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Anette Schäfer

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Beschreibung

»Ich stehe am Hafen und warte auf dich!« Verächtlich beobachtet er die vielen alleinreisenden Frauen, die Jahr für Jahr auf seine Insel strömen. Frisch getrennt freut sich Charlotte Schreiber auf eine Auszeit im Gästehaus Victoria direkt an Borkums Strandpromenade. Als sie erfährt, dass dort kurz zuvor eine Frau spurlos verschwand, ist ihr kriminalistischer Spürsinn geweckt. Während Charlotte begeistert die Schönheit der Insel erkundet, verfängt sie sich mehr und mehr im Netz eines perfiden Jägers. Zu spät erkennt sie, dass es nicht das Animations-Team des Hotels ist, das sie mit spannenden Rätseln quer über die Insel lockt. An Charlottes Seite steht ihr attraktiver Urlaubsflirt Daniel Treude, der bereits im Siegerland Erfahrung als Hobby-Ermittler sammeln durfte.

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Weitere Titel der Autorin:

ABGELEHNT - Krimi (2017)

GEKRÖNT - Krimi (2018)

EIN HERZ UND EIN KRÖNCHEN - Liebesroman (2019)

ENTZWEIT - Krimi (2020)

 

Über die Autorin:

Anette Schäfer ist glücklich verheiratet, Mutter von vier Kindern und lebt in Siegen am südlichsten Zipfel von Westfalen. Hier hat sie 2017 ihren ersten Kriminalroman mit Lokalkolorit veröffentlicht. Es folgten zwei weitere Siegerland-Krimis und ein Liebesroman.

Da sie seit über 30 Jahren ihren Urlaub auf Borkum verbringt, liegt es nahe, dass nun ein Ermittlerduo genau dort ermittelt, wo ihr immer die besten Ideen kommen: auf Borkum, der Insel ihrer Träume.

Neben ihrem Beruf im Kulturamt und ihrer Leidenschaft als Autorin steht sie lieber als Rednerin und Sängerin auf der Bühne und weniger hinterm Herd. Sie joggt, ist Teetrinkerin – gerne darf es ein Ostfriesentee sein – und genießt es, Zeit mit ihrer großen Familie zu verbringen.

 

 

Anette Schäfer

 

Ihr letztes

„Moin!“

 

 

 

 

 

 

 

Borkum-Krimi 

 

März 2024

Copyright © by Krönchenverlag, Schäfer & Schäfer GbR

Umschlagfoto: Krönchenverlag

Umschlaggestaltung: Nadine Leber, Kommunikationsdesign, Bonn

Lektorat: Anke Becker, Paderborn

Korrektorat: Vorländer GmbH & Co. KG, Siegen

Anette Schäfer

Robert-Schumann-Str. 14

57076 Siegen

www.kroenchenverlag.de

ISBN 978-3-9819795-5-8

 

 

 

In liebevoller Erinnerung

an meine Eltern, die mir die Insel

durch die vielen gemeinsamen Urlaube

so lieb und wertvoll gemacht haben.

 

 

 

Anmerkung:

Sollten Ähnlichkeiten mit realen Personen, Hotels, Cafés oder Institutionen auftreten, sind diese rein zufällig.

Alle Charaktere sind frei erfunden und entspringen meiner Fantasie.

 

 

 

»Ich stehe am Hafen

und warte auf dich!«

Prolog

 

Was soll ich bloß anziehen?

Zum dritten Mal schon zog sie sich um und warf nun auch dieses Kleid unachtsam auf ihr Bett. Blümchen sind eindeutig zu kindisch, das kurze Schwarze ist für diese Insel zu überkandidelt…und überhaupt, mit einem Kleid kann ich bei dem Wind eh schlecht mit dem Fahrrad zum Treffpunkt fahren, grübelte sie.

Kurzentschlossen entschied sie sich für einen pinkfarbenen Strickpullover, den sie sich vorgestern in der Bismarckstraße gekauft hatte. Dazu die beige Hose, die sie immer anzog, wenn ihr nichts Besseres einfiel.

Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel.

Alles klar, so kannst du dich auf den Weg machen!, bestätigte sie sich selbst.

Die zwei Wochen Seeluft hatten ihr gutgetan. Die Sonne hatte sich zwar nicht so oft blicken lassen, wiesie es sich erhofft hatte, aber dennoch hatte sie eine rosige Gesichtsfarbe bekommen. Sie stand ihr. Genau wie das ausgewählte sportliche Outfit. Ihre schulterlangen schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Zufrieden lächelte sie sich im Spiegel an.

So bin ich und so soll er mich auch kennenlernen.

Sophie schaute auf die Uhr. Wenn sie richtiglag und das Rätsel um den Treffpunkt tatsächlich gelöst hatte, würde sie ihn heute endlich treffen – nach zehn langen Tagen der Grübelei.

 

Für den Fahrstuhl hatte sie zu viel Adrenalin im Blut. Sie musste sich bewegen. Also lief sie beschwingt die Treppen hinunter, nahm den Seitenausgang, schloss ihr Fahrrad auf, das sie sich beim Fahrradverleih am Bahnhof ausgeliehen hatte, und fuhr los. Der Gegenwind war heftig. Warum musste sie auch ausgerechnet im Mai nach Borkum fahren? Nur weil ihre Kolleginnen und Kollegen schulpflichtige Kinder hatten, stand es ihr nicht zu, in den warmen Sommermonaten Urlaub zu nehmen. So war es nun schon seit fünf Jahren und daran würde sich sicher auch nichts mehr ändern.

Es sei denn, malte sie sich in ihrer Fantasie aus, der mysteriöse Schreiberling stellt sich als mein Traummann heraus, wir heiraten und bekommen eine Horde Kinder.

Der Gedanke war so verrückt, dass sie über sich selbst lachen musste.

Sophie, du spinnst!

Das Gesicht ihrer Mutter wollte sie sehen, wenn sie ihr diese Nachricht überbringen würde. Kerstin würde den Auflauf auf den Tisch stellen, sich die Topflappen von den Fingern streifen, ihre Tochter in die Arme nehmen und sagen: »Siehst du, mein Kleines, ich habe es doch gewusst, dass auch für dich irgendwo auf der Welt die passende Mütze zu finden ist. Ich freue mich so für dich!«Deckel, Mama – es heißt Deckel!, würde sie denken, es aber niemals laut aussprechen.

Ihre Mutter würde sie aus ihrer Umarmung entlassen, sie etwas von sich wegschieben, ihr tief in die Augen blicken und sie aus tiefster Sorge und in vollem Ernst fragen: »Er ist aber kein Ostfriese, oder?«

Für Kerstin waren alle Ostfriesen stoffelig, geizig, ließen sich einen ungepflegten Bart stehen, so dass man sie nicht ordentlich küssen konnte, und waren ganz sicher keine gute Partie für ihre einzige Tochter, die es mit achtundzwanzig Jahren noch immer nicht geschafft hatte, sich einen passenden Mann zu angeln.

Wenn es nach ihrer Mutter ginge, sollte sie ihr Leben lieber allein verbringen, bevor sie einen dieser üblen Ostfriesen heiratete. Schließlich sollte ihre Tochter nicht denselben Fehler machen, den sie vor achtunddreißig Jahren gemacht hatte und von dem sie nicht müde wurde, ihn ihr unter die Nase zu reiben.

Ihr Vater musste, da war sich Sophie fast sicher, nur aus dem einen Grund eine Glatze tragen:weil seine Ex-Frau Kerstin kein gutes Haar an ihm ließ.

Sophie entschied, sich nicht von der Vergangenheit ihrer Mutter beeinflussen zu lassen, sondern im Hier und Jetzt zu leben. Wer weiß, vielleicht hatte das Schicksal ja endlich etwas ganz Besonderes mit ihr vor – auch wenn es wahrscheinlich ein Ostfriese war.

 

Endlich war sie angekommen – etwas durchgefroren, aber gespannt, wer und was hier auf sie warten würde. Sie schloss ihr Fahrrad ab und nahm die Strandtasche aus dem Korb, in die sie vorsichtshalber eine Flasche Wein und zwei aus dem Hotel gemopste Gläser gepackt hatte. Man konnte ja nie wissen.

Langsam stieg sie die Stufen hinauf. Oben angekommen, hielt sie einen Moment inne, um den wunderschönen Ausblick übers Wattenmeer zu genießen. Erst danach nahm sie sich die Zeit, sich nach ihrer Verabredung umzusehen.

Es war mittlerweile dunkel geworden und es sah ganz danach aus, als dass der Himmel seine Schleusen öffnen und die Insel in der nächsten Stunde mit einem mittelschweren Schauer beschenken würde.

Doch statt sich Sorgen wegen des Regens zu machen, hatte Sophie einen ganz anderen Gedanken im Kopf.

Gut so, dann sind keine anderen Urlauber unterwegs und wir sind wenigstens ungestört. Sie freute sich über die Ruhe und Einsamkeit des Ortes, den der Verfasser des Rätsels für ihr Treffen ausgesucht hatte. Nur entdecken konnte sie ihn nirgends.

Verunsichert sah sie auf ihre Uhr und stellte beruhigt fest, dass sie in ihrer Aufregung schneller geradelt war als sie es vermutet hatte. Sie war gute zehn Minuten zu früh.

Langsam schlenderte sie über den Deich zu einer Bank, die für einen kurzen Moment in der Abendsonne glänzte, bis sich die Wolkendecke wieder schloss und ganz Borkum grau anzumalen schien. Hier war sie bestimmt richtig.

Nicht weit von ihr entfernt hatte sich eine Schafherde zur Ruhe begeben. Dicht beieinander liegend gaben sich die Tiere gegenseitig Schutz vor der Nacht.

Irgendwo hatte sie etwas von einem ‚goldenen Tritt‘ gelesen. Kühe und Pferde würden wohl mit ihren Hufen Löcher in den Deich stampfen, was fatale Folgen hätte. Schafe hingegen taten das mit kleinen starken Klauen nicht. Ihr Körpergewicht und ihre Klauen standen im perfekten Verhältnis zueinander. Auch das Gras wird von ihrem tiefen Biss sehr kurz gehalten, so dass die Grasnarbe von ihnen fest und der Deich dadurch stabilisiert werden. Genau deshalb waren Schafe die optimalen Tiere, um die Deiche an der See zu beschützen.

Schafe als Deichschützer, das entsprach so gar nicht dem Bild, das Sophie von diesen wolligen und gemütlichen Lebewesen hatte. Auf sie strahlten sie an diesem Abend, wie sie als Herde beisammen lagen, Ruhe und Frieden aus.

Ruhe und inneren Frieden, das kann ich auch gerade so richtig gut gebrauchen, dachte sie.

Sie war aufgeregt. Es war lange her, dass sie sich mit einem Mann getroffen hatte. Und noch nie – wirklich niemals – hatte sie sich auf ein Spiel eingelassen, an dessen Ende ein geheimer Treffpunkt mit einem Unbekannten stand.

Während sie so dasaß und darüber nachdachte, was sie hier eigentlich tat, kamen ihr Zweifel.

Vielleicht sollte ich doch besser zurückfahren? Vielleicht ist er auch schon auf dem Weg zu mir?Vielleicht …

Sie riss sich zusammen. Ihr Blick war fest auf die Schafe gerichtet, als könne sich deren Ruhe so auf sie übertragen. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Die Tiere wurden plötzlich unruhig. Ein paar von ihnen sprangen auf und liefen in die entgegengesetzte Richtung von ihr weg.

Plötzlich spürte sie einen leichten Luftzug im Nacken und wusste nicht, ob es der Wind, ihre Verabredung oder schlichte Einbildung war, die dafür sorgte, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten.

 

Es war ihre Verabredung, die sich von hinten angeschlichen hatte, ihr blitzartig Paketband über den Mund klebte und ihre Hände packte, bevor sie auch nur realisieren konnte, was mit ihr geschah. Es war ein Mann, das war ihr jetzt klar. Und er war stark. Unsanft riss er ihre Hände auf den Rücken und fixierte sie dort mit Kabelbinder. Ein leises Wimmern entwich ihrer Kehle, als er ihren Nacken küsste und ihr leise ins Ohr flüsterte:

 

«Freust du dich noch immer, dass du das Rätsel gelöst hast?«

 

 

 

September

 

1. Charlotte

 

Sie konnte es nicht glauben. Sie saß wirklich auf dem Oberdeck der Fähre auf dem Weg nach Borkum. Eine Insel, von der sie bisher nur von ihrer Freundin gehört hatte, dass sie wunderschön sein sollte. Jedes Jahr war Marie mit ihrer Familie in ein Ferienhaus nahe des Südstrandes gefahren und hatte ihr einige Tipps mit auf den Weg gegeben.

»Setz nicht ab Emden, sondern ab Eemshaven über! Dir wird viel zu schnell schlecht, und die Überfahrt ist von den Niederlanden aus eine Stunde kürzer. Es sei denn, du fährst ab Emden mit dem Katamaran, aber je nach Wetterlage – oha. Da rate ich dir dringend von ab.«

Sie hatte keine Ahnung gehabt, wovon ihre Freundin sprach, war aber Maries Rat brav gefolgt. Der Parkplatz, auf dem sie ihren kleinen Fiat 500 zurückgelassen hatte, lag ganz nah am Fährableger, so dass sie keine Probleme gehabt hatte, mit ihrem Rucksack auf dem Rücken, den Trolley hinter sich herziehend, das Schiff zu besteigen.

Einen kurzen Moment hatte sie überlegt, sich unter Deck auf einer der gestreiften Sitzbänke niederzulassen und durchs Fenster zuzusehen, wie das Wasser gegen die Scheiben spritzte, hatte sich aber dann doch umentschieden und war hoch aufs Oberdeck geklettert. Sie wollte die Meeresluft einatmen, sich ihr langes braunes Haar durchwehen lassen und den Kopf frei gepustet bekommen.

Als treue Freundin war Marie ganz rührend zu ihr gewesen und hatte eigens für sie ein Carepaket zusammengestellt: Sonnencreme, ein Halstuch mit passendem Stirnband, einen Sommerkrimi, der an der Nordsee spielte.

Danke auch dafür! Musste es ausgerechnet ein Krimi sein? Und dann auch noch einer, der in Ostriesland spielte? Typisch Marie, musste sie schmunzeln.

Zu guter Letzt hatte sie ganze drei Packungen Taschentücher aus dem Paket gefischt.

»Heul dich einmal richtig aus und dann vergiss den Kerl!«, waren Maries Worte gewesen, als Charlotte ihre Freundin fragend wegen der Taschentücher angesehen hatte.

»Ich werde es versuchen!« Der Zweifel in Charlottes Stimme war nicht zu überhören gewesen, doch Marie war einfach über ihn hinweggegangen.

»Richtige Antwort! Und damit hast du dir ein wirklich allerletztes Geschenk verdient.« Sie hatte ihr Grinsen nicht verbergen können, als Charlotte das Geschenkpapier aufgerissen und einen feuerroten Lippenstift in der Hand gehalten hatte.

»Du verrücktes Huhn!«, hatte sie lachen müssen und ihre Freundin in den Arm gekniffen.

»Na, warte mal ab! Vielleicht wirst du ihn noch gut gebrauchen können!« Während sie das sagte, hatte sie ihre Lippen zu einem Kussmund geformt.

 

Nun saß sie auf der Fähre und war sich sicher, welches Utensil sie aus Maries Karton auf jeden Fall benutzen würde. Es waren die Taschentücher. Charlotte war froh, wenn sie ihr Hotelzimmer erreicht hatte und sie ihren Tränen endlich hemmungslos freien Lauf lassen konnte, ohne sich vor irgendjemandem dafür rechtfertigen zu müssen.

Mittlerweile freute sie sich sogar auf die zwei Wochen Inselurlaub. Okay, eigentlich hätte es nach Fuerteventura gehen sollen und eigentlich nicht allein, sondern mit Jakob, der Liebe meines Lebens, aber was soll’s.

Purer Sarkasmus sprach aus ihrem Herzen. Nur an ihn zu denken tat noch immer unglaublich weh. Diese Unverfrorenheit, sie zu einem schicken Essen einzuladen, nur um ihr zu sagen, dass es vorbei ist. Wer bitte tut so etwas? Und das ausgerechnet in dem Restaurant, in dem sie sich vor drei Jahren kennengelernt hatten.

Sie hatte Jakob damals an ihrem ersten Arbeitstag als Aushilfsbedienung aus Versehen ein gut gekühltes Weizenbier über die Hose geschüttet – damit hatte alles begonnen.

Noch heute verfluchte sie ihren Bruder, dass er sie damals überredet hatte, ihm aus der Klemme zu helfen.

»Charlotte, zwei Bedienungen sind krank geworden, Heindrikje ist im Urlaub und allein schaffe ich das nicht. Kannst du nicht ausnahmsweise für diese Woche aushelfen? Du hast doch eh Semesterferien.«

Gefolgt waren ein langgezogenes »Biiitte!« und dazu ein zuckersüßes Lächeln.

Sie hatte ihrem Bruder noch nie etwas abschlagen können. Also hatte Niklas ihr ein Tablett in die Hand gedrückt und sie auf den Weg zu Tisch Nummer drei geschickt.

An diesem Abend war sie Jakob zum ersten Mal begegnet und hatte ihr Herz sofort an ihn verloren. Er hatte sie trotz biergetränkter Hose nicht wütend, sondern neugierig angesehen. Mit seiner Gelassenheit hatte er ihr imponiert. Dass er sie drei Jahre später so gelassen abservieren würde, hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen können.

 

»Liebe Fahrgäste, in zehn Minuten haben wir die Insel erreicht. Wir danken Ihnen, dass Sie unsere Gäste waren«, dröhnte es aus den Lautsprechern und riss Charlotte aus ihren Gedanken.

Die Zeit hier wird mir guttun. Jakob wird sich noch ärgern, mich verlassen zu haben!

Mit diesem Vorsatz stand sie auf, stieg die schmale Treppe vom Oberdeck hinunter und stellte sich in der Schlange an, bereit, der Insel die Chance zu geben, sich in den nächsten zwei Wochen bei ihr beliebt zu machen.

Ich werde mich in der Sonne bräunen lassen und gut gelaunt und gestärkt nach Hause kommen.

 

Doch das sollte leider ein großer Trugschluss sein!

2. Der Täter

 

Voller Spannung saß er auf der Bank und wartete geduldig, dass die Fähre anlegte und die nervtötenden Touristen auf seine Insel strömten, um wie Heuschrecken über sie herzufallen. Und doch war er auf sie angewiesen. Er hatte einen Weg finden müssen, sich mit ihnen zu arrangieren. Das war ihm auch gelungen. Leider hatte dieser Weg für die eine oder andere Alleinreisende kein gutes Ende genommen.

Die Baustelle am Anleger war fertiggestellt, so dass es nun endlich möglich war, mit einem Koffer, einem Rollator, einem Kinderwagen oder weiß der Geier was, ebenerdig in die Inselbahn einzusteigen, die die Meute ins Zentrum der Insel bringen sollte. Zwei Zwischenstopps inklusive. Er würde nicht mitfahren. Deshalb war er nicht hier.

Nein, er wollte beobachten – war auf der Suche. In den Sommermonaten hatte er dafür keine Zeit gehabt. Sein Job hatte ihn zu sehr in Beschlag genommen. Aber jetzt, im September, war die Zeit genau richtig, um sich umzusehen.

Drei alleinreisende Frauen waren in die engere Auswahl gekommen. Er wollte schließlich nicht irgendeine. Er wollte eine ganz Bestimmte. Noch wusste er nicht, welche von den Dreien es werden sollte, aber das würde er bald herausfinden.

Er hatte Mühe, seinen Vorsätzen treu zu bleiben, doch er zwang sich dazu. Nur beobachten, nicht ansprechen!, war seine Devise.

Er wollte, dass sie zu ihm kamen, dass sie es waren, die den Kontakt zu ihm suchten und nicht umgekehrt. Ihre Begeisterung, das Rätsel gelöst zu haben und die Vorfreude, ihn bald zu treffen, befriedigte ihn auf eine Art, für die sich all die Mühe lohnte. Er hatte Macht über sie. Das war das Ziel. Denn er war es, für den sie sich zurechtmachten, ihre schicken Kleider anzogen und sich in völliger Ahnungslosigkeit zu ihm auf den Weg machten.

Sophie war da anders gewesen. Sie hatte ihm gestanden, dass sie an jenem für sie so schicksalhaften Tag genau das vorgehabt hatte. Er hatte später am Abend den Haufen an Kleidern auf ihrem Bett gesehen und sich geehrt gefühlt. Genau so wollte er es haben. Sie sollten sich Gedanken darüber machen, wie sie ihm am besten gefallen würden. Haare, Kleidung, Make-up … Sophie hatte sich entschieden, ihm in ihrer natürlichen Schönheit gegenüberzutreten. Wie hatte sie es noch gleich formuliert?

»Ich wollte mich nicht verstellen, ich wollte dir mein ehrliches ‚Ich‘ präsentieren.«

Er hatte über ihre Wortwahl lachen müssen. Irgendwie süß. Obwohl – hübsch hatte sie ausgesehen in ihrem pinkfarbenen Strickpullover.

 

Und jetzt? Jetzt musste er sich dringend um Nachschub kümmern!

3. Charlotte

 

Charlotte suchte sich einen Platz am Fenster und wartete darauf, dass sich die Lok mit den bunten Waggons in Bewegung setzte und sie ins Zentrum fuhr.

»Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?«, wurde sie von einer Frau gefragt, die Charlotte auf Anfang Dreißig schätzte. »Ich bin echt gespannt, was mich hier erwartet. Und Sie? Sind Sie auch zur Kur? Vielleicht sind wir ja in derselben Klinik untergebracht«, zwang sie ihr ein Gespräch auf.

»Oh, nein, ich bin einfach nur so zum Abschalten vom Alltag hier«, gab Charlotte knapp zurück.

Sie hasste das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie ganz allein in Urlaub fuhr – ohne Mann, ohne Kinder, ohne Lungenprobleme, die eine Reise auf eine Insel mit Hochseeklima erklärt hätten.

Charlotte musste schmunzeln, wenn sie daran dachte, wie sie ihren neugierigen und missgünstigen Kolleginnen aufgetischt hatte, ihr Hausarzt hätte dringend empfohlen, sich mindestens zwei Wochen Zeit zu nehmen, um ihren Bronchien etwas Gutes zu tun. Die schwere Bronchitis, die sie im Frühling hingestreckt und mehrere Tage ans Bett gefesselt hatte, verlieh ihrer Aussage dankbarerweise die notwendige Glaubhaftigkeit.

Leider hatte sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

»Wolltest du nicht eigentlich mit deinem Freund nach Fuerteventura? Er muss dich ja sehr lieben, wenn er stattdessen mit dir an die Nordsee fährt.«

Sie hatte ihre Schultern nach hinten gezogen und bemüht lässig geantwortet: »Das ist doch wohl selbstverständlich. Würden eure Männer das etwa nicht für euch tun?«

Den Triumph hatte sie ihnen einfach nicht gönnen wollen. Die Häme kam schon noch früh genug. Aber dann, so war ihre Hoffnung, war sie selbst etwas gestärkter und würde Jakob nicht mehr ganz so sehr vermissen.

Aus ihren Gedanken gerissen, vernahm sie überrascht die Antwort ihrer Sitznachbarin: »Wie sehr ich Sie darum beneide! Sie können morgens so lange schlafen wie Sie wollen und müssen nicht ständig zu irgendwelchen Anwendungen und Gesprächsterminen. Das muss herrlich sein!«

Unter diesem Blickwinkel hatte Charlotte den von ihrem Ex-Freund geschenkten Aufenthalt auf Borkum noch nie gesehen, aber die Frau neben ihr hatte recht.

Ich sollte nicht jammern und um Jakob trauern, sondern nach vorne sehen und mich auf den Urlaub freuen, nahm sie sich vor. Außerdem werde ich mich schon zu beschäftigen wissen. Immerhin habe ich Dank Marie zumindest ein spannendes Buch dabei.

Charlotte überlegte kurz, in welchem Ton sie die weitere Konversation fortführen wollte. War sie zu freundlich, käme ganz sicher der Vorschlag, die Handynummern auszutauschen, um sich ganz bald in einem netten Café zu treffen und beste Freundinnen zu werden.

Charlotte, jetzt sei nicht so ungnädig, schimpfte sie sich selbst.

Sie war immer stolz auf ihre gute Menschenkenntnis gewesen, daher stellte sie sich ihrer Nachbarin als Charlotte vor und rückte bereitwillig ihre Nummer heraus, nachdem Leonie sie wie erwartet darum gebeten hatte.

Ob ich ihren Anruf wirklich annehmen werde, kann ich mir ja immer noch überlegen.

 

Während ihre neue Bekanntschaft darüber plauderte, welche Ostfriesischen Inseln sie bisher schon besucht und welche davon ihr am besten gefallen hatte, schweiften ihre Gedanken an den Tag vor drei Wochen zurück, der ihr Leben auf den Kopf gestellt und ihre Zukunftspläne über Bord geworfen hatte.

»Vicki, ich habe lange danach gesucht, womit ich dir eine letzte Freude machen kann. Ich wollte einen ganz besonderen Ort finden, an dem du Abschied von mir nehmen kannst. Du kennst ja meine kreativen Ideen, wenn es um Überraschungen geht.«

Allerdings! Ein Besuch im Stadion zu ihrem Geburtstag, eine Halskette, die seiner Schwester nicht mehr gefiel, und die er ihr am letzten Weihnachten freudestrahlend und ordentlich verpackt überreicht hatte. Dieser arrogante Arsch, regte sich Charlotte noch immer über Jakob auf. Wie konnte ich nur so blöd sein und mein Herz ausgerechnet an so einen Egozentriker verschenken?

Wie eingebildet kann man sein? Den Gefallen in Tränen auszubrechen, weil er gerade dabei war, sie vor aller Augen zu verlassen, würde sie ihm bestimmt nicht tun!

Außerdem hatte sie es schon immer gehasst, wenn er sie Vicki nannte. Auch wenn sie mit vollem Namen Charlotte Viktoria Schreiber hieß, musste er sich nicht ausgerechnet den Namen als Kosenamen für sie aussuchen, den sie am wenigsten leiden konnte. ‚Lotti‘, wie ihre Mutter sie nannte, musste es natürlich auch nicht sein. Ihre Freunde nannten sie ausnahmslos Charlie, aber Jakob wollte unbedingt einen eigenen Namen für sie haben. Irgendwann hatte sie aufgegeben und ‚Vicki‘ als Kosenamen akzeptiert.

Dass sie ausgerechnet ihr zweiter Vorname nach Borkum bringen sollte, war nun wirklich nicht vorhersehbar gewesen.

Jakobs Abschiedsrede war noch weitergegangen: »Dieser Ort, liebe Vicki, an dem du von mir Abschied nehmen kannst, ist das Haus Victoria in der Viktoriastraße auf Borkum. Ist das nicht eine tolle Idee? Dort wirst du dich ganz sicher wie zu Hause fühlen!«

Ja, eine ganz tolle Idee!... Spinnt der?

Ihr hatten die Worte gefehlt.

Soll das ein Scherz sein? Er macht mit mir Schluss, weil er seine Freiheit zurückhaben will und ich ihn angeblich in seiner Entfaltung störe! Und zur Krönung des Ganzen schickt mich auf eine Nordseeinsel?, erinnerte sie sich an ihre Reaktion.

Sie hatte gewusst, dass ihr Bruder sie genauestens be-obachtete. Auch er schien wohl von einer Verlobung ausgegangen zu sein und davon, dass sie gerade die schönsten Worte zu hören bekam, die ein Bräutigam seiner zukünftigen Braut zu sagen hatte. Zum Glück konnte Niklas nicht hören, was Jakob ihr tatsächlich zu sagen hatte, sonst hätte er ihn wahrscheinlich am Kragen gepackt und eigenhändig vor die Tür des Restaurants befördert.

»Was für ein Zufall, dass ich es entdeckt habe, oder? Wer könnte besser ins Haus Victoria passen als meine kleine Vicki?« Während er das sagte, hatte er über den Tisch hinweg ihre Hand genommen und zärtlich gestreichelt.

»Ich weiß, du hast auf einen Ring an dieser wunderschönen Hand gehofft, aber Süße, ganz ehrlich – und du weißt es ja eigentlich auch selbst – du bist einfach noch nicht reif genug für mich.«

Das war’s. Das berühmte Fass war übergelaufen. Ihr war der Kragen geplatzt, so dass sie aufgestanden war und ihm filmreif ihr Glas Rotwein über seine Hose geschüttet hatte. Ganz in Erinnerung an unsere erste Begegnung, du Arschloch!

Wie hatte sie sich nur derart in Jakob täuschen können. Wenn hier einer nicht reif genug für eine ernste Beziehung war, dann ganz sicher nicht sie.

 

Es war Marie, die ihr geholfen hatte, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen, was ihr ein Maß an Selbstbewusstsein zurückgab: »Charlotte, jetzt sieh es mal von dieser Seite: Wer von seiner ‚Entfaltung‘ spricht, der du angeblich im Wege stehst, wer behauptet, dass du diejenige bist, die nach drei Jahren Beziehung noch nicht reif für eine Verlobung ist – also bitte, der hat doch nicht alle Tassen im Schrank!« Marie hatte sich in Rage geredet. »Was willst du mit so einem Kerl anfangen? Gut, dass er sein wahres Gesicht gezeigt hat, bevor du mit ihm vor den Altar getreten bist. Und außerdem solltest du dir die Postkarte zu Herzen nehmen, die ich dir aus dem letzten Urlaub geschickt habe!«

Charlotte hatte sofort gewusst, um welche Postkarte es sich handelte. Sie hatte sie damals mehrmals gelesen.

»Einer Löwin ist es egal, wer hinter einer Antilope steht.«

 

Es hatte ein paar Tage gedauert, bis die Rede ihrer Freundin Früchte getragen hatte. Ihr hatte sie es auch zu verdanken, dass sie dem Urlaub überhaupt zugestimmt hatte. Wenn es nach Charlotte gegangen wäre, hätte sie Jakobs Abschiedsgeschenk niemals angenommen. Doch Maries Worte: »Jetzt sei nicht blöd! Selbstverständlich fährst du die zwei Wochen Borkum«, hatten sie umgestimmt. »Wehe, wenn nicht!«, hatte sie ihr grinsend gedroht.

Als sie heute Morgen den Reißverschluss an ihrem Trolley zugezogen hatte, war es ihr ein ganzes Stück besser gegangen, so dass sie sich jetzt wirklich freute, ein paar Tage an etwas anderes zu denken als an die Schmach, ihre Arbeit und vor allem an Jakob!

 

Nachdem Leonie den Monolog über die Ostfriesischen Inseln beendet und sich von ihr verabschiedet hatte, stand sie nun mit ihrem Koffer auf einem überfüllten Bahnsteig und wusste nicht genau wohin. Ein kleiner Junge rannte sie fast um und lief auf einen Mann zu, der im Waggon eine Bank vor ihr gesessen hatte. »Papa, da bist du ja endlich! Ich hab dich sooo vermisst. Mama sagt, du kaufst mir zur Begrüßung bestimmt ein Eis. Komm mit, hier vorne ist die beste Eisdiele der Welt.«

Nachdem der Mann seinen Sohn zweimal in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hatte, stellte er ihn vor sich auf den Boden und antwortete lächelnd: »Hey, kleiner Mann, freust du dich denn mehr auf mich oder auf das Eis?«

Während der Junge noch überlegte, hatte sich eine Frau neben den Vater gestellt und ihm über den Lärm hinweg zugeflüstert: »Also, wenn du mich fragst, du bist mir auf jeden Fall lieber als ein Eis.«

Liebevoll hatte der Mann sie an sich gezogen und ihr einen langen Kuss auf den Mund gedrückt.

Igitt. Hätte die Frau nicht etwas leiser flüstern können? – und überhaupt! Muss man sich denn am Bahnhof vor allen Leuten so abknutschen?

Charlotte wusste, dass die Eifersucht aus ihr sprach. Okay, da werde ich wohl noch dran arbeiten müssen!, nahm sie sich vor.

 

Charlotte hatte es nicht eilig. Die Fähre hatte das Festland schon um Viertel nach zehn verlassen, so dass sie jetzt noch gute zwei Stunden Zeit hatte, bis ihr Zimmer im Hotel für sie zur Verfügung stand. Zwischen zwei Waggons hindurch fiel ihr Blick auf einen kleinen Park. Also setzte sie ihren Rucksack auf, zog ihren Trolley hinter sich her und schlenderte an einem Fahrradverleih vorbei über die Bahnschranke auf die andere Straßenseite. Sie hatte Glück. Ein älteres Pärchen war gerade von einer Bank aufgestanden und machte ihr freundlich Platz. Charlotte setzte sich und entschied, ihren Urlaub ab genau diesem Moment zu genießen. Kein Zeitdruck, kein Druck, alle Sehenswürdigkeiten der Insel in den nächsten zwei Tagen zu besuchen, kein Druck, die zwei Kilo, die sie sich in ihrem Kummer angefuttert hatte, wieder abzutrainieren. Nein, sie tat in den nächsten zwei Wochen nur das, wozu sie wirklich Lust hatte.

»Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen auf die Bank setzen?«, wurde sie von einer älteren Dame gefragt.

»Aber natürlich!«, antwortete sie lächelnd zurück und rückte ein Stück zur Seite.

Na toll, das geht ja gut weiter. Sind denn alle Alleinreisenden erpicht darauf, fremde Menschen in ein Gespräch zu verwickeln? Demonstrativ holte sie Maries Krimi aus dem Rucksack und begann zu lesen.

Zehn Minuten später begann ihr Magen zu knurren. Sie wusste, dass Jakob für sie Vollpension gebucht hatte. Allerdings begann diese am Anreisetag erst mit dem Abendessen. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass sie eine Sitznachbarin hatte.

»Und? Sind Sie auch zum ersten Mal auf Borkum?« Nun war sie es, die mit einem Gespräch begann.

Ein Leuchten trat in die Augen der älteren Frau.

»Oh nein, ganz gewiss nicht. Ich komme seit über dreißig Jahren jedes Jahr her und verbringe den ganzen September hier.«

Ohne weiter darauf einzugehen, fragte Charlotte ihre Nachbarin geradeheraus: »Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie einen kurzen Moment auf mein Gepäck aufpassen? Dort hinten neben der Drogerie scheint eine Bäckerei zu sein. Ich würde mir gerne schnell etwas kaufen und bin sofort wieder da.«

Warum sieht sie mich so schelmisch an? Irgendetwas führt sie doch im Schilde, wunderte sich Charlotte.

Die Auflösung kam prompt mit der Antwort: »Aber selbstverständlich passe ich auf ihr Gepäck auf.«

»Dankeschön, das ist wirklich nett von Ihnen!«

»Junges Fräulein, ich war noch nicht fertig. Sofern Sie mir eine Tüte Borkumer Pferdeäpfel mitbringen und mir anschließend beim Essen Gesellschaft leisten.«

Charlotte starrte die ältere Dame mit offenem Mund an.

»Wie bitte? Pferdeäpfel?«

»Nun gehen Sie schon. Sie werden sehen. Die schmecken wirklich lecker«, wurde sie verschmitzt aufgefordert.

Charlotte musste lachen. »Alles klar, dann mache ich mich mal auf den Weg.«

In der Inselbäckerei traute sie sich kaum, nach den Pferdeäpfeln zu fragen. Auch wenn sie ihre neue Inselbekannt-schaft gerade erst kennengelernt hatte, traute sie ihr doch zu, dass diese sie nach Strich und Faden veräppelte – im wahrsten Sinne des Wortes.

Was für ein Wortspiel!

Noch immer vor sich hin schmunzelnd kam Charlotte mit zwei Tüten zurück. Die Pferdeäpfel sahen verdächtig nach gesunden Talern aus, die mit Sonnenblumenkernen, Leinsaat und Haselnüssen ummantelt waren. Zum Glück hatte Charlotte auf der Verpackung unter den Zutaten das Wort ‚Marzipan‘ entdeckt. Sie brauchte dringend etwas Süßes.

»Bitte schön, lassen Sie es sich schmecken.«

In den zehn Minuten, während sie auf der Bank saßen und genüsslich an ihren Talern knabberten, erfuhr sie, dass sie eigentlich im Teestübchen bei der Oma einen Tee hätte trinken müssen, das Café aber leider vor Kurzem abgebrannt war. Auf jeden Fall aber sollte sie in den nächsten Tagen unbedingt ein Feuerschiff besichtigen, eine heimliche Liebe besuchen, zum Hooge Hörn wandern, einen Walknochenzaun ansehen und sich eine Massage im Bade- und Wellnessparadies gönnen. Aber dort bekäme sie wahrscheinlich keinen Termin mehr, weil man den laut Klara mindestens zwei Monate vor der Anreise buchen müsse – und das am besten online.

»Wenn du willst, frage ich morgen in der Massageabteilung für dich nach. Ich habe einen guten Draht zu Ole. Wenn ich ihm erzähle, dass ich eine hübsche junge Frau kennengelernt habe, die völlig verspannt neben mir auf einer Bank gesessen hat, findet er bestimmt ein freies Plätzchen für dich in seinem Terminkalender«, behauptete sie augenzwinkernd.

Charlotte wusste nicht genau, wann und wie sie mit Klara beim ‚Du‘ gelandet war, aber das Gespräch war herzerfrischend.

Klara war taff. Auch wenn ihre Falten darauf schließen ließen, dass sie über siebzig war, machte sie dennoch einen fitten und vor allem geistig aufgeschlossenen Eindruck. Denn wer bitte buchte sich in diesem Alter online einen Termin und brachte mit seinem Charme eine wildfremde Person dazu, ihr eine Tüte Pferdeäpfel zu spendieren. Wie hieß es noch gleich? ‚Die schönsten Töne werden auf den ältesten Geigen gespielt.‘

»Also wirklich, Klara, willst du mich etwa verkuppeln?«, scherzte sie. »Da muss ich dich leider enttäuschen. Kein Interesse an einem ostfriesischen Masseur! Ich bin gerade leider genau aus dem gegenteiligen Grund hier. Ich wurde nämlich frisch ‚entkuppelt‘.« Dabei malte sie mit ihren Händen zwei imaginäre Anführungszeichen in die Luft.

Klara sah sie entgeistert an: »Du? Das muss ja ein richtiger Vollidiot sein, wenn er dich ziehen lässt.«

Amüsiert von Klaras Ausdrucksweise antwortete sie:       »Danke für das Kompliment! Und du hast absolut recht! Vielleicht kein Vollidiot, sonst hätte ich es keine drei Jahre mit ihm ausgehalten, aber ein Idiot ist er auf jeden Fall! Und genau deshalb werde ich auch in den nächsten Tagen keine Sekunde an diesen Mann denken!«

»Gut so!«, antwortete Klara und erhob sich von der Bank. »Ich wünsche dir viel Erfolg dabei!«

Es war Charlotte, die von sich selbst überrascht wurde, als sie fragte: »Sehen wir uns noch einmal wieder?«

»Ach Mädchen, auf dieser Insel geht da wohl kein Weg dran vorbei!«, erwiderte die alte Dame vergnügt und fügte hinzu: »Ich würde mich freuen!«

Ich mich auch!

Klara war schon ein paar Meter Richtung Fußgängerzone gegangen, als Charlotte hinter ihr herrief:

 

»Klara, warte! Kannst du mir vielleicht doch einen Termin bei diesem Ole buchen?«

 

 

 

Mai

 

 

4. Lucas

 

Die Fahrradtour hatte allen Spaß gemacht. Müde und glücklich lag Lucas im Bett und ließ den Tag Revue passieren. Es war gar nicht so leicht gewesen, etwas zu finden, für das sich alle Familienmitglieder begeistern ließen – ihn eingeschlossen. Sie hatten Glück mit dem Wetter. Dass es im Mai schon so herrlich warm war und sie die paar Tage am Strand im T-Shirt hatten verbringen können, war nicht selbstverständlich.

Morgen ging es wieder nach Hause. Das verlängerte Wochenende über Himmelfahrt war eindeutig zu kurz. Und dennoch hatte sich der Kurzurlaub gelohnt. Sie konnten dankbar sein, dass eine andere Familie kurzfristig abgesagt hatte und sie das Familienzimmer in dem kleinen, aber feinen 3-Sterne-Hotel direkt am Flugplatz ergattern konnten.

Jetzt war es kurz vor Mitternacht, als er über den heutigen Vormittag nachdachte. Sie waren an den Hauptstrand gefahren und hatten dort gemeinsam eine Sandburg gebaut, die sich sehen lassen konnte. Als sich der kleine Hunger bemerkbar machte, hatte er sich an einer der legendären Milchbuden angestellt und für alle eine Portion köstlichen Milchreis gekauft. Er hatte die vielen Menschen, die in Liegestühlen vor der Bude oder windgeschützt hinter den Glasscheiben im Innenbereich saßen, als gutes Zeichen gewertet. Die Schlange war lang gewesen, doch das Warten hatte sich gelohnt. Er liebte Milchreis, genau wie seine Familie. Vorsichtig hatte er die Köstlichkeit auf einem Tablett durch den Sand zu ihrem Strandzelt balanciert, wo er schon sehnsüchtig erwartet worden war.

Wieder im Hotel angekommen, hatte Lilli sich mit den Kindern zum Mittagsschlaf gelegt, während er die kostbare Zeit der Ruhe für sich genutzt hatte. Zum Glück hatte ihr Familienzimmer einen Balkon. So hatte er sich auf der Liege ausruhen und in seiner Lieblingszeitschrift ‚Wahre Verbrechen‘ blättern können.

Die heutige Ausgabe hatte ihm etwas Angst gemacht, weil sie ihn an eine Zeit erinnerte, in der er selbst ein nicht ganz so zuverlässiger Jugendlicher gewesen war. Seit er damals vergessen hatte, den Adventskranz auszupusten, bevor er sich mit seinen Kumpels auf dem Weihnachtsmarkt getroffen hatte, war für ihn bis heute allein das Wort ‚Feuer‘ Respekt einflößend. Seine Eltern waren glücklicherweise früher als erwartet nach Hause gekommen und hatten den Kranz in hohem Bogen aus dem Fenster auf die Wiese geworfen, bevor etwas Schlimmeres passieren konnte. Aber die Strafpredigt und der Gedanke daran, was hätte passieren können, würde er sein Leben lang nicht vergessen.

Heute ging es ausgerechnet um den Fall, in dem ein Mann im Nachbarhaus Feuer gelegt hatte, nachdem er zuvor die ganze Familie, Vater, Mutter und einen dreijährigen Jungen, brutal ermordet hatte. Er war gespannt, wie die Ermittler dem Täter auf die Spur kommen würden oder ob das Feuer, ganz im Sinne des Täters, alle Spuren zerstört hatte.

 

Nach dem Mittagsschlaf hatten Lilli und er die beiden Jungs angezogen und sich mit den Fahrrädern auf den Weg gemacht. Er hatte noch versucht, seine Frau mit Handzeichen davon abzuhalten, ihrem bettelnden Sohn den Wunsch zu erfüllen, ausgerechnet an den Hafen zu fahren. Doch er wusste schon vorher, dass sie dem Kleinen eh nichts abschlagen konnte.

Übel konnte er es ihr nicht nehmen. Auch er hatte Mühe damit, einem Menschen, den er mochte, etwas abzuschlagen, sei es ein Familienmitglied, Freund, sogar bei seinem alten Nachbarn.

Besonders bei Lilli fiel es ihm schwer. Er selbst hatte sich damals geschlagen gegeben, als sie auf die Idee gekommen war, ihren Sohn ‚Wilhelm‘ zu nennen.

»Das ist heute wieder in«, hatte sie ihn überredet. Als dann Friedrich zur Welt kam, hatte er gar nicht erst versucht, seine Frau davon zu überzeugen, dass David oder Michel auch schöne Jungennamen waren.

Also waren sie mit den Rädern zum Hafen unterwegs gewesen, wo es seiner Meinung nach nichts zu sehen gab. Daher hatte er sich nicht gewundert, als Wilhelm nach fünf Minuten anfing zu quengeln und doch lieber zum Upholmhof wollte, um dort eine Pommes zu essen.

Er hatte sich Lilli gegenüber ein: »Hab ich’s nicht von Anfang an gewusst?«, verkneifen müssen.

Friedrich war im Fahrradanhänger eingeschlafen und bekam von der ganzen Fahrradtour außer der frischen Luft nicht viel mit.

Nun lag er friedlich und mit geröteten Wangen in seinem Gitterbettchen. Wilhelm allerdings war gegen elf wachgeworden und zu ihnen ins Ehebett gekrabbelt. Glückselig lag der kleine Mann jetzt zwischen ihnen und träumte den Schlaf der Gerechten.

Zufrieden hörte er dem gleichmäßigen Atmen seines Sohnes zu. Es war ein schöner Tag gewesen. Überhaupt wollte er in seinem Leben gerade nichts ändern. Er war glücklich.

Mit diesem Gedanken schlief auch er nach einem Tag voll frischer Meeresluft tief und fest ein.

Plötzlich wurde er aus dem Schlaf gerissen. Er wusste nicht warum, doch irgendetwas war nicht in Ordnung. Ein ungutes Gefühl überkam ihn und jagte ihm in böser Vorahnung eine Heidenangst ein. Als er auf die Uhr schaute war es drei Uhr morgens. Dann ging wie aus dem Nichts plötzlich der Feueralarm los. Auf dem Flur schrie jemand: »Feuer! Raus hier!«

Das ist doch wohl ein schlechter Scherz!

Als er weitere Türen schlagen und aufgeregte Stimmen am Flur hörte, sprang er aus dem Bett. Vorsichtig öffnete er die Zimmertür. Dichter Qualm kam auf ihn zu und ließ ihn erschaudern. Schnell schloss er die Tür, knipste das Licht an, stürzte auf das Bett zu und schüttelte Lilli, ohne Rücksicht darauf, dass er sie aus dem Tiefschlaf riss und sie sich wahrscheinlich furchtbar erschrecken würde.

Aber das hier war ernst. Es brannte. Das Feuer war echt. Sie mussten hier raus.

»Lilli, steh auf!«, schrie er seine Frau panisch an.

»Lu, was ist denn los?«, fragte sie benommen. Doch als sie in die vor Angst geweiteten Augen ihres Mannes blickte, war sie schlagartig hellwach.

»Es brennt!«, schrie er die bittere Wahrheit heraus.

Lilli sprang aus dem Bett.

»Ich kümmere mich um Friedrich, du nimmst Wilhelm! Hier ist dein Bademantel, die Kinder wickeln wir in die Bettdecken.«

Wie kann sie in dieser Situation nur so klar denken? Lucas war heilfroh, dass seine Frau schon immer in schwierigen Situationen wusste, was zu tun war. Sie schaltete einfach auf Organisations-Autopilot.

Als sie aus der Tür traten, offenbarte sich ihnen ein furchterregendes Bild. Der Flur stand in Flammen und eine unglaubliche Hitze schlug ihnen entgegen.

»Zurück, schnell. Raus auf den Balkon!«, rief er seiner Frau zu. Als er die Balkontür öffnete, hörte er aus der Ferne das Martin-Horn der Feuerwehr. Bitte beeilt euch!

»Hab keine Angst, Kleiner, hier draußen sind wir sicher. Siehst du das blaue Licht? Sie sind jeden Moment bei uns und dann darfst du vielleicht auf den Schultern von einem echten Feuerwehrmann sitzen und mit ihm die Leiter runterklettern«, versuchte er seinen Sohn zu beruhigen. »Genau wie bei Feuerwehrmann Sam, weißt du noch?«

Über den Kopf von Wilhelm hinweg sah er seine Frau an. Er musste sich zusammenreißen. Sie sollte seine Angst und den Zweifel, ob die Feuerwehr rechtzeitig eintreffen würde, nicht zu sehen bekommen. Ein Blick hinunter in den Hof nahm ihm alle Hoffnung. Ein Sprung aus dem dritten Stock kam nicht infrage.

Hätten wir unser Zimmer doch bloß zum Süden hin gebucht, dann hätten wir eine Chance gehabt.

Der einzige Trost war Friedrich. Er bekam von dem ganzen Trubel nichts mit und schlief friedlich in den Armen seiner Mutter weiter.

Bisher hatte er sich gezwungen, nicht zurück ins Zimmer zu blicken, doch als er ein lautes Krachen hinter sich hörte, drehte er sich um. Das Feuer hatte sich durch den Vorraum gefressen und war nun in ihrem Schlafzimmer angekommen. Es würde nicht mehr lange dauern und das Glas in der Balkontür würde durch die Hitze zersplittern.

Das Martin-Horn wurde lauter. Der Flugplatz war mittlerweile hell erleuchtet. Neben ihnen stand ein Ehepaar auf dem Balkon, das er auf Anfang achtzig schätzte und sich still und ungläubig aneinander klammerte.

Dann endlich sah er das erste der rettenden Einsatzfahrzeuge. Dankbar blickte er zu seiner Frau herüber, dann zu dem Fuhrpark, der mittlerweile das Hotel erreicht hatte.

Feuerwehrleute mit Atemschutzmasken sprangen von den Fahrzeugen. Ein anderer rannte zu der Menschentraube, die sich unter einer Straßenlaterne versammelt hatte. Lucas konnte erkennen, wie er sie wild gestikulierend anwies, diesen Ort zu verlassen und sich im Flugplatzgebäude in Sicherheit zu bringen.

Ein Mann in Feuerwehrkleidung rief zu ihnen hoch: »Halten Sie durch! Wir holen Sie sofort darunter!«

 

Im selben Moment gab es einen gewaltigen Schlag und die Glasscheibe hinter ihnen zerbarst in alle Einzelteile.

5. Jannik

 

Der Notruf traf um kurz nach drei am frühen Morgen bei der Leitstelle am Festland ein. Umgehend wurde er an die Feuerwache nach Borkum weitergeleitet. Als Jannik Poppinga ‚Feuer Y, Menschenleben in Gefahr‘ hörte, schnellte sein Puls in die Höhe. Umgehend alarmierte er seine Kollegen. Ihm war sofort klar, dass es sich hier um einen ernsten Notfall handelte. Er kannte die vielen Anrufer, die sich in betrunkenem Zustand einen Spaß daraus machten, bei ihnen anzurufen und von einem Feuer oder einer Rauchentwicklung zu berichten, die es nie gegeben hatte.

Noch vor zwei Wochen waren sie zu einem angeblichen Brand in der Fußgängerzone gerufen worden. Drei Jungs und ein Mädel hatten eine Wette am Laufen, wie lange es wohl dauern würde, bis die Feuerwehr an der Diskothek angekommen war. Ein saftiges Bußgeld und eine Nacht in der Ausnüchterungszelle bei den netten Kollegen der Polizei waren die Folge gewesen – und für seine Kameraden eine schlaflose Nacht.

Jannik konnte nicht in Worte fassen, wie wütend ihn solches Verhalten machte.

Aber diese Frau am Telefon, dieser Anruf heute war echt. Die Sorge in ihrer Stimme, das Geschrei im Hintergrund und der untrügliche Alarmton der Feuermelder waren eindeutige Zeichen.

Während er auf seine Mannschaft wartete, ging ein weiterer Anruf bei ihm ein. Soweit der Anrufer wusste, gab es keine Verletzten, allerdings befanden sich Personen auf Balkonen im obersten Stock. Das war eine wichtige Information. Menschenrettung ging immer vor Gebäude-rettung. Also plante er die Drehleiter mit dem Rettungskorb als erstes Fahrzeug ein, gefolgt vom LF, dem Löschgruppenfahrzeug.

Auch wenn sie es oft genug geübt hatten, so war es doch etwas anderes, wenn es sich nun tatsächlich um einen Ernstfall handelte. Es dauerte sechs Minuten, bis sich die ersten drei Wagen auf den Weg machten, um den Großbrand im Hotel in unmittelbarer Nähe zum Flugplatz zu löschen.

Er hoffte inständig, dass all die Anrufer recht behielten, die übereinstimmend ausgesagt hatten, dass es keine Verletzten gab. Polizei und Krankenwagen waren dennoch benachrichtigt. Das gab schon das Standardprotokoll vor.

Vor dem Hotel offenbarte sich Jannik ein entsetzliches Bild. Weinende Menschen in Bademänteln und Decken gehüllt standen auf der Straße vorm Hotel und blockierten die Zufahrt. Ein Polizist versuchte, sie freundlich doch bestimmt von der Straße zu scheuchen.

Für Feuerwehrmann Michael etwas zu freundlich. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, regte der sich auf. Obwohl das Fahrzeug noch fuhr, sprang er herunter und rannte auf die Menge zu. Er war nicht so rücksichtsvoll wie der Polizeibeamte und schrie die noch immer unter Schock stehenden Hotelgäste an, gefälligst Platz zu machen und sich ins Flughafengebäude zu begeben.

Danke, Michael! Sie hatten keine Zeit zu verlieren und konnten auf die Gefühle der traumatisierten Menschen um sie herum keine Rücksicht nehmen. Darum mussten sich später andere kümmern.

Janniks Blick nach oben ließ ihn erschaudern. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern stand auf dem Balkon und schrie laut um Hilfe. Auf dem Nachbarbalkon sah er ein altes Ehepaar stehen, das in eine Art Schockstarre verfallen zu sein schien.

In Windeseile kletterte Jannik in den Rettungskorb und gab dem Maschinisten am Steuerstand ein Zeichen. Sofort wurde die Drehleiter ausgefahren.

Was dauert das so lange? Er hätte mehr Druck machen sollen, dass die Steuerung, mit der er den Korb hätte selbst positionieren können, sofort repariert wurde. So musste Johannes das vom Boden aus tun. Es kostete sie wertvolle Sekunden bis der Rettungskorb am Ende der Leiter endlich in der richtigen Position war.

Janniks Adrenalinspiegel schnellte in die Höhe.

Oben angekommen, traf ihn das ganze Ausmaß der Katastrophe. Jetzt, wo er in die verzweifelten Gesichter der Eltern sehen musste, die versuchten vor ihren Kindern Stärke zu zeigen und Ruhe zu bewahren. Ihre flehenden Blicke würden ihn nachts sicher noch lange begleiten. Schließlich war er selbst Vater einer zehnjährigen Tochter und konnte nur erahnen, was die beiden gerade durchmachen mussten.

Das Feuer schlug durch die zerborstenen Fensterscheiben nach draußen. Ein paar Funken hatten die Daunendecke erwischt, in die ein circa fünfjähriger Junge eingewickelt war. Sofort riss der Vater die Decke von seinem Kind und warf sie über den Balkon. Wir müssen uns wirklich beeilen.

Dem Ehepaar auf dem Nebenbalkon rief er, bemüht, zuversichtlich zu klingen, zu: »Wir sind sofort bei Ihnen, halten Sie durch!«, wissend, dass das Wort ‚sofort‘ eine Lüge war.

Blitzschnell ging er alle Optionen durch. Der Fünfjährige wurde als erster von seinem Vater über die Brüstung des Geländers in den Rettungskorb gehoben. Jannik konnte das Zittern des Jungen am ganzen Leib spüren, als er ihn in Empfang nahm.

»Hey, Kleiner, wie heißt du denn?«

Er wurde aus angsterfüllten Augen angesehen. Kein Ton kam aus dem Jungen heraus.

»Wilhelm, er heißt Wilhelm!«, schrie der Vater ihm durch den Lärm zu.

Jannik hatte Mühe gehabt, den Kleinen aus den Armen des Vaters zu lösen. Zu fest hatte der sich an ihn geklammert und wollte die beschützenden Arme des Vaters nicht loslassen.

»Ich komme sofort nach! Bitte, lass mich los! Vertrau mir!«, versuchte der seinen Sohn zu beruhigen. »Denk an Feuerwehrmann Sam!«

Doch die Angst in der Stimme des Vaters ließ sich nicht überspielen. Das schien auch Wilhelm zu spüren, dennoch hatte er es endlich über sich ergehen lassen, dass sein Vater ihn in der Not in andere Hände übergab.

Als nächstes war die Mutter an der Reihe. Sie hatte ein Kleinkind auf dem Arm, welches sie ihrem Mann reichte, bevor sie in Windeseile auf die Brüstung kletterte und von dort in den Korb überstieg. Wilhelm wollte sich sofort an ihre Beine klammern, doch Jannik hielt ihn zurück.

»Lu, schnell, gib mir Friedrich! Los, beeil dich!«, schrie die Frau ihren Mann panisch an.

Kein Wunder! Sie hatte freie Sicht auf das wütende Feuer, das sich hinter den beiden Menschen, die sie von ganzem Herzen liebte, einen Weg auf den Balkon gebahnt hatte.

»Nun mach schon!« Auch sie war mittlerweile nicht mehr in der Lage, ihre Angst zu unterdrücken.

Nachdem Friedrich sicher in ihren Armen lag, kletterte nun auch der Vater in den Korb.

Jannik schickte ein Dankgebet gen Himmel und brüllte in sein Funkgerät: »Los, schnell, fahr uns vor den Nachbarbalkon. Mach hinne!«

» …«

»Nein, nicht runter! Johannes, hör mir zu, du fährst die Leiter sofort vor den Nachbarbalkon, hast du mich verstanden?«

» …«

»Ja, ich weiß, dass nur zwei Erwachsene zugelassen sind!«

» …«

»Ist mir egal! Ich bin heute der Einsatzleiterund ich trage die Verantwortung!«

» …«

»Noch ein Wort, und du bist verantwortlich für den Tod von zwei Menschen, die deine Großeltern sein könnten!«

Das hatte gesessen. Er hasste es, seine Kammeraden zu kommandieren und unter Druck zu setzen, aber es war wirklich keine Zeit für sinnlose Diskussionen.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Korb vor dem Balkon in die richtige Position gebracht worden war. Bevor er ihn aufhalten konnte, sprang der Vater hilfsbereit aus dem Korb auf den brennenden Balkon und half erst der alten Frau, anschließend ihrem Mann über die Brüstung. Jannik nahm die beiden entgegen und redete beruhigend auf sie ein. Noch immer kam kein Laut über ihre Lippen. Die Augen waren vor Angst geweitet, Tränen liefen ihnen übers Gesicht. Der Korb wackelte verdächtig.

Jannik wusste, dass der Rettungskorb überlastet war. Ein Feuerwehrmann plus zwei Erwachsene, so stand es in der Herstellervorgabe. Außer ihm waren es nun, ohne den Familienvater, der sich noch immer auf dem Balkon befand, drei Erwachsene und zwei Kinder, wobei der kleine Friedrich nicht mitzählte.

Was nun? Der mutige Vater sah ihn fragend an. Er musste sich entscheiden. Sofort!

»Noch zehn Kilogramm und die Abschaltautomatik stellt sich ein«, drang es aus dem Funkgerät an Janniks Ohr.

»Dann versuch die Automatik zu umgehen!«, brüllte er zurück.

»Was denkst du, was ich getan habe? Ich muss die Leiter einfahren, sonst ist der Kipp-Punkt erreicht.« Die Panik in Johannes Stimme war deutlich zu hören.

Auch in Jannik kroch nun Verzweiflung hoch, denn ein Bild der Zerstörung tat sich vor ihm auf. Das komplette Schlafzimmer des geretteten Ehepaares hatte sich in ein Flammenmeer verwandelt, das mittlerweile bis auf den Balkon vorgedrungen war.

Es musste etwas geschehen. Jetzt! Und dann wusste Jannik, was er zu tun hatte. Ein Blick auf die junge Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern bestätigte seine Entscheidung.

»Ich springe raus, Sie springen rein! Verstanden?«, rief er dem Vater über das laute Krachen des Feuers hinweg zu.

Er war gerade dabei über die Brüstung zu klettern, als er eine Stimme aus dem Funkgerät hörte: »Jannik, wir haben es geschafft! Das Sprungpolster ist aufgebaut.«

Dann ging alles blitzschnell. Auch Lucas schien den Funkspruch gehört zu haben und kletterte ohne zu zögern auf die Brüstung. Noch bevor Jannik nach ihm greifen konnte, warf der Vater seiner Familie einen letzten Blick zu, in dem Furcht und Erleichterung zugleich lag.

 

Dann sprang er in die Tiefe!

 

 

 

September

 

 

6. Täter

 

Irgendetwas hatte sie an sich, das seine Neugierde geweckt hatte und ihn seine Vorsätze vergessen ließ. Ob es ihr langes, hellblondes Haar war, das sie locker mit einem orangefarbenen Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, oder ihre Körperhaltung, die darauf schließen ließ, dass sie jahrelang Ballettunterricht genossen hatte – er wusste es nicht. Aber sie hatte ihn in ihren Bann gezogen. Also stand er von seiner Bank am Hafen auf und mischte sich unter die gerade angereisten Touristen.

Sie wählte den roten Waggon.

---ENDE DER LESEPROBE---