Die Tränen von Triest - Beate Maxian - E-Book
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Die Tränen von Triest E-Book

Beate Maxian

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Beschreibung

Wien: Die 33-jährige Johanna Silcredi wird ans Krankenbett ihres Großvaters Bernhard gerufen. Er bittet sie, nach Triest in die Villa Costa zu reisen, und er fügt hinzu: »Finde heraus, wer mein Vater war.« Johanna ist zutiefst irritiert und macht sich auf den Weg. In der Villa trifft sie auf Charlotte von Uhlrich. Auch sie scheint auf Spurensuche zu sein.

Triest 1914. Die schöne Afra von Silcredi steht kurz vor der Verlobung mit Alfred Herzog und könnte nicht glücklicher sein. Doch dann beginnt der Erste Weltkrieg, und die Liebenden werden getrennt …

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Seitenzahl: 524

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Das Buch

Wien: Die 33-jährige Johanna Silcredi wird ans Krankenbett ihres Großvaters Bernhard gerufen. Er bittet sie, nach Triest in die Villa Costa zu reisen, und er fügt hinzu: »Finde heraus, wer mein Vater war.« Johanna ist zutiefst irritiert und macht sich auf den Weg. In der Villa trifft sie auf Charlotte von Uhlrich. Auch sie scheint auf Spurensuche zu sein.

Triest 1914. Die schöne Afra von Silcredi steht kurz vor der Verlobung mit Alfred Herzog und könnte nicht glücklicher sein. Doch dann beginnt der Erste Weltkrieg, und die Liebenden werden getrennt …

Die Autorin

Beate Maxian lebt mit ihrer Familie in Oberösterreich und Wien und arbeitet neben dem Schreiben als Journalistin und Dozentin. Ihre Wien-Krimis um die Journalistin Sarah Pauli sind Bestseller in Österreich. Beate Maxian ist Initiatorin und Organisatorin des ersten österreichischen Krimifestivals.

BEATEMAXIAN

Die Tränen

von Triest

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige Erstausgabe 12/2019

Copyright © 2019 by Beate Maxian

Copyright © 2019 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Eva Philippen

Umschlaggestaltung: © Eisele Grafik Design

unter Verwendung von © Trevillion Images/

Ildiko Neer; Shutterstock/PeterVrabel

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-25085-0V001

www.heyne.de

»Ich habe mein Leben damit zugebracht,

nicht nur den andern, sondern auch

mir selbst zu sagen: So sind wir!

Seien wir vernünftiger und besser.«

Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen, 1893

»Krieg ist immer Gefängnis!«

Rainer Maria Rilke, in: Stefan Zweig,

Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers,

posthum 1942 erschienen

1

Wien, Juli 2019

»Heute passiert es. Wirst sehen!«, sagte Johannas beste Freundin Judith euphorisch. Sicher schon das zehnte Mal an diesem Nachmittag. Sie war einfach fest davon überzeugt, dass Roman sich am heutigen Abend zu einem Heiratsantrag hinreißen ließ.

Johanna hatte bisher keinen Ton dazu gesagt. Sie stand in roter Spitzenunterwäsche vor dem Badezimmerspiegel, konzentrierte sich darauf, mit Hilfe eines Pinsels den roséfarbenen Lippenstift aufzutragen. Dieser harmonisierte perfekt mit ihren kupferroten Locken. Seitdem Judith über eine mögliche Hochzeit gesprochen hatte, überlegte sie insgeheim, ob sie überhaupt eine Ehe eingehen wollte. Das Thema hatte sich bisher nicht gestellt. Roman war ein erfolgreicher Architekt und im Grunde genommen mit der Arbeit verheiratet. Er sah gut aus, war groß gewachsen, sportlich und ehrgeizig. Viele Frauen beneideten sie um ihn, auch ob seiner Verlässlichkeit. Er kam, trotz des anstrengenden Jobs, selten zu spät, vergaß keinen Geburtstag oder sonstige Feiertage. Zudem trug er Johanna sprichwörtlich auf Händen, behaupteten zumindest ihre Freundinnen, hielt ihr galant die Tür auf und half ihr in den Mantel. Doch manchmal fühlte sie sich eher wie ein schönes Schmuckstück als eine gleichberechtigte Partnerin. Trotzdem. Sie war bereit, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen.

»Immerhin hat er dich ins Steirereck eingeladen«, fuhr Judith unablässig fort, weil Johanna in ihren Augen noch immer nicht erwartungsgemäß reagierte. Sie griff nach einem Gummiband, das in einer Schale am Fensterbrett lag, und fasste ihre langen brünetten Haare mit einer energischen Geste zusammen. »Das ist nicht irgendein Lokal, Johanna. Dort tragen die Kellner weiße Handschuhe. Feinschmecker behaupten, dass sie dort eine einmalige kreative Gourmetküche kredenzen. Was immer das genau heißen mag«, sinnierte sie kurz mit zusammengekniffenen Augen. »Jedenfalls bekommst du da österreichische Kost auf höchstem Niveau. Verstehst du?« Für Judith war die Einladung in den Gourmettempel anscheinend ein untrügliches Zeichen für einen Antrag.

»Selbst was die Preise anbelangt«, ergänzte Johanna spöttisch. Das Steirereck hatte es auf die Liste der weltweit fünfzehn besten Restaurants geschafft. Derartige Auszeichnungen schlugen sich natürlich auch finanziell nieder.

»Das kann dir doch egal sein, solange Roman zahlt«, tat Judith den Einwand ab. »Darüber hinaus seid ihr seit sechs Jahren das Traumpaar in unserem Freundeskreis.« Sie wedelte mit den Händen wie eine Cheerleaderin. »Zudem feierst du heute deinen dreiunddreißigsten Geburtstag. Das ist eine Schnapszahl, die bringt Glück. Das ist dir doch hoffentlich klar?«

»Oh, noch ein untrügliches Zeichen«, spottete Johanna lachend. »Das wird ja immer eindeutiger. Na ja, dann hat Göttin Fortuna ab heute ein ganzes Jahr Zeit zu beweisen, dass der Volksglaube recht behält.«

»Mach dich nur lustig. Du wirst an meine Worte denken, sobald er dir den Ring unter die Nase hält. Jedenfalls will ich es als Erste wissen, das steht mir zu. Ich bin deine beste Freundin. Mach dir also keine Gedanken darüber, wo ich mich in dem Moment befinde. Ruf an! Schick eine SMS, eine WhatsApp. Egal, Hauptsache ich erfahre es sofort.«

»Wie gut, dass du nicht neugierig bist.«

»Das ist doch keine Neugier. Das ist eine lebensnotwendige Information.«

Judith nahm das Sektglas vom Badewannenrand und prostete Johanna zu. Sie feierten Johannas Geburtstag schon seit dem frühen Nachmittag, weil ihre Freundin noch abends nach New York aufbrach. Sie war Stewardess auf Langstreckenflügen und flog oft in der Weltgeschichte umher.

»Aber bezeichne es, wie du’s willst. Trau dich trotzdem nicht, irgendwen vor mir zu informieren. Nicht einmal deine Mutter.« Judith streckte drohend den Zeigefinger in die Luft.

»Würde ich doch nie tun.« Johanna wandte sich vom Spiegel ab. »Fertig!«

Judith legte den Kopf schief und begutachtete Johannas Make-up kritisch. »Perfekt! Nicht zu viel, damit man deine hübschen Sommersprossen noch sieht. Aber auch nicht zu wenig, um das Strahlen deiner wunderschönen grünen Augen zu unterstreicht. Kurzum, dem Anlass entsprechend.«

»Jetzt hör endlich auf, eine so große Sache daraus zu machen! Ich bin schon ganz nervös. Sag mir lieber, was du zu dem Licht im Badezimmer sagst.«

Judith verzog das Gesicht. »Als ob mich das im Augenblick interessiert, dass die Beleuchtung von einem Lichtplaner ausgetüftelt wurde. Stell mir diese Frage nach dem Antrag noch einmal.«

Doch Johanna ließ nicht locker. Sie wollte endlich das Thema wechseln. »So kommt der Raum doch noch besser zur Geltung. Findest nicht auch? Außerdem ist der breite Spiegel jetzt perfekt ausgeleuchtet. Das ist schon ein Unterschied zu vorher. Beim Schminken bemerkt man das besonders.«

»Ja, ja. Alles wunderbar«, sagte Judith und zeigte damit nur halbherzig Begeisterung.

Das restliche Inventar trug eindeutig Johannas Handschrift. Sie war Innenarchitektin und hatte das Bad dem Wiener Jugendstil nachempfunden. Goldene Armaturen und Handtuchstangen im Einklang mit geschwungenen Linien. Gediegene Eleganz in Schwarz-Weiß. Sie liebte das typische Interieur um 1900. In der gesamten modern eingerichteten Dachgeschosswohnung in dem Jahrhundertwendehaus im dritten Bezirk tauchten immer wieder Elemente des Jugendstils auf. Wie etwa der gerahmte Kunstdruck »Dame mit Fächer« von Gustav Klimt an der Wand oder die Deckenleuchte aus Messing und Glas im Flur. Darunter stand auf einer restaurierten Herrenkommode aus dem Jahr 1910 die alte Schreibmaschine Royal Nummer Eins von 1907. Sie hatte einst ihrer Urgroßmutter Afra von Silcredi gehört. Vor drei Jahren hatte ihr Großvater sie ihr gestenreich geschenkt. »Sie ist wie neu, weil sie kaum benutzt wurde«, hatte er betont, weil das naturgemäß ihren Wert steigerte. Johanna hatte sich sofort in die historische Maschine verliebt. Sie käme nie auf die Idee, diese zu verkaufen, dies würde einem Sakrileg gleichen.

Roman verabscheute den Firlefanz, wie er es nannte. Er bevorzugte nüchterne Räume. Doch in dem Punkt gab Johanna nicht nach. Er musste ihren »Firlefanz« akzeptieren, immerhin war er in ihr Apartment gezogen. Als Kompromiss hatte Johanna zugestimmt, zukünftig weniger historische Stücke anzukarren.

Johanna warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann ging sie ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Judith folgte ihr, stellte am Weg das leere Sektglas in der Küche ab. Roman wollte gleich direkt vom Büro ins Restaurant fahren. Er machte sich demnach nicht allzu schick für den Abend. Ob sie das Judith gegenüber erwähnen sollte? Würde das ihre Euphorie dämpfen?

»Oh, schon so spät! Süße, ich muss!« Judith tippte auf ihre Armbanduhr und drückte Johanna rasch einen Kuss auf die Wange. »Du schickst mir sofort eine Nachricht, versprochen?«

»Ich habe dir das doch schon versprochen.«

»Trotzdem«, beharrte Judith.

Johanna holte tief Luft für eine Entgegnung, ließ es dann aber. »Okay. Heiliges Ehrenwort. Du bist die Erste!« Johanna hob die rechte Hand, als legte sie einen Eid ab.

»Sehr gut«, sagte Judith zufrieden.

Johanna nahm die Hand runter und holte das elegante schwarze Etuikleid aus dem Schrank. Judith küsste sie noch einmal auf beide Wangen und verschwand eilig durch die Tür im Flur. Gleich darauf kam sie zurück. »Ach ja, und bitte vermeide es, mit dem Verlobungsring zu sprechen. Du weißt, er hasst es, wenn du mit Gegenständen redest.« Sie grinste.

»Ebenfalls versprochen!« Johanna lachte. Das war ihre Eigenheit, die sie seit der Kindheit pflegte. Sie sprach mit Sachen, bevor sie diese kaufte und in eine Wohnung integrierte, die sie gerade einrichtete. »Obwohl ich mich zusammenreißen muss, es nicht zu tun«, fügte sie hinzu.

»Das kannst du dann heimlich machen, im Klo oder so. Aber bitte nicht im Restaurant. Roman nimmt dir den Ring sofort wieder ab. Also Süße, Bussi, Baba und viel Glück.« Judith warf ihr noch einen Luftkuss zu, den Johanna erwiderte. Wenige Sekunden später hörte Johanna die Wohnungstür zuschlagen.

»Nicht mit dem Verlobungsring sprechen«, wiederholte sie lachend. Sie zog die Strümpfe hoch, schlüpfte in die schwarzen Pumps und verließ wenige Minuten später ebenfalls die Wohnung.

2

Das Steirereck lag am Heumarkt im dritten Bezirk mitten im Stadtpark. Unzählige Menschen flanierten an dem milden Sommerabend durch die weitläufige Parkanlage, saßen auf Bänken oder den Wiesen vor einem der Teiche. Touristen schossen zig Fotos vor der goldenen Statue von Johann Strauss. Das Restaurant erkannte man durch die spiegelnde Metallfassade leicht von Weitem. Es wirkte auf Johanna ein klein wenig futuristisch. Ganz nach Romans Geschmack. Leichtfüßig lief sie auf den Eingang zu, der sich unmittelbar vor ihr wie durch Zauberhand öffnete. Ein Mann mittleren Alters nahm ihr den dünnen Sommermantel ab, den sie über dem Arm trug.

»Hubner«, nannte sie Romans Familiennamen.

Ein Kellner kam und führte sie durch das gut besuchte Restaurant direkt auf die Terrasse. Auch dort gab es kaum freie Plätze. Die weißen Sonnenschirme sorgten für angenehmen Schatten, denn die Sonne ging erst in zwei Stunden unter. Roman saß schon an einem weiß gedeckten Tisch, direkt beim Geländer mit Blick auf den Wienfluss. Ein prachtvoller Blumenstrauß steckte in einem Sektkübel.

Roman wirkte begehrenswert, obwohl er den ganzen Tag im Büro verbracht und sicher wieder bis zur Erschöpfung gearbeitet hatte. Er erhob sich wohlerzogen, als er Johanna kommen sah. Sein Blick verriet, dass sie atemberaubend aussah. Zur Begrüßung hauchte er ihr einen sanften Kuss auf beide Wangen, wie einer guten Freundin. Vor mehr Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit graute ihm. Paare, die sich schwer verliebt vor den Augen Fremder küssten, regten ihn maßlos auf.

»Die sind für dich.« Er zeigte auf die Blumen. »Happy Birthday.«

»Danke.« Johanna lächelte entzückt und setzte sich. »Bist schon lange hier?«

»Nein, zwei, drei Minuten.« Auch Roman nahm wieder Platz. Der Kellner brachte das Gedeck. Drei unterschiedliche Arten von Butter. Der Brotsommelier zählte verschiedene Brotsorten auf. Sie entschieden sich für Sesam-, Dinkel- und Veilchenbrot.

»Judith hat mich besucht. Wir haben uns ein bisserl verplaudert. Sie fliegt heute noch nach New York.«

Roman nickte, wirkte jedoch auf irgendeine Weise abwesend.

»Ist irgendwas? Du schaust irgendwie bedrückt aus.«

»Nein, alles in Ordnung.«

Der Kellner überreichte ihnen die Speisekarte und legte die Weinkarte vor Roman auf den Tisch. Dann zog er sich mit einer leichten Verbeugung zurück. Johanna strich die Süßmaisbutter auf ein Stück Sesambrot und schob es sich in den Mund.

»Was hältst du von einer Flasche Weißburgunder?«

Johanna nickte, wiederholte das Prozedere von vorhin mit Paprikabutter auf Dinkelbrot. Dann warf auch sie einen Blick in die Karte. Eigentlich verspürte sie kaum Hunger, deshalb entschied sie sich lediglich für den Saibling im Bienenwachs mit Salat. Roman orderte als Vorspeise den Attersee-Hecht mit Federkohl, gefolgt von Lamm. Der Wein wurde gebracht. Roman probierte, ließ den edlen Tropfen im Mund kreisen, schluckte, nickte dann dem Kellner zu. Dieser schenkte ihnen beiden ein und schob die Flasche in den Weinkühler.

Roman hob das Glas. »Prost! Auf dich!«

»Auf wunderbare Zeiten«, erwiderte Johanna. Sie stießen an, tranken einen Schluck.

»Wie war’s im Büro?«, fragte Johanna intuitiv, weil sie ihn das jeden Tag fragte. Er erkundigte sich seltener danach, wie es ihr ergangen war.

»Ging so. Keine besonderen Hochs, aber auch keine Tiefs. Und bei dir?«

Johanna hatte sich vor drei Jahren selbstständig gemacht und sich in der Innenstadt ein kleines Büro gemietet. Anfangs steuerten ihre Eltern etwas zur Miete bei, aber inzwischen war die Auftragslage gut, und sie brauchte keine Unterstützung mehr. »Ich habe mir heute freigenommen. Das habe ich dir beim Frühstück erzählt.«

»Ach ja.« Roman versuchte ein Lächeln, das jedoch aussah, als verzöge er missbilligend das Gesicht.

Er hat es vergessen, vermutete Johanna stumm. Klar, eine solche Ungeheuerlichkeit, an einem stinknormalen Freitag nicht ins Büro zu fahren, käme für ihn nicht in Frage. Geburtstag hin oder her. Gewissenhaftigkeit lautete Romans zweiter Vorname.

Der Kellner kam mit dem Saibling, präsentierte ihn. Dann übergoss er den Fisch vor ihren Augen mit achtzig Grad heißem Bienenwachs. »Der Geschmack bleibt so besser erhalten«, erklärte er, bevor er den Teller wieder in die Küche trug, wo der Fisch fertig garte.

Während sie auf das Essen warteten, sprachen sie über Belangloses. Über das Kinoprogramm, obwohl sie selten ins Kino gingen. Über Johannas Kleid, das Roman ihr gekauft hatte. Über den geschmacklosen Kaffee, den Roman heute bei einem Meeting hinuntergewürgt hatte. Roman war ein guter Redner. Er erweckte stets den Eindruck, jeder Kleinigkeit des Gesprächs Aufmerksamkeit zu schenken und war sie noch so unbedeutend. Derweil wusste Johanna, dass oft das Gegenteil der Fall war. Romans Leben drehte sich zumeist um ihn selbst.

Als sie die Mahlzeit beendet hatten und die Teller abgeräumt waren, zog Roman ein kleines, in Geschenkpapier eingewickeltes rechteckiges Kästchen aus der Tasche. »Ich … also«, stammelte er. »Dein Geschenk.« Er überreichte es ihr mit einer ungelenken Handbewegung. Es gelang ihm nicht, ihr dabei in die Augen zu sehen. Romantik lag ihm nicht.

Roman Hubner, der selbstbewusste Architekt, verwandelt sich in einen schüchternen Buben, dachte Johanna amüsiert. Sie fixierte ihn eine kurze Weile schweigend. Genau diesen Anblick wollte sie in ihrem Gedächtnis abspeichern. Nervöse oder unsichere Momente gab es kaum in Romans Leben. Normalerweise strotzte er vor Selbstsicherheit.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen begann sie, das Geschenk auszuwickeln. Zum Vorschein kam eine flache Schatulle mit der Aufschrift eines Schmuckhändlers.

Judith hat recht, dachte Johanna. Sie überlegte, ob Roman beleidigt reagierte, wenn sie ihm gestand, ihren Nachnamen auch nach der Hochzeit behalten zu wollen. Der Name Silcredi klang in ihren Ohren melodiöser als Hubner.

Vorsichtig hob sie den Deckel ab. Gleich darauf blickte sie verwundert auf einen Schlüssel.

»Was ist das?«

»Ein Schlüssel.«

»Das sehe ich, Roman. Aber wofür ist der?« Sie dachte an eine Reise, an ein Haus irgendwo mitten in der Natur, zu dessen Eingangstür der Schlüssel gehörte. Ein Urlaub, der ihnen schon lange vorschwebte, jedoch aus Zeitgründen seit drei Jahren regelmäßig auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Roman nestelte unruhig an der Serviette. Johanna wartete geduldig auf seine Antwort.

»Er gehört …«, Roman musste sich sichtlich erneut einen Ruck geben. Diesmal schien es ihm noch schwererzufallen. »Also, er gehört zu unserer Wohnung.«

»Hä? Unsere Wohnung?« Hatte er hinter ihrem Rücken eine andere organisiert? Wozu? Johannas Apartment war perfekt.

»Erkennst du ihn nicht?«

Johanna setzte einen konzentrierten Blick auf, musterte das Teil noch mal. »Jetzt wo du’s sagst, kann sein …« Sie hatte keine Ahnung. »Ich verstehe es nicht.«

Er grinste blöd. »Ich schenke dir die Freiheit.«

»Du schenkst mir was? Was bin ich? Eine Gazelle im Zoo?« Sie lachte, weil sie dachte, das Geschenk sei Teil eines Spiels, das sie noch immer nicht durchschaute.

»Ich gehe«, sagte er und schüttelte unmerklich den Kopf, weil ihnen der Kellner die Speisekarten fürs Dessert überreichen wollte.

»Was heißt, du gehst?«

»Ich ziehe aus.«

Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht endgültig bei Johanna ankam. »Du willst die Trennung?« Endlich glaubte sie zu kapieren. »Und das sagst du mir an meinem Geburtstag?« Sie warf entsetzt die Hände in die Luft. »Im Steirereck?«

»Ich dachte … Ich wollte dich noch einmal zu einem großartigen Essen ausführen.«

»Oh, wie aufmerksam«, schnauzte Johanna zynisch. Sie versuchte, den Sinn der Worte einzuschätzen. Doch ihre Gedanken fuhren Karussell.

»Außerdem wollte ich vermeiden, dass wir streiten oder du mir eine Szene machst.«

»Was bist du doch für ein erbärmlicher Feigling«, knurrte sie. »Gehst mit mir essen, nur damit … was, wenn ich jetzt aufspringe, herumbrülle und dir den Wein ins Gesicht schütte? Lust dazu habe ich nämlich.«

Roman riss erschrocken die Augen auf. Was er noch mehr in der Öffentlichkeit hasste als Zärtlichkeiten, waren hysterische Szenen.

»Ich hole morgen meine Sachen ab.« Romans sachlicher Tonfall fachte zusätzlich ihre anschwellende Wut an. Johanna ballte die Hände zu Fäusten. Sie hätte ihm jetzt gerne eine reingehauen.

Sie verfluchte ihre gute Erziehung, weil sie sich stattdessen benahm, wie er hoffte. Sittsam. Friedlich.

»Warum? Was ist passiert? Erklär’s mir, Roman!«

Er wich ihrem Blick aus. Sie sah ihm an, dass er abwog, ob er ihr die Wahrheit sagen konnte. Ein kurzes Seufzen. »Ich hab eine Frau kennengelernt.«

»Du hast was?«

»Schon vor einem halben Jahr. Du kennst sie nicht. Sie ist Architektin. So wie ich.« Ihr kam vor, als betone er die letzten drei Wörter besonders. Sollte sie womöglich noch Verständnis haben für die Situation?

Und jetzt willst du, dass ich euch zu der großartigen Übereinstimmung gratuliere?, lag Johanna auf der Zunge. Sie schwieg, weil Zynismus die Sache nicht änderte.

»Hast du nichts gemerkt?« Seine Frage klang vorwurfsvoll. Wollte er etwa ihr die Schuld geben, dass es so weit gekommen war? Sie überlegte, ob er sich in den letzten sechs Monaten anders verhalten hatte. »Nein, was denn?«

Plötzlich ärgerte sie sich darüber, nicht das teuerste Gericht auf der Karte geordert zu haben. Vielleicht sollte sie noch eine Flasche Champagner bestellen und mit nach Hause nehmen. Oder besser gleich zwei. Judith fiel ihr ein. Sie wartete wahrscheinlich bereits auf Johannas SMS. Wie aufs Stichwort klingelte ihr Handy. Roman sah sie genervt an.

»Da staunst du, wie rebellisch ich sein kann.« Sie wusste, dass Roman Handyläuten in Restaurants unerträglich fand.

»Wie schwer ist es eigentlich, es vor dem Betreten auf Flugmodus oder lautlos zu stellen?«, knurrte er.

Reflexartig zog sie es aus der Clutch. Mama stand am Display. Sie blieb sitzen, nahm sich vor, lautstark zu telefonieren. Noch etwas, das Roman auf die Palme brachte.

»Hallo Mama! Was gibt’s?«

Die Leute am Nebentisch drehten den Kopf in ihre Richtung. Roman wirkte gereizt. Immerhin!

»Johanna … der Opa.« Das Beben in der Stimme ihrer Mutter verriet, dass etwas passiert war.

»Was ist mit Opa?« Nun stand Johanna doch auf und verließ die Terrasse Richtung Toilettenraum.

»Der Opa ist zusammengebrochen.«

»Jessas«, rief Johanna entsetzt.

»Der Papa und ich sind schon auf dem Weg ins Krankenhaus Hietzing«, erklärte Katharina aufgeregt.

Johannas Herz raste. Sie spürte das Pochen ihres Blutes bis in die Schläfen. Vor ihrem inneren Auge tauchten Angst machende Bilder auf. Sie sah ihren geliebten Großvater auf einer Trage liegend mit geschlossenen Augen und einer Sauerstoffmaske über die Nase gestülpt. Natürlich rechnete man bei einem Vierundneunzigjährigen nicht mehr im Zehnjahresrhythmus. Aber heute, an ihrem Geburtstag, durfte er nicht sterben, noch dazu jetzt, wo Roman sie abserviert hatte. Ihr Opa war sehr rüstig, werkelte im Garten herum, jammerte selten über irgendwelche Wehwechen und war geistig topfit.

»Du bist sicher noch mit Roman beim Essen. Es tut mir so leid, dass wir euch stören.«

»Ihr stört doch nicht, Mama. Wir sind sowieso schon fertig.« In jedweder Hinsicht, fügte sie in Gedanken niedergeschlagen hinzu. »Ich komm sofort ins Krankenhaus!« Johanna änderte die Richtung, steuerte nun auf den Ausgang zu. Der Mann von vorhin überreichte ihr wortlos ihren Sommermantel. Einen Moment überlegte sie, ihn zu bitten Roman Bescheid zu geben. Sie verwarf die Idee, nahm den Mantel mit dankbarem Nicken entgegen und rauschte an ihm vorbei ins Freie. Sollte Roman auf der Terrasse doch versauern, ebenso wie die Blumen.

»Fahr erst einmal zur Oma«, sagte ihre Mutter. »Sie ist allein zuhause. Kannst dir sicher vorstellen, wie aufgeregt sie ist. Papa und ich melden uns, sobald wir etwas Neues erfahren.«

Johanna wollte wissen, weshalb ihre Großmutter nicht gleich mit ins Krankenhaus gefahren war. Doch jetzt war nicht der Moment für sinnlose Fragen. Sie versprach sofort loszufahren, verabschiedete sich, legte auf und lief so schnell es ihre Pumps zuließen zum Taxistand vor dem Hotel Intercontinental. Mit Seitenstechen kam sie an, stieg rasch in den ersten Wagen ein und nannte dem Fahrer schwer atmend die Adresse. Er fuhr augenblicklich los. Das Doppelhaus, in dem ihre Eltern und ihre Großeltern wohnten, lag im Viertel Breitensee im vierzehnten Bezirk. Obwohl das Taxi zügig vorankam, fühlte sich der Weg dorthin endlos an.

3

Das Taxi hielt in der Ameisbachzeile vor dem Wohnhaus mit der gelben Fassade und den weißen Doppelfenstern. Johannas Großmutter wartete bereits in der offenen Eingangstür. Johanna hatte sie vom Handy aus angerufen und ihr gesagt, dass sie unterwegs war. Maresi Silcredi war trotz ihrer achtundachtzig eine attraktive Frau. Ihre graue Kurzhaarfrisur und ihre stets makellose Kleidung ließen sie um Jahre jünger erscheinen. Doch im Moment wirkte sie erschöpft, trug entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit lediglich einen scheußlich hellgrünen Hausanzug. Sie versuchte ein Lächeln beim Anblick ihrer Enkelin. Doch das erreichte ihre sonst so freundlichen Augen nicht. Um ihren Mund lag ein angespannter Zug. Johanna bezahlte den Taxifahrer und eilte so schnell es ging zu ihr. Ihre Großmutter zog sie in ihre Arme, als müsste sie Johanna Trost spenden und nicht umgekehrt.

»Wie geht’s dir, Oma?«, fragte Johanna, als sie sie wieder freigab.

»Wo ist der Roman?«, fragte Maresi, während sie das Haus betraten.

»Der sitzt noch im Lokal. Wir hatten noch nicht bezahlt, als mich die Mama anrief. Ich wollte nur ganz schnell zu dir.« Sie hielt es für unklug, in diesem sensiblen Moment ihrer Großmutter gegenüber die Trennung zu erwähnen.

»Ich habe Tee aufgesetzt. Nur um etwas zu tun, bis du da bist, Kind«, sagte die alte Frau und seufzte.

Johanna folgte ihr ins Wohn-Esszimmer. In dem Raum fühlte sie sich augenblicklich in eine frühere Epoche versetzt. Ihre Großeltern sammelten Möbel aus dem Biedermeier. Diese dominierten ihre gesamte Haushälfte. Johanna vermutete, dass sie ihre Vorliebe für historische Gegenstände ihren Großeltern verdankte. Auf dem Couchtisch aus Kirschholz stand eine Kanne Kräutertee, auf dem Teller daneben lagen Kekse. Sie setzten sich auf das grün bezogene Biedermeiersofa. Johanna nahm das Handy aus der schmalen Handtasche und legte es auf den Tisch.

»Die Mama gibt uns so schnell wie möglich Bescheid«, erklärte sie den Grund, das Telefon griffbereit zu haben.

»Der Opa war schon den ganzen Tag so aufgeregt«, setzte Maresi an und schenkte ihnen beiden Tee ein. »Er hat sich so auf deine Feier morgen gefreut.«

Johannas Mutter hatte sie zum Geburtstagsfrühstück eingeladen. Dass diese Einladung auch für ihre Großeltern galt, lag auf der Hand. Immerhin teilen sie sich ein Doppelhaus, wohnten Tür an Tür. Zudem gehörte es zur Familientradition, gemeinsam zu feiern.

»›Maresi‹, hat er gemeint. ›Das Kind wird schauen, wenn es sieht, was wir ihm dieses Jahr zum Geburtstag schenken.‹ Das hat er die letzten Tage öfter wiederholt«, fuhr ihre Großmutter mit zittriger Stimme fort.

Johanna musterte sie interessiert. »Was, bitte schön, schenkt ihr mir, dass es den Opa so aufregt?«

»Das sag ich dir nicht. Ich will ihm auf gar keinen Fall das Vergnügen nehmen, dein Gesicht zu sehen, wenn du’s auspackst. Er freut sich doch schon so darauf«, meinte sie matt.

»Das muss ja ein sensationelles Geschenk sein, wenn ihr es so spannend macht.«

Ihre Großmutter seufzte wieder. »Du bist bestimmt überrascht.«

Johanna umarmte sie. »Er wird wieder gesund, Oma. Da bin ich mir sicher.« Sie hoffte, dass sie überzeugend klang. Einen Moment fragte sie sich, was aus ihrer Großmutter würde, wenn ihr Großvater starb. Sie verbat sich den Gedanken jedoch rasch wieder.

»Heute Morgen hat er noch im Garten herumgewerkelt«, riss Maresi sie aus ihrer Grübelei. Sie deutete auf das großflächige Fenster nebst Terrassentür, die in den hinteren Teil des Hauses führte. Dort blühten unzählige Rosen unterschiedlichster Formen, Farben und Gattungen. Der ganze Stolz ihres Großvaters. »Kennst ihn ja. Er kann nicht einmal nichts tun. Immer gibt es irgendeine Arbeit, die sofort erledigt werden muss.«

»Das hält ihn jung«, behauptete Johanna. Obwohl auch sie seit Längerem schon Bedenken hatte, er könne sich übernehmen.

»Erzähl mir von deiner Arbeit«, forderte Maresi ihre Enkelin plötzlich auf.

»Von meiner Arbeit? Jetzt?«

»Das bringt mich auf andere Gedanken.«

»Wenn du meinst.« Johanna begann, von ihrem letzten Auftrag zu berichten, ein Dreisternehotel am Stadtrand auszustatten. »Der Hotelbetreiber wollte einen skandinavischen Stil. Also minimalistisches Design mit Naturelementen aus Holz und so …« Sie wusste nicht, ob ihre Großmutter zuhörte. Trotzdem sprach sie über flexible Elemente, klassische Formen, aufeinander abgestimmte Innenausstattung, weil sie bemerkte, dass das Reden auch sie beruhigte. Die Ereignisse überschlugen sich, es war einfach absurd. Zweitrangig, dass das Thema nicht zur Situation passte.

Ihr Handy klingelte. Blitzschnell schnappte Johanna es sich. Am Display leuchtete der Name ihrer Mutter auf. Ein Gefühl der Angst schnürte ihr die Kehle zu, als sie das Gespräch annahm. Ihr Herz raste schmerzhaft stechend.

»Mama.« Sie hielt unwillkürlich die Luft an. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, betete sie stumm. Ihre Großmutter griff sich mit einer Hand an den Hals und blickte sie aus angsterfüllten Augen an. Wenn es tatsächlich Momente gab, in denen die Zeit stehenblieb, war dies so einer. Sie unterdrückte den Impuls, die Augen zu schließen, ihrer Oma zuliebe. Das befeuerte sicher zusätzlich ihre Angst.

»Dem Opa geht’s wieder gut«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Erlösender konnte ein Satz nicht sein. Johanna getraute sich endlich wieder auszuatmen.

»Gott sei Dank! Dem Opa geht’s wieder gut«, wiederholte sie für ihre Großmutter.

Maresi lehnte sich zurück und schloss die Augen. Möglich, dass sie ein stummes Gebet sprach.

»Die Ärzte sprechen von einer Art Schwächeanfall. Sein Blutdruck war viel zu hoch. Aber jetzt passt wieder alles. Sie wollen ihn aber noch hierbehalten. Zumindest ein oder zwei Tage. Nur zur Beobachtung.«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, Mama.« Johanna spürte Tränen der Erleichterung hochsteigen. Sie hätte niemals wieder ihren Geburtstag gefeiert, wäre ihr Großvater heute gestorben.

»Opa meinte, ihr sollt herkommen, und Oma soll dein Geschenk mitnehmen.«

»Mein Geschenk?«

Maresi schlug die Augen wieder auf. Johanna drückte ihre Hand.

»Das ist doch im Moment völlig unwichtig.«

»Meine Worte. Aber er besteht darauf. Kennst doch den sturen Kerl.« Ihrer Mutter gelang ein sanftes Lachen. »Also tu ihm bitte den Gefallen.«

»Also gut, wir nehmen mein Geschenk mit. Wir sind gleich bei euch.«

Ihre Großmutter stand auf. »Ich zieh mich schnell um.«

Als sie zurückkam, trug sie eine rosafarbene Tunika, dazu eine dunkle Hose. Jetzt sah sie wieder so makellos wie immer aus. In der Hand hielt sie einen Stoffbeutel. »Ich hab noch einen Pyjama für den Opa eingepackt. Das Zeug im Krankenhaus steht ihm sicher nicht.«

Johanna unterdrückte ein amüsiertes Lachen. Als ob es in einem Krankhaus auf gutes Aussehen ankäme. Sie griff nach ihrem Handy. »Ich ruf uns ein Taxi.«

Im Spital hakte sich Johanna auf dem Weg zum Krankenzimmer bei ihrer Großmutter unter. Als sie die Tür öffnete, pochte ihr Herz aufgeregt. Was erwartete sie beide? Ein schwacher alter Mann im Bett, dem Tod näher als dem Leben?

Überraschenderweise sah ihr Großvater frisch aus. Bernhard Silcredi saß aufrecht im Bett und plauderte angeregt mit Johannas Eltern. Katharina zupfte an der Bettdecke herum. Etwas ordnen, zurechtziehen, das tat sie gerne. Sie war Anfang sechzig und trug seit Jahrzehnten einen akkurat geschnittenen Pagenkopf. Kurt, Johannas Vater, zwei Jahre älter als Katharina, saß auf dem Stuhl neben dem Bett. Sogar im Sitzen sah man ihm seine Größe von einem Meter neunzig an. Ihre Eltern trugen legere Freizeitkleidung. Wahrscheinlich hatten sie vor dem Fernseher gesessen, als ihr Großvater den Schwächeanfall erlitten hatte. Johanna umarmte zuerst ihren Opa, danach begrüßte sie ihre Eltern.

Maresi legte den Stoffbeutel mit dem Pyjama ans untere Ende des Bettes. Dann überreichte sie ihm ein Kuvert. Er gab es an Johanna weiter. »Mach’s auf! Ich bin gespannt, ob du’s gleich erkennst.« Er strich sich nervös mit der Hand über sein kahles Haupt.

Die anderen fixierten sie voller Neugier. Es fühlte sich an, als enthüllte sie in den nächsten Sekunden ein lang gehütetes Geheimnis.

»Ihr macht mich ganz konfus, wenn ihr mich so anstarrt.« Johanna zog die Lasche des Umschlags auf und holte einen Folder hervor. Das Titelbild zeigte eine Villa. Neunzehntes Jahrhundert, vermutete sie aufgrund der Architektur. Altrosa Fassade mit weiß umrahmten Sprossenfenstern. Eine ausladende Terrasse mit vier antikweißen Bistrotischen aus Metall, mit geschwungenem Gestell und ebensolchen Stühlen. Inmitten eines englisch anmutenden Rasens lag ein beeindruckender Pool. Doch erst der verglaste Erker im ersten Stock führte sie gedanklich auf den richtigen Weg. Eine Aufnahme von dem Gebäude aus frühen Tagen hing bei ihren Großeltern im Flur. Damals noch ohne Pool, dafür mit einem kunstvoll angelegten Garten, in dem alle möglichen Pflanzen blühten und verschlungene Pfade zum Durchschlendern einluden.

»Ist das nicht die Silcredi-Villa in Triest?« Johannas Urgroßmutter Afra war dort geboren und aufgewachsen. Sie zog erst 1918 nach Wien.

»Du hast sie gleich erkannt«, sagte ihr Großvater strahlend. Er warf Maresi einen Blick zu, der so viel hieß wie: Ich hab’s dir gesagt, sie erkennt es sofort.

»Ich versteh nur nicht recht …«Johanna konnte mit dem Geschenk ebenso wenig anfangen wie vorhin mit dem Schlüssel. Bei dem Gedanken daran musste sie schlucken.

»Sie heißt jetzt Villa Costa. Darin ist jetzt eine Frühstückspension«, erläuterte ihr Großvater, als ob das jede Frage beantwortete.

»Du schenkst mir eine Frühstückspension in Triest? Ist das nicht ein bisschen zu viel? Eine Hütte im Wald hätte es ebenso getan«, scherzte Johanna.

Ihr Großvater zwinkerte ihr zu. »Wenn ich könnte, würd ich dir ein Schloss spendieren, Kind. Aber ich befürchte, dafür fehlt mir das Kleingeld. Eine Woche in Triest belastet meine Rente jedoch nicht, zumal wir zusammengelegt haben.« Er zeigte auf ihre Eltern und die Großmutter. »Du reist doch so gern, hast es aber die letzten Jahre nicht getan.«

Johanna blickte überrascht von einem zum anderen.

Katharina legte ihren Arm um die Schulter ihrer Tochter. »Du bist schon so lange nicht mehr in den Urlaub gefahren. Als der Opa dann mit der Idee zu uns kam …«

»Das Geschenk ist also eine Familienverschwörung.« Johanna grinste mit zusammengekniffenen Augen und betrachtete noch mal den Prospekt. Der Bau der Villa war auf 1854 datiert. Sie hatte mit ihrer Schätzung also richtig gelegen. Das Anwesen stand aufgrund künstlerischer und historischer Werte unter Denkmalschutz, las sie.

»Die Villa Costa liegt auf dem Stadthügel beim Castello San Giusto«, sagte ihr Vater. »Bestehe bei der Buchung auf einem Zimmer mit Meerblick.«

»Ihr habt also noch nicht gebucht«, stellte Johanna fest.

»Wir wussten doch nicht, wann du wegkannst«, erklärte ihre Mutter. »Es gibt im Haus übrigens auch einen Wellnessbereich mit Whirlpool, Sauna und türkischem Bad. Ungeachtet dessen wohnst du mitten in der Altstadt.«

»Du könntest gleich morgen fahren.« Ihr Großvater klopfte mit der flachen Hand auf die Bettdecke. »Ich möchte nämlich die Fotos, die ihr macht, noch gerne ansehen können. Roman ist übrigens selbstverständlich eingeladen mitzufahren.«

Johanna hatte realisiert, dass er im Plural gesprochen hatte. Dabei lag es an Roman, dass sie die letzten drei Jahre nicht verreist waren. Egal, das war Schnee von gestern. Jetzt musste sie sich entscheiden, ob sie die Katze sofort aus dem Sack ließ oder damit besser noch wartete. Sie presste unangenehm berührt die Lippen aufeinander. Bis zu dem Moment hatten die Ereignisse sie daran gehindert, intensiver über die Trennung von Roman nachzudenken. Plötzlich krampfte sich ihr Herz zusammen, als läge es in Eisenketten. Sollte sie mit der Wahrheit herausrücken? Im Krankenhaus, vor dem Krankenbett ihres Opas? Das passte nicht in das Bild eines Krankenbesuchs. Im Übrigen würde sie die erschütterten Gesichter ihrer Familie nicht ertragen. Und davon war sie fest überzeugt, dass ihre Lieben betroffen dreinblickten. Spätestens an diesem Punkt gelänge es ihr sicher nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Sie fühlte sich plötzlich wie eine Schülerin, die eine schlechte Note beichten musste und der man zeitgleich die Belohnung für eine Eins unter die Nase hielt. Auf der anderen Seite erwies sich gerade ihre Familie in allen Lebenslagen als Stütze und Hilfe. Sie standen immer hinter ihr, wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Selbst die Frage nach etwaigen Enkeln beziehungsweise Urenkeln waren seltener geworden. Auch das lag nicht an Johanna. Roman wollte keine Kinder. Sie gab sich einen Ruck. »Ich muss euch etwas gestehen«, begann sie zögerlich. »Roman und ich … Wir haben uns vorhin … also heute Abend«, verflucht, fiel ihr das schwer, »getrennt.«

4

Einen Moment herrschte bedrohliches Schweigen. Im nächsten Augenblick kämen die bestürzten Gesichter, wappnete Johanna sich gegen das Unvermeidliche. Ihre Lieben würden ihre Enttäuschung zeigen, sie bemitleiden, nach dem Grund fragen. Danach, ob es noch etwas zu kitten gäbe in der Beziehung. Wessen Schuld es sei. Sie hasste die Reaktionen schon jetzt, weil sie Angst vor den Tränen hatte, die sie unweigerlich vergießen würde. Sechs gemeinsame Jahre waren beim Teufel. Doch in diesem Moment seufzte Katharina. Nicht schwer oder verzagt. In Johannas Ohren klang es eher wie ein Ächzer der Erleichterung. Verwundert sah sie auf.

»Und ich dachte schon, das passiert nie.« Ihre Mutter umarmte Johanna, drückte sie freudestrahlend, als habe sie soeben von einer bevorstehenden Hochzeit erfahren. Es verschlug ihr die Sprache. Verwirrt musterte sie über die Schulter ihrer Mutter hinweg den Rest der Familie. Keine erschütterten Gesichter. Keine Betroffenheit, ja nicht einmal eine abgemilderte Form der Erschrockenheit war ihnen anzusehen. Diese Reaktion kam unvorhersehbar, wie aus dem Nichts.

»Du schuldest mir zwanzig Euro«, sagte Kurt zu Katharina, nachdem diese ihre Tochter wieder freigab.

Johannas Blick wanderte nun zwischen ihren Eltern hin und her. »Ihr habt darauf gewettet, dass Roman und ich uns trennen? Sagt mal …«

»Deine Mutter und ich … Wir wetten nun einmal gerne untereinander. Das weißt du doch.«

»Ja. Darum, ob’s morgen regnet, welche Partei bei den anstehenden Wahlen gewinnt, ob der Nachbar am Samstag den Rasen wieder um acht Uhr morgens mäht … Solche Dinge. Aber doch nicht, ob die Beziehung eurer Tochter in die Brüche geht oder nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil das unmoralisch ist«, empörte sich Johanna.

»Was ist daran unmoralisch?«

»Wir haben nicht gewettet, ob du Roman jemals für eigene Kinder begeistern kannst«, wandte ihre Mutter ein.

Da war es, das heiß herbeigesehnte Enkelkind. Auf diese Diskussion wollte Johanna sich in diesem Moment nicht einlassen. Sie wedelte die Bemerkung mit einer Geste beiseite. »Dessen ungeachtet … Aus welchem Grund hast du darauf gewettet, dass wir uns trennen, Papa?«

»Er passt nicht zu dir«, antwortete ihr Vater.

»Das hat er nie«, bekräftigte ihre Mutter die Behauptung.

»Wie kommt ihr auf diese Idee? Wir waren sechs Jahre zusammen! Roman ist bei mir eingezogen.«

Kurt zuckte mit den Achseln. »Du hast seit ungefähr zwei Jahren so einen gelangweilten Blick.«

»Vielleicht war das mein konzentrierter Blick? Immerhin hab ich ein eigenes Unternehmen aufgebaut, das ist anstrengend und erfordert Konzentration.«

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Vertrau mir, Kleines! Es war Langeweile, ich kenn deinen konzentrierten Blick. Der geht so.« Er kniff die Augen zusammen und legte die Stirn in tiefe Falten. Sie fingen alle unweigerlich zu lachen an.

»So schau ich nicht aus«, schmollte Johanna.

»Doch.«

»Also gut, ich hab’s verstanden, Papa. Und jetzt mach diese gruseligen Falten auf deiner Stirn wieder weg. Da bekommt man ja Angst.«

Kurt streckte den Arm aus und drückte sanft ihre Hand. »Wie unterschiedlich ihr seid, spiegelt doch eure Arbeit wider. Du richtest Räume ein, in denen sich Menschen wohlfühlen und wo ihre Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. Allein wenn ich nur daran denke, wie zauberhaft du stets unser Haus und meine Praxis zu Weihnachten schmückst. Du spielst mit Strukturen, Stoffen und Dekorationsmaterialien, die zu Blickfängern erblühen. Roman baut Häuser aus Beton und Glas. Du holst die Schönheit ins Haus, Roman Beton und Glas. Du spielst mit Design in jedweder Hinsicht. Roman mit Beton und Glas. Wobei ich diese Materialien durchaus wertschätze, aber in Maßen.«

»Auch das hab ich verstanden, Papa! Unser ästhetisches Verständnis mag unterschiedlich sein … das heißt aber nicht, dass wir menschlich nicht zusammenpassen.« Herrgott, warum verteidigte sie diesen Scheißkerl eigentlich? Er hatte sie heute Abend kaltherzig abserviert. An ihrem Geburtstag! Wegen einer anderen Frau, von deren Existenz sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte. In dem Moment fiel ihr ein, dass sie ihn nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. Sicher war’s besser so. Ein Name verwandelte die imaginäre Gestalt in ein lebendiges Wesen. Ob sie ebenfalls rote Haare hatte? Roman stand darauf. Jedenfalls bei ihr. War sie schlank, sportlich …? Himmel! Warum stellte sie sich all diese Fragen?

»Beton und Glas«, wiederholte Kurt nachdrücklich, weil Johanna noch immer nicht reagierte.

»Du hast ja recht. Romans liebste Werkstoffe heißen Beton und Glas.« Es war Johanna sogar schon öfter in den Sinn gekommen, dass diese seinen Charakter widerspiegelten: pragmatisch, unumstößlich, sachlich.

Kamen sie an einem Gebäude mit großer Glasfassade vorbei, konnte er sich kaum sattsehen. Er bewunderte die Klarheit, während Johanna überlegte, ob die Bewohner oder Angestellten eines Büros sich in so einem Haus nicht wie ein Ausstellungsstück im Schaufenster fühlten. Roman hatte sie schon öfter um Vorschläge und Skizzen gebeten, wenn er genau so ein Projekt realisierte. Rustikales Inventar und Echtholzböden ergänzten sich gut mit den kühlen Grundstoffen und machten in Johannas Augen die transparente Fassade erträglicher. Im Gegensatz zu Roman liebte sie Gebäude mit verspielten Frontseiten, Sprossenfenstern und Erker.

»Du warst ihm gegenüber viel zu ergeben«, fuhr nun ihre Mutter fort. »Obwohl er dich meines Erachtens ganz schön ausgenützt hat. Dann, wenn du für ihn eine tolle Einrichtung für den von ihm entworfenen Plan auf Papier bringen solltest. Ohne Bezahlung, versteht sich. Aber so bist du eben. Hilfsbereit und loyal.«

»Wir waren ein Paar.«

»Gerade deshalb sollte er deine Arbeit doppelt wertschätzen«, beteuerte ihr Vater. »Doch das Gefühl hatte ich nicht. Er hat dich immer nur dann nach deiner Meinung gefragt, wenn das Projekt noch nicht ausgegoren war. Den Zuschlag für die Einrichtung bekam danach ein anderer Innenarchitekt, obwohl er angeblich dich bei seinen Auftraggebern vorgeschlagen hatte.« Kurt rollte zweifelnd mit den Augen.

»Wir versuchten, Arbeit und Privates auseinanderzuhalten.« Ausgesprochen hörte sich der Satz genau nach dem an, was er war. Ein ausgemachter Blödsinn. Allein, dass sie unentgeltlich Pläne am Küchentisch gezeichnet hatte, zeigte doch, wie sehr sie beides vermischt hatten. Doch die Liebe zu diesem Mann hatte sie für solche Nebensächlichkeiten, wie sie meinte, blind gemacht.

»Schon als Kind fiel es dir schwer, einen Schlussstrich unter etwas zu ziehen. Kannst du dich noch daran erinnern, als du unbedingt ein Aquarium wolltest?«, fragte ihre Mutter unvorhergesehen.

»Was hat das jetzt damit zu tun?«

»Nach zwei Monaten sind dir die Fische auf die Nerven gegangen. Aber anstatt das Aquarium aufzulassen, hast du dich vier Jahre lang durchgequält, sie gefüttert, es sauber gemacht …«

»Du kannst doch Roman und meine Beziehung nicht mit der Haltung von Fischen vergleichen«, unterbrach Johanna erneut. Zudem wollte sie ja keinen Schlussstrich ziehen. Er hatte die Beziehung beendet! Gut, dass sie Judiths Idee von einem Heiratsantrag unerwähnt gelassen hatte. Sie hätte auch von der Trennung nichts sagen sollen. Dieses Gespräch gehörte nicht in ein Krankenzimmer.

»Du hast dich durch die Beziehung mit Roman gequält, obwohl dir schon nach drei Jahren langweilig war«, sagte ihr Vater.

»Du hast dich nicht nur gelangweilt«, fügte Katharina hinzu. »Du hast immer zurückgesteckt. Seine Arbeit ging vor. Dein Wunsch nach einem Kind war vom Tisch, als er sagte, er wolle keine. Urlaube habt ihr gar keine mehr geplant, weil Roman Freizeit für Zeitverschwendung hielt«, zählte ihre Mutter an den Fingern ab. »Du hast dein Leben völlig nach ihm ausgerichtet.«

»Die Arbeit …«

»Papperlapapp«, unterbrach nun auch Maresi energisch. »Ihr seid jung, könnt tun, was immer ihr wollt und wonach euch der Sinn steht. Die Erklärungen, warum das eine oder andere im Augenblick nicht umgesetzt werden kann, waren leidige Ausreden, an die du meines Erachtens selbst nicht geglaubt hast.«

»Es lag nämlich nicht daran, dass du dir ein eigenes Unternehmen aufgebaut hast«, fügte ihre Mutter hinzu. »Dein Innenarchitekturbüro hätte locker ein oder zwei Wochen Ferien überstanden, weil du in deinem Job verdammt gut bist, mein Schatz.« Sie strich Johanna zärtlich über die Wange. »Du musst lernen, mehr an dich zu glauben und dich durchzusetzen. Nicht zu allem Ja und Amen sagen.«

Johanna blickte überrascht von einem zum anderen. »Da bin ich jetzt richtig froh, dass ihr euch einig seid, dass die Trennung gut für mich ist. Ich hatte nämlich Angst, in enttäuschte Gesichter schauen zu müssen.«

War das die ehrliche Meinung ihrer Lieben? Versuchten sie etwa mit der Reaktion Johannas Kummer wegzuwischen wie lästigen Staub auf einer Fensterbank? Egal, es funktionierte paradoxerweise. Streng genommen sollte sie Wut oder zumindest Verzweiflung spüren. Doch überraschenderweise schwebte ihre Gefühlswelt in einem luftleeren Raum. Nichts drang an die Oberfläche. Warum auch immer. Darüber wollte sie später nachdenken.

Katharina schenkte ihr einen zärtlichen Blick. »Die Trennung schmerzt dich im Moment sicherlich, aber schon bald wirst du bemerken, dass sie für dich ein Befreiungsschlag ist. Glaub deiner Mutter, mein Schatz.« Sie strich Johanna nochmals sanft über die Wange und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Warum habt ihr all die Jahre über nichts gesagt?«

»Das stimmt doch nicht. Wir haben öfter darauf hingewiesen, dass du zu oft zurücksteckst. Aber du hast nicht zugehört.«

Johanna erinnerte sich, dass ihre Eltern tatsächlich mehrmals bekrittelt hatten, mit welcher Selbstverständlichkeit Roman über Johannas Zeit verfügte. Wie viele Wochenenden hatten sie damit zugebracht, auf Baustellen herumzulaufen, weil Roman sie unbedingt noch vor Montag begehen wollte? Wie oft hatte sie von einer Reise geträumt? Sich fest vorgenommen, sie heimlich zu buchen und ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen? Es kam jedoch nie zustande, weil sie nie heimlich einen Urlaub gebucht hatte, denn sie befürchtete insgeheim allein fliegen zu müssen. Roman ließ sich nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Zudem lagen immer wichtige Projekte auf seinem Schreibtisch. Auch dieses Verhalten hatte sie mit gesundem Ehrgeiz, Loyalität und Zuverlässigkeit dem Dienstgeber gegenüber entschuldigt und für die richtige Entscheidung gehalten. Ob das seine neue Freundin ebenfalls so einschätzte?

»Was dir deine Eltern so wortreich mitteilen wollen ist, ihr hattet kaum Gemeinsamkeiten. Das ist aber wichtig in einer Beziehung«, mengte sich nun ihr Großvater wieder ein. »Reise doch einfach alleine nach Triest.« Damit kam er auf das eigentliche Thema zurück, das ihm dem Anschein nach viel wichtiger erschien. »Das schafft Abstand und tut dir gut, Kind.«

Johanna griff nach der Hand des alten Mannes und drückte sie fest. »Aber nur, wenn es dir wirklich gut geht, Opa.«

»Ich fühl mich wie ein junger Hirsch. Das heute war nur die Vorfreude. Sie hat mich in die Knie gezwungen. Macht euch alle bitte keine Sorgen. Also, wann kannst du fahren? Morgen? Übermorgen? Nächste Woche?« Seine Augen glänzten bei dem Gedanken.

»In Ordnung«, lenkte sie schließlich ein und blickte ihre Lieben abwechselnd an. »Dann fahr ich eben alleine nach Triest. Ich rufe gleich morgen früh dort an und schau, wann sie ein Zimmer frei haben.«

»Mit Meerblick«, erinnerte sie ihr Vater.

»Natürlich.«

Ihr Großvater zeigte sich äußerst zufrieden. Doch nun, da er die Antwort gehört hatte, die er hören wollte, huschte Müdigkeit über das alte Antlitz. Das brachte Johannas Sorgen um ihn augenblicklich zurück. War es wirklich klug, jetzt in den Urlaub zu fahren? Mal nicht gleich den Teufel an die Wand, ermahnte sie sich stumm. Dem Opa geht’s wieder gut.

»Ich glaub, wir sollten dich jetzt schlafen lassen«, sagte Kurt und umarmte ihn zum Abschied. »Können wir sonst noch etwas für dich tun, Papa?«

Auf Bernhard Silcredis faltigem Gesicht erschien ein geheimnisvoller Blick. »Eigentlich habe ich alles, was ich brauche. Aber vielleicht kann Johanna ja in Triest herausfinden, wer mein Vater ist.« Er kicherte wie ein kleiner Junge. »Könnte ja sein, dass er den Kelch des ewigen Lebens gefunden hat.«

»Klar, Opa. Nichts leichter als das«, sagte Johanna amüsiert. »Wo genau soll ich nach ihm suchen? Im Café? In einer Bar oder sitzt er am Kai?«

»Ich weiß es nicht, bin mir aber sicher, dass mein Vater etwas mit dieser Stadt zu tun hat.«

Johanna warf ihren Eltern einen raschen Blick zu. Ihr Großvater hatte nie erfahren, wer sein leiblicher Vater war. Doch das war schon lange kein Thema mehr im Haus Silcredi. Dass er ausgerechnet jetzt wieder damit anfing, wenngleich auch scherzhaft verpackt, alarmierte Johanna. Offenbar beschäftigte es ihn mehr, als er zugab.

In dem Moment reifte in Johanna der Entschluss, ihr Möglichstes zu tun, um zumindest einen Hinweis auf den leiblichen Vater ihres Opas zu finden. Auch wenn ihr das, realistisch betrachtet, unmöglich erschien. Denn sie hatte absolut keinen Anhaltspunkt, nur den Humbug, den ihre Urgroßmutter Bernhard zeitlebens aufgetischt hatte. Johanna war fünfzehn Jahre alt gewesen, als ihr Opa ihr erstmals davon erzählt hatte. Die Lüge, die ihm als Wahrheit verkauft worden war, ließ sich leicht durchschauen. Deshalb wunderte sich Johanna bis heute, weshalb seine Mutter sie überhaupt zum Besten gegeben hatte.

5

Wien, August 2001

Die milde Freitagabendsonne beschien mit sanftem Licht die weiß und lila blühende Hibiskushecke, die sie vor den neugierigen Blicken der Nachbarn schützte. Bienen, Schmetterlinge und Taubenschwänzchen umschwirrten den prächtigen Lavendel und die unterschiedlichsten Rosensorten. Eine einzigartige bunte Tier-und Pflanzenwelt. Manchmal erschien es Johanna, als brächten die Insekten alle noch unzählige Freunde mit. In den Töpfen auf der Terrasse wuchsen Kräuter für die Küche. Rosmarin, Thymian, Basilikum, Oregano und Salbei. Ihre Großeltern besaßen den sprichwörtlich grünen Daumen. Deshalb betreuten sie beide Gärten. Katharina arbeitete als Einkäuferin eines internationalen Modelabels. Ihr Vater betrieb eine Praxis für Physiotherapie. Den beiden blieb kaum Zeit für Gartenarbeit. Dafür luden sie Johannas Großeltern regelmäßig zum Essen ein. Heute stand Kurt, ihr Vater, in T-Shirt und Jeans vor dem Grill und heizte das Feuer an. Freia, die achtjährige Labradorhündin, bewachte währenddessen den Beistelltisch, auf dem eine Schüssel mit Koteletts, Spießen und Würsten stand.

»Wahrscheinlich versucht sie, sie mit der Kraft ihrer Gedanken runterfallen zu lassen.« Kurt grinste.

»Ich bin sicher, dass unsere verfressene Freia auch nach Paprika schnappt, wenn da eine runterfällt«, meinte Katharina. Sie stellte den Teller mit Gemüse demonstrativ neben das Fleisch. Die Hündin blieb wie angewurzelt sitzen, ließ sie aber nicht aus den Augen.

Johanna deckte indessen den großen runden Tisch auf der Terrasse für fünf Leute. Ihre Großeltern traten durch das schmale Gatter, das ihre Gärten miteinander verband. Den hüfthohen Doppelstabmattenzaun hatte ihr Vater errichtet, als Freia damals bei ihnen eingezogen war. Er wollte verhindern, dass der einst junge und ungestüme Hund Löcher in den Rasen oder das Gemüsebeet seiner Eltern grub. Mittlerweile lag Freia zumeist faul auf der Terrasse oder im Haus. Löcher in Böden buddelte sie schon lange keine mehr. Ihr Interesse galt heutzutage mehr dem Futternapf und im Augenblick der Schüssel mit dem Fleisch. In diesem Moment ließ sie sich nur durch den Gugelhupf ablenken, den Johannas Großmutter auf einem Tortenteller über die Wiese Richtung Veranda balancierte.

»Den hättest du wohl gerne, Freia«, begrüßte sie die Labradorhündin, die wedelnd und mit erhobener Nase auf sie zulief. Maresi beschloss, den Kuchen zur Sicherheit doch in der Küche abzustellen, obwohl Freia niemals etwas vom Tisch stahl. Sie war zwar verfressen wie ein Bär nach dem Winterschlaf, nichtsdestotrotz wohlerzogen. Die oberste Regel: den Hund niemals vom Tisch füttern, beherzigten sie alle.

Ihre Großeltern setzten sich an den Gartentisch. Kurt legte die ersten Würste auf den Grill. Johanna holte die Salatschüssel aus der Küche.

Das Abendessen verlief in entspannter Atmosphäre. Wenngleich sich Johannas Gefühl nach das Gespräch zu häufig um die Schule drehte. Dabei waren doch Sommerferien, da sparte sie diesen Themenbereich gerne aus. Dennoch beantwortete sie geduldig die Fragen ihrer Großeltern, halt so knapp es eben ging.

Nach dem Essen holte Kurt ein in braunes Packpapier eingewickeltes quadratisches Paket und überreichte es seinem Vater. »Ich habe das Bild heute abgeholt, Papa.«

Johanna erinnerte sich, dass ihr Vater kürzlich mit ihrem Opa über eine alte Fotografie gesprochen hatte, die er vergrößert und gerahmt haben wollte. Ihr Vater hatte sich darum gekümmert, weil neben der Praxis ein Laden lag, der solche Dienstleistungen anbot. Der alte Mann entfernte das Papier. Er strahlte.

»Perfekt.« Sichtlich zufrieden, bestaunte er das Ergebnis.

Johanna beugte sich zu ihm rüber, um besser sehen zu können. Sie blickte auf eine Schwarzweißaufnahme eines doppelstöckigen Gebäudes, umgeben von einer parkähnlichen Gartenanlage. Die Farbenpracht der Oleander auf der Terrasse konnte man aufgrund der Blütendichte am Foto gut erahnen. »Ist das …?«

Johannas Opa nickte bestätigend. »Ja, eine alte Aufnahme der Villa Silcredi.« Er ließ die Finger über das Glas gleiten, hinter dem die Fotografie steckte. »Ich möchte das Bild in unserem Flur aufhängen.«

Ihr Großvater hatte ihr von der Villa in Triest erzählt und ihr alte Fotos gezeigt. Afra, seine Mutter, war in Triest, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, geboren und aufgewachsen. Darauf war Johanna stolz. Immerhin war sie die Einzige in der Klasse, deren Vorfahren aus dem heutigen Italien stammten. Deshalb hatte sie sich im Gymnasium auch für den Italienischunterricht angemeldet. Einige Worte konnte sie bereits sprechen und verstehen. Stolz war sie auch auf die kupferroten Locken und Sommersprossen auf der Nase, die sie von ihrer Urgroßmutter vererbt bekommen hatte. Vor Jahren hatten ihre Großeltern ein paar Tage in Triest verbracht und waren an der Villa vorbeigekommen. Bernhard hatte später erzählt, dass er einen Moment lang daran dachte, einfach anzuläuten. Doch da weder er noch Maresi ein Wort Italienisch sprachen, hatten sie die Idee wieder verworfen. Außerdem, was hätten sie den neuen Besitzern sagen sollen? »Meine Mutter hat hier mal gewohnt. Darf ich mir die Räume ansehen?«

»Was ist eigentlich mit deinem Vater?«, fragte Johanna, weil ihr in diesem Moment bewusst wurde, noch nie von ihm gehört zu haben. Großeltern waren präsent, Urgroßeltern kannte man zumeist nur von alten Geschichten. Sie kannte lediglich Ereignisse, die ihre Urgroßmutter Afra von Silcredi betrafen. Etwa, dass sie den Laden eröffnete, den später ihre Großeltern führten. Ihr Vater warf ihr einen überraschten Blick zu. Ihr Großvater seufzte hörbar. Ihre Großmutter lächelte betroffen, und ihre Mutter begann, die Anrichteteller auf dem Tisch neu zu ordnen. Offenbar hatte ihre Frage in allen Nervosität ausgelöst. Johanna erschien es, als habe sie Salz in eine offene Wunde gestreut. Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, wie ihr das gelungen war.

»Interessiert dich das wirklich?«, fragte Bernhard.

»Weiß nicht«, antwortete Johanna, nun doch unsicher ob der Reaktion ihrer Familie. Womöglich war ihr Urgroßvater ein Verbrecher gewesen. Oder ein Alkoholiker, der die Familie in den Abgrund gerissen hatte. Ein Taugenichts, den man besser verschwieg.

»Bist du sicher, Lust auf eine alte Geschichte zu haben?«, hakte Bernhard nach, weil sie noch immer nicht geantwortet hatte.

»Ich mag alte Geschichten«, sagte Johanna, und das war nicht einmal gelogen. Dass ihre Urgroßmutter aus Triest stammte, faszinierte sie jedenfalls. Ebenfalls, dass ihre Vorfahren eine schlossähnliche Villa besessen hatten.

Kurt zeigte auf sich und ihre Mutter. »Wir kennen die Geschichte zwar, aber ja … ich denke, jetzt, da Johanna gefragt hat … erzähl sie ruhig!«

»Ja, Opa. Erzähl sie!«, wiederholte Johanna.

»Na gut! Nachdem das gerahmte Bild heute gekommen ist, passt die Geschichte ja gut zum Abend.« Bernhard erhob sich und eilte durch die schmale Gartentür zurück auf ihre Seite des Grundstücks. Kurz darauf war er im Haus verschwunden.

»War das falsch von mir?« Johanna fühlte sich auf unbestimmte Art unwohl. Sie liebte ihren Großvater über alles, wollte ihn auf gar keinen Fall einer peinlichen Situation ausliefern.

»Nein, alles bestens«, beruhigte sie ihr Vater.

»Ich denke, er freut sich sogar über dein Interesse«, meinte Maresi.

»Ihr habt alle so komisch geschaut«, sagte Johanna.

»Weil uns deine Frage überrascht hat.« Katharina legte den Kopf schief. »Du hast bisher nicht nach deinem Urgroßvater gefragt.«

»War jetzt auch eher so eine spontane Frage. Ich hab mir, ehrlich gesagt, über ihn bis heute keine Gedanken gemacht.«

»Warum solltest du das auch tun?«, fragte Maresi verständnisvoll. »Mit fünfzehn schaut man nach vorne, hat Ziele und Träume. Der Blick zurück kommt erst viel später, dann, wenn du die ersten grauen Haare entdeckst.« Sie deutete belustigt auf ihre Kurzhaarfrisur, wo sich vereinzelt weiße Strähnen zeigten.

Ihr Großvater, der inzwischen zurückgekehrt war, legte ein Kuvert auf den Tisch. »Das ist alles, was mir meine Mutter aus der Zeit in Triest hinterlassen hat. Es ist nicht viel. Das meiste hat sie nicht mitgenommen. Die paar Habseligkeiten, die deine Ururgroßeltern Gustav und Mathilda von Silcredi nach Wien mitnahmen, hat sie nach deren Tod entsorgt. In Triest sind zu viele Tränen geflossen, hieß es immer, und sie wollte in ihrer neuen Heimat keine mehr vergießen.«

»Aus den Augen, aus dem Sinn«, murmelte Johanna.

»So ähnlich«, meinte Bernhard.

Johanna beäugte den Umschlag auf dem Tisch mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. Was würde sie in den nächsten Minuten erfahren? Ihr Großvater griff danach, zog ein sepiafarbenes Foto aus dem Kuvert und reichte es Johanna. Sie betrachtete es eingehend. Es zeigte zwei junge Männer in hellen Sommeranzügen, weißem Hemd und mit Fliege. Auf dem Kopf trugen beide Hüte. Sie lachten, wirkten auf den ersten Blick sympathisch. Jedenfalls schienen sie Spaß zu haben. »Wie alt ist das Foto?«, fragte sie.

»Das Foto ist fast neunzig Jahre alt. Es stammt aus dem Jahr 1912. Aufgenommen wurde es mit der legendären Vest Pocket von Kodak. Die hat man auch Soldatenkamera genannt, weil sie im Ersten Weltkrieg von Soldaten eingesetzt wurde. Da musstest du noch einen Film einlegen und den danach entwickeln lassen. Leider gibt es die nicht mehr, die wäre heute viel Geld wert. Aber die Produktion wurde, wenn ich mich recht erinnere, 1926, also ein Jahr nach meiner Geburt, eingestellt.«

»Und wer sind die beiden?«

»Der Linke ist mein Onkel Ludwig … damals hieß es noch von Silcredi. Das Recht zur Führung des Adelszeichens von wurde uns, laut Adelsaufhebungsgesetz im Jahr 1919, entzogen. Aber das hast du sicher in der Schule gelernt.« Er lächelte Johanna zu. »Und der andere war sein bester Freund Alfred Herzog. Er war der Sohn einer angesehenen Reederfamilie und mein angeblicher Vater.«

»Das ist mein Urgroßvater?«

»Nein.«

»Ich dachte … aber du hast doch grad gesagt, dass das dein Vater ist.« Johanna blickte verwirrt von einem zum anderen.

»Mein angeblicher Vater, habe ich gesagt.«

»Was heißt das?« Johanna verstand nicht. Ihre Neugier war geweckt.

»Alfred Herzog war die große Liebe meiner Mutter. Die beiden waren verlobt, wollten heiraten … dann kam der Erste Weltkrieg.«

»Ich verstehe noch immer nicht.«

»Alfred Herzog fiel 1917. Ich wurde aber erst 1925 geboren. Man muss nicht Mathematik studieren, um den Fehler zu finden!« Ihr Großvater lachte.

Johanna legte die Stirn in Falten. »Wie kann das … das kann doch gar nicht sein.«

»Jetzt hast du’s begriffen.« Kurt nickte anerkennend.

»Was steht denn in deiner Geburtsurkunde?«, hakte Johanna nach.

»Vater unbekannt.«

»Und warum hat deine Mutter dir dann erzählt, dass Alfred Herzog dein Vater ist?« Sie war verwirrt.

»Genau kann ich dir das natürlich nicht beantworten. Aber ich denke, dass sie es sich gewünscht hat. Es deshalb zu ihrer eigenen, ganz persönlichen Wahrheit werden ließ. Anfangs habe ich fest daran geglaubt, dass er mein Vater ist. Aber später, als ich rechnen lernte, war bald klar, dass das nicht sein kann. Ich habe mir oft überlegt, wer mein leiblicher Vater sein könnte. Heldenhafte Geschichten habe ich mir als Kind über ihn ausgedacht und sogar meinen Freunden erzählt. Derweil wusste ich in Wahrheit insgesamt betrachtet nichts über ihn.« Bernhards Stimme nahm einen heiseren Klang an. Er nahm einen Schluck Wasser, stellte das Glas wieder auf den Tisch zurück. »Verstehe mich nicht falsch, ich hatte eine großartige Mutter. Aber ich bin mit einer Lüge aufgewachsen, die mir zeitlebens als einzige Wahrheit verkauft wurde.«

»Was haben deine Großeltern dir denn erzählt?«, fragte Johanna.

»Meine Großmutter starb drei Jahre vor meiner Geburt. Mein Großvater hat sich dazu nicht geäußert und damit dem Wunsch meiner Mutter entsprochen. Du musst wissen, sie war eine unglaublich starke Frau mit eisernem Willen.«

»Aber es war doch offensichtlich die Unwahrheit.« Das wollte nicht in Johannas Kopf. Eltern belogen ihre Kinder nicht.

Ihr Großvater zuckte ergeben mit den Achseln. »Was willst du machen, wenn du jedes Mal die gleiche Antwort hörst? Selbst wenn du stichhaltige Argumente dagegen einbringst.«

»Einen Vaterschaftstest einklagen.« Johanna hatte erst kürzlich in einer Zeitschrift gelesen, dass es so etwas gab.

»Von dem einmal abgesehen, dass das damals, als mich die Sache am meisten beschäftigte, noch nicht möglich gewesen war … Wen hätte ich denn als vermeintlichen Vater angeben sollen? Du brauchst doch eine Vergleichs-DNA.«

Das erschien Johanna logisch. »Wahnsinn«, murmelte sie und presste die Lippen zusammen.

»All ihre Energie, die sie nicht in mich steckte, packte sie in den Laden im ersten Bezirk, den später deine Oma und ich führten.«

Einige Stoffballen hatten nach der Geschäftsauflösung lange Zeit im Keller ihrer Großeltern gelagert. Johanna war als Kind oft hinuntergegangen, hatte die Seiden- und Brokatstoffe fasziniert bestaunt. Heute befand sich ein Geschenkeladen in den Räumlichkeiten des ehemaligen Stoffladens.

»Ihre gesamte Aufmerksamkeit und Liebe bekam ich. Für sie ging morgens nur für mich die Sonne auf und abends wieder unter. Sie war ständig besorgt um mich, hatte Angst, dass mir etwas Schreckliches zustoßen würde. Dass mich das in jungen Jahren manchmal erdrückte, steht auf einem anderen Blatt.«

»Heute bezeichnet man solche Eltern als Helikopter-Eltern«, sagte Kurt. »Danke, dass ihr mir so viele Freiheiten gelassen habt. Darauf stoßen wir an.«

Sie hoben ihr Glas und tranken.

»Darauf und auf die Familie«, fügte Katharina hinzu.

»Auf die Familie«, stimmten die anderen ein.

6

Wien, Juli 2019

»Er hat was?« Judiths Stimme erfüllte den gesamten Raum, obwohl sie von New York aus anrief. Johanna hatte ihr gleich, nachdem sie aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, eine Nachricht via WhatsApp geschickt. Keine zehn Minuten später hatte sie ihre Freundin auch am Telefon. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war mittlerweile ein Uhr morgens, das bedeutete, bei Judith war es sieben Uhr abends. Wahrscheinlich saß sie in ihrem Hotelzimmer, wollte möglicherweise gerade Abendessen gehen. Johanna war nicht dazu gekommen, sie danach zu fragen. Judith ließ nämlich seit zwei Minuten ein Lamento gegen Roman los, in dem Worte wie Arschloch, Hurensohn, Wappler und Wichser fielen. Johanna zog die Vorhänge im Wohnzimmer zu, als würde sie damit verhindern wollen, dass die Ausdrücke nach draußen drangen.

»Ich mein, was verdammt noch einmal hat diesen Scheißkerl geritten?«, empörte sich Judith weiter.

»Eine andere Frau …«

Sie prusteten beide zeitgleich los, ob der Doppeldeutigkeit von Johannas Antwort. Das tat gut, nahm es doch ein wenig Spannung aus dem ganzen Tohuwabohu. Derweil war Johanna zum Weinen. Obwohl sie noch nicht genau sagen konnte, was sie im Moment mehr beschäftigte. Die Trennung oder die Sorge um ihren geschwächten Großvater.

»Es ist alles so … ich habe noch gar nicht wirklich über Roman und mich nachdenken können.«

»Weißt du, wer sie ist?«, fragte Judith, nun in einem ruhigen Tonfall.

»Nein, ich wusste bis heute Abend ja nicht einmal, dass es sie gibt.«

»Du meinst, er hat … also, du weißt schon, auch weiterhin mit dir geschlafen?«

»Wenn du schon so direkt fragst, ja.« Johanna wechselte mit dem Handy am Ohr vom Wohnzimmer in die Küche und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Währenddessen berichtete sie Judith von den Ereignissen des gesamten Abends, bis hin zu ihrem überstürzten Aufbruch ins Krankenhaus.

»Wie geht’s deinem Opa?«

»Es geht ihm wieder gut. War zum Glück nur ein leichter Schwächeanfall. Er hat sich so darauf gefreut, mir mein Geburtstagsgeschenk geben zu können, eine Woche Triest.«

»Triest«, kreischte Judith augenblicklich. »Wie schön!«

»Die Aufregung hat bei ihm den Blutdruck in die Höhe schnellen lassen.« Johanna erzählte ihrer Freundin von der geplanten Unterkunft in der Villa. Dass sie nach Informationen über ihren Urgroßvater suchen sollte, ließ sie unerwähnt. Das zu erklären erschien ihr im Moment zu kompliziert. Auch, weil sie selbst noch nicht wusste, wie sie das überhaupt anstellen oder wo sie beginnen sollte.

»Wann fährst du?«

»Wenn es nach meinem Opa ginge, sofort.« Sie schluckte schwer bei dem Gedanken, allein fahren zu müssen.

»Sofort ist doch gut.«

»Ich weiß nicht, allein in Urlaub?«

»Bring mir ein gutes Gegenargument, weshalb du nicht alleine fahren solltest.«

»Ich bin allein. Reicht das nicht?«

»Nein. Möglicherweise ist das die Chance, neue Menschen kennenzulernen.«

»Du meinst, ich soll mich von Fremden anreden lassen, womöglich noch, wenn ich mutterseelenallein beim Essen oder in einer Bar sitze.«

»Wenn du Glück hast, passiert mehr.«

»Was ist mit Geschlechtskrankheiten?«

»Es gibt Kondome.«

»Du bist echt unmöglich, Judith.«