GEKRÖNT - Anette Schäfer - E-Book

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Anette Schäfer

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Beschreibung

»Heute bringe ich dir deine Krone« Ein rätselhafter Fall beschäftigt die Siegener Polizei: Eine Frauenleiche im Brautkleid wurde vor der Haardter Kirche abgelegt – auf ihre zarte Haut eine Krone tätowiert. Während Kriminaloberkommissarin Johanna Daub der Spur des Täters folgt, wird ein weiteres Opfer vor dem Standesamt in Neunkirchen entdeckt. Ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn im Siegerland herrscht Hochzeitssaison. Johanna Daub ermittelt wieder gemeinsam mit Stadtbank Mitarbeiter Daniel Treude, der nebenbei ganz eigene Ziele verfolgt und die Kommissarin damit unwissentlich in Gefahr bringt.

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An­mer­kung:

 

Soll­ten Ähn­lich­kei­ten mit re­a­len Per­so­nen, In­sti­tu­ti­o­nen oder Kre­dit­in­sti­tu­tenauf­tre­ten, sind die­se rein zu­fäl­lig.

Wie­der sind alle Cha­rak­tere frei er­fun­denund ent­sprin­gen mei­ner Fan­ta­sie.

 

 

Anette Schä­fer

      

GE­KRÖNT

 

 

 

 

 

 

 

Krön­chen-Kri­mi

 

 

Ok­to­ber 2018

Co­py­right © by Anette Schä­fer

Um­schlag­ge­stal­tung: Co­py­right © by Anette Schä­fer

Um­schlag­fo­to: Li­ving-Mo­ment Fo­to­gra­fie

Kor­rek­to­rat: Vor­län­der GmbH & Co. KG, Sie­gen

Anette Schä­fer

Ro­bert-Schu­mann-Str. 14

57076 Sie­gen

www.kro­en­chen­ver­lag.de

ISBN 978-3-9819795-7-2

 

 

 

Für Anni

 

 

 

 

Das Tra­gen ei­ner Kro­ne bringt Ehre und Macht zu­gleich – doch manch­mal auch den Tod!

Pro­log

 

 

 

Un­glaub­lich! Noch im­mer konn­te sie es kaum fas­sen, dass ihr Traum heu­te tat­säch­lich wahr wer­den soll­te. Da­bei kann­ten sie sich doch erst seit zwei Jah­ren.

»Ja, ich will!«, flüs­ter­te sie lei­se und sah ih­rem Spie­gel­bild da­bei glü­ck­lich in die Au­gen. »Ja, ich will!«, trau­te sie sich et­was lau­ter, streck­te ihre Schul­tern da­bei nach hin­ten und lä­chel­te sich selbst im Spie­gel an.

Ihr lan­ges, blon­des Haar war am Mor­gen zu ei­ner kunst­vol­len Hoch­steck­fri­sur ge­floch­ten wor­den, ihr wei­ßes, är­mel­lo­ses Kleid war mit glit­zern­den Pail­let­ten be­setzt.

 

Es war drei Mi­nu­ten nach zwei, als es bei Ju­dith an der Haus­tür klin­gel­te. Über­rascht, dass er schon so früh vor der Tür stand, leg­te sie den Schlei­er vor­sich­tig über den Arm und ging zur Tür.

»Oh, kann ich Ih­nen hel­fen?«, frag­te sie et­was ir­ri­tiert. »Sie ha­ben sich si­cher in der Klin­gel ge­irrt.«

»Ja, das kön­nen Sie. Ihr Mann schickt mich. Ich soll Ih­nen Ihre Kro­ne vor­bei­brin­gen. Darf ich bit­te kurz her­ein­kom­men?«, hör­te sie ihr Ge­gen­über fra­gen.

»Na­tür­lich, kom­men Sie her­ein. Wel­che Kro­ne? Darf ich Ih­nen bei der Hit­ze viel­leicht ein Glas Was­ser an­bie­ten?«

Kei­ne fünf Se­kun­den spä­ter konn­te es Ju­dith nicht glau­ben, als sie an sich her­un­ter­sah und sich ihr wei­ßes Kleid plötz­lich blut­rot ver­färb­te.

 

So kann ich doch un­mög­lich in die Kir­che … Das geht doch nicht …, war ihr letz­ter Ge­dan­ke, be­vor sie völ­lig per­plex be­griff, dass in ih­rer Brust ein Mes­ser steck­te und die­ser Tag nicht der schöns­te, son­dern der letz­te in ih­rem Le­ben sein soll­te.

Au­gust

1.

 

»Hey, du bist dran! Hol­ger, jetzt mach schon, wo bist du denn mit dei­nen Ge­dan­ken?«, frag­te Jo­han­na et­was vor­wurfs­voll. Es war Sams­tag­abend, als sie mit Da­ni­el bei Hol­ger und sei­ner Frau am Ess­zim­mer­tisch saß. Jo­han­na hass­te Mo­no­po­ly. Da aber Hol­ger sie bei­de ges­tern völ­lig über­ra­schend zu ei­nem Spie­le­abend ein­ge­la­den hat­te, war es Jo­han­na schwer ge­fal­len, ‚nein’ zu sa­gen.

»Han­ni­lein, da wol­len wir doch mal se­hen, ob dein neu­er Freund auch ver­lie­ren kann«, hat­te er ge­tönt, wäh­rend er sich auf der Wa­che an sei­nem Schreib­tisch einen di­cken Ber­li­ner Bal­len in den Mund ge­scho­ben hat­te.

»Und du soll­test lie­ber se­hen, dass ich dich mor­gen Abend nicht bei dei­ner Frau ver­pet­ze! Wie war das noch? Kei­ne Sü­ßig­kei­ten mehr für die nächs­ten drei Mo­na­te?«, kon­ter­te Jo­han­na.

Sie hat­te sich wirk­lich über die Ein­la­dung ge­freut. Schließ­lich ver­brach­te sie mit Kri­mi­nal­haupt­kom­mis­sar Hol­ger Stein mehr Zeit als mit ih­rem Da­ni­el. So war der Abend eine gute Ge­le­gen­heit, dass sich die bei­den Män­ner, die in ih­rem Le­ben eine gro­ße Rol­le spiel­ten, in Ruhe be­schnup­pern konn­ten.

Hol­ger und Mar­ti­na hat­ten nach zwei Fehl­ge­bur­ten kei­ne ei­ge­nen Kin­der be­kom­men kön­nen, und so man­ches Mal hat­te sie das Ge­fühl, für Hol­ger eine Art Toch­terer­satz zu sein.

Den­noch! Hol­ger hat­te sich in letz­ter Zeit sehr ver­än­dert und sei­ne sonst zu flot­ten Sprü­che wirk­ten selt­sam auf­ge­setzt. Er war lau­nisch, kam öf­ter zu spät zum Dienst und manch­mal war er trotz ei­nes schwie­ri­gen Ein­sat­zes nicht rich­tig bei der Sa­che. Bis­her hat­te es Jo­han­na noch nicht ge­wagt, ihn dar­auf an­zu­spre­chen. Sie hat­te ge­hofft, er wür­de sie von sich aus ins Ver­trau­en zie­hen.

Jetzt saß Hol­ger schon seit zwei Run­den im Ge­fäng­nis und schien sich völ­lig aus dem Spiel aus­ge­klinkt zu ha­ben.

»Ach, ich bin wie­der dran? Nett von euch, dass ich wie­der mit­spie­len darf«, sag­te er et­was mür­risch, wür­fel­te eine Drei, lan­de­te auf der Ha­fen­stra­ße und muss­te 140 Euro Mie­te an Da­ni­el ab­drü­cken.

Oh Mann, erst er­zählt er mir et­was von gu­ten Ver­lie­rern und jetzt ist er selbst bo­ckig, nur weil er drei Run­den aus­set­zen muss­te.

»So ist das nun mal, wenn man ins Ge­fäng­nis muss. Ein­sam und ver­las­sen ist man dort«, zog Jo­han­na ihn auf.

»Wie meinst du das denn jetzt?«, braus­te Hol­ger auf.

»Schatz, al­les gut. Jo­han­na mein­te doch nur, dass du dich et­was mehr auf das Spiel kon­zen­trie­ren soll­test, da­mit du nicht noch ein paar Run­den im Ge­fäng­nis ver­brin­gen musst«, klär­te Mar­ti­na ih­ren Ehe­mann auf und zwin­ker­te Da­ni­el da­bei zu.

Mooo­ment, habe ich das ge­ra­de rich­tig be­ob­ach­tet? Mar­ti­na zwin­kert Da­ni­el zu?

Jo­han­na nahm ir­ri­tiert den Wür­fel in die Hand und zog an­schlie­ßend mit ih­rem ro­ten Männ­chen auf ein Er­eig­nis­feld. Ge­ra­de woll­te Jo­han­na ih­ren Arm nach den Er­eig­nis­kar­ten ausstre­cken, um sich eine Kar­te zu neh­men, als Mar­ti­na plötz­lich so stark hus­ten muss­te, dass sie da­bei an den Tisch stieß und ihr Was­ser­glas um­kipp­te.

»Ach, wie un­ge­schickt von mir. Jo­han­na, könn­test du mir schnell aus der Kü­che ein Zewa ho­len?«, frag­te Hol­gers Frau, wäh­rend die bei­den vor­sich­tig das Spiel­brett an­ho­ben, un­ter dem sich eine klei­ne Pfüt­ze ge­bil­det hat­te.

 

Nach­dem der Tisch ge­trock­net, die Glä­ser und die Chips­schüs­sel auf­ge­füllt wa­ren, sa­ßen nun alle wie­der auf ih­ren Plät­zen.

»Wo wa­ren wir ste­hen­ge­blie­ben?«, frag­te Da­ni­el. »Ah, ich glau­be, du muss­test eine Er­eig­nis­kar­te zie­hen, oder Jo?«, be­ant­wor­te­te er sei­ne Fra­ge selbst.

Jo­han­na ge­fiel es, dass sich Da­ni­el an­ge­wöhnt hat­te, sie Jo zu nen­nen, und dass er das nun auch vor ih­rem Kol­le­gen und des­sen Frau tat, zeig­te ihr, dass er sich an die­sem Abend sehr wohl fühl­te und die bei­den ins Herz ge­schlos­sen hat­te. Jo­han­na nahm die Er­eig­nis­kar­te vom Sta­pel und hielt sie sich ver­steckt vor die Brust. Alle drei starr­ten sie ganz ge­spannt an.

Sospan­nend ist das Spiel nun auch nicht, dach­te sie, dreh­te die Kar­te um und ent­deck­te völ­lig über­rascht einen Schlüs­sel, der auf der Rück­sei­te der Kar­te kleb­te. Vor­sich­tig trenn­te sie ihn ab und las, was ver­bor­gen dar­un­ter stand:

 

»Willst du bei mir ein­zie­hen?«

2.

 

Hol­ger war sich nicht si­cher, was er von der gan­zen Sa­che hal­ten soll­te: »Da kommt ein­fach so ein Bankhei­ni da­her, mischt sich in un­se­ren letz­ten Fall ein, wird da­bei ver­letzt und nun steht er als Held da und will von jetzt auf gleich mit Jo­han­na zu­sam­men­zie­hen? Und ich soll jetzt den glü­ck­li­chen Kol­le­gen spie­len, der sich mit ihr freut? Pah, wahr­schein­lich soll ich auch noch ir­gend­wann den Trau­zeu­gen ab­ge­ben … und bei dem Tem­po be­stimmt so­gar noch in die­sem Jahr«, hat­te er sich vor zwei Wo­chen bei sei­ner Frau be­schwert, als sie ihm von Da­ni­els Plä­nen be­rich­tet hat­te.

»Und über­haupt, wie­so be­spricht der Kerl das al­les ei­gent­lich mit dir? Ich bin schließ­lich Jo­han­nas Kol­le­ge und es gibt wohl kei­nen au­ßer mir, der sie so gut kennt wie ich!«

»Schatz, man könn­te tat­säch­lich mei­nen, du seist ei­fer­süch­tig«, hat­te sich sei­ne Frau über ihn lus­tig ge­macht. »Und ich dach­te, du magst ihn?«

»Tu ich auch. Trotz­dem! Er hät­te mit mir und nicht mit dir spre­chen sol­len.«

»Um sich dei­nen Se­gen ab­zu­ho­len?«

»Ja, ir­gend­wie schon!«, hat­te er sei­ner Frau et­was zö­ger­lich ge­stan­den.

»Schatz, ich kann dich ja ver­ste­hen. Aber da­für ist ein­deu­tig Jo­han­nas Va­ter zu­stän­dig. Und der ein­zi­ge Grund, war­um er mich zu­erst in sei­nen Plan ein­ge­weiht hat, ist ja wohl ein­deu­tig.«

»Und wel­cher soll das sein?«

»Na, ich bin halt eine Frau ...!

 

… Und au­ßer­dem kann ich bes­ser Hus­te­n­an­fäl­le vor­täu­schen als du!«, hat­te sie ge­lacht.

3.

 

Jo­han­na sah noch im­mer ver­wirrt auf ihre Er­eig­nis­kar­te, als plötz­lich ihr Han­dy klin­gel­te – kur­ze Zeit spä­ter auch das von Hol­ger.

»Hier ist Jo­han­na! Rei­ner, was gibt’s?«

» …«

»Schei­ße! Wo?«

» …«

»Klar, wir sind gleich da. Und Rei­ner …, ich brin­ge Hol­ger mit.«

Jo­han­na woll­te ge­ra­de ihr Han­dy in die Ho­sen­ta­sche ste­cken, als sie merk­te, dass sie gar kei­ne Hose trug. Wie är­ger­lich, dass sie sich vor­hin vor ih­rem Klei­der­schrank für den blau­en Rock ent­schie­den hat­te. Also nahm sie ihre Hand­ta­sche vom Stuhl, ging raus zur Gar­de­ro­be, zog sich die Ja­cke an und woll­te ge­ra­de schon zur Tür raus, als ihr et­was Wich­ti­ges ein­fiel: Da­ni­el!

Wenn sie ehr­lich war, kam ihr der An­ruf recht ge­le­gen. Sie wa­ren noch nicht so lan­ge ein Paar, und ob­wohl Da­ni­el ihr die Welt zu Fü­ßen leg­te und er ihr un­glaub­lich gut tat, ging es ihr mit ei­nem Um­zug in sei­ne Ei­gen­tums­woh­nung nach Brau­ers­dorf doch zu schnell. Sie hat­te schon die Stim­me ih­rer Mom im Ohr:

»Gold­s­tü­ck­chen, ich freue mich so für dich … und? Wie sieht es mit der Fa­mi­li­en­pla­nung aus? Wann wollt ihr hei­ra­ten? Du weißt ja, wie sehr ich mich dar­auf freue, end­lich Oma zu wer­den.«

Es war schon vie­le Jah­re her, da hat­te sie schon ein­mal je­mand ge­fragt, ob sie bei ihm ein­zie­hen wol­le. Sie hat­ten bei­de ihre Aus­bil­dung bei der Po­li­zei in Düs­sel­dorf be­en­det, als er nach Köln und sie nach Sie­gen ver­setzt wor­den war. Für ihn war klar ge­we­sen, dass sie die­je­ni­ge war, die über die A4 zu ih­rer Ar­beits­stel­le zu pen­deln hat­te, schließ­lich wür­den sie ja bald eine Fa­mi­lie grün­den und dann wäre es nur lo­gisch, wenn sie mit dem Kind ge­mein­sam bei ihm in Köln woh­nen wür­den.

Sie hat­te da­mals kal­te Füße be­kom­men und Jo­han­na hat­te die gro­ße Be­fürch­tung, dass es auch mit Da­ni­el nicht klap­pen könn­te. Das ging ihr wie­der viel zu schnell. Au­ßer­dem hat­te Da­ni­el bis­her kaum eine Chan­ce ge­habt, sie mit all ih­ren Ma­cken und Feh­lern in Ruhe ken­nen­zu­ler­nen.

Den­noch ging sie nun zu ihm, zog ihn hin­ter sich her in die Kü­che und leg­te ihre Arme um ihn.

»Hey, Da­ni­el, dan­ke! Das ist to­tal lieb von dir!«, flüs­ter­te sie ihm ins Ohr, wohl­wis­send, dass so­wohl Mar­ti­na als auch Hol­ger im Wohn­zim­mer stan­den und sie bei­de ge­spannt be­ob­ach­te­ten. »Aber ich muss jetzt lei­der los. Eine Lei­che war­tet nicht. Nimmst du dir ein Taxi?«

»Na dann, uffta­ta!«, hör­te sie Hol­gers selt­sam fröh­lich klin­gen­de Auf­for­de­rung, lös­te sich von Da­ni­el und lief hin­ter Hol­ger aus dem Haus.

Beim Raus­ge­hen hör­te sie ih­ren Freund ver­dutzt zu Mar­ti­na sa­gen:

 

» … und ich dach­te, eine Lei­che kön­ne eh nicht mehr weg­lau­fen.«

4.

 

Jo­han­na und Hol­ger hat­ten ge­schla­ge­ne acht Mi­nu­ten vor der Bahn­schran­ke am Fuße des Haard­ter Ber­ges war­ten müs­sen, be­vor sie den stei­len Set­zer Weg bis zur Kir­che her­auf­fah­ren konn­ten. Dort prä­sen­tier­te sich ih­nen kein schö­nes Bild.

Vier Be­am­te, der Pfar­rer und zwei sicht­lich auf­ge­lös­te Män­ner stan­den vor dem gro­ßen Ein­gang­s­tor zur Haard­ter Kir­che in Wei­denau. Zu ih­ren Fü­ßen lag eine tote, hüb­sche Braut mit hoch­ge­steck­ten, blon­den Haa­ren und ei­nem Braut­kleid, das ir­gend­wann ein­mal weiß ge­we­sen sein muss­te. Jetzt aber war es mit rost­ro­ten Blut­fle­cken durch­tränkt. In der Brust der Lei­che steck­te ein gro­ßes Mes­ser. Die Klin­ge muss­te tief ins Ge­we­be ein­ge­drun­gen sein, denn von ihr selbst war nichts mehr zu se­hen.

Da hat­te wohl ein sehr kräf­ti­ger Mensch ein sehr tat­kräf­ti­ges Mo­tiv, stell­te Jo­han­na für sich fest.

Um wel­chen Mes­ser­typ es sich han­del­te, soll­te die Spu­ren­si­che­rung her­aus­fin­den. Auf je­den Fall war es kein ge­wöhn­li­ches Kü­chen­mes­ser und auch kein Klapp­mes­ser, wie es die Ju­gend­li­chen, die re­gel­mä­ßig am Sie­ge­ner Haupt­bahn­hof rum­lun­ger­ten, ger­ne bei sich tru­gen.

Jo­han­na muss­te an letz­ten Juni den­ken, als Da­ni­el mit ei­ner Stich­wun­de im Bauch in ih­ren Ar­men ge­le­gen und sie ver­zwei­felt auf die Sa­ni­tä­ter ge­war­tet hat­te. Für Da­ni­el war der Mes­ser­stich glü­ck­li­cher­wei­se an­ders aus­ge­gan­gen, als für die arme Frau, die da vor ih­nen auf dem Bo­den lag.

Das Ge­sicht der Braut sah selt­sam fried­lich aus, was auf­grund der Um­stän­de sehr ab­s­trus wirk­te. Jo­han­na muss­te dem Drang wi­der­ste­hen, die Lei­che hier an Ort und Stel­le zu un­ter­su­chen. Sie muss­te auf die Spu­si war­ten und vor al­lem den Bräu­ti­gam hier weg­schaf­fen.

Jo­han­na zwang sich, den Blick von der Lei­che ab­zu­wen­den und schau­te sich um.

An die­sem Tat­ort passt et­was ganz und gar nicht zu­sam­men! Das spürt je­der, der vor die­sem selt­sa­men Sze­na­rio steht. Eine Kir­che, eine Braut, ein Braut­strauß – al­les Zei­chen für eine glü­ck­li­che Zu­kunft, dach­te sie.

Doch nun stan­den dort ein ent­setz­ter Pfar­rer, ein völ­lig auf­ge­lös­ter und ver­zwei­fel­ter Bräu­ti­gam mit sei­nem Trau­zeu­gen – Jo­han­na ver­mu­te­te das je­den­falls – und vier Be­am­te, die alle sicht­lich be­trof­fen wa­ren. Auch wenn sie und ihre Kol­le­gen schon Schlim­me­res ge­se­hen hat­ten, das Leid, das ein sol­cher Mord über die An­ge­hö­ri­gen brach­te, ließ hier nie­man­den kalt.

Es war mitt­ler­wei­le halb elf an ei­nem Sams­tag­abend im Au­gust als Jo­han­na zu den bei­den Män­nern in ih­ren schi­cken und doch so zer­knit­ter­ten An­zü­gen ging, wäh­rend Hol­ger den Pfar­rer über­nahm.

»Gu­ten Abend, ich bin Kri­mi­nal­o­ber­kom­mis­sa­rin Jo­han­na Daub«, stell­te sie sich vor. »Darf ich fra­gen, wer Sie sind?«

»Ich bin Jo­han­nes, der Freund und Trau­zeu­ge von Tom und Ju­dith ... zu­min­dest soll­te ich das wer­den«, sag­te der eine von den bei­den mit ei­nem trau­ri­gen Blick auf das Op­fer, das Ju­dith zu hei­ßen schien.

Jo­han­nes schien Jo­han­nas fra­gen­den Blick auf den Bräu­ti­gam zu re­gis­trie­ren und ant­wor­te­te an sei­ner statt:

»Das ist Tom, Tom Hein­bach. Die bei­den woll­ten heu­te Nach­mit­tag hier in der Kir­che hei­ra­ten.«

Jo­han­na hat­te mitt­ler­wei­le ge­nug Be­rufs­er­fah­rung, um zu wis­sen, dass sie an die­sem Abend kei­nen Ton mehr aus dem zu­künf­ti­gen Ehe­mann her­aus­be­kom­men wür­de und ent­schied sich da­für, lie­ber des­sen bes­ten Freund zu be­fra­gen.

Vor­her aber zi­tier­te sie einen Strei­fen­be­am­ten her­bei und bat ihn, den Not­a­rzt zu ru­fen und sich bis zu des­sen An­kunft um Herrn Hein­bach zu küm­mern.

»Die Spu­ren­si­che­rung ist un­ter­wegs?«, frag­te Jo­han­na ge­ra­de ih­ren Kol­le­gen, als plötz­lich aus der Kir­che lau­te Or­gel­mu­sik zu ih­nen nach drau­ßen klang. Jo­han­na glaub­te das Lied zu er­ken­nen:

 

Gro­ßer Gott, wir lo­ben dich!

5.

 

»Der Hein­bach war es nicht! Ganz be­stimmt nicht!«

»Und war­um nicht? Weil es der Bräu­ti­gam ein­fach nicht sein kann? Du weißt doch, dass Ei­fer­sucht als Tat­mo­tiv auf der Lis­te ganz oben steht.«

»Ja, das weiß ich ...«, gab Jo­han­na zu. Eine lo­gi­sche Er­klä­rung hat­te sie nicht. Aber sie war sich si­cher, dass der Ehe­mann des Op­fers nichts mit dem Mord an sei­ner Frau zu tun hat­te.

»Dann neh­me ich an, dass du das Ali­bi von Hein­bach über­prü­fen und auch das des bes­ten Freun­des über­neh­men willst? Wie hieß er noch­mal?«

»War­te mal. Der Vor­na­me war aus­ge­spro­chen wohl­klin­gend, doch wie hieß er noch gleich mit Nach­na­men?«, such­te Jo­han­na in ih­ren Un­ter­la­gen. »Ah, hier ist er ja: Jo­han­nes, Jo­han­nes Rink«, ant­wor­te­te Jo­han­na und reich­te ih­rem Kol­le­gen grin­send einen Zet­tel mit des­sen Han­dy­num­mer rü­ber.

»Han­ni und Han­nes, na klas­se«, war Hol­gers we­nig hilf­rei­che Be­mer­kung.

 

Jo­han­na muss­te dar­an den­ken, wie sie ges­tern ne­ben Jo­han­nes Rink auf den Stu­fen zum Ein­gang zur Haard­ter Kir­che ge­ses­sen und ver­sucht hat­te, mit ihm den Tag zu re­kon­stru­ie­ren. Al­ler­dings war auch er zu er­schüt­tert ge­we­sen, so­dass sie be­schlos­sen hat­te, ihm eine Nacht zur Er­ho­lung zu ge­ben und ihn für heu­te auf die Wa­che zu be­stel­len.

Da­ni­el wird sich nicht freu­en, dass es wie­der kei­nen ge­mein­sa­men Sonn­tag ge­ben wird, dach­te Jo­han­na. Aber bes­ser, er be­kommt jetzt schon mit, wie mein Ar­beit­s­all­tag aus­sieht und kann es sich noch an­ders über­le­gen, be­vor ich ir­gend­wann bei ihm ein­ge­zo­gen bin und es ihm dann zu viel mit mei­ner Ar­beit wird.

Spät am Abend war ges­tern die Spu­ren­si­che­rung ge­mein­sam mit Doc Kess­ler, dem Rechts­me­di­zi­ner, ein­ge­trof­fen. Jo­han­na moch­te den Doc. Er war ein bo­den­stän­di­ger, net­ter, stäm­mi­ger Kerl, den man eher mit ei­nem Ted­dy-bä­ren, statt mit je­man­dem, der an Lei­chen schnib­belt, ver­glei­chen wür­de. Wie er mit sei­nen gro­ßen Pran­ken ein zier­li­ches Skal­pell hal­ten konn­te, war ihr ein Rät­sel.

Am liebs­ten aber war Jo­han­na die ehr­li­che und un­ver­hoh­le­ne Art, mit der Kess­ler das Le­ben und den Tod be­trach­te­te.      »Wel­ches Arsch­loch macht denn so was? Da hat wohl je­mand nicht ver­kraf­tet, dass er nicht selbst in die Rol­le des Bräu­ti­gams schlüp­fen konn­te«, klär­te er Jo­han­na über sei­ne The­o­rie auf.

Vor­sich­tig schob er das Braut­kleid hoch, um das Op­fer auf To­ten­fle­cken hin zu un­ter­su­chen und die Tem­pe­ra­tur zu mes­sen. Wei­ße Strümp­fe, die von ei­nem mit Spit­ze be­setz­ten Gür­tel um die Tail­le ge­hal­ten wur­den, ka­men zum Vor­schein, eben­so ein blau­es Strumpf­band.

Die­ses Bild ließ sie seit Sams­tag­abend nicht mehr los. Der Ge­dan­ke war grau­sam, dass eine Frau, die frisch in ihre Zu­kunft star­ten woll­te, die die Lie­be ih­res Le­bens ge-fun­den und sich für ih­ren Liebs­ten zu­recht­ge­macht hat­te, bru­tal er­mor­det wor­den war.

Die Un­ter­wä­sche und das Strumpf­band hat­te sie für ih­ren Bräu­ti­gam an­ge­zo­gen und nicht für sie, ihre Kol­le­gen oder Doc Kess­ler. Doch die De­mü­ti­gung konn­te ihr nicht er­spart blei­ben. Je frü­her der Doc die Da­ten zur Fest­stel­lung des To­des­zeit­punk­tes hat­te, umso bes­ser.

Da Kess­ler da­für be­kannt war, Ge­sprä­che mit sei­nen Op­fern zu füh­ren – wor­über sich Hol­ger stets lus­tig mach­te – hielt sich Jo­han­na dicht in sei­ner Nähe auf. Viel­leicht konn­te sie so et­was auf­schnap­pen, was ihr jetzt schon wei­ter­ha­lf, be­vor sie end­los lang auf sei­nen Be­richt war­ten muss­te.

»Kaum To­ten­fle­cken, also bist du ar­mes Ding ver­blu­tet … und das nicht hier vor der Kir­che«, hör­te sie den Me­di­zi­ner vor sich hin mur­meln. »Dei­ne Ge­sichts­mus­keln sind er­schlafft, des­halb siehst du so fried­lich aus, als wür­dest du schla­fen und bist da­her schon län­ger als acht Stun­den tot. Doch wo bist du in der Zwi­schen­zeit ge­we­sen?«

Vor­sich­tig dreh­te der Rechts­me­di­zi­ner die Lei­che von der einen auf die an­de­re Sei­te. Jo­han­na sah so­fort an sei­nem Blick, dass et­was nicht stimm­te.

»Frau Daub, kom­men Sie mal her. Das müs­sen Sie sich an­se­hen!«

Jo­han­na hat­te kei­ne Eile, sich Kess­lers Ent­de­ckung anzu­se­hen. Sie wuss­te selbst nicht, war­um sie die­ser Mord­fall so per­sön­lich zu tref­fen schien, aber sie hat­te Angst vor dem, was der Dok­tor ihr zu zei­gen hat­te.

Sie ging um die Lei­che her­um und knie­te sich ne­ben ihn.

»Hier, se­hen Sie das?«

 

In den Nacken von Ju­dith Hein­bach war eine Kro­ne tä­to­wiert wor­den.

6.

 

Das Büro von Kri­mi­nal­haupt­kom­mis­sar Hol­ger Stein be­fand sich di­rekt ne­ben dem von Jo­han­na und zeich­ne­te sich aus durch vie­le Sta­pel un­er­le­dig­ter Ak­ten, eine gro­ße Glas­schei­be, durch die sie bei­de stets Blick­kon­takt hal­ten konn­ten und durch vie­le Sü­ßig­kei­tenkrü­mel auf sei­nem Schreib­tisch.

»Ok, dann lese ich mir mal das Ali­bi von die­sem Han­nes Rink durch. Du hast es doch be­stimmt schon über­prüft, oder?«, riss er Jo­han­na aus ih­ren Ge­dan­ken, ging in sein Büro, schloss die Tür hin­ter sich und zog die La­mel­len vor der Schei­be zu.

Was soll das denn?, wun­der­te sich Jo­han­na. Warum darf ich nicht se­hen, was Hol­ger in sei­nem Büro treibt?

Sie war ge­ra­de da­bei, sich die Be­rich­te und Zeu­ge­n­aus­sa­gen durch­zu­le­sen, die sie in den letz­ten drei Ta­gen auf den Schreib­tisch be­kom­men hat­te, als plötz­lich ihr Chef Achen­bach in der Tür stand.

»Was ist denn mit Stein los?«, frag­te er ir­ri­tiert und deu­te­te mit sei­nem Kopf auf die zu­ge­zo­ge­ne Fens­ter­schei­be.

Na toll! Dan­ke, Hol­ger! Hof­fent­lich klappt mein Ab-len­kungs­ma­nö­ver ...

»Ach, das ist eine Über­ra­schung. Herr Gass­mann geht doch nächs­ten Mo­nat in Pen­si­on, und Sie wis­sen ja, wie das ist. Bei der Po­li­zei bleibt eine Über­ra­schung nicht lan­ge eine Über­ra­schung. Zu­mal sich fast alle Kol­le­gen in un­se­rem Stock­werk bei mir im Büro be­die­nen«, er­wi­der­te Jo­han­na schlag­fer­tig und deu­te­te ih­rer­seits mit dem Kopf auf die Kaf­fee­ma­schi­ne, die in ih­rem Büro stand.

Ich muss Hol­ger un­be­dingt dar­auf an­spre­chen, war­um er sich in der letz­ten Zeit so selt­sam ver­hält. Das geht so nicht, er bringt mich noch in Teu­fels Kü­che.

»Eine Über­ra­schung also? Schön, schön! Wie sieht es denn mit un­se­rem Fall aus? Eine er­mor­de­te Braut wäre ein ge­fun­de­nes Fres­sen für die Pres­se. Ich bin heil­froh, dass sie noch kei­nen Wind von der gan­zen Sa­che be­kom­men hat. Ich hof­fe, das bleibt auch so. Und falls Sie bei­de Hil­fe brau­chen, mel­den Sie sich! Ich möch­te den Fall auf kei­nen Fall in an­de­re Hän­de ab­ge­ben müs­sen.«

»Was soll das denn hei­ßen? In wel­che Hän­de?«, hak­te Jo­han­na be­un­ru­higt nach. Doch just in dem Mo­ment klin­gel­te Achen­bachs Han­dy und er war ge­nau­so schnell aus ih­rem Büro ge­rauscht, wie er her­ein­ge­kom­men war.

 

Jo­han­na saß an ih­rem Schreib­tisch und starr­te auf die sonst im­mer ge­öff­ne­te Fens­ter­schei­be. Sie hat­ten kei­ne Ge­heim­nis­se vor­ein­an­der – zu­min­dest bis jetzt nicht. Die La­mel­len wur­den höchs­tens zum Spaß, oder wenn sie sich mal rich­tig ge­strit­ten hat­ten, zu­ge­zo­gen. Das hier war selt­sam. Sie steck­ten mit­ten in ei­nem Mord­fall und Hol­ger zog sich zu­rück? Das hat­te sie in all den Jah­ren noch nicht er­lebt.

 

Ir­gen­d­et­was stimmt hier nicht – so ganz und gar nicht. Und ich muss drin­gend raus­fin­den, was es ist!

7.

 

Si­byl­le Hen­richs lieb­te ih­ren Job. Sie lieb­te die Fa­r­ben­pracht, die die Na­tur her­vor­brach­te und die sich in ih­rem klei­nen La­den an der Köl­ner Stra­ße in Neun­kir­chen frei ent­fal­ten durf­te. Am liebs­ten wa­ren ihr die Kun­den, die ge­nau wuss­ten, wel­che Blu­men sie in ihre Sträu­ße ge­bun­den ha­ben woll­ten. Die meis­ten al­ler­dings ka­men zu ihr in den La­den hin­ein und sag­ten: »Bit­te ir­gend­ei­nen bun­ten Strauß für 15 Euro.«

Die­se Dame aber, für die sie heu­te un­ter­wegs war, wuss­te ge­nau, was sie woll­te. Sie woll­te einen klas­si­schen Braut­strauß mit ro­ten Ro­sen und un­be­dingt rund ge­bun­den. Nicht zu groß, da­mit er das Kleid nicht zu sehr ver­deck­te und ger­ne mit ei­ner klei­nen Ran­ke, die sich schlicht um den Strauß le­gen und dann nach un­ten fal­len soll­te.

Si­byl­le war so be­ein­druckt ge­we­sen, dass sie so­gar zu­ge­sagt hat­te, Lin­da Pieck den Braut­strauß an die­sem Frei­tag­mor­gen nach Hau­se zu lie­fern.

Jetzt fuhr sie in ih­rem Re­nault Kan­goo die Köl­ner Stra­ße Rich­tung Sal­chen­dorf ent­lang, ein Orts­teil, der zur Ge­mein­de Neun­kir­chen ge­hör­te, um dann links in den Gäh­ne­weg ab­zu­bie­gen. Ein klei­nes Ein­fa­mi­li­en­haus in der Fa­sa­nen­stra­ße, ganz in der Nähe der Grund­schu­le, war ihr Ziel. Sie bog rechts auf den Van-Kings­ber­gen-Ring ab, um nach gut ein­hun­dert Me­tern ihr Ziel zu er­rei­chen.

Lang­sam fuhr sie an der Grund­schu­le vor­bei. Es muss­te ge­ra­de gro­ße Pau­se sein, denn auf dem Schul­hof tum­mel­ten sich vie­le Kin­der. Wäh­rend Si­byl­le an ihre ei­ge­ne Grund­schul­zeit vor vie­len Jah­ren zu­rück­dach­te, schoss plötz­lich ein Auto durch die schma­le Stra­ße an ihr vor­bei, so­dass sie vor Schreck das Lenk­rad her­um­riss und fast rechts ge­gen eine Müll­ton­ne ge­fah­ren wäre, die je­mand zur Ab­ho­lung an die Stra­ße ge­stellt hat­te.

Kopf­schüt­telnd fuhr sie wei­ter, bis sie die Lie­fer­adres­se er­reicht hat­te, hol­te den Strauß aus dem Kof­fer­raum und ging durch den ge­pfleg­ten Vor­gar­ten zur Haus­tür. Ver­wun­dert be­merk­te sie, dass die Tür of­fen stand.

Si­byl­le klin­gel­te, doch nie­mand kam zur Tür. Sie klin­gel­te ein zwei­tes Mal – wie­der nichts.

Ich kann doch nicht ein­fach so ins Haus ge­hen. Nein, das macht man nicht. Also ging sie die Trep­pe links am Haus hin­un­ter und stand ru­fend auf ei­ner klei­nen Ter­ras­se, die durch eine Ro­sen­he­cke ge­schützt wur­de und auf der ein klei­ner Sand­kas­ten stand.

»Frau Pieck, sind Sie da?« Kei­ne Ant­wort! »Hal­lo, ist je­mand zu Hau­se?«

Ver­un­si­chert ging sie die Trep­pe wie­der nach oben und stand un­ent­schlos­sen vor der halb­ge­öff­ne­ten Tür, als ihr das Auto wie­der ein­fiel, das an ihr vor­bei­ge­schos­sen war. Mit ei­nem un­gu­ten Ge­fühl ging sie schließ­lich ins Haus.

»Hal­lo, ist je­mand zu Hau­se?«, ver­such­te sie es er­neut. Doch kei­ne Re­ak­ti­on.

Rat­los stand Si­byl­le Hen­richs im Flur, als sie sich mu­tig ent­schied, im Haus auf die Su­che nach Frau Pieck zu ge­hen. Als sie die Tür zur Kü­che öff­ne­te, war die­se zwar leer, doch das Bild, dass sich ihr kur­ze Zeit spä­ter bot, wür­de die Blu­men­händ­le­rin wohl ihr Le­ben lang nicht ver­ges­sen wer­den.

Auf der The­ke in der Mit­te der Kü­che stan­den zwei vol­le Was­ser­glä­ser, die Tür zum Bal­kon stand of­fen. Lang­sam ging sie um die The­ke.

 

Der Blu­men­s­trauß fiel ihr vor Schreck aus der Hand, als sie die gro­ße Blut­la­che auf dem Bo­den sah, in die der Strauß, wie ein klei­nes Kunst­werk, mit sei­nen ro­ten Ro­sen dra­piert wor­den zu sein schien.

 

Doch wo war Lin­da Pieck?

8.

 

Frei­tag­abend in Neun­kir­chen – was für ein Alb­traum. Woll­te man we­nigs­tens et­was Spaß ha­ben, dann muss­te man sich schon auf den Weg nach Sie­gen in die In­nen­stadt ma­chen. Das Pro­blem war nur, dass der letz­te Bus schon kurz vor 23 Uhr zu­rück in die Hei­mat fuhr und No­ahs El­tern sich schlicht­weg wei­ger­ten, ihn nach zwei Uhr mor­gens in Sie­gen ab­zu­ho­len.

Heu­te aber war sein Glücks­tag. Finn fei­er­te sei­nen acht­zehn­ten Ge­burts­tag und hat­te zu ei­ner gro­ßen Fete ins Sport­heim sei­nes Fuß­ball­ver­eins ein­ge­la­den. Von dort konn­te er wun­der­bar zu Fuß nach Hau­se lau­fen, wenn ihm nicht das Glei­che pas­sier­te, wie nach der letz­ten Fete vor zwei Mo­na­ten, als er sich auf dem Heim­weg alle fünf Mi­nu­ten hin­set­zen muss­te, nach­dem er sich in di­ver­se Vor­gär­ten über­ge­ben oder hin­ein­ge­pin­kelt hat­te.

Freun­de sei­ner El­tern hat­ten ihn da­bei er­wi­scht und nichts Bes­se­res zu tun ge­habt, als sei­ne El­tern dar­über zu in­for­mie­ren. Noah hat­te es schon ge­wusst, als er mit di­ckem Kopf im Bett ge­le­gen und mor­gens um neun Uhr das Te­le­fon bei ih­nen zu Hau­se ge­klin­gelt hat­te.

 

Noah hat­te nicht ge­ahnt, dass Finn auch Lena zu sei­nem Ge­burts­tag ein­ge­la­den hat­te. Er moch­te Lena. Sie war so na­tür­lich, im­mer gut ge­launt und schien über­haupt kein Be­dürf­nis zu ha­ben, im Mit­tel­punkt zu ste­hen. Und ge­nau das mach­te sie so in­ter­es­sant.

Als sie ihn an die­sem Abend frag­te, ob er sich vor­stel­len kön­ne, sie nach Hau­se zu be­glei­ten, konn­te Noah sein Glück kaum fas­sen. Es war zwar erst 22 Uhr, aber Lena hat­te ver­spro­chen, um halb elf zu Hau­se zu sein, um auf ih­ren jün­ge­ren Bru­der auf­zu­pas­sen, weil ihre El­tern auf eine Hoch­zeit im Bür­ger­haus in Bur­bach ein­ge­la­den wa­ren. Für Noah war das völ­lig in Ord­nung. Er konn­te spä­ter noch im­mer zu­rück­kom­men und wei­ter­fei­ern. Aber die­se Chan­ce woll­te er sich auf gar kei­nen Fall ent­ge­hen las­sen.

Also zo­gen die bei­den los und lie­fen vom Sport­heim, durch die klei­nen Sei­ten­stra­ßen mit den schön ge­pfleg­ten Vor­gär­ten, über die Bahn­hof­s­tra­ße, bis sie schließ­lich vor dem gro­ßen Ge­bäu­de der Stadt­bank Bur­bach-Neun­kir­chen stan­den. Lin­ke Hand war das Rat­haus. Durch die Mit­te des Ge­bäu­des führ­te ein Fuß­weg, durch den man in den Hin­ter­hof des Rat­hau­ses und von dort wie­der auf die Haupt­stra­ße ge­lan­gen konn­te. Sie über­leg­ten kurz, ob sie die Ab­kür­zung wirk­lich neh­men soll­ten. Lena war da­für, Noah nicht.

An der Kreu­zung zur Bahn­hof­s­tra­ße hat­ten sich vor­hin zu­fäl­lig ihre Hän­de be­rührt und er war nicht ge­willt, ihre Hand so schnell wie­der los­zu­las­sen. Er wäre auch mit ihr bis nach Sie­gen ge­lau­fen, wenn sie dort ge­wohnt hät­te. Den­noch wil­lig­te er schwe­ren Her­zens ein, den kür­ze­ren Weg zu neh­men. Die bei­den lie­fen den Fuß­weg ent­lang ge­nau auf das Ge­bäu­de des Bür­ger­bü­ros zu, das auch das Neun­kir­che­n­er Stan­des­amt be­her­berg­te.

Auf Höhe der ans Bür­ger­haus an­ge­schlos­se­nen Bi­blio­thek zer­quetsch­te Lena plötz­lich fast No­ahs Hand und blieb ste­hen.

»Da vor­ne sitzt je­mand«, flüs­ter­te sie ängst­lich.

Jetzt sah Noah es auch. Vor dem Ein­gang der Bi­blio­thek schien es sich je­mand ge­müt­lich ge­macht zu ha­ben.

»Komm, lass uns schnell wei­ter­ge­hen!«, bat Lena ängst­lich.

Auch Noah hat­te kei­ne Lust auf Är­ger. Wer wuss­te schon, wer der Kerl war. Wahr­schein­lich war er be­trun­ken und mach­te hier ein Ni­cke­r­chen. Am bes­ten, sie lie­ßen ihn ein­fach in Ruhe. Der Ge­dan­ke um­zu­keh­ren war für ihn kei­ne Op­ti­on. Er woll­te ein­deu­tig lie­ber als Le­n­as Be­schüt­zer auf­tre­ten und kei­nes­falls als Weich­ei. Sie wa­ren schon fast an der Per­son vor­bei, als Lena ab­rupt an­fing zu schrei­en. Sie schrie ..., und schrie ..., und schrie. Sie hör­te gar nicht mehr auf.

 

Vor der Tür zur Bi­blio­thek saß Lin­da Pieck, die Freun­din ih­rer El­tern, mit ei­nem Mes­ser in der Brust.

9.

 

Da­ni­el mach­te sich nach ge­ta­ner Ar­beit auf den Heim­weg von der Sie­ge­ner In­nen­stadt über die HTS, die Um-ge­hungs­stra­ße, die mitt­ler­wei­le vie­le Ort­s­chaf­ten im Sie­ger­land auf schnel­le Wei­se mit­ein­an­der ver­band, bis nach Dreis-Tie­fen­bach und stand drei Ki­lo­me­ter wei­ter, wie fast je­den Abend, in Net­phen im Stau.

Die Bau­stel­le, die ihm den di­rek­ten Weg zu sei­nem ge­müt­li­chen Zu­hau­se in Brau­ers­dorf ver­sperr­te, be­stand nun schon ei­ni­ge Mo­na­te, so­dass er ge­zwun­gen war, Rich­tung Eschen­bach, über den Kreuz­berg, durch ein klei­nes Wohn­ge­biet zu fah­ren. Ob es die net­ten Ein­fa­mi­li­en­häu­ser wa­ren, die ihn auf den Ge­dan­ken ge­bracht hat­ten, den Vor­stoß bei Jo­han­na zu wa­gen?

Da­ni­el hat­te sich den Abend bei Hol­ger und Mar­ti­na wirk­lich an­ders vor­ge­stellt. Er hat­te sei­nen Hau­s­tür­sch­lüs­sel nach­ma­chen las­sen, hat­te so­gar schon sei­nen Klei­der­schrank neu sor­tiert, um Platz für Jo­han­nas Sa­chen zu schaf­fen. Er hat­te drei Mal mit Mar­ti­na te­le­fo­niert, da­mit sie auch auf je­den Fall an der rich­ti­gen Stel­le ih­ren Hus­te­n­an­fall be­kommt. Er hat­te sich die Mühe ge­macht und das Mo­no­po­ly­spiel ma­ni­pu­liert, in dem er auf der Ar­beit eine Er­eig­nis­kar­te auf ver­stärk­tes Pa­pier ge­druckt und dann aus­ge­schnit­ten hat­te, weil Jo­han­na nicht mer­ken soll­te, dass es sich nicht um eine ori­gi­na­le Er­eig­nis­kar­te han­del­te und es für sie eine Über­ra­schung blieb, wenn sie die Kar­te um­dreh­te.

Na, das hat ja bes­tens ge­klappt. Wie lan­ge ist das jetzt her? Ach ja, eine gute Wo­che und zwei Mor­de spä­ter ..., dach­te Da­ni­el ent­täuscht. Ja, er hat­te sich den Abend, und vor al­lem Jo­han­nas Re­ak­ti­on, wirk­lich an­ders vor­ge­stellt.

 

End­lich zu Hau­se an­ge­kom­men, schloss er die Tür zu sei­ner Woh­nung auf und sah, dass Jo­han­na es sich bei ihm mal wie­der ge­müt­lich ge­macht hat­te. Rich­tig ein­zie­hen woll­te sie im Mo­ment bei ihm noch nicht. Ab und zu eine Nacht in Brau­ers­dorf zu ver­brin­gen, schien ihr völ­lig zu ge­nü­gen.

»Die Mord­fäl­le, du weißt schon ...«, war ihre kur­ze Er­klä­rung ge­we­sen. Und er hat­te sich äu­ße­r­lich da­mit zu­frie­den­ge­ge­ben und ver­sucht, sich sei­ne Ent­täu­schung nicht an­mer­ken zu las­sen.

Wenn er jetzt al­ler­dings die­ses Cha­os be­trach­te­te, das sei­ne Freun­din in sei­ner Woh­nung ver­an­stal­tet hat­te, war er fast ge­neigt, sein An­ge­bot zu­rück­zu­neh­men.

Über­all la­gen Pa­pie­re auf dem Bo­den, Ak­ten la­gen auf dem Sofa und so­gar ne­ben der Spü­le. Selbst auf der Gäs­te­toi­let­te hat­te er ges­tern Fo­tos des letz­ten Ta­t­orts ge­fun­den. So ging das nicht!

»Jo? Wo steckst du?«, rief er in sei­ne ei­ge­ne Woh­nung hin­ein. »Jo­han­na!«

Viel­leicht hät­te ich mei­ne Woh­nung doch nicht so nah an der Ober­nau­tal­sper­re kau­fen sol­len. Ist doch klar, dass die Ver­su­chung für eine Po­li­zis­tin viel zu groß ist, wenn die eine Al­ter­na­ti­ve Auf­räu­men und die an­de­re Jog­gen ge­hen heißt, über­leg­te er schmun­zelnd.

 

Nach­dem er die Pa­pie­re, Fo­tos und Ak­ten or­dent­lich auf ei­nem Sta­pel zu­sam­men­ge­legt hat­te, öff­ne­te sich die Woh­nungs­tür und her­ein kam eine ver­schwitz­te Jo­han­na mit hoch­ro­tem Kopf. Ihre lan­gen ro­ten Lo­cken hat­te sie zu ei­nem ho­hen Pfer­de­schwanz zu­sam­men­ge­bun­den, ihr Top und die enge Lauf­ho­se be­ton­ten ihre durch­trai­nier­te Fi­gur.

Ok, das ist zwar nicht DER Grund, war­um ich mit ihr zu­sam­men­zie­hen woll­te, aber de­fi­ni­tiv ei­ner da­von, dach­te er, stand vom Sofa auf, nahm die ver­dutz­te Jo­han­na an der Hand und zog sie hin­ter sich her ins Ba­de­zim­mer un­ter die Du­sche.

»Für heu­te hat­te ich jetzt aber Sport ge­nug«, lä­chel­te sie ihn eine Vier­tel­stun­de spä­ter aus ih­ren sma­ragd­grü­nen Au­gen an. Et­was ver­le­gen lä­chel­te er zu­rück. Noch im­mer schaff­te sie es, ihn mit ei­nem klei­nen Satz in Ver­le­gen­heit zu brin­gen.

»Du bist echt gol­dig, wenn du ver­le­gen wirst. Du be­kommst dann im­mer dei­ne klei­nen Grüb­chen auf die Wan­ge.«

»Jetzt ist aber gut«, wech­sel­te Da­ni­el das The­ma. »Sag du mir lie­ber, wie du dir den Abend heu­te noch vor­ge­stellt hast. Bleibst du heu­te Nacht hier, oder fährst du spä­ter wie­der nach Hau­se?«

»Hm, ich dach­te ei­gent­lich, ich stu­die­re noch et­was mei­ne Ak­ten, wäh­rend du kochst«, sag­te sie mit ei­nem Au­gen­auf­schlag, dem Da­ni­el un­mög­lich wi­der­ste­hen konn­te. »Mor­gen habe ich Spät­dienst, da ge­hört die­se Nacht ganz uns.«

Da­ni­el ging ums Sofa her­um und setz­te sich ne­ben sie.

»Ach ne, dass ich auch einen Job habe, ist dir aber schon klar, oder?«

»Na­tür­lich, Herr Lei­ter der Kre­di­t­ab­tei­lung. Wenn Sie zu müde sind, ver­schie­ben wir das ger­ne auf ein an­de­res Mal«, zog sie ihn auf.

»Hal­lo? Bei dem Vor­ge­schmack von eben wer­de ich na­tür­lich al­les ge­ben, um für die Dame ein wun­der­vol­les Mahl zu kre­i­e­ren«, gab er zu­rück, drück­te ihr einen di­cken Kuss auf ih­ren Hals, stand auf und mach­te sich dar­an, sei­nen Kühl­schrank nach brauch­ba­ren Le­bens­mit­teln zu durch­fors­ten.

Die­ses klei­ne süße Biest. Jetzt hat sie mich schon wie­der ma­ni­pu­liert. Wenn ich nicht auf­pas­se, ste­he ich bald ganz schön un­ter ih­rer Fuch­tel, dach­te er, wäh­rend er glü­ck­lich die Kar­tof­feln schäl­te.

10.

 

Hol­ger war dank­bar. Dank­bar, dass Mar­ti­na als Kran­ken­schwes­ter im letz­ten Mo­nat vie­le Nacht­schich­ten über­nom­men hat­te. Der Au­gust al­ler­dings schien ein Mo­nat zu sein, an dem sie abends über­wie­gend zu Hau­se war. Hol­ger er­trug das nicht. Sein schlech­tes Ge­wis­sen trieb ihn um. Dass er sich über die zwei Mord­fäl­le in Wei­denau und Neun­kir­chen freu­te, wäre wohl et­was zu viel ge­sagt, aber ir­gend­wie stimm­te es schon. So hat­te er eine gute Aus­re­de, abends bis spät auf der Ar­beit zu blei­ben.

Wäh­rend er die Be­rich­te und Zeu­ge­n­aus­sa­gen las, hat­te er im­mer mehr of­fe­ne Fra­gen. Zwei Mor­de in­ner­halb ei­ner Wo­che. Bei­des Bräu­te, doch bei­de aus völ­lig un­ter­schied­li­chen Ecken des Sie­ger­lan­des. Bis­her hat­ten sie auch noch kei­ne Ver­bin­dung zwi­schen den bei­den Op­fern oder de­ren Ehe­män­nern fest­stel­len kön­nen. Wäh­rend Ju­dith Hein­bach schon stan­des­amt­lich ver­hei­ra­tet und kurz vor der kirch­li­chen Trau­ung er­mor­det wor­den war, hat­te Lin­da Pieck aus Neun­kir­chen den Stan­des­amt­ter­min noch vor sich ge­habt. Die eine wur­de vor ei­ner Kir­che ab­ge­legt, die an­de­re vor der Bi­blio­thek. Die Neun­kir­che­n­er leb­ten in ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus und hat­ten be­reits ein Kind, das Paar aus Wei­denau wohn­te in ei­ner klei­nen Miet­woh­nung und war kin­der­los. Die eine war drei­und­drei­ßig, die an­de­re schon An­fang vier­zig. Selbst der Wo­chen­tag der Tat war ein an­de­rer ge­we­sen. In Wei­denau ein Sams­tag, in Neun­kir­chen ein Frei­tag.

Auch das Auto, das die Blu­men­händ­le­rin, Frau Hen­richs, ih­nen be­schrie­ben hat­te, war kein wert­vol­ler Hin­weis. Ein hel­ler Klein­wa­gen ... Mehr war aus der ver­stör­ten Frau nicht her­aus­zu­be­kom­men ge­we­sen.

Bis auf die Tat­sa­che, dass bei­de Op­fer Bräu­te und mit ei­ner selt­sa­men Kro­ne im Nacken tä­to­wiert wor­den wa­ren, gab es auf den ers­ten Blick kei­ne wei­te­ren Ge­mein­sam­kei­ten – bis auf das Mes­ser. Es schien in bei­den Fäl­len die glei­che Mar­ke ge­we­sen zu sein, doch end­gül­tig wuss­ten sie das erst, so­bald der Be­richt aus der Rechts­me­di­zin bei ih­nen ein­ge­trof­fen war.

 

Hol­ger ver­spür­te kei­ner­lei Drang, die Ak­ten Ak­ten sein zu las­sen und nach Hau­se zu fah­ren. Also pack­te er al­les Wich­ti­ge in sei­ne brau­ne Ak­ten­ta­sche, die ihm Mar­ti­na da­mals zu sei­nem fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­gen Dienst­ju­bi­lä­um ge­schenkt hat­te, und mach­te sich auf den Weg zu sei­ner Part­ne­rin in Busch­hüt­ten, um sich mit ihr über die Mor­de aus­zu­t­au­schen.

Wie er sie kann­te, brann­te sie si­cher ge­nau­so dar­auf, die bei­den Fäl­le zu lö­sen, wie er. Schließ­lich hat­te ih­nen ihr Chef an­ge­droht, Hil­fe der Spe­zi­a­lis­ten aus Ha­gen an­zu­for­dern, soll­ten sie kei­nen Tä­ter prä­sen­tie­ren kön­nen, be­vor die Pres­se da­von er­fuhr.

 

Jo­han­na wohn­te in ei­ner klei­nen, aber ge­müt­li­chen Woh­nung in der Nähe des Busch­hüt­te­ner Frei­bads. Vor­bei an der Grund­schu­le, den Ten­nis­plät­zen, ei­nem Aldi Markt und ei­ner Stadt­bank-Fi­li­a­le er­reich­te er schließ­lich das alte, rote Back­stein­haus, vor dem er zu sei­ner Über­ra­schung kei­nen schwa­r­zen Golf GTI vor­fand.

Jo­han­na lieb­te schnel­le Au­tos. Er woll­te nicht wis­sen, wie vie­le PS ihr Schätz­chen un­ter der Hau­be hat­te. Ein­mal hat­te er mit­er­le­ben müs­sen, wie sie auf der Au­to­bahn mit 120 Stun­den­ki­lo­me­tern durch eine Ret­tungs­gas­se ge­rast war.

Wo steck­te sie? Jo­han­na war sei­nes Wis­sens nach abends im­mer zu Hau­se, nach­dem sie ihre Trai­nings­ein­heit ab­sol­viert hat­te. Zu­min­dest be­vor Da­ni­el ins Spiel kam. Wie oft hat­te sie ihm die Oh­ren voll­ge­jam­mert, dass sie trotz der zwölf Jah­re, die sie mitt­ler­wei­le hier im Sie­ger­land ar­bei­te­te, noch im­mer kei­ne bes­te Freun­din ge­fun­den hat­te, mit der sie Pfer­de steh­len und so rich­ti­ge Mä­del­s­aben­de mit Sekt und Top­mo­dels fei­ern konn­te.

»Han­ni­lein, so ken­ne ich dich ja gar nicht«, hat­te er sich lus­tig ge­macht. »Also bist du ei­gent­lich so eine ver­kapp­te Tus­si, die sich die Nä­gel la­ckiert, mit Ver­gnü­gen in der Gala liest und sich mit ih­rer Freun­din zu­sam­men eine Mas­ke ins Ge­sicht schmiert?«, hat­te er sie be­lus­tigt ge­fragt.

Die Ant­wort sei­ner Part­ne­rin war et­was an­ders aus­ge­fal­len, als er er­war­tet hat­te: »Bis auf die Freun­din stimmt das wohl so.«

 

Herr, Gott im Him­mel, lass sie bit­te nicht bei dem Ban­ken­fut­zi sein! dach­te er, als er nun ge­frus­tet über Ober­set­zen, Un­g­ling­hau­sen, Eck­manns­hau­sen, Öl­gers­hau­sen und Net­phen nach Brau­ers­dorf fuhr. Er wuss­te, dass er über die HTS schnel­ler ge­we­sen wäre, woll­te die Zeit aber nut­zen, sich eine gute Aus­re­de für die­sen un­an­ge­kün­dig­ten Abend­be­such zu über­le­gen.

End­lich in Brau­ers­dorf an­ge­kom­men, bog er in die Tal­sper­ren­sta­ße ab und stand zwei­hun­dert Me­ter wei­ter vor dem schi­cken Mehr­fa­mi­li­en­haus, in dem Da­ni­el Treu­de sei­ne Ei­gen­tums­woh­nung be­saß. Jo­han­nas Golf stand vor der zwei­ten Ga­ra­ge. Hol­ger nahm sei­ne Ak­ten­ta­sche un­ter den Arm und ging zum Haus.

Nach­dem er ge­klin­gelt und Da­ni­el ihm völ­lig ver­dutzt die Tür ge­öff­net hat­te, hör­te er sich selbst einen Satz sa­gen, den er sich auf der Hin­fahrt bei­lei­be nicht über­legt hat­te:

»Han­ni­lein, da bin ich! Gut, dass du mich an­ge­ru­fen hast.«

11.

 

»Gut, dass du mich an­ge­ru­fen hast? Sag mal, spinnst du?«, schimpf­te Jo­han­na, wäh­rend Da­ni­el au­ßer Hör­wei­te zum Kühl­schrank ging, um für Hol­ger ein Bier zu ho­len.

»Mir ist nichts Bes­se­res ein­ge­fal­len, tut mir leid.«

»Was machst du über­haupt hier? Hast du kein Zu­hau­se?«

Sie schien Hol­ger er­tappt zu ha­ben, denn er wich ihr mit sei­ner Ant­wort ein­deu­tig aus.

»Mir sind da noch ein paar wich­ti­ge Din­ge auf­ge­fal­len, die ich un­be­dingt mit dir be­spre­chen muss.«

»Und das kann nicht bis mor­gen war­ten?« So leicht las­se ich dich nicht vom Ha­ken. Nach zwei Bier­chen und die­sem hei­ßen Tag, wirst du mir gleich eh Rede und Ant­wort ste­hen, war­um du dich in der letz­ten Zeit so selt­sam ver­hältst.

Da­ni­el stell­te das Bier vor Hol­ger auf den Couch­tisch und setz­te sich ge­gen­über in den Ses­sel. Jo­han­na ver­such­te Blick­kon­takt zu ihm auf­zu­neh­men. Nach ei­ner Run­de Small­talk war es ihr dann auch end­lich ge­lun­gen, ihm mit den Au­gen ver­ste­hen zu ge­ben, dass er sie bei­de bit­te al­lei­ne las­sen sol­le.

Bit­te sei nicht böse. Ich hat­te mir den Abend auch et­was an­ders vor­ge­stellt, ver­such­te sie hin­ter­her­zu­schie­ben. Ob ihr das ge­lun­gen war, wuss­te sie al­ler­dings nicht.

Nach­dem Jo­han­na Da­ni­els Platz auf dem Ses­sel ge­gen­über von Hol­ger ein­ge­nom­men hat­te, for­der­te sie ih­ren Part­ner auf: »Na, dann schieß mal los!«

»Hey, es tut mir echt leid, dass ich dir den Abend ver­dor­ben habe, ehr­lich«, be­gann Hol­ger. Da­mit schien das Ka­pi­tel ‚ver­dor­be­ner Abend’ für ihn er­le­digt zu sein, denn er stieg di­rekt mit­ten ins The­ma ein.

»Ich ver­ste­he das ein­fach nicht. Wo bit­te lie­gen die Ge­mein­sam­kei­ten?«, schimpf­te Hol­ger. »Und wel­cher Ver­rück­te sucht sich aus­ge­rech­net Bräu­te als Op­fer aus?«

In die­sem Mo­ment wur­de Jo­han­na klar, dass auch Hol­ger die bei­den Mor­de mehr zu schaf­fen mach­ten, als ihr zu­vor be­wusst war. Es tat ihr gut zu wis­sen, dass Hol­ger ähn­lich ge­strickt war wie sie, auch wenn er sich be­müh­te, das nicht so of­fen zu zei­gen.

»Ich weiß es nicht. Al­ler­dings sind wir mit der Gäs­te­lis­te noch nicht ganz durch.«

»Du glaubst doch nicht ernst­haft, dass der Tä­ter auf der Gäs­te­lis­te steht, oder?«

»War­um nicht? Soll es al­les schon ge­ge­ben ha­ben.«

»Ha­ben denn die Rein­schmidts über­haupt vor­ge­habt, groß mit Gäs­ten zu fei­ern? Wenn ich das rich­tig ge­le­sen habe, hat­ten sie doch nur eine stan­des­amt­li­che Trau­ung ge­plant.«

»Ach, Hol­ger, du bist echt noch ei­ner der ganz al­ten Schu­le. Heut­zu­ta­ge hei­ra­ten im­mer we­ni­ger Paa­re kirch­lich. Vie­le zie­hen auch, für dich wahr­schein­lich un­vor­stell­bar, so­gar ohne Trau­schein zu­sam­men. Aber ja, um dei­ne Fra­ge zu be­ant­wor­ten, die Rein­schmidts hat­ten eine Fei­er im Bür­ger­haus in Bur­bach ge­plant«, klär­te Jo­han­na ihn auf. »Du hät­test das mal se­hen sol­len. Die Band war ge­ra­de da­bei, ihre Sa­chen wie­der ab­zu­bau­en. Der Ca­te­rer war auch noch da und konn­te nicht fas­sen, dass er ganz um­sonst für sech­zig Per­so­nen ge­kocht ha­ben soll. Er hat mich tat­säch­lich ge­fragt, ob ich dem Bräu­ti­gam an sei­ner Stel­le, trotz der ‚schlim­men Sa­che mit sei­ner Frau‘, das Es­sen in Rech­nung stel­len wür­de. Ist das zu fas­sen?«

»Du bist am Frei­tag­abend echt noch nach Bur­bach in die­ses Bür­ger­haus ge­fah­ren?«, frag­te Hol­ger klein­laut nach.

»Ja klar, ich woll­te mir einen Ge­samt­ein­druck ver­schaf­fen. Und das war auch gut so. Glü­ck­li­cher­wei­se war ich des­halb ge­ra­de ganz in der Nähe, als die Leit­stel­le mich ge­gen halb elf am Abend an­ge­funkt hat, dass zwei Ju­gend­li­che eine Lei­che vor der Bi­blio­thek ge­fun­den hät­ten. Du warst ja an dem Abend nicht zu er­rei­chen. Apro­pos er­rei­chen. Wo bist du ei­gent­lich ge­we­sen? Und wie­so war dein Han­dy aus?«, woll­te Jo­han­na wis­sen und sah Hol­ger da­bei mit fes­tem Blick an.

»Das heißt, nie­mand hat im Bür­ger­haus Be­scheid ge­ge­ben, dass die Fei­er aus­fällt?«

»Kannst du das dem Bräu­ti­gam ver­übeln?«, ant­wor­te­te Jo­han­na und ließ Hol­ger sein Aus­weich­ma­nö­ver durch­ge­hen. »In der Zeit, wo du dem Wei­denau­er Pfar­rer einen Be­such ab­ge­stat­tet hast und Ni­klas Rein­schmidt mit den An­ge­hö­ri­gen vor dem Stan­des­amt auf sei­ne zu­künf­ti­ge Ehe­frau ge­war­tet hat, war ich schon mit den Kol­le­gen am Tat­ort im Haus der Fa­mi­lie. Kein schö­ner An­blick, das kann ich dir sa­gen. Dass die arme Frau den An­griff nicht über­lebt ha­ben konn­te, war auf­grund der Blut­men­ge so­fort klar. Das hat auch Doc Kess­ler be­stä­tigt. Aber das hast du ja si­cher al­les schon in den Ak­ten ge­le­sen, oder?«

Ei­gent­lich war das eine rein rhe­to­ri­sche Fra­ge, da Jo­han­na die Ant­wort schon kann­te. Hol­ger hass­te es, sich durch Ak­ten zu wüh­len. Er ließ sich das Wich­tigs­te lie­ber er­zäh­len.

»Die Blu­men­händ­le­rin zit­ter­te noch am gan­zen Leib, als wir dort ein­tra­fen. ‚So eine net­te Frau. Nein, so eine net­te Frau!«, hat­te sie im­mer wie­der vor sich hin­ge­sagt. Von ihr ha­ben wir dann er­fah­ren, dass Lin­da Pieck einen Braut­strauß für ihre stan­des­amt­li­che Trau­ung be­stellt hat­te. Also habe ich die Kol­le­gen so­fort zum Stan­des­amt nach Neun­kir­chen ge­schickt, doch dort konn­ten sie kei­ne An­ge­hö­ri­gen fin­den. Im Bür­ger­bü­ro ha­ben sie dann fest­stel­len kön­nen, dass das Paar sich für sei­ne Trau­ung die Bi­blio­thek um die Ecke aus­ge­sucht hat­te.

»Wie, die Bi­blio­thek? Seit wann kann man in ei­ner Bi­blio­thek denn hei­ra­ten?«

»Die Rein­schmidts sind wohl bei­de rich­ti­ge Le­se­rat­ten und ha­ben sich des­halb ent­schie­den, das Trau­zim­mer im ers­ten Ober­ge­schoss der Bi­blio­thek an­zu­mie­ten. Es ist wirk­lich nett dort.«

Und ei­gent­lich ist das auch ein sehr schö­ner und ro­man­ti­scher Ge­dan­ke, hat­te Jo­han­na still hin­zu­ge­fügt.

»Ver­ste­he, dann ist das also eine wei­te­re Ge­mein­sam­keit. Der Tä­ter sucht sich ge­nau die Orte aus, an de­nen sie sich das Ja­wort ge­ben woll­ten, um dort sei­ne Op­fer ab­zu­le­gen. Ob nun vor der Kir­che oder vorm Stan­des­amt«, dach­te Hol­ger laut nach.

»Ge­nau!«, stimm­te Jo­han­na zu. »Aber wo­her wuss­te der Tä­ter das? Die eine Frau kommt aus Wei­denau, die an­de­re aus Neun­kir­chen-Sal­chen­dorf. Er weiß, wo sie woh­nen, wo sie sich trau­en las­sen wol­len, er weiß eben­falls, dass nie­mand zu Hau­se ist und er sich in al­ler Ruhe um die Bräu­te küm­mern kann. Bei Ju­dith Hein­bach hat er sich so­gar die Zeit ge­nom­men, um den Flur vom Blut zu säu­bern, als schien er ge­nau zu wis­sen, wie groß sein Zeit­fens­ter ist.«

»Das ist wirk­lich selt­sam. Und wenn man be­denkt, wer al­les in eine sol­che Hoch­zeit in­vol­viert ist. Der Ju­we­lier, der Blu­men­händ­ler, der Pfar­rer ...«

» ... der Fri­seur, der Ca­te­rer. Die Lis­te ist end­los lang. Wie sol­len wir die alle über­prü­fen?«, voll­en­de­te Jo­han­na die Ge­dan­ken ih­res Part­ners. »Hol­ger, denkst du, wir soll­ten uns viel­leicht doch Hil­fe aus Ha­gen ho­len? Al­lei­ne schaf­fen wir das nicht.«

»Han­ni, klar schaf­fen wir das. Wir sind doch ein gu­tes Team.«

»Sind wir das?«

Hol­ger sah Jo­han­na lan­ge an. Dann stand er auf und ging zur Tür. »Es tut mir wirk­lich leid, dass ich dich am Frei­tag­abend mit der Lei­che al­lei­ne ge­las­sen habe. Das kommt nicht wie­der vor. Ver­spro­chen! Und jetzt sieh zu, dass du zu dei­nem Bankhei­ni ins Bett­chen kommst!«, ver­such­te er die Ernst­haf­tig­keit aus dem Ge­spräch zu neh­men. »Wir se­hen uns dann mor­gen.«

 

Ver­spro­chen ist ver­spro­chen und wird nicht ge­bro­chen. Ob das auch für Hol­ger gilt? Jo­han­na hat­te da so ihre Zwei­fel.

12.

 

»Hey Sü­ßer, ist ja gut. Komm mal her, na komm!«, sag­te The­resa lie­be­voll. Die Som­mer­fe­ri­en wa­ren ge­ra­de vor­bei, so­dass die vie­len Kin­der ih­ren Fe­ri­en­hof ver­las­sen hat­ten und sie sich wie­der mehr Zeit für sich selbst und ih­ren Ar­te­mis neh­men konn­te.

The­resa lieb­te ihr Pferd. Sie lieb­te es, auf sei­nem Rü­cken zu sit­zen, al­les um sich her­um zu ver­ges­sen und sich von ihm in eine an­de­re Welt ga­lop­pie­ren zu las­sen.

Sie hat­te ihn nach Ar­te­mis Fowl ge­tauft, der Haupt­fi­gur aus den Ro­ma­nen, die sie durch ihre Ju­gend­zeit be­glei­tet hat­ten. Wäh­rend sich ihre Freun­de auf die Har­ry-Pot­ter- Bü­cher ge­stürzt hat­ten, hat­te sie das Ar­te­mis-Fowl-Fie­ber ge­packt.

Als vor cir­ca fünf Jah­ren der letz­te Band auf den Markt ge­kom­men war, hat­te sie es kaum er­war­ten kön­nen. Sie war nach Net­phen in die klei­ne Buch­hand­lung an der Lahn­stra­ße ge­fah­ren und hat­te dort er­zählt, ihre Nich­te sei ver­rückt nach die­sem Buch und sie wol­le es ihr zum Ge­burts­tag schen­ken. The­resa muss­te la­chen, weil es ihr da­mals zu pein­lich ge­we­sen war, mit ih­ren sie­benund-zwan­zig Jah­ren zu ih­rem Fai­ble zu ste­hen.

Sie hat­te auf ih­rem Hof acht ei­ge­ne Pfer­de un­ter­ge­stellt, die alle ge­füt­tert, ge­strie­gelt und be­wegt wer­den woll­ten. Täg­lich war­te­te viel Ar­beit auf sie, die sie kaum be­werk­stel­li­gen konn­te. Nur von dem Reit­un­ter­richt, den sie gab, konn­te sie mit ih­ren Pfer­den nicht über­le­ben, ob­wohl ihr An­ge­bot in Hain­chen und der nä­he­ren Um­ge­bung sehr gut an­ge­nom­men wur­de. Das war die bit­te­re Bi­lanz des letz­ten Jah­res ge­we­sen.

Mit ge­ra­de ein­mal sechs­und­zwan­zig Jah­ren hat­te sie den Hof von ih­rer Oma ge­erbt, hat­te ihre Ar­beits­stel­le im Tier­heim in Cas­trop-Rau­xel auf­ge­ge­ben und war ins Sie­ger­land zu­rück­ge­kehrt. Hier auf die­sem Hof hat­te sie in ih­rer Kind­heit vie­le glü­ck­li­che Stun­den ver­bracht und auch die Lie­be zu den Pfer­den ent­deckt.

An­fang die­ses Jah­res hat­te sie er­ken­nen müs­sen, dass sie den Hof nicht län­ger be­wirt­schaf­ten konn­te. In den letz­ten sechs Jah­ren hat­te sie ein­fach zu viel in­ves­tie­ren müs­sen. Aus die­sem Grund war sie we­gen der not­wen­di­gen Kre­dit­ge­sprä­che in die Sie­ge­ner Stadt­bank am Schei­ner­platz ge­fah­ren.

Dort hat­te sie Da­ni­el ge­trof­fen. Es hat­te ihr gut­ge­tan, ihn nach all den Jah­ren wie­der­zu­se­hen. Sie hat­te zwei­mal hin­schau­en müs­sen, denn als sie ihn das letz­te Mal ge­se­hen hat­te, war sie elf und er zwan­zig Jah­re alt ge­we­sen. Sie wuss­te noch, dass sie da­mals ge­dacht hat­te, ihre Oma habe einen ita­lie­ni­schen Jun­gen als Stall­jun­gen für die Fe­ri­en ein­ge­stellt.

Sei­ne mar­kan­te Nase be­ton­te noch im­mer sein at­trak­ti­ves Ge­sicht und sei­ne dun­kel­brau­nen Au­gen blick­ten auch heu­te noch fröh­lich und gü­tig zu­gleich in die Welt. Sei­ne tief­schwa­r­zen Haa­re hat­ten an der einen oder an­de­ren Stel­le einen grau­en Schim­mer be­kom­men und er schien noch im­mer viel zu trai­nie­ren. Der An­zug stand ihm per­fekt und einen Ehe­ring hat­te sie auch nicht an sei­nem Fin­ger ent­de­cken kön­nen. Was hat­te sie da­mals für ihn ge­schwärmt – wie man eben mit elf Jah­ren so schwärmt.

 

Da­ni­el war es auch, der ihr den Tipp ge­ge­ben hat­te, aus ih­rem Rei­ter­hof einen Fe­ri­en-Rei­ter­hof zu ma­chen. Die­ser Tipp schien im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes Gold wert zu sein, denn so­wohl in den Os­ter- als auch in den Som­mer­fe­ri­en war sie kom­plett aus­ge­bucht.

Es hat­te eine Zeit ge­dau­ert, bis sie sich voll und ganz auf die vie­len Kin­der ein­las­sen konn­te. Es war schon et­was an­de­res, ob man ei­nem Kind zwei bis drei Stun­den in der Wo­che Reit­un­ter­richt gab, oder es fast vier­zehn Stun­den non­stop um sich hat­te.

Mitt­ler­wei­le aber hat­te sie kei­ner­lei Be­rüh­rungs­ängs­te mehr. Strei­te­rei­en, An­ge­be­rei­en und un­auf­ge­räum­te Zim­mer wur­den mit Stal­laus­mis­ten be­straft, was zu ih­rer ei­ge­nen Ver­wun­de­rung still­schwei­gend von den Kids ak­zep­tiert wur­de.

Die Kin­der lieb­ten sie und sie war Da­ni­el un­end­lich dank­bar, dass er sie dar­an er­in­nert hat­te, welch glü­ck­li­che Zei­ten sie in den Fe­ri­en re­gel­mä­ßig bei ih­rer Oma und auf dem Rü­cken der Pfer­de ver­bracht hat­te.

»Und ge­nau die­ses Glück gibst du nun an dei­ne Fe­ri­en­kin­der wei­ter«, wa­ren sei­ne Wor­te ge­we­sen.

The­resa war so in ihre Ge­dan­ken ver­tieft, dass sie gar nicht be­merk­te, wie die Stall­tür vor­sich­tig ge­öff­net wur­de und sich ihr von hin­ten lei­se je­mand mit ei­ner Mist­ga­bel in der Hand nä­her­te.

»Hey, Ar­te­mis, was ist los? War­um bist du denn so un­ru­hig? Es ist al­les gut, ich bin doch da ... schau mal, was ich dir mit­ge­bracht habe!«, ver­such­te sie ihr Pferd zu be­ru­hi­gen und hol­te einen Ap­fel aus ih­rer Jack­en­ta­sche. Doch Ar­te­mis ließ sich nicht be­ru­hi­gen.

Sie konn­te sich das nicht er­klä­ren. Er war doch sonst nicht so. Plötz­lich leg­te je­mand von hin­ten eine Hand auf ihre Schul­ter und ließ sie zu­sam­men­zu­cken.

 

»Mensch, Jo­han­na! Hast du mich aber er­schreckt!«

13.

 

Hol­ger hat­te Mist ge­baut. Das war ihm klar. Er hat­te sei­ne Part­ne­rin im Stich ge­las­sen und das war un­ver­zeih­lich. Wie soll­te er das je wie­der gut­ma­chen? Er hat­te ihr ein Vor­bild zu sein. Er war der Äl­te­re. Er war Kri­mi­nal­haupt­kom­mis­sar, sie Kri­mi­nal­o­ber­kom­mis­sa­rin. Wie hat­te es bloß so­weit kom­men kön­nen? Im Po­li­zei­dienst muss­te man sich voll und ganz auf­ein­an­der ver­las­sen kön­nen.

Jo­han­na hat­te völ­lig recht, wenn sie ihm vor­wa­rf, nicht ganz bei der Sa­che zu sein. Das gro­ße Pro­blem war nur: er hat­te kei­ne Ah­nung, wie er aus sei­ner Lage wie­der her­aus­kom­men soll­te. Soll­te er sich ihr an­ver­trau­en? Oder sei­ner Frau Mar­ti­na al­les er­zäh­len? Nein, das kann ich nicht, dach­te Hol­ger. Er sah jetzt schon die Ent­täu­schung in ih­ren Au­gen.

»Wie konn­test du mir das an­tun?

---ENDE DER LESEPROBE---