Tödliche Marillenzeit - Beate Maxian - E-Book

Tödliche Marillenzeit E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Ein Krimi zum Genießen – der Nr. 1-Bestseller aus Österreich!

Zur Marillenernte versetzt der Mord an einer Bäuerin die malerische Wachau in Aufruhr ...


Marillenernte in der Wachau, ein Fest für die Sinne. Auch Lou Conrad, Ex-Polizistin und Inhaberin des beliebtesten Feinkostladens der Region, möchte aus den Früchten Köstlichkeiten kreieren und fährt zum Hof ihrer Bekannten Marta. Doch dort macht Lou eine schockierende Entdeckung: Die Bäuerin liegt tot im Marillengarten. Im Ort brodelt schnell die Gerüchteküche. Beging ein Tourist die Tat? Waren es skrupellose Obstdiebe? Mit Sternekoch Fabio und Berner Sennenhund Michelin an ihrer Seite geht Lou der Sache auf den Grund und entdeckt: In diesem Fall ist das süße Gold der Wachau mit mörderischen Geheimnissen verbunden ...

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Buch

Marillenernte in der Wachau, ein Fest für die Sinne. Auch Lou Conrad, Ex-Polizistin und Inhaberin des beliebtesten Feinkostladens der Region, möchte aus den Früchten Köstlichkeiten kreieren und fährt zum Hof ihrer Bekannten Marta. Doch dort macht Lou eine schockierende Entdeckung: Die Bäuerin liegt tot im Marillengarten. Im Ort brodelt schnell die Gerüchteküche. Beging ein Tourist die Tat? Waren es skrupellose Obstdiebe? Mit Sternekoch Fabio und Berner Sennenhund Michelin an ihrer Seite geht Lou der Sache auf den Grund und entdeckt: In diesem Fall ist das süße Gold der Wachau mit mörderischen Geheimnissen verbunden …

Weitere Informationen zu Beate Maxian sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Beate Maxian

Tödliche Marillenzeit

Kriminalroman

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe September 2024

Copyright © 2024 by Beate Maxian Copyright © dieser Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Westend61/Getty Images; MightyTravelier/istock; © FinePic®, München

Redaktion: Susanne Bartel

KS · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32126-0V002

www.goldmann-verlag.de

Essen ist ein Bedürfnis, Genießen ist eine Kunst.

François VI. de La Rochefoucauld

1

Marta rieb sich verschlafen die Augen.

»Fünf Uhr ist eindeutig nicht meine Zeit«, murmelte die Obstbäuerin und stellte den Wecker aus. Ihr Blick wanderte zum Schlafzimmerfenster und nach draußen. »Dass die Sonne schon aufgegangen ist, ändert auch nichts daran.« Sie seufzte, schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Auf dem Weg in die Küche klopfte sie an die Schlafzimmertüren ihrer Kinder. Zuerst an Katharinas, dann an die von Andreas. »Aufstehen!«

Im Schlafanzug schlurfte sie in die Küche und drückte am Kaffeeautomaten die Taste für einen Cappuccino. Während der Kaffee in die Tasse lief, riss sie ein Blatt vom Tageskalender mit den Lebensweisheiten ab, der neben der Tür hing. »›Dienstag, 13. Juli. Du kannst nicht negativ denken und Positives erwarten‹«, las sie laut von dem Blatt ab, das zum Vorschein gekommen war. Der Urheber des Zitats war unbekannt.

»Vermutlich jemand, der nicht um fünf Uhr morgens aufsteht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Oder sich mit einem Wirt herumärgern muss, der aus fadenscheinigen Gründen kurzfristig seine Bestellung storniert hat«, knurrte sie. Angeblich hatte sie, Marta, ihm, Gregor Poler, vor einer Woche nicht Ware in der versprochenen Qualität geliefert. Zum ersten Mal, seit er ihr Marillen abkaufte. Und das waren immerhin zehn Jahre.

»Pah! So ein Schwachsinn«, entfuhr es Marta bei der Erinnerung an das Telefonat, dann warf sie das abgerissene Kalenderblatt in den Mülleimer. Gregor war eng mit Rainer, ihrem Ex-Mann, befreundet. Die Scheidung lag sechs Wochen zurück. Auf die Straße hatte sie ihn schon vor einem halben Jahr gesetzt – und auch die Schlösser auswechseln lassen. Ihr Ex war lange Zeit fest davon überzeugt gewesen, dass Marta wieder zur Besinnung kommen würde, wie er sich ausgedrückt hatte. War sie aber nicht. Und jetzt waren sie geschieden, und Gregor hatte seinen Auftrag storniert.

»Ein Schelm, wer Böses dabei denkt«, murmelte sie, nahm die Kaffeetasse, nippte daran und verbrannte sich die Oberlippe. »Verflixt«, fluchte sie und sah wütend zum Kalender.

Katharina und Andreas traten in die Küche. Martas Tochter bereits in Jeans und dunkelgrünem T-Shirt. Die halblangen braunen Haare hatte sie längst frisiert und zu einem Zopf zusammengebunden. »Morgen, Mama.«

Im Gegensatz zu Marta war die Dreiundzwanzigjährige hellwach. Ihre Tochter war Floristin. Normalerweise stand sie zwei Stunden später auf und begann um neun im Dürnsteiner Blumenladen von Martas Freundin Greta mit der Arbeit. Doch diese Woche hatte sie sich freigenommen, um bei der Ernte mitzuhelfen.

»Morgen, ihr zwei«, erwiderte Marta.

Andreas, noch in Boxershorts und T-Shirt, sah sie aus müden Augen an. »Ferien stelle ich mir anders vor. Scheiß Marillen.«

Katharina wuschelte ihrem siebzehnjährigen Bruder durch die schwarzen Haare. »Tja, falsche Familie ausgesucht.«

Genervt schob Andreas Katharinas Hand weg.

Marta machte derweil einen weiteren Cappuccino für ihre Tochter und einen Schwarztee für ihren Sohn. Sie wusste, weshalb er missmutig war. Die Scheidung setzte ihm zu. Er und Rainer waren eng miteinander. Andreas hatte sich ebenfalls der Hoffnung hingegeben, dass alles wieder ins Lot kommen würde. Marta glaubte, dass er insgeheim ihr die Schuld an der Trennung gab. Auch wenn er es bislang nicht offen ausgesprochen hatte. Dabei hatte Rainer es verbockt. Sie selbst hingegen hatte lang genug gute Miene zum bösem Spiel gemacht und seine ständigen Affären hingenommen. Aber auch ihre Geduld hatte mal ein Ende gehabt. Und jetzt, da die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, hatte sie gedacht, dass es für die beiden leichter sein würde, die Situation zu akzeptieren. Doch bei Andreas hatte sie sich in diesem Punkt offenbar getäuscht. Aber auch er würde darüber hinwegkommen. Irgendwann.

Nachdem sie den Kaffee getrunken und ein Marmeladenbrot gegessen hatte, ging Marta ins Badezimmer. Im Spiegel sah sie, dass ihr die kurzen braunen Haare zu Berge standen. Sie lachte. »Ich schau aus wie nach einem Schleudergang.« Sie griff zur Bürste. Während sie versuchte, sie zu glätten, lächelte sie zufrieden. Rainer gehörte zu den Typen, die meinten, kurze Haare bei Frauen seien unweiblich. Deshalb hatte Marta sich ihre lange Haarpracht am Tag vor dem Scheidungstermin abschneiden lassen. Als äußeres Zeichen ihrer neuen Selbstbestimmtheit.

Sie legte die Bürste weg und gähnte herzhaft. Daran, beim ersten Hahnenschrei aufzustehen, würde sie sich wohl nie gewöhnen. Obwohl sie genau das tat, seit ihrer Kindheit. Schon damals hatte sie im Marillengarten ihrer Eltern mit angepackt. Sie hatte früh gelernt, wie und wann die Bäume geschnitten wurden und wie man sie veredelte. Welche Schädlinge der Plantage zusetzten und welche Nützlinge man brauchte, um dem vorzubeugen. Was die Bäume stärkte, was sie schwächte und wann die perfekte Erntezeit war. Die Kunden waren es gewohnt, vom Brucker-Hof frisch geerntete Biomarillen zu bekommen. Süß und aromatisch, die untere Hälfte honiggelb, die obere leicht gerötet. Gereift ohne Einsatz von Pestiziden. Mit kurzen Transportwegen und ohne lange Zwischenlagerung in der Kühlkammer. Sozusagen direkt vom Baum in die Lebensmittelläden und Küchen der Restaurants. So wie es schon zur Zeit ihrer Eltern gewesen war. Zudem hatte sie bei der Arbeit mit den Tieren geholfen. Damals hielten sie noch dreißig Mutterkühe, dazu Enten und Hühner. Als ihr Vater vor siebzehn Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, war Marta über Nacht zur Chefin des Hofs geworden, weil ihre Mutter sich überfordert fühlte. Marta war zu jener Zeit einunddreißig gewesen. Katharina sieben und Andreas eins.

»Du bist noch jung, du packst das«, sagte ihre damals zweiundsiebzigjährige Mutter und versprach, sie bei der Erziehung der Kinder zu unterstützen. Marta verfluchte es, ein Einzelkind zu sein. Ihre Eltern waren einundvierzig und dreiundvierzig Jahre alt gewesen, als sie vollkommen überraschend zur Welt kam. Zuvor hatten ihnen vier Ärzte unabhängig voneinander diagnostiziert, keine Kinder bekommen zu können.

»Außerdem hast du Rainer«, meinte ihre Mutter.

Pah, dachte Marta bissig. Ihr Ex-Mann war ihr nur selten eine Hilfe. Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters gab sie seinem Drängen nach und verkaufte die Tiere. Rainer hingegen änderte nichts an seinem Leben, arbeitete weiterhin auf der Bootswerft seines jüngeren Bruders Oliver.

»Schließlich bin ich gelernter Bootsbauer und kein Obstbauer«, argumentierte er.

Martas Mutter, die sich darüber sehr aufgeregt hatte, war ihrem Mann vor einem Jahr in den Himmel gefolgt.

Zwanzig Minuten vor sechs trat Marta in grüner Cargohose und fliederfarbenem Leinenhemd durch die Haustür in den gepflasterten Innenhof. Das Wohnhaus war durch ein gemauertes offenes Rundbogenportal mit dem lang gezogenen Nutzgebäude verbunden, in dem sich früher die Stallungen befunden hatten. Einen kleinen Teil davon hatte sie in einen Hofladen umbauen lassen, an dessen Fassade an einem Holzspalier ein Birnbaum rankte. In dem Hochbeet rechter Hand gediehen Karotten, Paradeiser und Salate. In Tontöpfen Salbei und Rosmarin. Daneben würde schon bald ein Gewächshaus stehen. Das Material für das Fundament und ein Spaten lagen seit einer Woche auf dem Boden und erinnerten Marta tagtäglich daran, die Arbeit endlich anzugehen. Sie atmete tief ein. Bereits zu dieser frühen Morgenstunde legte sich die warme Luft wie ein schwerer Teppich über die Landschaft. Die Temperatur würde auch heute wieder über die Dreißig-Grad-Marke steigen. Endlich kamen auch Katharina und Andreas aus dem Haus.

»Sind die Zisteln schon im Wagen?«, fragte Marta nach den Erntekörben, während sie gemeinsam auf die Garage zusteuerten, in der der weiße Kleintransporter und der dunkelgraue Ford Fiesta parkten.

»Hab ich noch gestern Abend erledigt«, antwortete Katharina pflichtbewusst und öffnete das Schiebetor.

Zisteln waren beim Pflücken die praktischsten Behälter. Durch die unten spitz zusammenlaufende Form des Korbes wurde der Druck der oberen Früchte auf die darunterliegenden reduziert. Zudem war der Handkorb das Logo der Marke Wachauer Marille und prangte auf den Kartonsteigen, in die sie später das gepflückte Obst leeren würden.

»Du kommst klar, Mama?«, fragte Katharina und zog die Fahrertür auf.

Andreas ließ sich mit mürrischem Gesicht auf den Beifahrersitz fallen.

»Ich komm klar«, versicherte Marta. »Ich pflück jetzt gleich die Marillen für Lou Conrad und bring sie ihr dann zusammen mit der anderen bestellten Ware direkt ins Geschäft.«

Der Marillengarten, in dem sie die Marillen ernten würde, erstreckte sich hinter den Gebäuden über zwei Hektar und wurde von einem hohen Lattenzaun eingefasst. Marta wedelte ungeduldig mit der Hand. »Jetzt fahrt schon los, ich hab die Erntehelfer für sechs Uhr zur Plantage bestellt. Nicht dass wir sie am Ende noch fürs Herumstehen bezahlen.«

Ihre Kinder würden mit den Pflückern im sechs Hektar großen Marillengarten bis mittags beschäftigt sein. Dieser lag rund fünf Kilometer entfernt am Donauufer in Dürnstein. Nach getaner Arbeit würden sie zum Hof zurückkommen, mittagessen, hier weitermachen und später noch mal zurückfahren. Auf den achtzigtausend Quadratmetern, die sie insgesamt bewirtschafteten, standen eintausendachthundert Marillenbäume. Während der Saison durchstreiften sie die Obstgärten oft zweimal am Tag. Weil die Früchte nicht gleichzeitig reif wurden, zog sich die Marillenernte über Wochen hin. Um den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, brauchte man erfahrene Pflücker.

Katharina startete den Wagen, und die Geschwister fuhren durch den Torbogen vom Hof. Marta nestelte ein hellblaues Kopftuch aus der Seitentasche ihrer Arbeitshose, setzte es sich auf und verknotete die Enden im Nacken. »Also los.« Sie schloss das Garagentor, öffnete die Tür zum Selbstbedienungshofladen und kontrollierte, ob genug Wechselgeld in der Schüssel auf dem Tisch lag. Anschließend stellte sie das Schild, dass der Laden geöffnet war, vor die Einfahrt, holte aus der kleinen Lagerhalle eine weitere Zistel sowie zwei Kartonsteigen und ging in den Marillengarten. Da in ihren Obstgärten ausschließlich niederstämmige Bäume wuchsen und sie vorhatte, zuerst die Früchte von den unteren Ästen zu pflücken, verzichtete sie auf eine Leiter.

Marta besah sich jeden Ast, prüfte den Reifegrad der Marillen. Der Anblick des goldenen Obstes und sein betörender Duft entschädigten sie für das frühe Aufstehen. Ebenso der Ausblick, den sie über den Lattenzaun hinweg hatte. Unzählige Weinreben zogen sich die steilen Weinberge hinauf. Die Trockensteinmauern der Steinterrassen, auf denen der Wein gedieh, waren zum Teil uralt und wurden noch heute traditionell gebaut, ganz ohne Verbindungsmaterial. Gäbe es die Terrassen nicht, wäre es unmöglich, in den aufsteigenden Lagen der Wachau Wein anzubauen. Außerdem speicherten die Mauern Wasser und Wärme, was sich positiv auf das Mikroklima auswirkte. Marta lächelte. Vermutlich nahmen die Smaragdeidechsen, die der höchsten Qualitätsstufe der edlen Tropfen der Vinea Wachau ihren Namen gegeben hatten, gerade auf den Mauern ein Sonnenbad. Doch jetzt im Juli standen in der Wachau, Österreichs bekanntester Weinregion und Weltkulturerbe, nicht nur Trauben und Rebsorten im Mittelpunkt, sondern auch die europaweit berühmte Marille. Ihr Geschmack war unvergleichlich aromatisch und süß.

Noch vor wenigen Monaten hatten die Obstbauern um ihre Ernte gefürchtet. Immer wieder richteten Wetterkapriolen große Schäden an. In diesem Jahr war der März mild gewesen, weshalb die Marillenblüte frühzeitig eingesetzt hatte. Doch im April war ein heftiger Wintereinbruch gefolgt, und der Frost hatte einen Teil der Blüten vernichtet. Und das, obwohl Marta sofort Öfen in ihren Obstgärten aufgestellt hatte. Immer einen für vier Marillenbäume. Mit Feuer und Rauch hatten Katharina, Andreas und sie versucht, die Bäume zu schützen, aber die Maßnahme war nur bedingt erfolgreich gewesen. Dann war im Juni auch noch ein Unwetter mit heftigen Regenfällen über die Wachau hereingebrochen, doch zum Glück war für sie am Ende alles relativ glimpflich ausgegangen.

Marta schüttelte die düsteren Gedanken ab und blickte zufrieden auf die beiden Kartonsteigen, von denen eine mittlerweile zur Gänze gefüllt war. Tatsächlich würde die Ernte besser ausfallen, als sie nach all den Problemen angenommen hatte. Sie widmete sich dem nächsten Baum, unter dem ein Bienenstock stand, nahm eine Frucht zwischen die Finger und drückte sie vorsichtig, um festzustellen, ob sie reif war. Der Honig-Lorenz, ein vierundsiebzigjähriger Imker, der vormals als Fremdenführer gearbeitet hatte, hatte drei Stöcke in ihrem Garten hinter dem Hof aufgestellt. Im Frühjahr summte und brummte es zwischen den Bäumen wie unter einer Hochspannungsleitung. Die Wachauer Marillen waren zwar Selbstbefruchter, aber die kleinen Insekten dienten als zusätzliche Helfer. Außerdem bekam Marta als Dank dafür zweimal im Jahr ein Glas Honig geschenkt.

Das Läuten ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie zog es aus der Hosentasche. »Was gibt’s, Kathi?«

»Irgendjemand hat weitere vierzig Bäume komplett abgeerntet!«, schrie ihre Tochter ins Telefon. »Der dritte Diebstahl innerhalb von nicht mal zwei Wochen.«

»Das ist jetzt nicht wahr«, schnaubte Marta. Die ersten beiden Male waren insgesamt dreißig Bäume betroffen gewesen. Ein Verlust von über einer Tonne, da jeder Baum zwischen vierzig und fünfzig Kilogramm Marillen trug. Und diesmal schien der Schaden noch größer zu sein. »Vierzig komplette Bäume?«, hakte sie nach.

»Ja«, bestätigte Katharina. »Ich schätze, das dürften knapp zweitausend Kilo sein. Insgesamt sprechen wir von bis zu dreieinhalb Tonnen Früchten, die uns gestohlen wurden. Innerhalb von nicht mal vierzehn Tagen, Mama.« Sie war auf hundertachtzig, das hörte Marta deutlich. »Das ist kein Lausbubenstreich mehr, sondern professioneller Diebstahl. Es wird Zeit, dass du endlich zur Polizei gehst.«

Marta schaute instinktiv auf die Uhr. Es war Viertel vor sieben. Demnach hatten ihre Kinder und die Pflücker schon eine Dreiviertelstunde in der Plantage gearbeitet. War ihnen der neue Diebstahl erst jetzt aufgefallen?

»Weil die betroffenen Bäume weit auseinanderstehen, haben wir es nicht gleich bemerkt. Das Grundstück ist ja sechs Hektar groß«, erläuterte Katharina, als hätte sie Martas Gedanken durchs Telefon gehört. »Fahr zur Polizei. Noch heute!«

»Mach ich sofort, wenn ich bei Lou im Geschäft war«, versprach Marta. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Bestellung von Lous köstlicher Welt mit dem Lastenfahrrad auszuliefern. Innerhalb von Marienkirchen fuhr sie Ware gerne damit aus. Aber jetzt würde sie den Ford nehmen und dann gleich weiter ins zehn Kilometer entfernte Krems zur Polizeiinspektion fahren. Hier im Ort gab es keinen Polizeiposten.

»Ludwig war vorhin auf seiner Riede. Ich hab ihn gefragt, ob er etwas beobachtet hat«, fuhr Katharina fort. »Hat er leider nicht. Aber er fragt noch Wilma, und falls sie etwas Ungewöhnliches bemerkt hat, ruft er uns an.«

Ludwig und Wilma Koschinsky gehörte ein kleiner Weingarten, der neben ihrer Obstplantage am Donauufer lag. Das Ehepaar baute ausschließlich Grünen Veltliner an. Den Großteil der Trauben lieferten die beiden an die Domäne Wachau, die sie weiterverarbeitete und den Wein dann vermarktete. Aus dem Rest kelterten die Koschinskys Wein für den Eigenverbrauch.

Marta glaubte zwar nicht daran, dass es der Polizei gelingen würde, dem Marillendieb auf die Spur zu kommen, aber ohne eine Anzeige würde sich die Versicherung sträuben, für den Schaden zu zahlen. Eigentlich hätte sie schon die Diebstähle der letzten Woche melden sollen, war jedoch vor lauter Arbeit nicht dazu gekommen. Noch gestern Abend hatte sie sich vorgenommen, spätestens morgen die Polizei aufzusuchen. Nun würde sie eben schon heute fahren und statt zwei drei Diebstähle anzeigen.

»Gut«, sagte Marta und verabschiedete sich von ihrer Tochter. Als sie das Handy wieder in ihre Hosentasche schob, hörte sie ein Auto auf der Straße näher kommen. Dann verstummten die Motorengeräusche. Vermutlich Kundschaft, die sich im Hofladen mit frischen Marillen oder Marillenmarmelade eindecken wollte. Marta nahm die Zistel ab und schüttete die gepflückten Marillen in die noch leere Kartonsteige. Ein Vogel flatterte auf, und Marta sah ihm nach. Als sie den Kopf wieder senkte, weil das Sonnenlicht sie blendete, erahnte sie eine Bewegung hinter sich. Sie drehte sich um. In der Sekunde schnürte sich ihr die Kehle zusammen.

2

Lou Conrad trat schon zum wiederholten Mal an diesem Dienstagmorgen vor die Tür ihres Delikatessengeschäftes. Lous köstliche Welt lag in einem vierhundert Jahre alten Gebäude inmitten des mittelalterlichen Zentrums von Marienkirchen. Eine Neunhundert-Seelen-Gemeinde mit einer Pfarrkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert und einer noch viel älteren Weinbautradition. Lous Familie widmete sich dem Wein seit fünf Generationen, und wenn es nach ihrem Vater Werner ginge, hätte sie, Lou, längst das Weingut Conrad übernommen. Doch sie konnte sich nicht dazu entschließen.

Lou vergrub ihre Hände in den Taschen der beigen Stoffhose und schaute konzentriert die Straße entlang, die durch den Ort führte. Wie üblich war sie voller Touristen. Es war Marillenzeit in der Wachau, und das zog, genauso wie die Marillenblüte und die Weinfeste, wahre Heerscharen von Gästen an. Zudem war die Region zu jeder Jahreszeit ein beliebtes Urlaubsziel für Wanderer und Radfahrer. Mit dem Auto kam man zur Hauptsaison nur schwer durch die Ortsmitte, sodass schon erste Stimmen laut wurden, die forderten, den Ortskern in eine Fußgängerzone umzuwandeln. Auch Lou befürwortete die Idee.

Aus der Bäckerei von Hedwig und Ernst Ast trat ein Touristenpaar in Wanderkleidung. Daneben reihten sich auf dem Bürgersteig die Bistrotische von Franziska Libers Café aneinander. Weiße Schirme schützten die Gäste schon jetzt vor der Sonne. Seit den frühen Morgenstunden stiegen die Temperaturen kontinuierlich, wie schon seit mehreren Tagen. Die Hitzeperioden mehrten sich. Erst kürzlich hatte Lous Vater gemeint, dass der Klimawandel zu einschneidenden Veränderungen bei den heimischen Weinen führen könnte. »Im schlimmsten Fall verlieren der Grüne Veltliner und der Riesling ihr einzigartiges Aroma«, hatte er behauptet.

Ihre Eltern produzierten hervorragende Bioweine aus vorrangig diesen beiden Rebsorten, die sie direkt ab Hof und online vermarkteten. Zudem verkaufte Lou sie natürlich in ihrem Delikatessengeschäft.

Franziska trat aus ihrem Café und stellte Kaffeetassen auf einem Tisch ab, an dem vier Urlauber saßen. Die Kaffeehausbesitzerin und Konditorin trug ein rosafarbenes Sommerkleid, das ihr bis zu den Knien reichte und ihre schlanke Figur betonte. Wie üblich hatte sie ihre langen blonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hob den Kopf, und Lous und ihre Blicke trafen sich. Im nächsten Moment sagte Franziska etwas zu einem ihrer Mitarbeiter, der in unmittelbarer Nähe kassierte, dann eilte sie auf Lou zu und pflanzte sich vor ihr auf. »Was ist los?«

Lou blinzelte irritiert. »Was soll denn los sein?«

»Du tauchst im Zehn-Minuten-Takt vor deinem Geschäft auf und machst ein Gesicht, als ob gleich ein Meteorit einschlagen und die Wachau zerstören würde. Also, was ist los, Frau Inspektor?« Franziska zupfte mehrmals am Saum von Lous blauer Sommerbluse, wie ein Kind, das nach Aufmerksamkeit verlangt.

Lou verzog den Mund. Sie war sieben Jahre lang Ermittlerin beim Landeskriminalamt Niederösterreich gewesen und hatte damals in der Landeshauptstadt St. Pölten gewohnt, etwa fünfundvierzig Kilometer von Marienkirchen entfernt. Am ersten September, fünf Tage nach ihrem achtunddreißigsten Geburtstag, würden es drei Jahre werden, dass Lou sich mit dem Feinkostladen selbstständig gemacht hatte. Damit war sie ihrer inneren Stimme gefolgt, die ihr geraten hatte, neue Wege zu beschreiten. Auch weil sie sich stärker für regionale, naturnah erzeugte Lebensmittel und deren Herstellung und immer weniger für die Aufklärung von Verbrechen interessiert hatte. Zudem hatte sie entdeckt, dass sie ihre jetzige Arbeit sensibel für die Umwelt und die eigene Gesundheit machte und entschleunigte. Von ihrem Beruf als Kriminalinspektorin hatte sie das nicht behaupten können.

Doch auch wenn sie ihre Anstellung aufgegeben hatte, war und blieb sie für die meisten Marienkirchener Kriminalbeamtin.

»Die Lou rennt auch im Geschäft herum wie ein aufg’scheuchtes Hendl«, hörten sie in dem Augenblick Sigrids Stimme.

Lous Angestellte und Freundin trat durch die offen stehende Tür ins Freie. Das Maxikleid, das sie trug, erinnerte an eine Streublumenwiese.

»Ich warte auf Marta. Das weißt du doch, Sigi«, erklärte Lou mit Blick auf die dunkelhaarige Endvierzigerin. Dann wandte sie sich wieder an Franziska. »Dass sie noch nicht da ist, macht mich nervös. Sie sollte längst die Marmeladen und die frischen Marillen geliefert haben. Ich will heute Abend doch zum ersten Mal ein Marillen-Semifreddo machen.«

»Zudem haben wir dieses Mal gleich sieben Flaschen von ihrem grandiosen Marillenschnaps bestellt«, fügte Sigrid hinzu.

Der klare Branntwein schmeckte intensiv nach den vollreifen Früchten, aus denen er hergestellt wurde, verfeinert mit einer Mandelnote. Marta brannte ihren Schnaps nach einem alten Familienrezept, ohne Zusatz von Zucker und Aromen. Der Brucker-Hof besaß das Maria-Theresien- oder Drei-Hektoliter-Brennrecht, wie man diese Befugnis zudem nannte. Das Recht war im achtzehnten Jahrhundert von der damaligen österreichischen Kaiserin an fleißige und rechtschaffene Bauern verliehen worden. Bei einer Übergabe oder bei Verkauf des Hofes wurde es immer noch weitergegeben, da es an diesen gebunden war.

Sigrid berührte Lous Arm. »Sie wird sicher bald auftauchen.«

»Sie meinte, sie pflückt die Marillen in aller Früh und bringt sie mir dann mit allem anderen direkt ins Geschäft. Gleich um neun wollte sie da sein.« Lou zog sich das blaue Haarband zurecht, das ihre bernsteinfarbenen Locken bändigte. »Wir haben nur mehr ein Kilo. Bei den vielen Touristen in Marienkirchen reicht das nicht mal bis mittags.«

»Warum erntest nicht die Marillen von deinem eigenen Baum?«, fragte Franziska. Sie wusste, dass ein Prachtexemplar vor Lous Winzerhäuschen wuchs.

»Weil meine Marillen noch ein paar Tage Sonne brauchen, ehe man sie essen kann«, seufzte Lou.

Die Konditorin lachte und zwinkerte Sigrid zu. »Und ich dachte vorhin schon, Lou überwacht uns neuerdings nicht mehr nur von ihrer Gartenbank aus, sondern auch vom Geschäft.«

Lou verschränkte die Arme. »Ich überwache gar niemanden, sondern schau Marienkirchen nur gerne beim Aufwachen zu. Wenn ich den Tag so beginne, komme ich tiefenentspannt in den Laden.«

Franziska und Sigrid kannten Lous Leidenschaft, ihren Morgenkaffee auf der Bank vor ihrem Winzerhäuschen zu trinken und dabei auf den Ort hinabzublicken. Das kleine Haus lag ein wenig oberhalb von Marienkirchen, eingebettet in die Weingärten heimischer Winzer. Von dort aus hatte man nicht nur einen fantastischen Blick auf den Ort, sondern ebenso auf die umliegenden Rieden und die Donau, die breit und gemächlich durch das Tal mäanderte.

»Wenn du’s sagst. Und Marta wird sicher gleich kommen.« Franziska klang zuversichtlich. »Wahrscheinlich hat sie bei der Arbeit die Zeit vergessen. Mir geht’s ja oft genauso, wenn ich in der Backstube stehe. Da denk ich mir, ich mach nur eine Stunde, und ehe ich michs verseh, sind drei vergangen.«

»Sie geht aber auch nicht an ihr Handy«, gab Lou zu bedenken.

»Apropos Backstube und Kuchen: Wollt ihr meinen Marillenfleck probieren? Hab ihn heute Morgen gebacken«, überging Franziska die Bemerkung.

Als Lou und Sigrid synchron nickten, wandte sich die Konditorin um und eilte zu ihrem Café zurück. Die beiden folgten ihr mit ihren Blicken.

Gerade erhoben sich zwei Männer von einem Kaffeehaustisch. Der jüngere, der auch schon Mitte fünfzig sein musste, war groß, schlank und hatte kurze fahlblonde Haare. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und eine Nerdbrille und half dem glatzköpfigen Greis, der sich sichtbar schwertat, auf die Beine zu kommen.

»Der ältere Herr ist doch der Franz Schiller«, sagte Sigrid. »Den hab ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Geht ihm nicht so gut, hab ich gehört. Ist ja auch schon weit über achtzig.« Sie dachte kurz nach. »Wobei, ich glaub, der geht sogar schon auf die neunzig zu. Aber leutselig war der ja angeblich nie. Meine Oma hat mir mal erzählt, dass er schon in jungen Jahren ein maulfauler Einzelgänger war.«

»Das Gegenteil von Marta, die seinen Marillengarten gepachtet hat. Die ist die Personifikation einer leutseligen Frohnatur«, erwiderte Lou. »Und wer ist der Mann bei ihm?«

Sigrid kniff die Augen zusammen. »Keine Ahnung.«

»Vielleicht ein Pfleger?«, mutmaßte Lou. Der jüngere schob dem alten Mann soeben den Rollator hin, als Franziska mit einem Tablett in der Hand über die Straße kam.

»Die Marillen sind übrigens von meinem Marillenbaum«, sagte sie und drängte sich an ihnen vorbei Richtung Geschäft. »Außerdem hab ich zwei Verlängerte für euch dabei!«, rief sie über die Schulter hinweg. »Ich weiß, ihr habt eine eigene Kaffeemaschine, aber …«

Der Kaffee- und Kuchenduft lockte Lou und Sigrid zurück in den Laden. Franziska stellte das Tablett auf dem gemauerten Verkaufstresen mit Holzplatte ab. Hinter der Glastür, die zum Büro mit einer schmalen Küchenzeile und winzigem Abstellraum führte, stand Michelin und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Franziska zog die Tür auf und wuschelte dem Berner Sennenhund durch sein dichtes Fell. »Hat dich dein Frauli wieder weggesperrt, du armes Hundilein.« Sie nahm den großen Kopf des Hundes in beide Hände und sah Michelin in die Augen. »Das verraten wir mal dem Tierschutzverein, gell?« Sie klang, als spräche sie zu einem Komplizen, mit dem sie einen Aufstand plante.

Lou schob sich eine Gabel voll Kuchen in den Mund. »Ich würde ihn ja gerne frei im Laden herumlaufen lassen«, verteidigte sie sich kauend. »Aber die Gewerbeordnung erlaubt nun mal keine Tiere in einem Lebensmittelgeschäft.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und deutete mit der Tasse in der Hand auf die Glastür. »Immerhin hat er uns den ganzen Tag im Blick.«

Franziska hörte auf, Michelin zu streicheln. Als der dunkle Riese sich umdrehte und es sich auf seiner Decke gemütlich machte, schloss die Konditorin die Verbindungstür zum Büro wieder.

»Sag mal, Franzi, hat der alte Schiller jetzt einen Pfleger?«, fragte Sigrid und rührte mit einem Löffel ihren Verlängerten um. »Wir haben ihn vorhin an einem der Tische vor deinem Café gesehen. Ein Mann war bei ihm.«

Franziska schüttelte den Kopf. »Das ist Bruno, sein Sohn. Der lebt eigentlich in der Schweiz, ist aber vor ein paar Wochen angereist, um sich um seinen Vater zu kümmern. Der alte Winzer ist gesundheitlich ziemlich angeschlagen, und Bruno hat sich eine berufliche Auszeit gegönnt, um nur für seinen alten Herrn da zu sein. Ich glaub, er hat seinen Vater nötigen müssen, mal unter Leute zu gehen. Der hat die ganze Zeit nur dagesessen und ein mürrisches Gesicht gemacht. Dabei hat sich sein Sohn so bemüht, ein Gespräch mit ihm zu führen.«

»Maulfauler Einzelgänger, wie schon meine Oma gesagt hat«, meinte Sigrid erneut und kippte den Rest ihres Kaffees in einem Zug hinunter. »Was macht Bruno denn beruflich?«

»Das hab ich ihn nicht gefragt«, sagte Franziska.

»Vielleicht ist er Lehrer oder Beamter«, mutmaßte Sigrid. »Die Angestellten im öffentlichen Dienst können sich relativ leicht ein Sabbatical von sechs oder zwölf Monaten nehmen.«

Lou runzelte die Stirn. »Auch in der Schweiz?«

»Keine Ahnung«, gab Sigrid zu. »Ist mir nur spontan in den Sinn gekommen.«

»Ich werde ihn bei seinem nächsten Besuch fragen«, beendete Franziska die Mutmaßungen. »Und jetzt wird’s wieder Zeit für mich. Heute ist schon morgens die Hölle los. Ich hol das Geschirr dann später ab. Pfiat euch.«

»Pfiat di, Franzi«, verabschiedeten Lou und Sigrid die Kaffeehausbesitzerin.

»Und danke für Kaffee und Kuchen«, fügte Lou hinzu.

Franziska drehte sich im Gehen lächelnd um. »Gerne.«

Lou schaute auf die Uhr. Mittlerweile war es zehn. »Das ist nicht normal, dass sich die Marta nicht meldet.« Sie schüttelte den Kopf.

»Vielleicht hat die Franzi ja recht, und Marta hat einfach die Zeit vergessen. Warum auch immer.« Sigrid stellte die jetzt leeren Teller und Tassen auf das Tablett zurück.

Reflexartig griff Lou nach ihrem Handy, das auf dem Tresen lag.

»Du rufst sie jetzt schon zum dritten Mal an. Meinst du wirklich, das hilft noch was?«, merkte Sigrid spöttisch an und begann, Flaschen mit Marillen-, Himbeer- und Weinessig aus Pappkartons in ein Regal zu räumen.

»Mir schon«, antwortete Lou. Es läutete fünfmal, dann meldete sich die Mailbox, wie schon die beiden Male zuvor. Lou schob das Telefon in die Seitentasche ihrer Hose.

Zwei Frauen in Radlerdress und mit Fahrradhelmen in der Hand traten ein, grüßten freundlich und sahen sich um. Eine von ihnen hatte einen rötlichen Bob. Die hellbraunen Haare der anderen waren im Nacken zu einem Zopf geflochten. Lou schätzte die beiden auf Mitte bis Ende vierzig. Die mit dem Zopf entdeckte Michelin auf seiner Decke hinter der Glastür.

»Schau, Christa, da ist noch ein Schweizer«, spielte sie auf die Herkunft der Hunderasse an.

»Das heißt, Sie kommen auch aus der Schweiz«, stellte Lou fest, obwohl sie das längst aufgrund des Akzents bemerkt hatte.

Die Damen nickten. »Aus dem Wallis«, antwortete die Frau mit den hellbraunen Haaren.

»Wie schön«, sagte Lou, obwohl sie selbst noch nie dort gewesen war. Aber Reto, ihr Schweizer Bekannter vom Internationalen Club für Berner Sennenhunde, hatte ihr Fotos der Gegend geschickt. Bislang hatten sie nur via Zoom oder Mail Kontakt gehabt, und ein persönliches Treffen der Mitglieder samt ihren Hunden war momentan leider nicht in Planung. Aber es machte Lou auch schon großen Spaß, weltweit mit anderen Besitzern von Berner Sennenhunden nur zu plaudern.

»Wie heißt er denn?«, fragte die Frau mit dem rötlichen Bob, die anscheinend Christa hieß.

Lou lächelte. »Michelin.«

Christa lachte kurz auf. »Das ist ja lustig, oder, Elisa? Er heißt wie der Reifenhersteller.«

Lou schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich hab ihn nach dem Restaurantführer benannt, weil er ein wahrer Feinschmecker ist.«

»Natürlich.« Die Kundin namens Elisa schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Der Guide Michelin.«

»Genau«, bestätigte Lou.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Sigrid dazwischen.

»Wir wollen uns nur mal umsehen«, sagte die Schweizerin namens Elisa.

»Bitte schön.« Lou machte eine einladende Handbewegung. Sie war glücklich, dass ihr Geschäft wieder vorzeigbar war, denn vor wenigen Monaten hatte ein Brandanschlag die Auslage sowie einen großen Teil der Einrichtung und Lebensmittel vernichtet. Der Anschlag war eine Art Warnung von Weinfälschern gewesen, denen Lou auf die Spur gekommen war.

Aber nun sah der Raum nahezu aus wie zuvor, mit vielen hellen Holzregalen, in denen regionale Köstlichkeiten standen. Öle, Essige, Liköre, Schnäpse, Honig, Marmeladen, Chutneys, Nudeln und logischerweise Weine. In der Kühlvitrine lagerten sie Käse und Würste aus der Region. Die Kundin namens Christa ging zu dem ausrangierten Weinfass, auf dem ein Teller mit Häppchen zur Verkostung bereitstand, und griff nach einem mit Martas Marillenmarmelade. Nahezu alle Kunden probierten sich beim Umschauen durch die kleinen Brotstückchen mit Schafskäsecreme, Liptauer, Mohntopfen, Honig und Marmeladen. Und die meisten kauften danach etwas.

Lous Blick schweifte zu dem runden Tischchen mit der fast leeren Holzkiste. Auf die kleine Tafel davor hatte sie mit weißer Kreide »Echte Wachauer Marillen« geschrieben und in Klammern deren deutsche Bezeichnung hinzugefügt: »Aprikosen«. Auch die Schweizerin mit dem geflochtenen Zopf hatte die Kiste gesehen und bat nun um ein halbes Kilo.

Wo bist du, Marta?, dachte Lou, während sie die gewünschte Menge in einen Papierbeutel füllte.

Anschließend kauften die Frauen noch drei Flaschen Marillenschnaps, fünf Gläser Marillenmarmelade, ebenso viele Gläser Honig und in Honig eingelegte Walnüsse. Vermutlich Mitbringsel für die Familie oder Freunde zu Hause.

Als die Kundinnen Lous köstliche Welt verließen, schaute Lou zum wiederholten Mal auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt halb elf. Noch einmal versuchte sie, Marta auf dem Handy zu erreichen. Natürlich hatte sich auch Lou mittlerweile zig Gründe überlegt, weshalb die Marillenbäuerin nicht auftauchte und am Telefon unerreichbar war. Doch bei jedem Grund, der ihr einfiel, wusste sie augenblicklich, dass sie damit falschlag. Auch bei ihrem vierten Anruf meldete sich die Mailbox, und Martas Stimme beteuerte, so schnell wie möglich zurückzurufen. Lou hatte ihr schon zweimal eine Nachricht hinterlassen, ohne dass sie sich gemeldet hatte. Sie schob das Handy zurück in ihre Hosentasche. »Da stimmt doch irgendetwas nicht. Ich fahr jetzt zu ihr.« Sie sah ihre Freundin bittend an. »Kann ich mir kurz dein Rad leihen, Sigi? Michelin und ich sind heute zu Fuß da.« Sie ließ ihren alten Jeep gerne mal stehen, wenn sie nichts zu transportieren hatte. Der Morgenspaziergang von ihrem Häuschen hinunter in den Ort tat ihnen beiden gut.

»Natürlich«, sagte Sigrid. »Und jetzt fahr endlich. Deine Unruhe ist ja nicht mehr zu ertragen.«

3

Drei Minuten später schob Lou das blaue Citybike mit dem Korb am Lenker aus dem Fahrradständer neben der Eingangstür und radelte los. Ihr Weg führte am Landhaus Gerber vorbei. Das Restaurant, das sich im Erdgeschoss eines ehemaligen Landschlösschens befand, gehörte Fabio Gerber. Der Sternekoch war lange mit Mona, Lous Jugendfreundin, verheiratet gewesen, bis sich die beiden vor sechs Monaten einvernehmlich hatten scheiden lassen. Nachdem Mona beschlossen hatte, dass das Restaurant mit der zauberhaften Terrasse und dem betörenden Donaublick nicht mehr ihr Traum war und sie stattdessen lieber in den USA leben wollte, wo man ihr in New York einen Job als Expertin für Weinmarketing, ihr bisheriger Beruf, angeboten hatte. Lou war wütend auf Mona gewesen, als sie davon erfahren hatte. Zumal Fabio vor Monas Entscheidung viel Geld in das Anwesen gesteckt hatte und das Schlösschen samt Restaurant renovieren hatte lassen. Ende September letzten Jahres hatte er das Lokal eröffnet, das innerhalb kurzer Zeit zu einem Magneten für Liebhaber guter Küche geworden war. Regionale Speisen sowie Gerichte aus der französischen Schweiz, Fabios Heimat, waren das Erfolgsgeheimnis. Plötzlich fiel Lou ein, dass Fabio sie gestern Abend angerufen und gebeten hatte, die Vitrine aufzufüllen. Vor vier Monaten hatten sie beide Lous Vorschlag, eine Glasvitrine mit Produkten aus ihrem Delikatessengeschäft im Eingangsbereich des Restaurants aufzustellen, in die Tat umgesetzt. Bei Fabios Gästen kam die kleine Werbeaktion sogar besser an, als Lou es sich erhofft hatte. Sie kauften direkt im Restaurant und schauten anschließend oftmals auch noch in Lous köstlicher Welt vorbei. Sie nahm sich vor, sich darum zu kümmern, sobald sie bei Marta vorbeigesehen hatte.

Der Brucker-Hof lag ein wenig außerhalb von Marienkirchen. Nach fünfzehn Minuten bremste Lou, stieg ab, schob das Rad durch das Rundbogenportal in den Hof und stellte es ab. In einem Hochbeet wuchs Gemüse, in zwei Tontöpfen Salbei und Rosmarin. Daneben sah sie zwei Säcke mit Trockenbeton und Kies sowie ein paar Schalbretter auf dem Boden liegen. Da die Tür vom Hofladen offen stand, trat Lou ein.

In gemauerten Regalen standen die Erzeugnisse vom Brucker-Hof: Schalen mit je einem Kilo frische Marillen, Gläser mit Marillenmarmelade, Flaschen mit Marillenschnaps und -likör. Das Geld für den Einkauf warfen die Kunden in den Schlitz eines Holzkastens, in dem sich ein Safe befand, und nahmen sich dann selbst das Wechselgeld aus der Schüssel, die neben dem Kasten auf einem Tisch stand. Ein Blick auf die Liste, in die man die entnommenen Lebensmittel samt Rechnungssumme, eigenem Namen und Datum eintrug, verriet Lou, dass heute noch niemand in dem kleinen Selbstbedienungsladen eingekauft hatte.

Sie drehte sich um, trat wieder ins Freie und rief im Innenhof laut nach Marta. Da es still blieb, ging sie zum Wohnhaus. Die Eingangstür hatte einen unbeweglichen Knauf. Lou drückte den Klingelknopf, aber nichts geschah. Sie läutete noch einmal. Wieder öffnete niemand. Vielleicht war Marta ja tatsächlich mit der Ernte beschäftigt und hatte darüber die Zeit vergessen? Mit etwas Glück war sie im Marillengarten hinter dem Anwesen.

Lou ging auf die Obstbäume zu, die wie stramme Zinnsoldaten Spalier standen. Durch das sattgrüne Blätterwerk blitzten zig orangefarbene Früchte. Plötzlich nahm sie etwas aus den Augenwinkeln wahr und drehte den Kopf. Sie sah eine grüne Hose. In der nächsten Sekunde Turnschuhe. Dann realisierte sie, dass die Obstbäuerin etwa sechs Meter entfernt unter einem Marillenbaum lag.

»O Gott, Marta«, hauchte Lou und eilte zu ihr. Im Laufen scannte sie instinktiv die Umgebung. Am Stamm lehnte eine Zistel. Zwei Kartonsteigen mit Lous Namen drauf standen neben Marta auf dem Boden. Eine voller Marillen, die andere zur Hälfte gefüllt. Lou ließ sich neben der Landwirtin auf die Knie fallen. Das Gras um Martas Kopf war dunkelrot gefärbt, über ihr Gesicht zogen sich Blutschlieren. Das Kopftuch sowie der Kragen des fliederfarbenen Leinenhemdes waren blutgetränkt, die Augen waren weit aufgerissen und ihr Körper unnatürlich verdreht. Es sah aus, als hätte sie ein Tornado erfasst und zu Boden geschleudert. Aber das war unmöglich. Lou sah sich nach einem Ast oder einem großen Stein um, entdeckte aber nichts dergleichen. Als sie Martas Handflächen betrachtete, wiesen diese keine Schürfwunden auf.

Mit zitternden Fingern holte Lou ihr Handy aus der Hosentasche und rief die Rettung. Währenddessen überprüfte sie Martas Atmung und den Puls, fand jedoch kein Lebenszeichen. Würde es ihr gelingen, die Bäuerin zurückzuholen? Ein Gefühl der Machtlosigkeit überkam sie.

»Ich muss jetzt auflegen. Ich muss versuchen, ihr zu helfen«, stammelte sie und trennte die Verbindung zur Notrufzentrale, nachdem sie in Kurzform die Situation geschildert hatte. Rasch machte sie Fotos von Marta und der Umgebung, weil sie gleich die Position der Obstbäuerin verändern würde. Sie wollte versuchen, sie wiederzubeleben, obwohl sie befürchtete, dass der Rettungsversuch erfolglos bleiben würde. Aber manchmal geschahen doch Wunder, oder etwa nicht?

Nach einer Viertelstunde fuhren ein Rettungs- und ein Notarztwagen mit zuckenden Blaulichtern und kreischenden Martinshörnern auf den Innenhof. Dicht gefolgt von einem Polizeiauto, das unter dem Rundbogen anhielt. Lou rief laut nach den Rettungskräften, ohne ihre Wiederbelebungsversuche zu unterbrechen. Als zwei Sanitäter und der Arzt neben ihr auftauchten, ließ sie von Marta ab und erhob sich. Ihre luftige Stoffhose hatte an den Knien grünbraune Grasflecken, an ihren Fingern klebte Martas Blut. Mit schweren Beinen entfernte Lou sich ein paar Schritte, beugte sich nach vorn, stützte ihre Hände auf die Oberschenkel und atmete tief durch. Als Kriminalbeamtin hatte sie früher viele Leichen gesehen, aber an deren Anblick gewöhnt hatte sie sich nie. Möglicherweise mit ein Grund, weshalb es ihr leichtgefallen war, den Beruf aufzugeben.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte eine junge Sanitäterin und berührte Lou sanft an der Schulter. »Wollen Sie sich setzen?« Sie zeigte zum Rettungswagen.

Lou warf der Frau in der Rot-Kreuz-Uniform einen raschen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Danke, es geht schon wieder.« Sie richtete sich auf und drehte ihre Handflächen nach oben. »Haben Sie etwas zum Saubermachen?«

Die Sanitäterin nickte, entfernte sich, nahm eine Packung Feuchttücher aus dem Rettungskoffer und reichte sie Lou.

»Danke«, hauchte Lou und zupfte vier Tücher heraus. Während sie die letzten Meter zum Innenhof zurückging, wischte sie sich die Hände sauber und steckte die benutzten Tücher dann in ihre Hosentasche zu ihrem Handy.

Mittlerweile hatten die beiden Streifenpolizisten die Hofeinfahrt mit einem Absperrband gesichert. Lou blieb verloren neben Sigrids Citybike stehen. Sie hörte, wie einer der Polizisten einen ärztlichen Gutachter herbestellte. Lou wusste, dass in Marienkirchen der Gemeindearzt Theo Weinberg für die erste Totenbeschau verantwortlich war. Er würde entscheiden, ob der Vorfall als Unfall oder bedenklicher Todesfall eingestuft wurde. In letzterem Fall würde man Martas Leichnam in die Gerichtsmedizin bringen. Da es in Niederösterreich kein gerichtsmedizinisches Institut gab, entschied die zuständige Staatsanwaltschaft, in ihrem Fall in Krems, wohin der Leichnam gebracht wurde. Meistens fiel die Wahl auf Wien. Lou blickte noch einmal zum Marillengarten. Sie war sich sicher, dass sie sich am Ort eines Gewaltverbrechens befand. So wie früher so häufig. Nur dass sie diesmal Zeugin war.

»Konstantin Öhlgraber. Sie haben die Leiche von Frau Brucker entdeckt?« Lou schrak zusammen und nickte. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich einer der Streifenpolizisten neben sie gestellt hatte. Er musste etwa Mitte vierzig sein.

»Sie sind wer?« Der Polizist zückte seinen Notizblock.

Lou nannte ihren Namen und erklärte, dass sie einen Delikatessenladen im Ort betrieb. »Ich hab leider keinen Ausweis bei mir, weil ich meine Tasche im Geschäft gelassen habe.«

»Was hatten Sie hier zu tun?« Der Polizist war übergewichtig und litt, seinem roten Gesicht nach, unter Bluthochdruck.

»Ich hab mir Sorgen gemacht.« Lou erläuterte mit knappen Worten, weshalb sie hergefahren war.

Kurz darauf beugte sich der Gemeindearzt unter dem Flatterband hindurch und hastete durch das Rundbogenportal. Der etwa Fünfzigjährige nickte Lou zu, während er seine Nickelbrille auf der Nase zurechtschob.

»Schauen Sie sich Marta bitte ganz genau an, Herr Doktor«, bat Lou ihn. »Ich glaube, sie wurde umgebracht.«

Der Polizist zuckte zusammen. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

Theo Weinberg hob die Hand als Zeichen, verstanden zu haben, und eilte weiter zum Marillengarten. Lou wandte sich wieder dem Polizisten zu und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Sie zeigte ihm die Bilder von der Toten, die sie gemacht hatte, ehe sie sie auf den Rücken gedreht hatte. »Schauen Sie sich das Gesamtbild an.«

»Sie haben ihre Position verändert«, stellte der Beamte in scharfem Tonfall fest.

»Ich hatte gehofft, das Unmögliche möglich zu machen und sie zurückzuholen«, verteidigte Lou ihr Vorgehen. »Aber sie war längst tot.«

Der Polizist kniff genervt die Augen zusammen. »Hobbyermittlerin, was?«

»Nein, ehemalige Kriminalinspektorin«, gab Lou trocken zurück, und der Mann nahm instinktiv Haltung an.

»Schauen Sie.« Mit zwei Fingern vergrößerte sie den Bildausschnitt eines Fotos. »Martas Körperhaltung passt weder zu der Zistel, die ordentlich am Baumstamm lehnt, noch zu den Kartonsteigen mit den Marillen«, fuhr Lou mit ihren Erläuterungen fort. »Wäre Marta gestolpert und unglücklich gefallen, würde das Obst um sie herum verstreut liegen.«

»Vielleicht ist sie ja gestolpert und gefallen, nachdem sie die Zistel an den Baum gelehnt und die Kartonsteigen mit den Marillen abgestellt hatte«, entgegnete der Polizist.

»Möglich, doch dann hätte sie sich mit Sicherheit mit den Händen abgestützt, um den Sturz abzufangen. Aber das hat sie nicht getan, ihre Handflächen sind sauber und unverletzt. Kein Kratzer, kein Grasfleck. Nichts. Zudem würde sie anders daliegen«, erklärte Lou. »Auch wenn ihr ein dicker abgebrochener Ast auf den Kopf gefallen wäre, was offensichtlich ebenfalls nicht passiert ist. Oder haben Sie irgendwo einen herumliegen sehen?«

Der Polizist warf einen raschen Blick zum Marillengarten, bevor er den Kopf schüttelte.

»Martas Körper ist unnatürlich verdreht. Die Hände sehen nicht so aus, als hätte sie versucht, einen Sturz abzufangen«, fasste Lou zusammen. »Für mich deutet das darauf hin, dass sie von jemandem überrascht wurde, der ihr einen heftigen Schlag versetzt hat. So heftig, dass sie sich dadurch um die eigene Achse gedreht hat.«

Der Streifenpolizist nahm seine Polizeikappe ab. Kurz geschnittene dunkelbraune Haare klebten an seinem Kopf. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche seiner Uniformjacke, wischte sich kleine Schweißperlen von der Stirn und setzte die Kappe wieder auf. »Dem Arzt wird es sicher auffallen, wenn etwas nicht stimmt«, antwortete er ausweichend. »Schicken Sie mir die Fotos bitte an diese Mailadresse.« Er zog eine Visitenkarte hervor und gab sie Lou.

»Mach ich, sobald ich wieder im Geschäft bin. Hier draußen ist das Netz zu schlecht und das Internet zu langsam.« Sie steckte die Karte ein und musterte den Mann grüblerisch. »Außerdem denke ich, dass das, was auch immer hier passiert ist, vor neun Uhr geschehen ist. Marta wollte mir bis dahin nämlich die bestellte Ware ins Geschäft liefern. Notieren Sie sich das bitte.«

Konstantin Öhlgraber kritzelte die Info auf seinen Block.

In dem Moment fielen Lou Martas Kinder ein. »Die Tote hat einen Sohn und eine Tochter.«

Der Blick des Polizisten wanderte für den Bruchteil einer Sekunde zur Eingangstür des Wohnhauses. »Allem Anschein nach sind die nicht da. Zumindest hat mir niemand geöffnet, als ich geläutet habe.«

Lou nickte. »Mir hat auch niemand aufgemacht. Möglicherweise sind sie im Obstgarten an der Donau. Es ist Erntezeit, da helfen alle mit. Schicken Sie jemanden dorthin.« Sie erklärte ihm, wo der Garten lag. Marta hatte ihr und Sigrid begeistert die Lage beschrieben, als sie ihn vor zwei Jahren gepachtet hatte, und seitdem war Lou einige Male daran vorbeigefahren. Der Polizist notierte sich die Information.

»Wie heißen die Kinder?«, fragte er dann.

»Katharina und Andreas.«

»Wissen Sie, wie alt Frau Brucker ist beziehungsweise war?«

Lou dachte kurz nach. »Ihr exaktes Alter kenne ich nicht. Aber meines Wissens ist sie Ende vierzig, entweder acht- oder neunundvierzig.«

»Gibt es einen Herrn Brucker?«

»Ja, Rainer. Aber Marta und er leben schon länger getrennt und sind seit Kurzem geschieden.«

Der Polizist schrieb sich auch das auf. »Kennen Sie den Grund für die Scheidung?«

Lou dachte nach. Sie und Marta hatte nur eine lockere Bekanntschaft verbunden, den Grund für die Trennung von Rainer hatte sie ihr gegenüber nie erwähnt. Jedenfalls konnte Lou sich nicht daran erinnern. »Nein«, sagte sie schließlich. Und dann: »Vergessen Sie nicht die Spurensicherung und rufen Sie Chefinspektorin Verena Badinger vom Landeskriminalamt St. Pölten an.« Die sechsundfünfzigjährige Ermittlerin war erst Lous Ausbilderin und dann ihre Vorgesetzte beim Ermittlungsbereich Leib und Leben gewesen. »Sagen Sie ihr, dass sie mich im Geschäft findet.« Lou war klar, dass sie eine Aussage machen musste. »Worauf warten Sie noch?«, fragte sie, weil der Polizist keine Anstalten machte zu telefonieren. Auf einmal fühlte Lou sich wie in alten Tagen, als sie an Tatorten noch etwas zu sagen gehabt hatte. In ihrer aktiven Zeit als Kriminalbeamtin hatte sie gelernt, nie vorschnell zu urteilen, doch diesmal war sie sich sicher. »Marta Brucker wurde ermordet, glauben Sie mir.«

Konstantin Öhlgraber nickte und holte endlich sein Handy aus der Uniformjacke.

Lou sah auf ihre Uhr. Sie hatte Martas Leiche um elf entdeckt, mittlerweile war es zwölf. »Kann ich jetzt gehen?«

Der Polizist räusperte sich. »Natürlich können Sie das, aber halten Sie sich zur Verfügung. Sie müssen noch eine Aussage machen.«

»Wie schon erwähnt, finden Sie mich in Marienkirchen in Lous köstlicher Welt.« Damit stieg sie aufs Rad und fuhr davon.

4

Wie in Trance radelte Lou zurück zu ihrem Geschäft. Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor, so fest umklammerte sie die Griffe des Lenkers, und trotzdem zitterten ihre Hände. Marta war tot. Ihr Gehirn weigerte sich, das zu begreifen. »Wer hat dich so sehr gehasst, dass er dir das angetan hat?«, murmelte sie. Denn die Hinweise, die sie dem Polizisten aufgezählt hatte, ließen keinen anderen Schluss zu: Marta war umgebracht worden. Bei dem Gedanken liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg.

Als sie Lous köstliche Welt betrat, glaubte sie augenblicklich, in eine Versammlung geplatzt zu sein. Hedwig, Franziska und Sigrid standen am Verkaufstresen und sprachen aufgeregt miteinander. Über wen tuschelten sie so intensiv? Die drei kannten nahezu alle Bewohner Marienkirchens und natürlich auch deren Eigenheiten. Lou wäre nicht überrascht, wenn der österreichische Geheimdienst sie für sich entdecken würde.

Die achtundfünfzigjährige Bäckerin bemerkte Lou zuerst. Sie trug ein buntes Sommerkleid, das ihre breiten Hüften lässig umspielte und sie fast jugendlich wirken ließ. »Jessas, Lou.« Ihre Stimme schraubte sich ein paar Tonlagen höher Richtung Hysterie. »Wie schaust denn du aus?«

Lou wischte sich nochmals mit dem Handrücken über die Wangen. »Hast du die Bäckerei zugesperrt, oder müssen eure Kunden vor dem Geschäft kampieren, bis du zurück bist?«, versuchte sie, von sich abzulenken.

»Es ist geschlossen. Mittagspause.«

»Natürlich«, brummelte Lou.

»Lous köstliche Welt bleibt heute Mittag offen«, erklärte Sigrid unmittelbar. »Wenn ich eh da bin, können Kunden auch gerne zu uns reinkommen.« Sie deutete auf Lous Hose. »Du bist ja total schmutzig.«

»Ich weiß«, erwiderte Lou knapp.

»Ist das Blut?« Jetzt zeigte Sigrid auf einen Fleck oberhalb von Lous Knien, wo diese sich abgestützt hatte, bevor sie ihre Hände mit den Feuchttüchern gereinigt hatte.

»Ja.«

Ihre Angestellte zuckte zusammen. »Bist hingefallen?« Ihr Blick schnellte zur Eingangstür, vor der sie vermutlich ihr kaputtes Rad im Fahrradständer wähnte.

»Nein. Keine Angst, deinem Rad ist nichts passiert.«