Ein letzter Walzer - Beate Maxian - E-Book
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Ein letzter Walzer E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Ein letzter Walzer – dann schließt ein Liebespaar im Wiener Stadtpark für immer die Augen ...

Sarah Pauli, Chefredakteurin beim Wiener Boten, genießt die friedliche Sommeridylle in der Donaumetropole. Doch dann weckt ein mysteriöser Fall ihren Spürsinn: Im Stadtpark werden nach einem Walzerkonzert der Wiener Erfolgsdirigent Marko Teufel und seine heimliche Geliebte erstochen aufgefunden. Die Toten wurden auf einer Parkbank unweit des berühmten Johann-Strauß-Denkmals in Szene gesetzt, in ihren Händen liegt eine blutverschmierte Geige. Sarah, die ein Faible für Symbole und Aberglauben hat, will die Wahrheit herausfinden. Warum wurde hier Wiener Blut vergossen?

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Seitenzahl: 384

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Buch

Sarah Pauli, Chefredakteurin beim Wiener Boten, genießt die friedliche Sommeridylle in der Donaumetropole. Doch dann weckt ein mysteriöser Fall ihren Spürsinn: Im Stadtpark werden nach einem Walzerkonzert der Wiener Erfolgsdirigent Marko Teufel und seine heimliche Geliebte erstochen aufgefunden. Die Toten wurden auf einer Parkbank unweit des berühmten Johann-Strauß-Denkmals in Szene gesetzt, in ihren Händen liegt eine blutverschmierte Geige. Sarah, die ein Faible für Symbole und Aberglauben hat, will die Wahrheit herausfinden. Warum wurde hier Wiener Blut vergossen?

Weitere Informationen zu Beate Maxian sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Beate Maxian

Ein letzter Walzer

Der zwölfte Fall für Sarah Pauli

Ein Wien-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe April 2022

Copyright © 2022 by Beate Maxian

Copyright © dieser Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: GettyImages/spastonov; FinePic®, München

Redaktion: Susanne Bartel

KS · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24913-7V002

www.goldmann-verlag.de

Was glänzt, ist für den Augenblick geboren.

Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust

Sonntag, 6. Juni

Oh, verdammt«, stöhnte Jasmin. »Jetzt fängt’s tatsächlich an zu regnen.«

Sie sah den Dirigenten des Orchesters Wiener Melodien forschend an. Zarte Tropfen benetzten seinen Frack und das weiße Hemd. Auf der Parkbank, auf der sie saßen, zeichneten sich feuchte dunkle Flecken ab.

»Du hast ja sicherheitshalber einen Schirm mitgebracht«, merkte Marko Teufel verschmitzt lächelnd an und nickte nach rechts, wo der Schirm an der Bank lehnte.

»Trotzdem hatte ich gehofft, dass die Wetterfrösche falschliegen«, lamentierte sie und rückte ein Stück näher an ihn heran.

»Es nieselt doch nur, das stört mich nicht. Im Gegenteil. Es vertreibt die letzten Besucher aus dem Stadtpark. Dann sind wir endlich allein.«

Wegen der aufziehenden dunklen Wolken waren die Musiker des Orchesters und die Promigäste rasch in die Lounge des nahe gelegenen Hotels Imperial aufgebrochen, wo man obligatorisch den Konzertabend ausklingen ließ. Einige Fans waren noch geblieben, und Marko Teufel hatte seine Unterschrift auf Autogrammkarten, das Konzertprogramm und seine aktuelle CD gekritzelt. Aber seit wenigen Minuten waren alle verschwunden.

Er sah nach oben. Der Sprühregen schimmerte wie silbriger Staub am Nachthimmel. Bei dem Anblick erklang augenblicklich eine Melodie in seinem Kopf. So war es oft. Er sah etwas, und seine Gedanken summten, häufig im Dreivierteltakt. »Silberstaubwalzer«, so betitelte er seinen jetzigen Geistesblitz. Möglich, dass er die Tonfolge später niederschrieb, obwohl seine Leidenschaft dem Arrangieren von existierenden Stücken galt.

»Na dann!« Jasmin schenkte Champagner in zwei Gläser und reichte ihm eines. Es war zu ihrem gemeinsamen Ritual geworden, nach einer gelungenen Veranstaltung anzustoßen, abseits allen Trubels, nur sie beide. Und dennoch war das heute eine Premiere. Denn zum ersten Mal tranken sie den Champagner an einem öffentlichen Platz. Bisher waren sie dazu in Jasmins Wohnung gefahren oder hatten auf Tournee in einem Hotelzimmer den Champagner geköpft. Nach den offiziellen Feiern.

»Auf den erfolgreichen Auftakt zu Walzer im Park. Trotz Sonntagabend«, sagte Jasmin und stieß ihr Glas sanft gegen seines.

Nathalie Buchner, Markos Agentin und Jasmins Chefin, hatte bezüglich des Tages Bedenken geäußert. Sie hatte gemeint, dass die Leute sonntags an die bevorstehende Arbeitswoche dachten und deshalb keine Lust hätten, ein Konzert zu besuchen. Er hatte sich mit seinem Terminvorschlag durchgesetzt und sie Lügen gestraft. Der Park war brechend voll gewesen.

Marko nippte am Champagner und betrachtete Jasmin über das Glas hinweg. Sie arbeitete erst seit elf Monaten in der Agentur, war in der kurzen Zeit aber bereits unentbehrlich geworden und wickelte inzwischen all seine Projekte ab. Schon beim Kennenlernen hatte sein Entschluss festgestanden, Jasmin zu erobern. Die tizianroten Haare, ihre Sommersprossen auf dem Nasenrücken und ihr romantisch geschwungener Mund hatten es ihm sofort angetan. Dass er bald vierzig und sie zarte siebenundzwanzig war, störte sie beide nicht.

Marko nahm einen kräftigeren Schluck. Zur Entspannung. Sein Körper schüttete nach wie vor Adrenalin aus, und dieser Zustand würde noch eine Weile andauern. Das Lampenfieber vor dem Konzert und die Glückshormone hinterher peitschten ihn jedes Mal für Stunden hoch. Der Moment, wenn alle Augen auf ihn, den Dirigenten, gerichtet waren. Das Publikum den Atem anhielt in Erwartung der ersten Takte. Wenn das Orchester anfing zu spielen. Diesmal hatten sie das Konzert mit dem »Wiener Launen-Walzer« von Johann Strauß Vater eröffnet. Und beendet mit der heimlichen Hymne Österreichs: »An der schönen blauen Donau«, kurz »Donauwalzer«, von Johann Strauß Sohn. Der Walzerkönig stand als goldene Statue verewigt nur wenige Meter von ihrer Parkbank entfernt. Das meistfotografierte Denkmal in Wien, hatte Marko einmal gelesen.

Die Konzertreihe fand in diesem Jahr zum vierten Mal statt und würde sie in den nächsten Wochen durch ganz Österreich führen. Üblicherweise wurde die Tournee im Stadtpark gestartet. So wie heute Abend. Für die Ehrengäste und Promis hatte man Stühle vor der Bühne mit Blickrichtung Kursalon Hübner aufgestellt. Die Konzertbesucher, für die keine Sitzgelegenheit vorbereitet worden war, hatten Picknickdecken mitgebracht und diese auf der Rasenfläche ausgebreitet. Andere hatten sich auf den umstehenden Parkbänken niedergelassen.

»Du schaust übrigens verdammt gut aus in deinem Frack«, gurrte Jasmin.

»Und du in deinem dunkelblauen Samtkleid.« Er streckte eine Hand nach ihr aus, zog ihr Gesicht nahe an seines und küsste sie. Allzu gern hätte er seine Hand unter das Kleid geschoben, doch leider reichte es ihr bis zur Wade. Also begnügte er sich damit, seine Finger sanft über den Stoff gleiten zu lassen und dabei ihren Oberschenkel darunter zu erfühlen.

»Die Leute haben sich das Maul über dich und Ruth zerrissen«, sagte Jasmin nach dem Kuss.

Marko verzog den Mund und nahm die Hand wieder weg. Warum sprach sie ausgerechnet jetzt das leidige Thema an?

»War eh klar, dass ihr Auftritt im Imperial heute Abend Thema Nummer eins sein würde«, fuhr Jasmin in gehässigem Tonfall fort.

Der heftige Streit, den er vor wenigen Tagen mit seiner Frau gehabt hatte, sorgte leider Gottes für Gesprächsstoff.

Ihr Hochzeitstag stand kommenden Freitag an, doch an dem Abend würde er ein Konzert in Baden bei Wien geben und nachmittags proben, ergo keine Zeit haben. Weshalb er Ruth vergangenen Donnerstag zum Mittagessen ins Café Imperial im gleichnamigen Hotel eingeladen hatte. Er kaufte einen Strauß weißer Rosen, den der Kellner in eine Vase steckte und auf den Tisch stellte. Wie gewohnt zeigte sich Ruth im Laufe des Essens eifersüchtig und angriffslustig. Ihr sonst eher blasses Gesicht lief tiefrot vor Zorn an, als sie ihm Ignoranz und Egoismus vorwarf. Das Gespräch endete wie die meisten in letzter Zeit. Damit, dass sie ihm vorwarf, eine Affäre zu haben. Sobald sie sich dafür in Stellung gebracht hatte, zog sie die Mundwinkel noch weiter nach unten als üblicherweise. Ihr Anblick erinnerte ihn ob ihres hellen Lidschattens und des knallroten Lippenstifts an einen jämmerlichen Clown. Die Affäre bestritt er natürlich. Er und Jasmin verhielten sich äußerst vorsichtig.

»Du solltest nur glauben, was du mit eigenen Augen siehst«, entgegnete er.

»Und du solltest aufhören, mich wie eine Idiotin zu behandeln«, konterte sie und hielt ihm zwei Fotos unter die Nase. Eines zeigte ihn und Jasmin vor Jasmins Wohnhaus. Er hatte unvorsichtigerweise seine Hand um ihre Hüfte gelegt, weil er sich unbeobachtet gefühlt hatte. Auf dem anderen küsste er Jasmins Nacken.

Wer Ruth die unheilbringenden Fotos geschickt hatte, konnte oder wollte sie ihm nicht verraten. »Sie lagen in einem Kuvert im Briefkasten«, sagte sie nur.

Er hatte augenblicklich Robert oder Helene in Verdacht. Seinen Bruder, weil er ihm eins auswischen wollte. Und seine Schwägerin, weil sie ihn noch nie hatte leiden können.

»Da hat wohl jemand einen Privatdetektiv auf mich angesetzt«, knurrte er schließlich und gab ihr die Fotos so entspannt wie möglich über den Tisch zurück.

Ruth sprach an dem Tag erstmals von Scheidung. Er nahm ihre Hand, drückte sie. Eine Spur zu fest, doch er wollte damit verdeutlichen, dass das für ihn nicht infrage kam. Jedenfalls nicht zum aktuellen Zeitpunkt.

»Keine Scheidung kurz vor, während oder knapp nach einer Tournee oder einem wichtigen Auftritt«, knurrte er. Eine Trennung würde die Presse nur von seiner Arbeit ablenken.

Blöderweise hatte ihn und Ruth jemand genau in dem Moment fotografiert, als sie die weißen Rosen aus der Vase zog und sie ihm ins Gesicht schlug. Er hatte es nicht bemerkt, und der Fotograf hatte die Bilder der Presse zugespielt. Ein gefundenes Fressen für den Boulevard.

»Prügelt euch verdammt noch mal zu Hause«, hatte seine Mutter am Telefon getobt, nachdem der erste Artikel über eine etwaige Ehekrise des bekannten Dirigenten erschienen war. Eine positive Presse bedeutete Thekla Teufel alles. Seit dem Tod von Markos Vater, dem berühmten Tenor Berthold Teufel, drehte sich ihr Universum einzig um die Karriere und die Reputation ihrer Söhne. Robert, der Langweiler. Marko, der King des Walzers. Er schüttelte den Gedanken ab.

Der Regen wurde eine Spur stärker. Die Luft roch nach feuchter Erde, noch immer war es sommerlich warm. Jasmin griff nach dem großen Regenschirm und spannte ihn über ihren Köpfen auf.

»Zwischen Ruth und mir herrscht seit ihrem hysterischen Auftritt Funkstille«, sagte er gleichmütig. »Ich wohne seit Tagen im Hotel Imperial, wie dir nicht entgangen sein dürfte.« Er grinste anzüglich.

Jasmin hatte die letzten Nächte bei ihm verbracht. Sie bemühten sich nach wie vor um Diskretion, ließen sich nie gemeinsam in der Lobby blicken und fuhren niemals zeitgleich mit demselben Lift. Marko war noch stärker als sonst zur Vorsicht gezwungen. Sein Ruf eilte ihm voraus. Jasmin war nicht sein erster Fehltritt in seiner Ehe mit Ruth. Doch mit ihr war es anders. Mit ihr führte er Gespräche auf Augenhöhe, sie erschien ihm ebenbürtig. Seine bisherigen Ausrutscher hatten ihn ausschließlich angehimmelt. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass er ihre Aufmerksamkeit nicht genossen hätte. Doch davon abgesehen hatte ihn das demütige Anhimmeln auch schnell gelangweilt. Er rückte ein Stückchen näher, heftete seinen Blick auf Jasmins Brüste, die sich unter dem eng anliegenden Kleid abzeichneten. Sie goss Champagner nach.

»Hoffentlich macht sie ihre Drohung nicht wahr und cancelt ihr Sponsoring für dein Projekt.«

Er lächelte gequält. Auf jeden Fall würde sie das tun, spätestens wenn sie von seinen weiteren Plänen erfuhr. Sie würde alles daransetzen, seine Visionen zu zerstören, denn er hatte nicht nur eine. Seine Idee, die Ruth kannte, war, Wiens Ruf als Walzerstadt nicht nur durch die weltberühmte Musik, sondern auch durch Kunst im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Sein Freund Gabriel Kern, ein Installationskünstler und Bildhauer aus Graz, war gerade dabei, meterhohe Musiknoten in Edelrostoptik zu gestalten, die zusammengefügt Takte des »Donauwalzers« ergaben. Marko plante, sie an ausgewählten Orten in Wien aufzustellen. Die erste Note nahe dem Johann-Strauß-Denkmal im Stadtpark. Die zweite in der Millöckergasse, direkt beim Papagenotor, dem ehemaligen Hauptportal des Theaters an der Wien, in dem im April 1874 die Uraufführung der Operette Die Fledermaus stattgefunden hatte. Die dritte vor dem ehemaligen Wohnhaus der berühmten Musikerfamilie des neunzehnten Jahrhunderts in der Praterstraße. Dort, wo Strauß Sohn in den 1860er-Jahren den »Donauwalzer« komponiert hatte. Heute war darin ein Museum der Strauß-Dynastie beheimatet. Auch die restlichen Standorte der Noten hatte Marko nach und nach festgelegt.

»Gabriel hat mich vor dem Konzert angerufen«, sagte er. »Er arbeitet bereits am Modell der Walzerstadt und will es mir zeigen, sobald wir in Graz sind.« Am Schlossberg in der steirischen Hauptstadt endete traditionell die Konzertreihe Walzer im Park.

»Ich rufe am Montag gleich beim zuständigen Amt für die notwendigen Genehmigungen an«, erwiderte Jasmin.

Marko nickte. Er plante, die Stadt Wien in der Sache als Kooperationspartner zu gewinnen. Die ersten diesbezüglichen Gespräche hatte Nathalie bereits geführt, sie waren Erfolg versprechend verlaufen. Marko hatte vorgeschlagen, nächstes Jahr zu seinem vierzigsten Geburtstag ein großes Fest zu feiern und im Zuge dessen das Projekt Walzerstadt Wien einzuweihen. Unter der Voraussetzung, dass bis dahin alle Noten an ihrem vorgesehenen Platz standen.

»Ich kann die Neider jetzt schon hören«, lachte er. »Wen hat der Teufel geschmiert, um den Schwachsinn umsetzen zu dürfen?«

Er wusste, dass seine Idee nicht allen gefiel. Erst kürzlich hatte sich der Musikjournalist Patrick Jattel in einem Artikel abfällig über das Projekt geäußert. Es als unnötigen Kitsch abgetan. Rasch schob er den dunklen Gedanken an einen seiner schärfsten Kritiker beiseite. Der Kerl war ein lästiger Zyniker und überflüssig wie eine Zecke. Es war müßig, länger über ihn nachzudenken.

Jasmin teilte den restlichen Champagner zwischen ihnen auf. Nach diesem letzten Glas würden sie aufbrechen. Ob in die Lounge oder direkt in sein Hotelzimmer, entschieden sie spontan. Der Regen wurde stärker, die Luft langsam kühler. Das Prasseln auf den Schirm schluckte fast alle Umgebungslaute. Die am Parkring fahrenden Autos klangen dumpf.

Jasmin stellte ihr halb volles Champagnerglas auf den Boden. Dann umklammerte sie den Griff des Regenschirms mit beiden Händen, zog ihn dicht über ihre Köpfe, beugte sich nach vorn und legte ihre Lippen auf Markos. Sie zitterten leicht. Ihr Verlangen war spürbar. Er ließ sein Glas fallen. Es landete geräuschlos im Rasen. Er erwiderte ihren leidenschaftlichen Kuss, umfasste mit seinen Händen ihre Taille. Von einem Moment auf den anderen flog der Schirm zur Seite, als hätte ihn eine Windbö erfasst. Beinahe gleichzeitig drehte Jasmin den Kopf und sackte nach vorn, als hätte sie einen Schlag bekommen. Eine Hand schoss von hinten auf sie zu, packte sie an den Haaren und riss sie zurück, während eine andere auf sie einstach.

Marko starrte geschockt auf den Arm der dunklen Gestalt, der sich immer und immer wieder hob und senkte. Sein Verstand funktionierte nicht. Was zum Teufel war das? Ein Messer? Ein Stichel? Er spürte weder seine Arme noch seine Beine. Er war wie gelähmt. Hinter seinen Schläfen pochte es heftig. Sein Kopf drohte zu zerspringen. Was war das hier? Ein Raubüberfall? Er versuchte zu begreifen, zu helfen. Sollte er dem Angreifer etwas anbieten, damit er damit aufhörte?

»Ich geb Ihnen Geld«, krächzte er.

Hatte er das wirklich gesagt oder die Worte nur gedacht? Unvermittelt ließ die Kreatur von Jasmin ab und wendete sich ihm zu.

Der Stich in den Hals überraschte Marko. Instinktiv zuckte seine Hand zur Halsschlagader. Etwas Warmes floss über seine Finger. Sein Körper pumpte Blut aus der Wunde. Seine Beine begannen zu zittern, dann durchfuhr seinen Körper ein heftiges Beben. Wie durch einen Nebelschleier sah er, wie Jasmin zur Seite fiel. Wie sich auf der Bank eine Blutlache bildete, vermischt mit Regenwasser. Er versuchte zu schreien. Doch seiner Kehle entwich einzig ein klägliches Gurgeln. Dann kippte die Welt vor seinen Augen.

Sarah Pauli war schon öfter im Hotel Imperial an der Ringstraße gewesen, doch der Anblick des majestätischen Interieurs überwältigte sie bei jedem Besuch aufs Neue. Im Foyer standen rot gepolsterte Sitzbänke im Stil des neunzehnten Jahrhunderts. Sie fragte sich, ob es je jemand wagte, darauf Platz zu nehmen. Alles sah noch immer aus wie die Privatresidenz des Herzogs Philipp von Württemberg, in dessen Auftrag das Gebäude bis 1865 erbaut worden war. Heute war es ein Hotel für Touristen, die das notwendige Kleingeld besaßen, um sich den Luxus leisten zu können. Sein Besitzer war ein Konzern in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

»Was meinst du, poliert den ganzen Marmor täglich eine eigens dafür abgestellte Putzkolonne auf Hochglanz?«, raunte sie ihrem Lebensgefährten David zu.

»Keine Ahnung«, antwortete er teilnahmslos.

Selbst sein Desinteresse konnte Sarahs Begeisterung keinen Abbruch tun. Es gab kaum eine Ecke, die nicht mit dem edlen Material ausgelegt war. »Außerdem wüsste ich gerne, wie man die da oben putzt.« Sie zeigte auf die imposanten Kronleuchter an der Decke.

Davids dunkle Augen folgten ihrem Finger. »Ich bin mir sicher, dafür gibt’s Spezialisten«, antwortete er genauso gleichgültig wie zuvor.

»Wahrscheinlich hast du recht«, pflichtete sie ihm bei, weil sie sich an eine TV-Dokumentation erinnerte, in der das Reinigungsprozedere gezeigt worden war. Sie ließ den Blick weiter und über die goldgerahmten Gemälde an der Wand gleiten.

Sarah traf man selten auf einem Fest mit hohem Promianteil. Falls sie sich dennoch erweichen ließ hinzugehen, flüchtete sie sich meist in eine Ecke, von der aus sie das Geschehen beobachten konnte. Sie interpretierte gerne die Gesten und das Lächeln der Gäste und sortierte es in Schubladen: bemüht, gequält, herzlich, glücklich, offen, falsch.

Heute lag die Sache ein wenig anders. Ein Glas Wein mit David an der Bar in der Lounge des Hotels versprach einen eleganten Tagesausklang. Und den hatten sie sich verdient. Seit Wochen schon hatten sie keine Zeit gefunden, miteinander auszugehen. Wobei das Konzert Walzer im Park für sie kein zwangloses Vergnügen gewesen war. David war Herausgeber des Wiener Boten und Sarah Chefredakteurin desselben. Sie hatten beide eine VIP-Einladung zum Auftakt der Konzertreihe bekommen und sich verpflichtet gefühlt, diese anzunehmen. Trotzdem verbuchte Sarah den Abend unter Privatleben, weil sie ausschließlich zum Händeschütteln, Small-Talk-Machen und Walzerklängen-Lauschen verdonnert waren. Das Konzert hatte in keinem exklusiven Konzertsaal, sondern unter freiem Himmel und in lockerer Atmosphäre im Stadtpark stattgefunden. David trug einen dunkelgrauen Zweiteiler, der ihm ausgezeichnet stand, und Sarah einen dunkelroten Hosenanzug, der ihren südländischen Typ unterstrich. Weil sie keine Lust auf kalte Füße gehabt hatte, hatte sie sich für dazu passende knöchelhohe, elegante Stiefeletten entschieden. Ihre halblangen dunkelbraunen Haare hatte sie locker nach oben gebunden. Das einzige Schmuckstück, das sie trug, war wie üblich ihre Halskette mit dem roten Corno. Das italienische Horn schützte dem Volksglauben nach vor dem Bösen Blick, einem Schadenzauber. Es war Sarahs Lieblingsschmuck.

Die Lounge war gesteckt voll. Musiker, teilweise noch im Auftrittsfrack, und elegant gekleidete Besucher plauderten, lachten oder tauschten den neuesten Klatsch aus. Im Raum hing eine Duftmischung unterschiedlicher Parfums und Aftershaves. Alles zusammen verschmolz zu Champagnerlaune, fand Sarah. Sämtliche Hocker an der Bar waren besetzt, doch Conny gelang es, ihnen ein paar samtige goldgelbe Ohrensessel zu sichern. Die Kleidung von Sarahs Kollegin Conny Soe, der Society-Lady des Wiener Boten, und deren Accessoires waren wie üblich perfekt aufeinander abgestimmt. Conny trug einen royalblauen Jumpsuit mit Korsettoberteil. Die hellgraue Lederhandtasche passte zu den gleichfarbigen Pumps. Ihre kupferroten Locken hatte sie hochgesteckt, an den Ohren baumelten goldene Creolen. Sie war die unumstrittene Mode-Ikone des Wiener Boten.

David holte an der Bar drei Gläser Cabernet Sauvignon und reichte Sarah und Conny je eines. »Auf einen gelungenen Abend«, sagte er und prostete ihnen zu.

Sie folgten seinem Beispiel.

Conny reckte den Kopf, während sie am Rotwein nippte.

»Suchst du wen?«, fragte David.

»Ich hatte gehofft, Teufels Agentin Nathalie Buchner oder zumindest ihre Mitarbeiter Jasmin Meerath oder Arthur Zink hier zu treffen. Ich brauch einen Überblick über die Promis, die heute unter den Gästen waren. Nicht dass ich am Ende jemand Wichtigen vergesse.« Die letzten zwei Worte hatte sie übertrieben betont.

»Das hast du doch noch nie«, erwiderte David.

»Ich werde älter, und ohne meine neue Freundin kann es durchaus passieren, dass ich etwas oder jemanden übersehe.«

Sarah und David runzelten fragend die Stirn.

Conny stellte ihr Glas auf dem ovalen Glastisch ab, zog ein Brillenetui aus ihrer Handtasche und klappte es auf.

»Seit wann trägst du eine Brille?«, fragte Sarah erstaunt.

»Ich hab sie gestern beim Optiker abgeholt.«

»Aufsetzen!«, forderte Sarah sie auf.

Conny seufzte ergeben und tat ihr den Gefallen. Das Designermodell von Armani im dezenten Rostbraun war perfekt auf ihre Haarfarbe und ovale Gesichtsform abgestimmt.

»Die steht dir ausgezeichnet«, stellte Sarah fest.

»Absolut«, pflichtete ihr David bei, nachdem Sarah ihn mit dem Ellbogen angestupst hatte. »Hat Simon vorhin denn keine Fotos gemacht?«

Der Fotograf und Computerexperte des Wiener Boten machte normalerweise unzählige Bilder, sodass Conny zumeist die Qual der Wahl hatte, wenn sie für ihre Society-Seite einige auswählen musste.

»Schon und sicher mehr als genug«, erwiderte Conny erwartungsgemäß. »Trotzdem hätte ich gerne eine Gästeliste.« Sie nahm die Brille wieder ab und steckte sie weg. »Egal, dann ruf ich eben morgen in der Agentur an. Sie sollen mir die Liste mailen.«

»Lass die Brille auf. Du schaust toll damit aus«, sagte Sarah.

Conny lächelte gezwungen. »Ab morgen oder übermorgen.«

»Nathalie Buchner hat sich schon im Stadtpark von mir verabschiedet. Sie wollte gleich nach Hause fahren, weil sie morgen früh rausmuss«, begründete David die Abwesenheit der Agenturchefin.

»Damit ist alles klar«, seufzte Conny. »Wenn die Chefin die Feier schwänzt, tun es die Mitarbeiter ihr gleich. Zumal auch der Star des Abends fehlt, wie’s ausschaut. Oder seht ihr Marko Teufel irgendwo?« Conny drehte ihren Kopf nach links und rechts.

Auch Sarah und David sahen sich um und schüttelten dann fast synchron den Kopf.

»Dass Jasmin fehlt, hat sicher nichts mit ihrem Job zu tun. Es sei denn, sie verrechnet neuerdings die Stunden, die sie sich vom Maestro flachlegen lässt«, schreckte sie plötzlich eine fremde Stimme hoch. Eine Frau Anfang dreißig in einem geblümten Kleid und mit haselnussbraunen Haaren, die ihr über die Schultern fielen, ließ sich auf einem der beiden noch freien Sessel nieder. In der Hand hielt sie ein Glas Weißwein.

»Oh, hallo«, begrüßte Conny sie und stellte Sarah und David die Unbekannte als Arina Zopf vor. »Sie ist eine begnadete Pianistin«, fügte sie lächelnd hinzu.

Sarah sah Conny genauer an, konnte an ihrer Mimik aber nicht ablesen, ob ihr Wohlwollen ernst gemeint oder geheuchelt war.

Die Musikerin hob zur Begrüßung ihr Weinglas.

David und Sarah nahmen ihre Rotweingläser und stießen mit ihr an.

»Die zwei wälzen sich sicher schon im selben Bett«, sagte Arina Zopf mit einem bissigen Unterton und stellte das Glas ab. Man hörte deutlich, dass dieses Achterl Wein nicht ihr erstes war. Ihr Zeigefinger stach anklagend Richtung Decke, wo, wie im Foyer, ein funkelnder Kronleuchter hing.

Sarah sah fragend in die Runde, weil sie die Anspielung nicht sofort verstand.

»Seit dem Streit mit seiner Frau wohnt Marko Teufel hier im Hotel. Und den Gerüchten nach haben Jasmin Meerath und er eine Affäre«, erklärte Conny.

»Gerüchte!« Arina Zopf lachte so schrill, dass Sarah befürchtete, die Gläser am Tisch könnten zerspringen.

»Dass die beiden was miteinander haben, ist so klar wie Leitungswasser. Traurig genug, dass er nicht mal mehr ein allzu großes Geheimnis um das Pantscherl macht«, fuhr die Pianistin fort.

»Der Mann ist verheiratet«, wendete Sarah vorwurfsvoll ein.

»Tja, manche nehmen es mit der ehelichen Treue nicht so genau. Sicher hat ihm seine Frau deshalb die Blumen um die Ohren g’hauen. Ihr habt das Foto eh alle g’sehen und den Artikel g’lesen, auch wenn sich der Wiener Bote in der Sache vornehm zurückhält.« Sie schickte ein schiefes Lächeln in Connys Richtung, ehe sie zischte: »G’schieht ihm recht, diesem Mistkerl! Was lässt er sich auch mit dieser rothaarigen Hexe ein. Der sollte man Friedhofserde ins Gesicht schmieren.«

»Was heißt, er lässt sich mit ihr ein?«, fragte Conny treuherzig und hielt mit der Pianistin Augenkontakt, um nur ja keine ihrer Regungen zu verpassen. »Sie organisiert immerhin seine Tourneen und PR-Auftritte.«

Arina Zopf schnaubte und klang dabei zugleich belustigt und verächtlich. »Und weil sie in der Agentur Mitarbeiterin des Jahres werden will, macht sie für ihn auch noch die Beine breit.«

Sarah sah Conny an der Nasenspitze an, dass ihr eine Bemerkung auf der Zunge lag. Aber die Society-Löwin war Profi. Sie verzog den Mund nur zu einem verschwörerischen Lächeln und wartete darauf, dass die Musikerin fortfuhr.

Doch die schien jemanden entdeckt zu haben. Sie sprang auf und winkte Richtung Eingang. »Gregor! Gregor!«, rief sie über die Köpfe einiger Gäste hinweg, die dem Geschrei nur wenig Beachtung schenkten.

In der offenen doppelflügeligen Tür stand ein Mann mit Brille und braunen Locken. Er sah sich suchend um. Sein Blick war gehetzt.

Conny beugte sich zu Sarah. »Warum Friedhofserde?«, fragte sie flüsternd.

»Anno dazumal dachte man, Graberde würde vor Hexerei und Behexung schützen. Vielleicht glaubt sie, Jasmin hätte den armen Marko Teufel verhext«, mutmaßte Sarah.

Conny hob die Augenbrauen. »Wenn Arina so etwas weiß, scheint mir eher sie die Hexe zu sein. Nicht Jasmin.«

»Gregor, Gregor!«, wiederholte die Pianistin eine Spur lauter und verstärkte dabei ihr Armwedeln.

In dem Moment klopfte ein Mann im dunkelblauen Anzug mit schütterem grauem Haar David auf die Schulter. Als Sarahs Freund sich umwandte, blitzten seine Augen erfreut auf. Er erhob sich und umrundete den Sessel, um besser mit dem Neuankömmling reden zu können. Sarah kannte ihn nicht.

Endlich hatte Arina Zopf die Aufmerksamkeit des Mannes am Eingang auf sich gezogen. Er steuerte direkt auf sie zu, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, schüttelte ihnen allen nacheinander die Hände und stellte sich vor.

Conny raunte Sarah zu, dass Gregor Baldic ein genialer Klarinettist sei und sie ihn schon mehrmals im Porgy & Bess, dem Jazzclub in der Riemergasse, gesehen habe.

»Wo warst du?«, fragte die Pianistin vorwurfsvoll. »Wir waren für halb elf verabredet. Jetzt ist es«, sie sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr, »elf. Du bist eine halbe Stunde zu spät.«

»Hatte noch was zu tun«, antwortete der Musiker knapp und rief im Stehen seine Bestellung Richtung Bar.

Einer der Barkeeper nickte als Antwort.

Nachdem sich der Fremde im dunkelblauen Anzug von David verabschiedet hatte, begrüßte dieser Baldic, ehe sich beide setzten.

»Wer war das?«, erkundigte sich Sarah bei ihrem Freund.

»Theo Eisen. Er ist Musikalienhändler, sein Laden liegt in der Innenstadt in der Herrengasse. Er hat mir grad erzählt, dass er ein riesengroßer Fan von Marko Teufel ist. Wollte meine Meinung zu dessen neuester Idee wissen.«

Sarah hob die Augenbrauen. »Das Projekt mit den riesigen Musiknoten?«, hakte sie nach. Der Wiener Bote hatte in der letzten Woche einen großen Bericht darüber veröffentlicht. »Und warum fragt er da dich?«

David zuckte mit den Achseln. »Er überlegt, eine Musiknote zu finanzieren. Dafür würde ein Schild mit dem Namen seines Ladens daran angebracht werden.«

»Ähnlich wie bei den Tierpatenschaften im Schönbrunner Zoo«, witzelte Conny. »Da wird das Schild dann am Gehege oder so festgeschraubt.«

»Walzerstadt Wien«, kommentierte Gregor Baldic ihre Unterhaltung abfällig. »Vielleicht sollten wir endlich mal damit beginnen, uns eine neue künstlerische Identität zuzulegen, als ständig das Zeug aus längst vergangenen Zeiten wiederzukäuen.« Der Klarinettist schüttelte den Kopf. »Aber solange Mozart, Strauß, Lanner und Co sich noch gewinnbringend vermarkten lassen und massenweise Touristen anlocken, wird Österreichs musikalische Definition in der Welt wohl rückwärtsgerichtet bleiben.«

Er hielt inne, weil ein Kellner ihm das bestellte Achterl Weißwein brachte.

Sarah überraschte Baldics heftige Kritik. Spielte er nicht in Teufels Orchester und verdiente mit Walzern gutes Geld? Sie verkniff sich die Frage. An diesem Abend hatte sie keine Lust auf eine Diskussion.

»Und jetzt kommt der Marko auch noch mit diesen Scheißmusiknoten daher«, polterte Baldic unterdessen weiter. »Als ob der vergoldete Strauß im Stadtpark nicht Kitsch genug wäre.«

»Der Jattel hat das Projekt in seinem letzten Artikel ziemlich verrissen«, ergänzte Arina Zopf, um zu verdeutlichen, dass ihr Freund nicht allein mit seiner Meinung dastand.

Die Wiener Zeitungsbranche war klein. Sie alle kannten den Musikjournalisten und Kritiker Patrick Jattel. Er wurde gefürchtet, verachtet und geliebt zugleich. Je nachdem, ob man gerade in seiner Gunst oder auf seiner Abschussliste stand. Vereinzelt glichen seine Verrisse reinen Vernichtungsschlägen. Musiker, die ihm unsympathisch waren, zertrat er zuweilen wie eine Laus. Nur um seine Macht zu demonstrieren.

»Wenn’s mal so weit ist, wird wohl nur eine Handvoll Künstler an Jattels Grab um ihn trauern«, hatte Conny einmal behauptet.

Sarah seufzte innerlich. Sie hatte sich auf einen entspannten Tagesausklang mit David gefreut. Stattdessen saß sie jetzt nicht nur mit einem Grantler an einem Tisch, sondern auch mit einer Frau, die mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Jasmin Meerath und Marko Teufel nicht hinterm Berg hielt. Sarah war von beiden gewaltig genervt. Ihrer Meinung nach war es unerhört, sich ungefragt zu Leuten dazuzusetzen und ihnen dann die Stimmung zu versauen. Ihre Laune war auf dem Weg in den Keller.

David schien zu bemerken, was in ihr vorging. Er warf ihr einen Blick zu, der sagte: Lass uns abhauen.

Sie nickte unauffällig. Zum Glück hatte Conny gerade einen Schauspieler entdeckt, den sie angeblich schon lange etwas fragen wollte. Sarah vermutete, dass sie ebenfalls einen Grund zum Flüchten suchte. Arina Zopf und Gregor Baldic waren wirklich keine Stimmungskanonen. David und sie nutzten ihre Chance, sich ebenfalls zu verabschieden, als Conny sich mit ihrem Glas in der Hand zu anderen Ufern aufmachte.

»Dieser Baldic war ein bisserl anstrengend«, merkte David auf dem Weg zum Ausgang an.

»Ein bisserl?« Sarah verdrehte die Augen.

»Lass uns daheim noch was trinken und über was Schönes reden.« Er küsste ihren Nacken. »Nur wir zwei.«

Sie lächelte. Daheim. Inzwischen klang das vertraut. Dabei hatte Sarah ihre Wohnung am Yppenplatz vor knapp mehr als einem Jahr nur schweren Herzens verlassen. Doch inzwischen hatte sie ihr Zuhause im beschaulichen Cottageviertel im achtzehnten Bezirk in ihr Herz geschlossen. Sie bewohnten ein Apartment im Erdgeschoss einer dreistöckigen Villa mit roter Backsteinfassade aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die David gehörte. In dem kleinen Garten im Hinterhof zog Sarah Kräuter. Über ihnen wohnten ihr Bruder und seine Freundin. Gabi war zugleich Sarahs beste Freundin und Davids Sekretärin. Sarah war glücklich, dass Chris eingewilligt hatte, ebenfalls einzuziehen. Nicht mehr mit ihrem jüngeren Bruder das Zuhause zu teilen war für Sarah anfangs undenkbar gewesen. David war ihre große Liebe, aber Chris ihre gesamte Familie, die sie noch hatte. Als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, war er siebzehn gewesen und bald darauf zu Sarah gezogen. Sie beide hatten sich gegenseitig Halt gegeben und waren seitdem unzertrennlich. Und das würden sie vermutlich ihr Leben lang bleiben.

Sarah und David verließen das Hotel, und er winkte einem Taxi.

Die Straße war nass. Anscheinend hatte es in der letzten Stunde geregnet.

Montag, 7. Juni

Sarah räkelte sich, um den letzten Rest Müdigkeit zu vertreiben. David brummte etwas Unverständliches im Halbschlaf. Zärtlich küsste sie seinen Rücken, sog seinen Geruch ein und träumte noch einen Atemzug lang von letzter Nacht. Sie hatte befürchtet, dass die Anziehungskraft nachließ, sobald sie gemeinsam unter einem Dach lebten. Doch das Gegenteil war der Fall. Sie wuchsen immer enger zusammen. Sein Humor, seine Zuverlässigkeit, seine mentale Stärke und seine schier endlose innere Ruhe faszinierten Sarah wie am ersten Tag. Während sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf den Wecker. Es war zehn Minuten vor halb acht, bald würde er läuten. Sie schaltete ihn aus, schälte sich aus dem Boxspringbett, das sie sich kürzlich zugelegt hatten.

Im Flur kam ihr Marie entgegen. »Guten Morgen, Süße.« Sarah ging in die Knie und strich der schwarzen Halbangora übers Fell.

Die Katze schnurrte, streckte sich wohlig unter den Liebkosungen.

Sarah bewunderte nicht zum ersten Mal die Biegsamkeit ihres Stubentigers. »Ich geh schnell ins Bad, dann gibt’s Frühstück«, sagte sie und richtete sich wieder auf. Duschen und Haare waschen. Dieses Ritual brachte sie morgens in Schwung.

Marie rollte sich auf den Rücken, machte sich lang. Sarah ging ins Bad und konnte spüren, wie sie ihr nachsah.

Zwanzig Minuten später betrat sie die offene Küche im Landhausstil, in ihren Bademantel gehüllt und die feuchten Haare mit einem Handtuch umwickelt. David bereitete Kaffee für sich und Grüntee für Sarah zu. Obwohl sie den Tag zumeist mit Tee begann, liebte sie den morgendlichen Kaffeeduft. Und wenn David in Jogginghose und mit nacktem Oberkörper leicht verschlafen in der Küche hantierte, überkam sie ein Gefühl von Behaglichkeit. Das Radio lief. Stevie Wonders »I Wish« füllte die gesamte Wohnung. Sarah stellte sich neben David, schwang ihre Hüften im Takt und grölte den Refrain mit.

Er lächelte breit und küsste sie auf die Wange. »Guten Morgen.«

»Morgen, mein Held, der mich gestern vor einem schrecklichen Abend gerettet hat«, erwiderte sie schelmisch.

Er zog ihr das Handtuch vom Kopf und fuhr ihr durch die Haare. »Die sind ja noch feucht.«

Sie lachte. »Was dachtest du denn?«

»Bei dir kann man nie wissen, immerhin bist du eine Hexe.« Er grinste spitzbübisch. »Kann ich schnell duschen, oder musst du gleich noch mal ins Bad zum Haareföhnen?«

»Mach ich später. Wir haben ja noch ein bisserl Zeit.« Sie hatten vor, um halb zehn in der Redaktion zu sein. Um zehn stand wie jeden Montag die alle Ressorts umfassende Sitzung an. Sarahs Aufgabe als Chefredakteurin war es, diese zu leiten.

Als David verschwunden war, nahm Sarah ihre Teetasse, stellte sich ans Fenster und begann erneut zu tanzen.

»I wish«, trällerte sie dem wolkenlosen Himmel entgegen. Die Sonne warf bereits die ersten Schatten. Marie tauchte auf und strich um ihre Beine. »Da bist du ja wieder. Hast doch noch eine Runde geschlafen, gell?« Sarah drehte sich um, griff nach einer Katzenfutterdose mit Barsch in Gelee, öffnete sie und rümpfte die Nase. »Wie kannst du das Zeug nur schon morgens fressen?«

Die letzten Takte des Songs ertönten, dann wurde Stevie Wonder vom Radiomoderator abgelöst. Schnurrend presste Marie ihren Körper fest an Sarahs nackte Wade.

Sie bückte sich, kraulte der Katze den Kopf und schabte dann das Futter mit einem Löffel aus der Dose in Maries Napf. Anschließend stellte sie die leere Futterdose ins Spülbecken, ließ sie bis zum Rand mit Wasser volllaufen, wusch sich die Hände und steckte zwei Scheiben Toastbrot in den Toaster.

Fünf Sekunden nachdem der Moderator die Morgennachrichten angekündigt hatte, begrüßte der Nachrichtensprecher die Hörer und berichtete gleich darauf von einem Doppelmord im Stadtpark.

Sarah hielt inne und drehte den Kopf zum Radio, als wollte sie sich vergewissern, dass der Sprecher tatsächlich von Mord gesprochen hatte. In den nächsten beiden Minuten erfuhr sie, dass ein Mann und eine Frau tot aufgefunden worden waren, deren Identität bislang noch ungeklärt war. Die Meldung enthielt nur grobe Erstinformationen.

Das Toastbrot sprang aus dem Toaster. Sarah nahm es heraus, bestrich es mit Butter und Himbeermarmelade, während der Nachrichtensprecher zum nächsten Bericht überging.

Sie legte das Messer beiseite und holte ihr Handy, das am Esstisch lag. Mit einem Blick aufs Display sah sie, dass Maja, die Redakteurin des Chronik-Ressorts, ihr vor zehn Minuten eine Nachricht geschickt hatte. Komme später in die Redaktion. Bin im Stadtpark. Mordfall.

David stand plötzlich in der Tür. Er war barfuß, hatte um seine Hüften ein Handtuch gebunden und duftete nach Duschgel.

Sarah reichte ihm den Teller mit den Marmeladentoasts. »Iss du, ich muss telefonieren. Im Stadtpark ist was passiert.« Sie rief Maja an.

David aß den ersten Toast, während er den Blick auf sie gerichtet hielt.

Die junge Journalistin hob nach dem zweiten Läuten ab.

»Hallo, Maja, ich bin’s, was ist passiert?«

»Die Polizei hält sich noch bedeckt. Aber es gibt zwei Tote nahe dem Johann-Strauß-Denkmal.« Papier raschelte. »Laut ersten Infos wurden sie erstochen. Zwei Arbeiter, die heute Morgen die Bühne vom gestrigen Konzert abbauen sollten, haben sie entdeckt. Ich hab mich bereits nach ihnen umgesehen, aber ohne Erfolg. Entweder werden sie noch von der Polizei befragt, oder man hat sie inzwischen weggeschickt, damit wir sie nicht in die Finger bekommen.«

»Ist Stein da?«

»Ja. Er leitet die Ermittlungen. Aber bis jetzt konnte ich noch nicht mit ihm sprechen.«

Den bulligen Chefermittler und Sarah verband eine enge Freundschaft. In der Zeit ihres Kennenlernens hatte gegenseitiges Misstrauen überwogen. Allein Sarahs Auftauchen bei Tatorten hatte seinen Puls in gefährliche Höhen schnellen lassen. Doch mittlerweile ergänzten sie sich bei der Arbeit: Sie verriet ihm wichtige Rechercheergebnisse, bevor der entsprechende Artikel erschien, und er ließ ihr im Gegenzug ab und zu inoffizielle interne Informationen zukommen, womit sie einen Vorsprung vor der journalistischen Konkurrenz bekam.

»Ich stehe beim Biergartl«, sagte Maja.

»Okay, bleib, wo du bist. In einer halben Stunde bin ich da«, meinte Sarah, legte auf und brachte David in knappen Worten auf den aktuellen Stand.

»Bedeutet das, ich soll dich bei der Sitzung vertreten?«

»Bitte.« Sie sah ihn flehend an. »Aber falls du keine Zeit hast, könnte das auch Herbert Kunz übernehmen«, schlug sie alternativ den Chef vom Dienst vor.

»Passt eh. Ich mach’s. Lass uns rasch etwas anziehen und gleich losfahren. Ich nehm dich ein Stück mit.«

David setzte Sarah am Westbahnhof ab, wo sie in die U6 stieg. Nach zwei Stationen wechselte sie in die U4 und betrat fünfzehn Minuten später den Stadtpark über die Johannesgasse; wie dreizehn Stunden zuvor für den Konzertbesuch. Die hundertvierzig Meter bis zum Biergartl konnte sie ungehindert zurücklegen. Ab dort bewachte ein Polizist in Uniform eine bereits abgesperrte Stelle. Das weiß-rote Band mit dem Aufdruck Polizei war zwischen einer Gartenmauer oberhalb der Wienfluss-Promenade und dem Zaun des Bierlokals gespannt worden. Es flatterte im sanften Wind. Eine Handvoll Schaulustiger orakelte schon über das Verbrechen. Sarah schnappte die Vermutungen auf, dass es sich um ermordete Obdachlose, eine Beziehungstat oder zwei Tote im Zusammenhang mit dem Bandenkrieg zwischen Tschetschenen und Afghanen handeln könnte. Doch letzteres Szenario hätte sich eher im Prater abgespielt, wie sie aus Erfahrung wusste.

Sie erblickte Maja unmittelbar vor dem Band. Die junge Redakteurin trug wie Sarah Jeans und Turnschuhe. Die rotbraunen Haare fielen bis zur Mitte ihres Rückens.

»Hast du schon mehr Infos?«, fragte Sarah nach einer kurzen Begrüßung und warf einen Blick auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor neun.

»Leider nein.« Maja zuckte mit den Schultern. »Es scheint, als wollten sie uns blöd sterben lassen. Sag mal, ich finde es wirklich nett, dass du gekommen bist, aber solltest du nicht in einer Stunde die Redaktionssitzung leiten? Schaffst du das denn noch?«

»David vertritt mich.« Sarah sah sich um. Wenige Schritte neben ihnen warteten weitere Printjournalisten sowie Kamerateams unterschiedlicher Fernsehsender darauf, dass verwertbare Neuigkeiten bekannt gegeben wurden.

»Der Großteil des Parks wurde abgeriegelt«, sagte Maja.

»Was ist mit den Übergängen?«, fragte Sarah. Der Stadtpark bestand aus zwei Teilen, getrennt durch den Wienfluss, jedoch durch zwei Brücken verbunden.

»Die Polizei hat sowohl den Stadtparksteg als auch die kleine Ungarbrücke gesperrt«, behauptete Maja. »Zudem hat die Polizei Schutzwände rund um den Tatort aufgestellt. Dahinten, siehst du?« Maja deutete in die entsprechende Richtung. »Man sieht absolut nichts. Wir haben nur mitbekommen, dass die Leichen inzwischen geholt wurden.«

Sarah zog ihre Kollegin von den anderen weg, bis sie außer Hörweite waren, dann tippte sie auf ihrem Handy auf die Kurzwahltaste für Martin Stein. Er hob ab, ohne dass vorher ein Wählton erklungen war.

»Sarah! Wo bist du?« Der Begrüßung nach hatte er ihren Anruf erwartet und ausnahmsweise kein Problem damit, dass sie ihm gleich zu Beginn eines neuen Falls auf die Nerven ging.

»Ich steh mit Maja nahe dem Ausgang Johannesgasse. Hast du was für uns?«

»Komm zum Parkring, erster Eingang«, erwiderte er im Befehlston als Antwort.

Sarah hob erstaunt die Augenbrauen, legte auf und bedeutete Maja, ihr zu folgen. »Ich hatte mich eigentlich darauf eingestellt, dass Stein mich anbellt, weil ich ihn zu früh mit meinen Fragen quäle, und mir einen Vortrag über mein schlechtes Timing hält«, wunderte sie sich laut, derweil sie die Johannesgasse bis zum Parkring vorliefen.

»Na ja, es wäre nicht das erste Mal, dass er deine Meinung zu einer bestimmten Sache hören will«, zeigte sich Maja weniger überrascht.

Sarah nickte. Das war durchaus denkbar.

Am vereinbarten Treffpunkt bemerkten sie enttäuscht, dass es von hier aus genauso unmöglich war, einen Blick in den Park zu werfen, wie zuvor an der Johannesgasse. Die Bühne vom Vortag versperrte ihnen die Sicht. Zudem hinderten ebenfalls ein Absperrband und ein Polizist in Uniform jeden daran, näher zu treten. Von den Arbeitern, die die Opfer entdeckt haben sollten, war nichts zu sehen. Vermutlich hatte Maja recht, und sie waren weggeschickt worden.

Sie mussten nur wenige Minuten warten, bis Martin Stein auftauchte.

Er duckte sich unter dem Flatterband hindurch und hielt direkt auf sie zu. Mit grüblerischer Miene fuhr er sich über seine kurz geschorenen Haare. »Kaffee?«

Die Frage klang wie eine geknurrte Anweisung. Sarah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Stein war und blieb eben ein Brummbär. Obwohl tief in seinem Inneren ein freundliches Herz schlug.

Ohne die Antwort abzuwarten, eilte er Sarah und Maja voran davon. Sie folgten ihm über den Parkring auf die andere Straßenseite. Wenige Minuten später stieß Stein die Tür zum Café Hegelhof auf, sah sich kurz um und steuerte einen der hinteren Tische am Fenster an.

Sarah und Maja ließen sich auf die rotbraun gepolsterte Sitzbank fallen und bestellten zwei Melange.

Stein nahm auf dem Stuhl Platz, wollte einen großen Braunen und eine Buttersemmel. »Ihr auch was zu essen?«, fragte er.

Maja und Sarah schüttelten die Köpfe.

»Dann bringen S’ mir doch gleich zwei«, sagte er zum Kellner. »Ich hab noch nicht gefrühstückt.«

Sarah registrierte nur drei weitere Gäste, die noch dazu außer Hörweite saßen. Dennoch senkte sie ihre Stimme, als sie fragte: »Wer sind die Toten?«

»Welche Bedeutung hat eine Geige?«, stellte Stein im normalen Tonfall eine Gegenfrage.

»Wie meinst du das?«

»In Zusammenhang mit deinem Hexenzeug.«

»Du willst also mehr über die Symbolik wissen?«

»Was sonst? Dass eine Geige ein Streichinstrument ist, weiß ich selbst.« Stein lachte heiser über seine Bemerkung. »Himmelherrgott! Ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal so etwas frage. Aber hast du eine Ahnung, was es zu bedeuten haben könnte, wenn eine Tote sie umklammert hält?«

»Verrätst du uns, wie die Tote heißt und wer sie ist?«, bohrte Sarah nach.

»Jasmin Meerath«, rückte Stein überraschenderweise ohne Umschweife mit dem Namen heraus.

Sarah hielt kurz die Luft an. »Sag bitte nicht, dass die männliche Leiche Marko Teufel ist.«

»Wie kommst du ausgerechnet auf ihn?«

Das Gespräch stockte, als der Kellner den Kaffee und die Semmeln brachte.

»Die hatten angeblich was miteinander«, sagte Sarah, nachdem der Ober wieder außer Hörweite war, und erzählte in knappen Worten vom Gespräch im Imperial am vorherigen Abend.

»Da schau her«, murmelte Stein.

»Ich hab also recht?«, hakte Sarah nach.

Stein nickte, und Maja notierte die Namen auf einen Block, wenngleich nicht zu befürchten stand, dass sie sie vergessen würde.

»Wie lange haltet ihr die Identität noch geheim?«, fragte Sarah.

»Bis wir mit den Angehörigen gesprochen haben. Keine Veröffentlichung, bis es unsererseits offiziell ist.« Stein warf Maja einen strengen Blick zu und biss in die erste Semmel.

Sarah versprach es in der Hoffnung, dass die Konkurrenz die Namen nicht auf eigene Faust herausfand. »Gibt es jemanden, der etwas Verdächtiges gemeldet hat? Der Park ist schließlich nie abgesperrt. Da kann jeder jederzeit rein und raus.«

»Das überprüfen meine Kollegen gerade. Außerdem befragen sie die gesamte Nachbarschaft«, sagte Stein kauend. »Aber wer sollte denn nachts durch den Park laufen, Sarah?«

»Leute, die im Steirereck, im Johann im Kursalon oder im Biergartl essen waren. Oder Jogger, die am Tag so viel arbeiten, dass sie nachts laufen müssen.«

»Wie gesagt, wir suchen bereits nach Zeugen«, gab Stein sich mäßig begeistert. »Im Moment haben wir nur ein paar Stadtparkhansis, die uns aber nichts erzählen können.«

»Stadtparkhansis?«, echoten Sarah und Maja wie aus einem Mund.

Stein sah sie mit großen Augen an. »Sagt nicht, ihr kennt den Ausdruck nicht?«

Sarah und Maja warfen sich einen ahnungslosen Blick zu, bevor sie die Köpfe schüttelten.

»Eichhörnchen«, klärte Stein sie in einem Tonfall auf, der besagte, dass das doch jedem normalen Menschen klar sein müsste. »Also sag schon, was weißt du über Geigen?«, forderte er Sarah auf, ihm endlich die tiefere Bedeutung des Instruments zu erklären.

»In Märchen wird der Geige eine magische Wirkung zugeschrieben«, begann sie. »Jeder, der ihre Melodie hört, muss unweigerlich tanzen.«

»Das hier ist aber kein Märchen«, brummte Stein, wischte sich die fettigen Finger an der Serviette ab und zog sein Handy aus der Jackentasche. »Zum Glück war das letzte Nacht nur ein Schauer, sonst wären jetzt alle Spuren futsch.« Er drehte das Display des Telefons in die Richtung der Frauen.

Sarah sah Marko Teufel und Jasmin Meerath. Der Kopf des Dirigenten war nach vorn gekippt. Ohne das viele Blut am Hemd hätte sie gedacht, er schliefe. Der Kopf der Frau lag in seinem Schoß mit dem Gesicht nach oben. Ihre Augen blickten ihn starr und leblos an, ihr Haar ergoss sich wie ein tizianroter Fluss über dessen Knie. Auf ihrem Bauch lag eine Geige, die sie mit der Hand festzuhalten schien.

»O Gott«, hauchte Maja.

Stein legte das Handy auf den Tisch und machte sich seelenruhig daran, die zweite Semmel zu verputzen. Er hatte schon viele Tote gesehen. Zwei mehr schlugen ihm nicht auf den Magen.

»Schaut aus, als hätte jemand eine Stinkwut gehabt. Oder hätte völlig durchgedreht«, murmelte Sarah. »Eine klassischer Fall von Übertötung?«

»Könnte durchaus sein. Jedenfalls lässt die Wucht, mit der auf die beiden eingestochen wurde, auf massive Aggression schließen.«

»Wie viele Stiche?«

»Bei einer ersten Begutachtung haben wir sechs bei ihm und acht bei ihr gezählt. Die Zahl kann nach der Obduktion aber noch nach oben hin korrigiert werden.« Stein wischte sich erneut die Finger an der Serviette ab und schob den leeren Teller zur Seite.

»Wisst ihr, womit zugestochen wurde?« Sarah nippte an ihrer Melange. Ihr Herz pochte wild. Sie hatte zwar schon mehrmals Mordopfer gesehen, nicht nur auf Fotos, kalt ließ sie deren Anblick trotzdem nicht.

Er wiegte unentschlossen den Kopf hin und her. »Nicht exakt.«

»Das heißt, ihr habt die Tatwaffe nicht gefunden«, schlussfolgerte Sarah.

»Ja. Obwohl wir den gesamten Park danach abgesucht haben.«

»Aber ihr habt eine Idee.«

»Kann ich dir nicht sagen.«

»Martin! Ich bin’s!« Sarah rollte genervt mit den Augen. »Also bitte, raus mit der Sprache.«

Stein musterte sie einen langen Augenblick. »Du behältst es aber vorerst für dich.«

»Logisch.«

Sein Kopf schnellte zu Maja. »Und du auch.«

Die junge Journalistin zuckte erschrocken zurück. »Eh klar.«

»Okay. Also, es schaut so aus, als hätte der Mörder oder die Mörderin mit einem Stichel zugestochen. So einen, wie man zur Bearbeitung von Metall oder Holz verwendet.«

Sarah überlegte kurz. »Du meinst so ein Ding mit birnenförmigem Griff?«

»Ja, aber genau wissen wir’s erst nach der Obduktion. Deshalb kein Wort darüber im Wiener Boten oder zu sonst wem«, wiederholte Stein seine Anweisung. »Außerdem wollen wir den Täter nicht über die Presse über unseren Ermittlungsstand informieren.«

»Schon klar«, bestätigte Sarah. »Aber das mit der Geige können wir erwähnen?«

»Ja.«

Sie nahm Steins Handy in die Hand, um das Bild eingehender zu betrachten, und vergrößerte den Bildausschnitt mit der Geige. Das Instrument war ebenso blutverschmiert wie die Opfer. »Gehört die dem Teufel?«

»Wissen wir noch nicht. Was kommt dir noch dazu in den Sinn? Vielleicht etwas Brauchbareres als irgendwas mit Märchen?«

Sarah wusste, dass Stein ihren Scharfsinn schätzte. Außerdem hatte sie mit ihrer Denkweise oft richtiggelegen, und Symbolik und Aberglaube waren ihre Spezialgebiete. Sie überlegte.