie das glücklichste Paar auf diesem Planeten.
»Gib mir die Schlüssel!«
»Was? Katrin, ich bitte dich! Hör auf mit dem Mist! Was willst du mit den Schlüsseln? Willst du mich hier einfach so stehenlassen?«
»Du kannst gerne mit der U-Bahn nach Hause fahren«, antwortete sie schnippisch.
Unentschlossen standen sie inmitten des Parks und sahen sich wütend an. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie einen Mann, der sich verdächtig schnell näherte. Es war ein Jogger, der mit vermummtem Gesicht auf sie zugelaufen kam.
Katrin geriet in Panik.
Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter.
»Klaus, pass auf!«, schrie sie unvermittelt auf und stieß ihren Mann rettend zur Seite. Völlig überrascht verlor Klaus das Gleichgewicht und wäre fast zu Boden gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen.
Der Läufer starrte sie an als sei sie eine Irre, während er kopfschüttelnd an ihnen vorbeilief.
»Jetzt ist aber mal gut! Reiß dich bitte etwas zusammen! Ich bringe dich nach Hause. Das ist ja nicht auszuhalten. Und morgen rufst du bitte bei diesem Dr. Behrend an und lässt dir einen Termin geben!«, schimpfte Klaus.
»Entschuldige!«, sagte sie. Vielleicht hatte er recht. So konnte das nicht weitergehen. In den letzten Wochen war es täglich schlimmer geworden. Wenn das so weiterginge, würde sie sich eines Tages nicht mehr aus dem Haus trauen.
Sie waren ein paar Schritte weitergegangen, als sie dieses Mal von hinten überholt wurden. Katrin erschrak, versuchte sich aber zusammenzureißen. Es war eine durchtrainierte Frau in enger Laufhose, die ihren strammen Po deutlich zur Geltung brachte.
»Das gefällt dir, hab ich recht?«, stichelte sie.
Klaus war stehengeblieben und sah sie an. Er wollte etwas erwidern, aber es gelang ihm nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Er bekam keine Luft. Mit der einen Hand fasste er sich an seinen Hals, mit der anderen klammerte er sich an ihr fest. Ungläubigkeit stand in seinem Gesicht. Röchelnd ging er zu Boden.
Katrin kniete sich neben ihn.
»Nein, nein, nein, Klaus, bitte, tu mir das nicht an! Verlass mich nicht!«
Sie sah sich suchend nach Hilfe um, doch ein älteres Ehepaar war noch zu weit weg. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach dem Handy, ohne den Blick von ihrem Mann zu wenden. Seine Augen waren jetzt blutunterlaufen, weißer Schaum kam in kleinen Bläschen aus seinem Mund und lief ihm die Wange hinunter.
Katrin schluchzte. Endlich hatte sie das Handy gefunden. Sie wollte gerade den Notarzt rufen, als Klaus sie mit letzter Kraft zu sich hinunterzog. Er schien ihr in seinem Todeskampf noch etwas Wichtiges sagen zu wollen. Katrin legte ihr Ohr an seinen Mund und hörte, wie er leise flüsterte:
»Anna!«
Achenbach hatte alles versucht, um Kriminaloberkommissarin Johanna Daub abzulenken. Der letzte Fall hatte sie sehr mitgenommen. Nicht nur, weil ihr Partner, Hauptkommissar Holger Stein, dabei schwer verletzt worden war und noch immer nicht feststand, ob er je wieder an ihrer Seite ermitteln würde, sondern auch, weil sie ihren Lebensgefährten in Gefahr gebracht hatte.
Das würde an keinem von ihnen spurlos vorüberziehen. Erst recht nicht an einer Frau. Obwohl … naja, überlegte er, eigentlich ist Frau Daub ja keine so richtige Frau.
Achenbach war ein Mann der alten Schule und der Polizeiberuf war für ihn eindeutig keine Tätigkeit, die von einer Frau ausgeübt werden sollte. Die Frauenquote hielt er für absolut überflüssig.