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»Heute bringe ich dir deine Krone« Ein rätselhafter Fall beschäftigt die Siegener Polizei: Eine Frauenleiche im Brautkleid wurde vor der Haardter Kirche abgelegt – auf ihre zarte Haut eine Krone tätowiert. Während Kriminaloberkommissarin Johanna Daub der Spur des Täters folgt, wird ein weiteres Opfer vor dem Standesamt in Neunkirchen entdeckt. Ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn im Siegerland herrscht Hochzeitssaison. Johanna Daub ermittelt wieder gemeinsam mit Stadtbank Mitarbeiter Daniel Treude, der nebenbei ganz eigene Ziele verfolgt und die Kommissarin damit unwissentlich in Gefahr bringt.
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Anmerkung:
Sollten Ähnlichkeiten mit realen Personen, Institutionen oder Kreditinstitutenauftreten, sind diese rein zufällig.
Wieder sind alle Charaktere frei erfundenund entspringen meiner Fantasie.
Anette Schäfer
GEKRÖNT
Krönchen-Krimi
Oktober 2018
Copyright © by Anette Schäfer
Umschlaggestaltung: Copyright © by Anette Schäfer
Umschlagfoto: Living-Moment Fotografie
Korrektorat: Vorländer GmbH & Co. KG, Siegen
Anette Schäfer
Robert-Schumann-Str. 14
57076 Siegen
www.kroenchenverlag.de
ISBN 978-3-9819795-7-2
Für Anni
Das Tragen einer Krone bringt Ehre und Macht zugleich – doch manchmal auch den Tod!
Unglaublich! Noch immer konnte sie es kaum fassen, dass ihr Traum heute tatsächlich wahr werden sollte. Dabei kannten sie sich doch erst seit zwei Jahren.
»Ja, ich will!«, flüsterte sie leise und sah ihrem Spiegelbild dabei glücklich in die Augen. »Ja, ich will!«, traute sie sich etwas lauter, streckte ihre Schultern dabei nach hinten und lächelte sich selbst im Spiegel an.
Ihr langes, blondes Haar war am Morgen zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur geflochten worden, ihr weißes, ärmelloses Kleid war mit glitzernden Pailletten besetzt.
Es war drei Minuten nach zwei, als es bei Judith an der Haustür klingelte. Überrascht, dass er schon so früh vor der Tür stand, legte sie den Schleier vorsichtig über den Arm und ging zur Tür.
»Oh, kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie etwas irritiert. »Sie haben sich sicher in der Klingel geirrt.«
»Ja, das können Sie. Ihr Mann schickt mich. Ich soll Ihnen Ihre Krone vorbeibringen. Darf ich bitte kurz hereinkommen?«, hörte sie ihr Gegenüber fragen.
»Natürlich, kommen Sie herein. Welche Krone? Darf ich Ihnen bei der Hitze vielleicht ein Glas Wasser anbieten?«
Keine fünf Sekunden später konnte es Judith nicht glauben, als sie an sich heruntersah und sich ihr weißes Kleid plötzlich blutrot verfärbte.
So kann ich doch unmöglich in die Kirche … Das geht doch nicht …, war ihr letzter Gedanke, bevor sie völlig perplex begriff, dass in ihrer Brust ein Messer steckte und dieser Tag nicht der schönste, sondern der letzte in ihrem Leben sein sollte.
»Hey, du bist dran! Holger, jetzt mach schon, wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, fragte Johanna etwas vorwurfsvoll. Es war Samstagabend, als sie mit Daniel bei Holger und seiner Frau am Esszimmertisch saß. Johanna hasste Monopoly. Da aber Holger sie beide gestern völlig überraschend zu einem Spieleabend eingeladen hatte, war es Johanna schwer gefallen, ‚nein’ zu sagen.
»Hannilein, da wollen wir doch mal sehen, ob dein neuer Freund auch verlieren kann«, hatte er getönt, während er sich auf der Wache an seinem Schreibtisch einen dicken Berliner Ballen in den Mund geschoben hatte.
»Und du solltest lieber sehen, dass ich dich morgen Abend nicht bei deiner Frau verpetze! Wie war das noch? Keine Süßigkeiten mehr für die nächsten drei Monate?«, konterte Johanna.
Sie hatte sich wirklich über die Einladung gefreut. Schließlich verbrachte sie mit Kriminalhauptkommissar Holger Stein mehr Zeit als mit ihrem Daniel. So war der Abend eine gute Gelegenheit, dass sich die beiden Männer, die in ihrem Leben eine große Rolle spielten, in Ruhe beschnuppern konnten.
Holger und Martina hatten nach zwei Fehlgeburten keine eigenen Kinder bekommen können, und so manches Mal hatte sie das Gefühl, für Holger eine Art Tochterersatz zu sein.
Dennoch! Holger hatte sich in letzter Zeit sehr verändert und seine sonst zu flotten Sprüche wirkten seltsam aufgesetzt. Er war launisch, kam öfter zu spät zum Dienst und manchmal war er trotz eines schwierigen Einsatzes nicht richtig bei der Sache. Bisher hatte es Johanna noch nicht gewagt, ihn darauf anzusprechen. Sie hatte gehofft, er würde sie von sich aus ins Vertrauen ziehen.
Jetzt saß Holger schon seit zwei Runden im Gefängnis und schien sich völlig aus dem Spiel ausgeklinkt zu haben.
»Ach, ich bin wieder dran? Nett von euch, dass ich wieder mitspielen darf«, sagte er etwas mürrisch, würfelte eine Drei, landete auf der Hafenstraße und musste 140 Euro Miete an Daniel abdrücken.
Oh Mann, erst erzählt er mir etwas von guten Verlierern und jetzt ist er selbst bockig, nur weil er drei Runden aussetzen musste.
»So ist das nun mal, wenn man ins Gefängnis muss. Einsam und verlassen ist man dort«, zog Johanna ihn auf.
»Wie meinst du das denn jetzt?«, brauste Holger auf.
»Schatz, alles gut. Johanna meinte doch nur, dass du dich etwas mehr auf das Spiel konzentrieren solltest, damit du nicht noch ein paar Runden im Gefängnis verbringen musst«, klärte Martina ihren Ehemann auf und zwinkerte Daniel dabei zu.
Moooment, habe ich das gerade richtig beobachtet? Martina zwinkert Daniel zu?
Johanna nahm irritiert den Würfel in die Hand und zog anschließend mit ihrem roten Männchen auf ein Ereignisfeld. Gerade wollte Johanna ihren Arm nach den Ereigniskarten ausstrecken, um sich eine Karte zu nehmen, als Martina plötzlich so stark husten musste, dass sie dabei an den Tisch stieß und ihr Wasserglas umkippte.
»Ach, wie ungeschickt von mir. Johanna, könntest du mir schnell aus der Küche ein Zewa holen?«, fragte Holgers Frau, während die beiden vorsichtig das Spielbrett anhoben, unter dem sich eine kleine Pfütze gebildet hatte.
Nachdem der Tisch getrocknet, die Gläser und die Chipsschüssel aufgefüllt waren, saßen nun alle wieder auf ihren Plätzen.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte Daniel. »Ah, ich glaube, du musstest eine Ereigniskarte ziehen, oder Jo?«, beantwortete er seine Frage selbst.
Johanna gefiel es, dass sich Daniel angewöhnt hatte, sie Jo zu nennen, und dass er das nun auch vor ihrem Kollegen und dessen Frau tat, zeigte ihr, dass er sich an diesem Abend sehr wohl fühlte und die beiden ins Herz geschlossen hatte. Johanna nahm die Ereigniskarte vom Stapel und hielt sie sich versteckt vor die Brust. Alle drei starrten sie ganz gespannt an.
Sospannend ist das Spiel nun auch nicht, dachte sie, drehte die Karte um und entdeckte völlig überrascht einen Schlüssel, der auf der Rückseite der Karte klebte. Vorsichtig trennte sie ihn ab und las, was verborgen darunter stand:
»Willst du bei mir einziehen?«
Holger war sich nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte: »Da kommt einfach so ein Bankheini daher, mischt sich in unseren letzten Fall ein, wird dabei verletzt und nun steht er als Held da und will von jetzt auf gleich mit Johanna zusammenziehen? Und ich soll jetzt den glücklichen Kollegen spielen, der sich mit ihr freut? Pah, wahrscheinlich soll ich auch noch irgendwann den Trauzeugen abgeben … und bei dem Tempo bestimmt sogar noch in diesem Jahr«, hatte er sich vor zwei Wochen bei seiner Frau beschwert, als sie ihm von Daniels Plänen berichtet hatte.
»Und überhaupt, wieso bespricht der Kerl das alles eigentlich mit dir? Ich bin schließlich Johannas Kollege und es gibt wohl keinen außer mir, der sie so gut kennt wie ich!«
»Schatz, man könnte tatsächlich meinen, du seist eifersüchtig«, hatte sich seine Frau über ihn lustig gemacht. »Und ich dachte, du magst ihn?«
»Tu ich auch. Trotzdem! Er hätte mit mir und nicht mit dir sprechen sollen.«
»Um sich deinen Segen abzuholen?«
»Ja, irgendwie schon!«, hatte er seiner Frau etwas zögerlich gestanden.
»Schatz, ich kann dich ja verstehen. Aber dafür ist eindeutig Johannas Vater zuständig. Und der einzige Grund, warum er mich zuerst in seinen Plan eingeweiht hat, ist ja wohl eindeutig.«
»Und welcher soll das sein?«
»Na, ich bin halt eine Frau ...!
… Und außerdem kann ich besser Hustenanfälle vortäuschen als du!«, hatte sie gelacht.
Johanna sah noch immer verwirrt auf ihre Ereigniskarte, als plötzlich ihr Handy klingelte – kurze Zeit später auch das von Holger.
»Hier ist Johanna! Reiner, was gibt’s?«
» …«
»Scheiße! Wo?«
» …«
»Klar, wir sind gleich da. Und Reiner …, ich bringe Holger mit.«
Johanna wollte gerade ihr Handy in die Hosentasche stecken, als sie merkte, dass sie gar keine Hose trug. Wie ärgerlich, dass sie sich vorhin vor ihrem Kleiderschrank für den blauen Rock entschieden hatte. Also nahm sie ihre Handtasche vom Stuhl, ging raus zur Garderobe, zog sich die Jacke an und wollte gerade schon zur Tür raus, als ihr etwas Wichtiges einfiel: Daniel!
Wenn sie ehrlich war, kam ihr der Anruf recht gelegen. Sie waren noch nicht so lange ein Paar, und obwohl Daniel ihr die Welt zu Füßen legte und er ihr unglaublich gut tat, ging es ihr mit einem Umzug in seine Eigentumswohnung nach Brauersdorf doch zu schnell. Sie hatte schon die Stimme ihrer Mom im Ohr:
»Goldstückchen, ich freue mich so für dich … und? Wie sieht es mit der Familienplanung aus? Wann wollt ihr heiraten? Du weißt ja, wie sehr ich mich darauf freue, endlich Oma zu werden.«
Es war schon viele Jahre her, da hatte sie schon einmal jemand gefragt, ob sie bei ihm einziehen wolle. Sie hatten beide ihre Ausbildung bei der Polizei in Düsseldorf beendet, als er nach Köln und sie nach Siegen versetzt worden war. Für ihn war klar gewesen, dass sie diejenige war, die über die A4 zu ihrer Arbeitsstelle zu pendeln hatte, schließlich würden sie ja bald eine Familie gründen und dann wäre es nur logisch, wenn sie mit dem Kind gemeinsam bei ihm in Köln wohnen würden.
Sie hatte damals kalte Füße bekommen und Johanna hatte die große Befürchtung, dass es auch mit Daniel nicht klappen könnte. Das ging ihr wieder viel zu schnell. Außerdem hatte Daniel bisher kaum eine Chance gehabt, sie mit all ihren Macken und Fehlern in Ruhe kennenzulernen.
Dennoch ging sie nun zu ihm, zog ihn hinter sich her in die Küche und legte ihre Arme um ihn.
»Hey, Daniel, danke! Das ist total lieb von dir!«, flüsterte sie ihm ins Ohr, wohlwissend, dass sowohl Martina als auch Holger im Wohnzimmer standen und sie beide gespannt beobachteten. »Aber ich muss jetzt leider los. Eine Leiche wartet nicht. Nimmst du dir ein Taxi?«
»Na dann, ufftata!«, hörte sie Holgers seltsam fröhlich klingende Aufforderung, löste sich von Daniel und lief hinter Holger aus dem Haus.
Beim Rausgehen hörte sie ihren Freund verdutzt zu Martina sagen:
» … und ich dachte, eine Leiche könne eh nicht mehr weglaufen.«
Johanna und Holger hatten geschlagene acht Minuten vor der Bahnschranke am Fuße des Haardter Berges warten müssen, bevor sie den steilen Setzer Weg bis zur Kirche herauffahren konnten. Dort präsentierte sich ihnen kein schönes Bild.
Vier Beamte, der Pfarrer und zwei sichtlich aufgelöste Männer standen vor dem großen Eingangstor zur Haardter Kirche in Weidenau. Zu ihren Füßen lag eine tote, hübsche Braut mit hochgesteckten, blonden Haaren und einem Brautkleid, das irgendwann einmal weiß gewesen sein musste. Jetzt aber war es mit rostroten Blutflecken durchtränkt. In der Brust der Leiche steckte ein großes Messer. Die Klinge musste tief ins Gewebe eingedrungen sein, denn von ihr selbst war nichts mehr zu sehen.
Da hatte wohl ein sehr kräftiger Mensch ein sehr tatkräftiges Motiv, stellte Johanna für sich fest.
Um welchen Messertyp es sich handelte, sollte die Spurensicherung herausfinden. Auf jeden Fall war es kein gewöhnliches Küchenmesser und auch kein Klappmesser, wie es die Jugendlichen, die regelmäßig am Siegener Hauptbahnhof rumlungerten, gerne bei sich trugen.
Johanna musste an letzten Juni denken, als Daniel mit einer Stichwunde im Bauch in ihren Armen gelegen und sie verzweifelt auf die Sanitäter gewartet hatte. Für Daniel war der Messerstich glücklicherweise anders ausgegangen, als für die arme Frau, die da vor ihnen auf dem Boden lag.
Das Gesicht der Braut sah seltsam friedlich aus, was aufgrund der Umstände sehr abstrus wirkte. Johanna musste dem Drang widerstehen, die Leiche hier an Ort und Stelle zu untersuchen. Sie musste auf die Spusi warten und vor allem den Bräutigam hier wegschaffen.
Johanna zwang sich, den Blick von der Leiche abzuwenden und schaute sich um.
An diesem Tatort passt etwas ganz und gar nicht zusammen! Das spürt jeder, der vor diesem seltsamen Szenario steht. Eine Kirche, eine Braut, ein Brautstrauß – alles Zeichen für eine glückliche Zukunft, dachte sie.
Doch nun standen dort ein entsetzter Pfarrer, ein völlig aufgelöster und verzweifelter Bräutigam mit seinem Trauzeugen – Johanna vermutete das jedenfalls – und vier Beamte, die alle sichtlich betroffen waren. Auch wenn sie und ihre Kollegen schon Schlimmeres gesehen hatten, das Leid, das ein solcher Mord über die Angehörigen brachte, ließ hier niemanden kalt.
Es war mittlerweile halb elf an einem Samstagabend im August als Johanna zu den beiden Männern in ihren schicken und doch so zerknitterten Anzügen ging, während Holger den Pfarrer übernahm.
»Guten Abend, ich bin Kriminaloberkommissarin Johanna Daub«, stellte sie sich vor. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin Johannes, der Freund und Trauzeuge von Tom und Judith ... zumindest sollte ich das werden«, sagte der eine von den beiden mit einem traurigen Blick auf das Opfer, das Judith zu heißen schien.
Johannes schien Johannas fragenden Blick auf den Bräutigam zu registrieren und antwortete an seiner statt:
»Das ist Tom, Tom Heinbach. Die beiden wollten heute Nachmittag hier in der Kirche heiraten.«
Johanna hatte mittlerweile genug Berufserfahrung, um zu wissen, dass sie an diesem Abend keinen Ton mehr aus dem zukünftigen Ehemann herausbekommen würde und entschied sich dafür, lieber dessen besten Freund zu befragen.
Vorher aber zitierte sie einen Streifenbeamten herbei und bat ihn, den Notarzt zu rufen und sich bis zu dessen Ankunft um Herrn Heinbach zu kümmern.
»Die Spurensicherung ist unterwegs?«, fragte Johanna gerade ihren Kollegen, als plötzlich aus der Kirche laute Orgelmusik zu ihnen nach draußen klang. Johanna glaubte das Lied zu erkennen:
Großer Gott, wir loben dich!
»Der Heinbach war es nicht! Ganz bestimmt nicht!«
»Und warum nicht? Weil es der Bräutigam einfach nicht sein kann? Du weißt doch, dass Eifersucht als Tatmotiv auf der Liste ganz oben steht.«
»Ja, das weiß ich ...«, gab Johanna zu. Eine logische Erklärung hatte sie nicht. Aber sie war sich sicher, dass der Ehemann des Opfers nichts mit dem Mord an seiner Frau zu tun hatte.
»Dann nehme ich an, dass du das Alibi von Heinbach überprüfen und auch das des besten Freundes übernehmen willst? Wie hieß er nochmal?«
»Warte mal. Der Vorname war ausgesprochen wohlklingend, doch wie hieß er noch gleich mit Nachnamen?«, suchte Johanna in ihren Unterlagen. »Ah, hier ist er ja: Johannes, Johannes Rink«, antwortete Johanna und reichte ihrem Kollegen grinsend einen Zettel mit dessen Handynummer rüber.
»Hanni und Hannes, na klasse«, war Holgers wenig hilfreiche Bemerkung.
Johanna musste daran denken, wie sie gestern neben Johannes Rink auf den Stufen zum Eingang zur Haardter Kirche gesessen und versucht hatte, mit ihm den Tag zu rekonstruieren. Allerdings war auch er zu erschüttert gewesen, sodass sie beschlossen hatte, ihm eine Nacht zur Erholung zu geben und ihn für heute auf die Wache zu bestellen.
Daniel wird sich nicht freuen, dass es wieder keinen gemeinsamen Sonntag geben wird, dachte Johanna. Aber besser, er bekommt jetzt schon mit, wie mein Arbeitsalltag aussieht und kann es sich noch anders überlegen, bevor ich irgendwann bei ihm eingezogen bin und es ihm dann zu viel mit meiner Arbeit wird.
Spät am Abend war gestern die Spurensicherung gemeinsam mit Doc Kessler, dem Rechtsmediziner, eingetroffen. Johanna mochte den Doc. Er war ein bodenständiger, netter, stämmiger Kerl, den man eher mit einem Teddy-bären, statt mit jemandem, der an Leichen schnibbelt, vergleichen würde. Wie er mit seinen großen Pranken ein zierliches Skalpell halten konnte, war ihr ein Rätsel.
Am liebsten aber war Johanna die ehrliche und unverhohlene Art, mit der Kessler das Leben und den Tod betrachtete. »Welches Arschloch macht denn so was? Da hat wohl jemand nicht verkraftet, dass er nicht selbst in die Rolle des Bräutigams schlüpfen konnte«, klärte er Johanna über seine Theorie auf.
Vorsichtig schob er das Brautkleid hoch, um das Opfer auf Totenflecken hin zu untersuchen und die Temperatur zu messen. Weiße Strümpfe, die von einem mit Spitze besetzten Gürtel um die Taille gehalten wurden, kamen zum Vorschein, ebenso ein blaues Strumpfband.
Dieses Bild ließ sie seit Samstagabend nicht mehr los. Der Gedanke war grausam, dass eine Frau, die frisch in ihre Zukunft starten wollte, die die Liebe ihres Lebens ge-funden und sich für ihren Liebsten zurechtgemacht hatte, brutal ermordet worden war.
Die Unterwäsche und das Strumpfband hatte sie für ihren Bräutigam angezogen und nicht für sie, ihre Kollegen oder Doc Kessler. Doch die Demütigung konnte ihr nicht erspart bleiben. Je früher der Doc die Daten zur Feststellung des Todeszeitpunktes hatte, umso besser.
Da Kessler dafür bekannt war, Gespräche mit seinen Opfern zu führen – worüber sich Holger stets lustig machte – hielt sich Johanna dicht in seiner Nähe auf. Vielleicht konnte sie so etwas aufschnappen, was ihr jetzt schon weiterhalf, bevor sie endlos lang auf seinen Bericht warten musste.
»Kaum Totenflecken, also bist du armes Ding verblutet … und das nicht hier vor der Kirche«, hörte sie den Mediziner vor sich hin murmeln. »Deine Gesichtsmuskeln sind erschlafft, deshalb siehst du so friedlich aus, als würdest du schlafen und bist daher schon länger als acht Stunden tot. Doch wo bist du in der Zwischenzeit gewesen?«
Vorsichtig drehte der Rechtsmediziner die Leiche von der einen auf die andere Seite. Johanna sah sofort an seinem Blick, dass etwas nicht stimmte.
»Frau Daub, kommen Sie mal her. Das müssen Sie sich ansehen!«
Johanna hatte keine Eile, sich Kesslers Entdeckung anzusehen. Sie wusste selbst nicht, warum sie dieser Mordfall so persönlich zu treffen schien, aber sie hatte Angst vor dem, was der Doktor ihr zu zeigen hatte.
Sie ging um die Leiche herum und kniete sich neben ihn.
»Hier, sehen Sie das?«
In den Nacken von Judith Heinbach war eine Krone tätowiert worden.
Das Büro von Kriminalhauptkommissar Holger Stein befand sich direkt neben dem von Johanna und zeichnete sich aus durch viele Stapel unerledigter Akten, eine große Glasscheibe, durch die sie beide stets Blickkontakt halten konnten und durch viele Süßigkeitenkrümel auf seinem Schreibtisch.
»Ok, dann lese ich mir mal das Alibi von diesem Hannes Rink durch. Du hast es doch bestimmt schon überprüft, oder?«, riss er Johanna aus ihren Gedanken, ging in sein Büro, schloss die Tür hinter sich und zog die Lamellen vor der Scheibe zu.
Was soll das denn?, wunderte sich Johanna. Warum darf ich nicht sehen, was Holger in seinem Büro treibt?
Sie war gerade dabei, sich die Berichte und Zeugenaussagen durchzulesen, die sie in den letzten drei Tagen auf den Schreibtisch bekommen hatte, als plötzlich ihr Chef Achenbach in der Tür stand.
»Was ist denn mit Stein los?«, fragte er irritiert und deutete mit seinem Kopf auf die zugezogene Fensterscheibe.
Na toll! Danke, Holger! Hoffentlich klappt mein Ab-lenkungsmanöver ...
»Ach, das ist eine Überraschung. Herr Gassmann geht doch nächsten Monat in Pension, und Sie wissen ja, wie das ist. Bei der Polizei bleibt eine Überraschung nicht lange eine Überraschung. Zumal sich fast alle Kollegen in unserem Stockwerk bei mir im Büro bedienen«, erwiderte Johanna schlagfertig und deutete ihrerseits mit dem Kopf auf die Kaffeemaschine, die in ihrem Büro stand.
Ich muss Holger unbedingt darauf ansprechen, warum er sich in der letzten Zeit so seltsam verhält. Das geht so nicht, er bringt mich noch in Teufels Küche.
»Eine Überraschung also? Schön, schön! Wie sieht es denn mit unserem Fall aus? Eine ermordete Braut wäre ein gefundenes Fressen für die Presse. Ich bin heilfroh, dass sie noch keinen Wind von der ganzen Sache bekommen hat. Ich hoffe, das bleibt auch so. Und falls Sie beide Hilfe brauchen, melden Sie sich! Ich möchte den Fall auf keinen Fall in andere Hände abgeben müssen.«
»Was soll das denn heißen? In welche Hände?«, hakte Johanna beunruhigt nach. Doch just in dem Moment klingelte Achenbachs Handy und er war genauso schnell aus ihrem Büro gerauscht, wie er hereingekommen war.
Johanna saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf die sonst immer geöffnete Fensterscheibe. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander – zumindest bis jetzt nicht. Die Lamellen wurden höchstens zum Spaß, oder wenn sie sich mal richtig gestritten hatten, zugezogen. Das hier war seltsam. Sie steckten mitten in einem Mordfall und Holger zog sich zurück? Das hatte sie in all den Jahren noch nicht erlebt.
Irgendetwas stimmt hier nicht – so ganz und gar nicht. Und ich muss dringend rausfinden, was es ist!
Sibylle Henrichs liebte ihren Job. Sie liebte die Farbenpracht, die die Natur hervorbrachte und die sich in ihrem kleinen Laden an der Kölner Straße in Neunkirchen frei entfalten durfte. Am liebsten waren ihr die Kunden, die genau wussten, welche Blumen sie in ihre Sträuße gebunden haben wollten. Die meisten allerdings kamen zu ihr in den Laden hinein und sagten: »Bitte irgendeinen bunten Strauß für 15 Euro.«
Diese Dame aber, für die sie heute unterwegs war, wusste genau, was sie wollte. Sie wollte einen klassischen Brautstrauß mit roten Rosen und unbedingt rund gebunden. Nicht zu groß, damit er das Kleid nicht zu sehr verdeckte und gerne mit einer kleinen Ranke, die sich schlicht um den Strauß legen und dann nach unten fallen sollte.
Sibylle war so beeindruckt gewesen, dass sie sogar zugesagt hatte, Linda Pieck den Brautstrauß an diesem Freitagmorgen nach Hause zu liefern.
Jetzt fuhr sie in ihrem Renault Kangoo die Kölner Straße Richtung Salchendorf entlang, ein Ortsteil, der zur Gemeinde Neunkirchen gehörte, um dann links in den Gähneweg abzubiegen. Ein kleines Einfamilienhaus in der Fasanenstraße, ganz in der Nähe der Grundschule, war ihr Ziel. Sie bog rechts auf den Van-Kingsbergen-Ring ab, um nach gut einhundert Metern ihr Ziel zu erreichen.
Langsam fuhr sie an der Grundschule vorbei. Es musste gerade große Pause sein, denn auf dem Schulhof tummelten sich viele Kinder. Während Sibylle an ihre eigene Grundschulzeit vor vielen Jahren zurückdachte, schoss plötzlich ein Auto durch die schmale Straße an ihr vorbei, sodass sie vor Schreck das Lenkrad herumriss und fast rechts gegen eine Mülltonne gefahren wäre, die jemand zur Abholung an die Straße gestellt hatte.
Kopfschüttelnd fuhr sie weiter, bis sie die Lieferadresse erreicht hatte, holte den Strauß aus dem Kofferraum und ging durch den gepflegten Vorgarten zur Haustür. Verwundert bemerkte sie, dass die Tür offen stand.
Sibylle klingelte, doch niemand kam zur Tür. Sie klingelte ein zweites Mal – wieder nichts.
Ich kann doch nicht einfach so ins Haus gehen. Nein, das macht man nicht. Also ging sie die Treppe links am Haus hinunter und stand rufend auf einer kleinen Terrasse, die durch eine Rosenhecke geschützt wurde und auf der ein kleiner Sandkasten stand.
»Frau Pieck, sind Sie da?« Keine Antwort! »Hallo, ist jemand zu Hause?«
Verunsichert ging sie die Treppe wieder nach oben und stand unentschlossen vor der halbgeöffneten Tür, als ihr das Auto wieder einfiel, das an ihr vorbeigeschossen war. Mit einem unguten Gefühl ging sie schließlich ins Haus.
»Hallo, ist jemand zu Hause?«, versuchte sie es erneut. Doch keine Reaktion.
Ratlos stand Sibylle Henrichs im Flur, als sie sich mutig entschied, im Haus auf die Suche nach Frau Pieck zu gehen. Als sie die Tür zur Küche öffnete, war diese zwar leer, doch das Bild, dass sich ihr kurze Zeit später bot, würde die Blumenhändlerin wohl ihr Leben lang nicht vergessen werden.
Auf der Theke in der Mitte der Küche standen zwei volle Wassergläser, die Tür zum Balkon stand offen. Langsam ging sie um die Theke.
Der Blumenstrauß fiel ihr vor Schreck aus der Hand, als sie die große Blutlache auf dem Boden sah, in die der Strauß, wie ein kleines Kunstwerk, mit seinen roten Rosen drapiert worden zu sein schien.
Doch wo war Linda Pieck?
Freitagabend in Neunkirchen – was für ein Albtraum. Wollte man wenigstens etwas Spaß haben, dann musste man sich schon auf den Weg nach Siegen in die Innenstadt machen. Das Problem war nur, dass der letzte Bus schon kurz vor 23 Uhr zurück in die Heimat fuhr und Noahs Eltern sich schlichtweg weigerten, ihn nach zwei Uhr morgens in Siegen abzuholen.
Heute aber war sein Glückstag. Finn feierte seinen achtzehnten Geburtstag und hatte zu einer großen Fete ins Sportheim seines Fußballvereins eingeladen. Von dort konnte er wunderbar zu Fuß nach Hause laufen, wenn ihm nicht das Gleiche passierte, wie nach der letzten Fete vor zwei Monaten, als er sich auf dem Heimweg alle fünf Minuten hinsetzen musste, nachdem er sich in diverse Vorgärten übergeben oder hineingepinkelt hatte.
Freunde seiner Eltern hatten ihn dabei erwischt und nichts Besseres zu tun gehabt, als seine Eltern darüber zu informieren. Noah hatte es schon gewusst, als er mit dickem Kopf im Bett gelegen und morgens um neun Uhr das Telefon bei ihnen zu Hause geklingelt hatte.
Noah hatte nicht geahnt, dass Finn auch Lena zu seinem Geburtstag eingeladen hatte. Er mochte Lena. Sie war so natürlich, immer gut gelaunt und schien überhaupt kein Bedürfnis zu haben, im Mittelpunkt zu stehen. Und genau das machte sie so interessant.
Als sie ihn an diesem Abend fragte, ob er sich vorstellen könne, sie nach Hause zu begleiten, konnte Noah sein Glück kaum fassen. Es war zwar erst 22 Uhr, aber Lena hatte versprochen, um halb elf zu Hause zu sein, um auf ihren jüngeren Bruder aufzupassen, weil ihre Eltern auf eine Hochzeit im Bürgerhaus in Burbach eingeladen waren. Für Noah war das völlig in Ordnung. Er konnte später noch immer zurückkommen und weiterfeiern. Aber diese Chance wollte er sich auf gar keinen Fall entgehen lassen.
Also zogen die beiden los und liefen vom Sportheim, durch die kleinen Seitenstraßen mit den schön gepflegten Vorgärten, über die Bahnhofstraße, bis sie schließlich vor dem großen Gebäude der Stadtbank Burbach-Neunkirchen standen. Linke Hand war das Rathaus. Durch die Mitte des Gebäudes führte ein Fußweg, durch den man in den Hinterhof des Rathauses und von dort wieder auf die Hauptstraße gelangen konnte. Sie überlegten kurz, ob sie die Abkürzung wirklich nehmen sollten. Lena war dafür, Noah nicht.
An der Kreuzung zur Bahnhofstraße hatten sich vorhin zufällig ihre Hände berührt und er war nicht gewillt, ihre Hand so schnell wieder loszulassen. Er wäre auch mit ihr bis nach Siegen gelaufen, wenn sie dort gewohnt hätte. Dennoch willigte er schweren Herzens ein, den kürzeren Weg zu nehmen. Die beiden liefen den Fußweg entlang genau auf das Gebäude des Bürgerbüros zu, das auch das Neunkirchener Standesamt beherbergte.
Auf Höhe der ans Bürgerhaus angeschlossenen Bibliothek zerquetschte Lena plötzlich fast Noahs Hand und blieb stehen.
»Da vorne sitzt jemand«, flüsterte sie ängstlich.
Jetzt sah Noah es auch. Vor dem Eingang der Bibliothek schien es sich jemand gemütlich gemacht zu haben.
»Komm, lass uns schnell weitergehen!«, bat Lena ängstlich.
Auch Noah hatte keine Lust auf Ärger. Wer wusste schon, wer der Kerl war. Wahrscheinlich war er betrunken und machte hier ein Nickerchen. Am besten, sie ließen ihn einfach in Ruhe. Der Gedanke umzukehren war für ihn keine Option. Er wollte eindeutig lieber als Lenas Beschützer auftreten und keinesfalls als Weichei. Sie waren schon fast an der Person vorbei, als Lena abrupt anfing zu schreien. Sie schrie ..., und schrie ..., und schrie. Sie hörte gar nicht mehr auf.
Vor der Tür zur Bibliothek saß Linda Pieck, die Freundin ihrer Eltern, mit einem Messer in der Brust.
Daniel machte sich nach getaner Arbeit auf den Heimweg von der Siegener Innenstadt über die HTS, die Um-gehungsstraße, die mittlerweile viele Ortschaften im Siegerland auf schnelle Weise miteinander verband, bis nach Dreis-Tiefenbach und stand drei Kilometer weiter, wie fast jeden Abend, in Netphen im Stau.
Die Baustelle, die ihm den direkten Weg zu seinem gemütlichen Zuhause in Brauersdorf versperrte, bestand nun schon einige Monate, sodass er gezwungen war, Richtung Eschenbach, über den Kreuzberg, durch ein kleines Wohngebiet zu fahren. Ob es die netten Einfamilienhäuser waren, die ihn auf den Gedanken gebracht hatten, den Vorstoß bei Johanna zu wagen?
Daniel hatte sich den Abend bei Holger und Martina wirklich anders vorgestellt. Er hatte seinen Haustürschlüssel nachmachen lassen, hatte sogar schon seinen Kleiderschrank neu sortiert, um Platz für Johannas Sachen zu schaffen. Er hatte drei Mal mit Martina telefoniert, damit sie auch auf jeden Fall an der richtigen Stelle ihren Hustenanfall bekommt. Er hatte sich die Mühe gemacht und das Monopolyspiel manipuliert, in dem er auf der Arbeit eine Ereigniskarte auf verstärktes Papier gedruckt und dann ausgeschnitten hatte, weil Johanna nicht merken sollte, dass es sich nicht um eine originale Ereigniskarte handelte und es für sie eine Überraschung blieb, wenn sie die Karte umdrehte.
Na, das hat ja bestens geklappt. Wie lange ist das jetzt her? Ach ja, eine gute Woche und zwei Morde später ..., dachte Daniel enttäuscht. Ja, er hatte sich den Abend, und vor allem Johannas Reaktion, wirklich anders vorgestellt.
Endlich zu Hause angekommen, schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf und sah, dass Johanna es sich bei ihm mal wieder gemütlich gemacht hatte. Richtig einziehen wollte sie im Moment bei ihm noch nicht. Ab und zu eine Nacht in Brauersdorf zu verbringen, schien ihr völlig zu genügen.
»Die Mordfälle, du weißt schon ...«, war ihre kurze Erklärung gewesen. Und er hatte sich äußerlich damit zufriedengegeben und versucht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Wenn er jetzt allerdings dieses Chaos betrachtete, das seine Freundin in seiner Wohnung veranstaltet hatte, war er fast geneigt, sein Angebot zurückzunehmen.
Überall lagen Papiere auf dem Boden, Akten lagen auf dem Sofa und sogar neben der Spüle. Selbst auf der Gästetoilette hatte er gestern Fotos des letzten Tatorts gefunden. So ging das nicht!
»Jo? Wo steckst du?«, rief er in seine eigene Wohnung hinein. »Johanna!«
Vielleicht hätte ich meine Wohnung doch nicht so nah an der Obernautalsperre kaufen sollen. Ist doch klar, dass die Versuchung für eine Polizistin viel zu groß ist, wenn die eine Alternative Aufräumen und die andere Joggen gehen heißt, überlegte er schmunzelnd.
Nachdem er die Papiere, Fotos und Akten ordentlich auf einem Stapel zusammengelegt hatte, öffnete sich die Wohnungstür und herein kam eine verschwitzte Johanna mit hochrotem Kopf. Ihre langen roten Locken hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, ihr Top und die enge Laufhose betonten ihre durchtrainierte Figur.
Ok, das ist zwar nicht DER Grund, warum ich mit ihr zusammenziehen wollte, aber definitiv einer davon, dachte er, stand vom Sofa auf, nahm die verdutzte Johanna an der Hand und zog sie hinter sich her ins Badezimmer unter die Dusche.
»Für heute hatte ich jetzt aber Sport genug«, lächelte sie ihn eine Viertelstunde später aus ihren smaragdgrünen Augen an. Etwas verlegen lächelte er zurück. Noch immer schaffte sie es, ihn mit einem kleinen Satz in Verlegenheit zu bringen.
»Du bist echt goldig, wenn du verlegen wirst. Du bekommst dann immer deine kleinen Grübchen auf die Wange.«
»Jetzt ist aber gut«, wechselte Daniel das Thema. »Sag du mir lieber, wie du dir den Abend heute noch vorgestellt hast. Bleibst du heute Nacht hier, oder fährst du später wieder nach Hause?«
»Hm, ich dachte eigentlich, ich studiere noch etwas meine Akten, während du kochst«, sagte sie mit einem Augenaufschlag, dem Daniel unmöglich widerstehen konnte. »Morgen habe ich Spätdienst, da gehört diese Nacht ganz uns.«
Daniel ging ums Sofa herum und setzte sich neben sie.
»Ach ne, dass ich auch einen Job habe, ist dir aber schon klar, oder?«
»Natürlich, Herr Leiter der Kreditabteilung. Wenn Sie zu müde sind, verschieben wir das gerne auf ein anderes Mal«, zog sie ihn auf.
»Hallo? Bei dem Vorgeschmack von eben werde ich natürlich alles geben, um für die Dame ein wundervolles Mahl zu kreieren«, gab er zurück, drückte ihr einen dicken Kuss auf ihren Hals, stand auf und machte sich daran, seinen Kühlschrank nach brauchbaren Lebensmitteln zu durchforsten.
Dieses kleine süße Biest. Jetzt hat sie mich schon wieder manipuliert. Wenn ich nicht aufpasse, stehe ich bald ganz schön unter ihrer Fuchtel, dachte er, während er glücklich die Kartoffeln schälte.
Holger war dankbar. Dankbar, dass Martina als Krankenschwester im letzten Monat viele Nachtschichten übernommen hatte. Der August allerdings schien ein Monat zu sein, an dem sie abends überwiegend zu Hause war. Holger ertrug das nicht. Sein schlechtes Gewissen trieb ihn um. Dass er sich über die zwei Mordfälle in Weidenau und Neunkirchen freute, wäre wohl etwas zu viel gesagt, aber irgendwie stimmte es schon. So hatte er eine gute Ausrede, abends bis spät auf der Arbeit zu bleiben.
Während er die Berichte und Zeugenaussagen las, hatte er immer mehr offene Fragen. Zwei Morde innerhalb einer Woche. Beides Bräute, doch beide aus völlig unterschiedlichen Ecken des Siegerlandes. Bisher hatten sie auch noch keine Verbindung zwischen den beiden Opfern oder deren Ehemännern feststellen können. Während Judith Heinbach schon standesamtlich verheiratet und kurz vor der kirchlichen Trauung ermordet worden war, hatte Linda Pieck aus Neunkirchen den Standesamttermin noch vor sich gehabt. Die eine wurde vor einer Kirche abgelegt, die andere vor der Bibliothek. Die Neunkirchener lebten in einem Einfamilienhaus und hatten bereits ein Kind, das Paar aus Weidenau wohnte in einer kleinen Mietwohnung und war kinderlos. Die eine war dreiunddreißig, die andere schon Anfang vierzig. Selbst der Wochentag der Tat war ein anderer gewesen. In Weidenau ein Samstag, in Neunkirchen ein Freitag.
Auch das Auto, das die Blumenhändlerin, Frau Henrichs, ihnen beschrieben hatte, war kein wertvoller Hinweis. Ein heller Kleinwagen ... Mehr war aus der verstörten Frau nicht herauszubekommen gewesen.
Bis auf die Tatsache, dass beide Opfer Bräute und mit einer seltsamen Krone im Nacken tätowiert worden waren, gab es auf den ersten Blick keine weiteren Gemeinsamkeiten – bis auf das Messer. Es schien in beiden Fällen die gleiche Marke gewesen zu sein, doch endgültig wussten sie das erst, sobald der Bericht aus der Rechtsmedizin bei ihnen eingetroffen war.
Holger verspürte keinerlei Drang, die Akten Akten sein zu lassen und nach Hause zu fahren. Also packte er alles Wichtige in seine braune Aktentasche, die ihm Martina damals zu seinem fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum geschenkt hatte, und machte sich auf den Weg zu seiner Partnerin in Buschhütten, um sich mit ihr über die Morde auszutauschen.
Wie er sie kannte, brannte sie sicher genauso darauf, die beiden Fälle zu lösen, wie er. Schließlich hatte ihnen ihr Chef angedroht, Hilfe der Spezialisten aus Hagen anzufordern, sollten sie keinen Täter präsentieren können, bevor die Presse davon erfuhr.
Johanna wohnte in einer kleinen, aber gemütlichen Wohnung in der Nähe des Buschhüttener Freibads. Vorbei an der Grundschule, den Tennisplätzen, einem Aldi Markt und einer Stadtbank-Filiale erreichte er schließlich das alte, rote Backsteinhaus, vor dem er zu seiner Überraschung keinen schwarzen Golf GTI vorfand.
Johanna liebte schnelle Autos. Er wollte nicht wissen, wie viele PS ihr Schätzchen unter der Haube hatte. Einmal hatte er miterleben müssen, wie sie auf der Autobahn mit 120 Stundenkilometern durch eine Rettungsgasse gerast war.
Wo steckte sie? Johanna war seines Wissens nach abends immer zu Hause, nachdem sie ihre Trainingseinheit absolviert hatte. Zumindest bevor Daniel ins Spiel kam. Wie oft hatte sie ihm die Ohren vollgejammert, dass sie trotz der zwölf Jahre, die sie mittlerweile hier im Siegerland arbeitete, noch immer keine beste Freundin gefunden hatte, mit der sie Pferde stehlen und so richtige Mädelsabende mit Sekt und Topmodels feiern konnte.
»Hannilein, so kenne ich dich ja gar nicht«, hatte er sich lustig gemacht. »Also bist du eigentlich so eine verkappte Tussi, die sich die Nägel lackiert, mit Vergnügen in der Gala liest und sich mit ihrer Freundin zusammen eine Maske ins Gesicht schmiert?«, hatte er sie belustigt gefragt.
Die Antwort seiner Partnerin war etwas anders ausgefallen, als er erwartet hatte: »Bis auf die Freundin stimmt das wohl so.«
Herr, Gott im Himmel, lass sie bitte nicht bei dem Bankenfutzi sein! dachte er, als er nun gefrustet über Obersetzen, Unglinghausen, Eckmannshausen, Ölgershausen und Netphen nach Brauersdorf fuhr. Er wusste, dass er über die HTS schneller gewesen wäre, wollte die Zeit aber nutzen, sich eine gute Ausrede für diesen unangekündigten Abendbesuch zu überlegen.
Endlich in Brauersdorf angekommen, bog er in die Talsperrenstaße ab und stand zweihundert Meter weiter vor dem schicken Mehrfamilienhaus, in dem Daniel Treude seine Eigentumswohnung besaß. Johannas Golf stand vor der zweiten Garage. Holger nahm seine Aktentasche unter den Arm und ging zum Haus.
Nachdem er geklingelt und Daniel ihm völlig verdutzt die Tür geöffnet hatte, hörte er sich selbst einen Satz sagen, den er sich auf der Hinfahrt beileibe nicht überlegt hatte:
»Hannilein, da bin ich! Gut, dass du mich angerufen hast.«
»Gut, dass du mich angerufen hast? Sag mal, spinnst du?«, schimpfte Johanna, während Daniel außer Hörweite zum Kühlschrank ging, um für Holger ein Bier zu holen.
»Mir ist nichts Besseres eingefallen, tut mir leid.«
»Was machst du überhaupt hier? Hast du kein Zuhause?«
Sie schien Holger ertappt zu haben, denn er wich ihr mit seiner Antwort eindeutig aus.
»Mir sind da noch ein paar wichtige Dinge aufgefallen, die ich unbedingt mit dir besprechen muss.«
»Und das kann nicht bis morgen warten?« So leicht lasse ich dich nicht vom Haken. Nach zwei Bierchen und diesem heißen Tag, wirst du mir gleich eh Rede und Antwort stehen, warum du dich in der letzten Zeit so seltsam verhältst.
Daniel stellte das Bier vor Holger auf den Couchtisch und setzte sich gegenüber in den Sessel. Johanna versuchte Blickkontakt zu ihm aufzunehmen. Nach einer Runde Smalltalk war es ihr dann auch endlich gelungen, ihm mit den Augen verstehen zu geben, dass er sie beide bitte alleine lassen solle.
Bitte sei nicht böse. Ich hatte mir den Abend auch etwas anders vorgestellt, versuchte sie hinterherzuschieben. Ob ihr das gelungen war, wusste sie allerdings nicht.
Nachdem Johanna Daniels Platz auf dem Sessel gegenüber von Holger eingenommen hatte, forderte sie ihren Partner auf: »Na, dann schieß mal los!«
»Hey, es tut mir echt leid, dass ich dir den Abend verdorben habe, ehrlich«, begann Holger. Damit schien das Kapitel ‚verdorbener Abend’ für ihn erledigt zu sein, denn er stieg direkt mitten ins Thema ein.
»Ich verstehe das einfach nicht. Wo bitte liegen die Gemeinsamkeiten?«, schimpfte Holger. »Und welcher Verrückte sucht sich ausgerechnet Bräute als Opfer aus?«
In diesem Moment wurde Johanna klar, dass auch Holger die beiden Morde mehr zu schaffen machten, als ihr zuvor bewusst war. Es tat ihr gut zu wissen, dass Holger ähnlich gestrickt war wie sie, auch wenn er sich bemühte, das nicht so offen zu zeigen.
»Ich weiß es nicht. Allerdings sind wir mit der Gästeliste noch nicht ganz durch.«
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass der Täter auf der Gästeliste steht, oder?«
»Warum nicht? Soll es alles schon gegeben haben.«
»Haben denn die Reinschmidts überhaupt vorgehabt, groß mit Gästen zu feiern? Wenn ich das richtig gelesen habe, hatten sie doch nur eine standesamtliche Trauung geplant.«
»Ach, Holger, du bist echt noch einer der ganz alten Schule. Heutzutage heiraten immer weniger Paare kirchlich. Viele ziehen auch, für dich wahrscheinlich unvorstellbar, sogar ohne Trauschein zusammen. Aber ja, um deine Frage zu beantworten, die Reinschmidts hatten eine Feier im Bürgerhaus in Burbach geplant«, klärte Johanna ihn auf. »Du hättest das mal sehen sollen. Die Band war gerade dabei, ihre Sachen wieder abzubauen. Der Caterer war auch noch da und konnte nicht fassen, dass er ganz umsonst für sechzig Personen gekocht haben soll. Er hat mich tatsächlich gefragt, ob ich dem Bräutigam an seiner Stelle, trotz der ‚schlimmen Sache mit seiner Frau‘, das Essen in Rechnung stellen würde. Ist das zu fassen?«
»Du bist am Freitagabend echt noch nach Burbach in dieses Bürgerhaus gefahren?«, fragte Holger kleinlaut nach.
»Ja klar, ich wollte mir einen Gesamteindruck verschaffen. Und das war auch gut so. Glücklicherweise war ich deshalb gerade ganz in der Nähe, als die Leitstelle mich gegen halb elf am Abend angefunkt hat, dass zwei Jugendliche eine Leiche vor der Bibliothek gefunden hätten. Du warst ja an dem Abend nicht zu erreichen. Apropos erreichen. Wo bist du eigentlich gewesen? Und wieso war dein Handy aus?«, wollte Johanna wissen und sah Holger dabei mit festem Blick an.
»Das heißt, niemand hat im Bürgerhaus Bescheid gegeben, dass die Feier ausfällt?«
»Kannst du das dem Bräutigam verübeln?«, antwortete Johanna und ließ Holger sein Ausweichmanöver durchgehen. »In der Zeit, wo du dem Weidenauer Pfarrer einen Besuch abgestattet hast und Niklas Reinschmidt mit den Angehörigen vor dem Standesamt auf seine zukünftige Ehefrau gewartet hat, war ich schon mit den Kollegen am Tatort im Haus der Familie. Kein schöner Anblick, das kann ich dir sagen. Dass die arme Frau den Angriff nicht überlebt haben konnte, war aufgrund der Blutmenge sofort klar. Das hat auch Doc Kessler bestätigt. Aber das hast du ja sicher alles schon in den Akten gelesen, oder?«
Eigentlich war das eine rein rhetorische Frage, da Johanna die Antwort schon kannte. Holger hasste es, sich durch Akten zu wühlen. Er ließ sich das Wichtigste lieber erzählen.
»Die Blumenhändlerin zitterte noch am ganzen Leib, als wir dort eintrafen. ‚So eine nette Frau. Nein, so eine nette Frau!«, hatte sie immer wieder vor sich hingesagt. Von ihr haben wir dann erfahren, dass Linda Pieck einen Brautstrauß für ihre standesamtliche Trauung bestellt hatte. Also habe ich die Kollegen sofort zum Standesamt nach Neunkirchen geschickt, doch dort konnten sie keine Angehörigen finden. Im Bürgerbüro haben sie dann feststellen können, dass das Paar sich für seine Trauung die Bibliothek um die Ecke ausgesucht hatte.
»Wie, die Bibliothek? Seit wann kann man in einer Bibliothek denn heiraten?«
»Die Reinschmidts sind wohl beide richtige Leseratten und haben sich deshalb entschieden, das Trauzimmer im ersten Obergeschoss der Bibliothek anzumieten. Es ist wirklich nett dort.«
Und eigentlich ist das auch ein sehr schöner und romantischer Gedanke, hatte Johanna still hinzugefügt.
»Verstehe, dann ist das also eine weitere Gemeinsamkeit. Der Täter sucht sich genau die Orte aus, an denen sie sich das Jawort geben wollten, um dort seine Opfer abzulegen. Ob nun vor der Kirche oder vorm Standesamt«, dachte Holger laut nach.
»Genau!«, stimmte Johanna zu. »Aber woher wusste der Täter das? Die eine Frau kommt aus Weidenau, die andere aus Neunkirchen-Salchendorf. Er weiß, wo sie wohnen, wo sie sich trauen lassen wollen, er weiß ebenfalls, dass niemand zu Hause ist und er sich in aller Ruhe um die Bräute kümmern kann. Bei Judith Heinbach hat er sich sogar die Zeit genommen, um den Flur vom Blut zu säubern, als schien er genau zu wissen, wie groß sein Zeitfenster ist.«
»Das ist wirklich seltsam. Und wenn man bedenkt, wer alles in eine solche Hochzeit involviert ist. Der Juwelier, der Blumenhändler, der Pfarrer ...«
» ... der Friseur, der Caterer. Die Liste ist endlos lang. Wie sollen wir die alle überprüfen?«, vollendete Johanna die Gedanken ihres Partners. »Holger, denkst du, wir sollten uns vielleicht doch Hilfe aus Hagen holen? Alleine schaffen wir das nicht.«
»Hanni, klar schaffen wir das. Wir sind doch ein gutes Team.«
»Sind wir das?«
Holger sah Johanna lange an. Dann stand er auf und ging zur Tür. »Es tut mir wirklich leid, dass ich dich am Freitagabend mit der Leiche alleine gelassen habe. Das kommt nicht wieder vor. Versprochen! Und jetzt sieh zu, dass du zu deinem Bankheini ins Bettchen kommst!«, versuchte er die Ernsthaftigkeit aus dem Gespräch zu nehmen. »Wir sehen uns dann morgen.«
Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen. Ob das auch für Holger gilt? Johanna hatte da so ihre Zweifel.
»Hey Süßer, ist ja gut. Komm mal her, na komm!«, sagte Theresa liebevoll. Die Sommerferien waren gerade vorbei, sodass die vielen Kinder ihren Ferienhof verlassen hatten und sie sich wieder mehr Zeit für sich selbst und ihren Artemis nehmen konnte.
Theresa liebte ihr Pferd. Sie liebte es, auf seinem Rücken zu sitzen, alles um sich herum zu vergessen und sich von ihm in eine andere Welt galoppieren zu lassen.
Sie hatte ihn nach Artemis Fowl getauft, der Hauptfigur aus den Romanen, die sie durch ihre Jugendzeit begleitet hatten. Während sich ihre Freunde auf die Harry-Potter- Bücher gestürzt hatten, hatte sie das Artemis-Fowl-Fieber gepackt.
Als vor circa fünf Jahren der letzte Band auf den Markt gekommen war, hatte sie es kaum erwarten können. Sie war nach Netphen in die kleine Buchhandlung an der Lahnstraße gefahren und hatte dort erzählt, ihre Nichte sei verrückt nach diesem Buch und sie wolle es ihr zum Geburtstag schenken. Theresa musste lachen, weil es ihr damals zu peinlich gewesen war, mit ihren siebenund-zwanzig Jahren zu ihrem Faible zu stehen.
Sie hatte auf ihrem Hof acht eigene Pferde untergestellt, die alle gefüttert, gestriegelt und bewegt werden wollten. Täglich wartete viel Arbeit auf sie, die sie kaum bewerkstelligen konnte. Nur von dem Reitunterricht, den sie gab, konnte sie mit ihren Pferden nicht überleben, obwohl ihr Angebot in Hainchen und der näheren Umgebung sehr gut angenommen wurde. Das war die bittere Bilanz des letzten Jahres gewesen.
Mit gerade einmal sechsundzwanzig Jahren hatte sie den Hof von ihrer Oma geerbt, hatte ihre Arbeitsstelle im Tierheim in Castrop-Rauxel aufgegeben und war ins Siegerland zurückgekehrt. Hier auf diesem Hof hatte sie in ihrer Kindheit viele glückliche Stunden verbracht und auch die Liebe zu den Pferden entdeckt.
Anfang dieses Jahres hatte sie erkennen müssen, dass sie den Hof nicht länger bewirtschaften konnte. In den letzten sechs Jahren hatte sie einfach zu viel investieren müssen. Aus diesem Grund war sie wegen der notwendigen Kreditgespräche in die Siegener Stadtbank am Scheinerplatz gefahren.
Dort hatte sie Daniel getroffen. Es hatte ihr gutgetan, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Sie hatte zweimal hinschauen müssen, denn als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war sie elf und er zwanzig Jahre alt gewesen. Sie wusste noch, dass sie damals gedacht hatte, ihre Oma habe einen italienischen Jungen als Stalljungen für die Ferien eingestellt.
Seine markante Nase betonte noch immer sein attraktives Gesicht und seine dunkelbraunen Augen blickten auch heute noch fröhlich und gütig zugleich in die Welt. Seine tiefschwarzen Haare hatten an der einen oder anderen Stelle einen grauen Schimmer bekommen und er schien noch immer viel zu trainieren. Der Anzug stand ihm perfekt und einen Ehering hatte sie auch nicht an seinem Finger entdecken können. Was hatte sie damals für ihn geschwärmt – wie man eben mit elf Jahren so schwärmt.
Daniel war es auch, der ihr den Tipp gegeben hatte, aus ihrem Reiterhof einen Ferien-Reiterhof zu machen. Dieser Tipp schien im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert zu sein, denn sowohl in den Oster- als auch in den Sommerferien war sie komplett ausgebucht.
Es hatte eine Zeit gedauert, bis sie sich voll und ganz auf die vielen Kinder einlassen konnte. Es war schon etwas anderes, ob man einem Kind zwei bis drei Stunden in der Woche Reitunterricht gab, oder es fast vierzehn Stunden nonstop um sich hatte.
Mittlerweile aber hatte sie keinerlei Berührungsängste mehr. Streitereien, Angebereien und unaufgeräumte Zimmer wurden mit Stallausmisten bestraft, was zu ihrer eigenen Verwunderung stillschweigend von den Kids akzeptiert wurde.
Die Kinder liebten sie und sie war Daniel unendlich dankbar, dass er sie daran erinnert hatte, welch glückliche Zeiten sie in den Ferien regelmäßig bei ihrer Oma und auf dem Rücken der Pferde verbracht hatte.
»Und genau dieses Glück gibst du nun an deine Ferienkinder weiter«, waren seine Worte gewesen.
Theresa war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Stalltür vorsichtig geöffnet wurde und sich ihr von hinten leise jemand mit einer Mistgabel in der Hand näherte.
»Hey, Artemis, was ist los? Warum bist du denn so unruhig? Es ist alles gut, ich bin doch da ... schau mal, was ich dir mitgebracht habe!«, versuchte sie ihr Pferd zu beruhigen und holte einen Apfel aus ihrer Jackentasche. Doch Artemis ließ sich nicht beruhigen.
Sie konnte sich das nicht erklären. Er war doch sonst nicht so. Plötzlich legte jemand von hinten eine Hand auf ihre Schulter und ließ sie zusammenzucken.
»Mensch, Johanna! Hast du mich aber erschreckt!«
Holger hatte Mist gebaut. Das war ihm klar. Er hatte seine Partnerin im Stich gelassen und das war unverzeihlich. Wie sollte er das je wieder gutmachen? Er hatte ihr ein Vorbild zu sein. Er war der Ältere. Er war Kriminalhauptkommissar, sie Kriminaloberkommissarin. Wie hatte es bloß soweit kommen können? Im Polizeidienst musste man sich voll und ganz aufeinander verlassen können.
Johanna hatte völlig recht, wenn sie ihm vorwarf, nicht ganz bei der Sache zu sein. Das große Problem war nur: er hatte keine Ahnung, wie er aus seiner Lage wieder herauskommen sollte. Sollte er sich ihr anvertrauen? Oder seiner Frau Martina alles erzählen? Nein, das kann ich nicht, dachte Holger. Er sah jetzt schon die Enttäuschung in ihren Augen.
»Wie konntest du mir das antun?