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Auftakt der neuen Krimireihe zum Genießen von Österreichs Nr.1-Bestsellerautorin Beate Maxian.
Die Wachau ist ein Paradies für Weinliebhaber. Doch mancher Jahrgang ist tödlich ...
Die Wachau – sonnenverwöhnte Weinberge entlang der Donau, malerische kleine Ortschaften und kulinarische Köstlichkeiten. Lou Conrad, ehemalige Inspektorin und Winzertochter, ist zurück in ihrer Heimat, wo sie ein Feinkostgeschäft führt und das beschauliche Leben genießt. Doch beim großen Weinfest im September wird die Idylle empfindlich gestört, als ein Weinberg in Flammen steht und der renommierte Winzer Markus Haller tot aufgefunden wird. Wer hat den Rieslingkönig auf dem Gewissen und welche dunklen Geheimnisse gären in dessen Fässern? Mit dem befreundeten Sternekoch Fabio Gerber und dem Berner Sennenhund Michelin an ihrer Seite stürzt sich Lou in die Ermittlungen …
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Seitenzahl: 407
Lou Conrad hat ihren Job als Inspektorin beim LKA Niederösterreich an den Nagel gehängt und ist in ihren Heimatort Marienkirchen in der Wachau zurückgekehrt. Für Lou ist die Region mit ihren sonnenverwöhnten Weinbergen entlang der Donau ein Paradies auf Erden, hier kommt die Winzertochter zur Ruhe und führt einen kleinen Feinkostladen. Stets an ihrer Seite: ihr treuer Berner Sennenhund Michelin. An einem strahlend schönen Septemberwochenende hat Lou alle Hände voll zu tun, denn der Wachauer Weinherbst lockt zahlreiche Kenner und Feinschmecker in das geschichtsträchtige Tal. Doch die Idylle wird empfindlich gestört, als plötzlich ein Weinberg in Flammen steht und der renommierte Edelwinzer Markus Haller tot aufgefunden wird. Lous Spürsinn ist geweckt. Wer hat den Rieslingkönig auf dem Gewissen, und welche dunklen Geheimnisse gären in dessen Fässern? Zusammen mit dem befreundeten Sternekoch Fabio Gerber geht Lou der Sache auf den Grund. Ihre Nachforschungen führen die beiden schnell zu der Erkenntnis: Mancher gute Jahrgang kann tödlich sein …
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Beate Maxian
Kriminalroman
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Originalausgabe September 2023
Copyright © 2023 by Beate Maxian
Copyright © dieser Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung
der literarischen Agentur Peter Molden, Köln
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: FinePic®, München
Redaktion: Susanne Bartel
KS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-30599-4V001
www.goldmann-verlag.de
Kein Genuss ist vorübergehend, denn der Eindruck,
den er zurücklässt, ist bleibend.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Morgensonne tauchte die Weinberge des Weltkulturerbes Wachau in sanftes Licht. Topwinzer Markus Haller liebte diesen Bilderbuchanblick. Für gewöhnlich. Doch im Moment brodelte es in ihm wie in einem Vulkan.
»Verflucht noch mal«, schäumte der Achtundfünfzigjährige und schlug mit einer Handfläche wütend auf das Lenkrad seines dunkelblauen Audi Q4. Es war acht Uhr und er auf dem Weg zu seinen Rieslingstöcken auf dem Loibenberg. Ungeplant! Zum Glück war er allein auf der Straße, die in Serpentinen zu seiner Riede hinaufführte. Auf dem schmalen asphaltierten Pfad inmitten der Rebzeilen hatte gerade mal ein Fahrzeug Platz, und es gab nur wenige Ausweichmöglichkeiten. Der Anruf, der ihm den Tag gründlich verdorben hatte, war vor fünfzehn Minuten eingegangen.
»Jemand hat in Ihrem Weinberg randaliert. Trauben, Äste und Blätter, alles liegt am Boden«, hatte der Mann gesagt und sich mit Zech vorgestellt. Haller kannte niemanden, der so hieß. Er glaubte, einen leichten Akzent ausgemacht zu haben, war sich aber nicht sicher.
»Vielleicht hat er sich geirrt und gar nicht unsere Riede gemeint«, hatte Petra, seine Frau, gehofft, weil ihnen der Weingarten am Loibenberg erst seit einem Monat gehörte.
Aber das war unwahrscheinlich. Auf dem Schild am Fuß der Lage prangte in Großbuchstaben: »RIESLING, WEINGUTHALLER, MARIENKIRCHEN«. Also hatte ihn die Nachricht gezwungen, sofort ins Auto zu steigen, um nach dem Rechten zu sehen. Und das, obwohl er, als das Telefon geläutet hatte, gerade dabei gewesen war, in der hauseigenen Vinothek die letzten Vorbereitungen zu treffen. An diesem ersten Septemberwochenende lockte der Wachauer Weinherbst wieder unzählige Weinliebhaber an. Um zehn Uhr würden sämtliche Weingüter der Region ihre Pforten für Verkostungen öffnen, und Markus Haller war einer der bekanntesten Winzer Österreichs. Seine Weine gehörten zur Spitzenklasse, wurden in den besten Restaurants ausgeschenkt, in Fachmagazinen hochgelobt, waren preisgekrönt und standen für Exklusivität. Demzufolge zog sein Weingut vorrangig zahlungskräftiges Publikum an.
Sechs beleibte Frauen mit Walkingstecken tauchten vor ihm auf der schmalen Fahrbahn auf.
Er stoppte den Audi. »Schleichts euch«, brummte er und winkte den Hobbysportlerinnen ungeduldig zu, sich zu beeilen.
Aber die Gruppe beachtete ihn nicht und zog tratschend und in gemächlichem Tempo an seinem Seitenfenster vorbei.
Hallers Gesicht näherte sich der Windschutzscheibe. Einige Meter oberhalb sah er schon seine Riede. Zwischen den terrassenartigen Steilhängen machte er zwei Radfahrer aus, die bergauf fuhren. Von der Straße aus konnte er einen Schaden in seinem Rieslinggarten jedenfalls nicht erkennen. Endlich sah er die Frauen nur noch im Rückspiegel. Als er weiterfuhr, klingelte sein Handy. Er ging über die Freisprechanlage ran.
»Und? Bist schon dort?«, fragte Petra statt einer Begrüßung.
»Gleich«, antwortete er.
»Bist eigentlich mit dem Einkühlen fertig geworden, oder müssen wir noch Flaschen nachlegen?«, wollte sie unvermittelt wissen. »Ich muss nämlich noch rasch zur Hedi in die Bäckerei fahren. In dem ganzen Tohuwabohu hab ich glatt vergessen, das bestellte Gebäck abzuholen.«
»Mach das. Aber hol vorher noch zwölf Flaschen vom Riesling Smaragd von der Riede Kreuzberg aus dem Keller«, gab er zurück. »Das wollt ich grad machen, als der Typ angerufen hat.«
Die Wachau war für Weißweine bekannt. Die Hauptsorten waren Riesling und Grüner Veltliner. Die Klassifizierung der Winzervereinigung Vinea Wachau war von der Region inspiriert. Die leichten und erfrischenden Weine erhielten das Prädikat Steinfeder. Namensgebend war das heimische federartige Gras. Als Federspiel bezeichnete man die kräftigeren Tropfen mit einem Alkoholgehalt zwischen 11,5 und 12,5 Volumenprozent. Ihnen gab die kugelige Beuteattrappe, die einst bei der herrschaftlichen Falkenjagd verwendet worden war, ihren Namen. An der qualitativen Spitze stand der kraftvolle und komplexe Smaragd, benannt nach der Eidechse, die in den Urgesteinsterrassen der Region heimisch war. Doch auch andere Weißweinreben gediehen hier bestens, etwa Muskateller, Weißburgunder, Rivaner, Neuburger und Sauvignon blanc.
»Ich bin bald zurück«, versprach Haller seiner Frau noch, bevor er das Gespräch beendete.
Am Ziel angekommen parkte er den Wagen neben der Trockensteinmauer, die vor hundert Jahren errichtet worden war und ausschließlich aus sorgsam aufeinandergelegten Steinen bestand. Überall in der Wachau fand man noch Mauern in dieser traditionellen Bauweise.
Um nicht mit ihr zu kollidieren, öffnete er vorsichtig die Fahrertür, bevor er ausstieg. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und wappnete sich. Gegen den Anblick der Zerstörung. Haller betrat den Weinberg, wanderte durch die Rebzeilen. Mit den Augen eines Luchses musterte er die Rebstöcke und war erstaunt. Nirgendwo Anzeichen von Verwüstung. Die Drähte waren gespannt, die Äste der Weinstöcke, an denen prall und süß die Trauben hingen, festgebunden. Er pflückte eine Weinbeere, schob sie sich in den Mund. Der Geschmack stellte ihn zufrieden. Bevor der Hang in seinen Besitz übergegangen war, hatte ihn ein Winzer der Domäne Wachau betreut. Bianca, die Erbin der Riede, hatte das eingefädelt und bezahlt. Die Lage war gut versorgt worden, sodass der aktuelle Jahrgang höchste Qualität versprach. Nur noch wenige Wochen, dann begann die Weinlese.
Der Weinbau hatte in seiner Familie eine lange Tradition. Sein Großvater bewirtschaftete knapp einen Hektar, er selbst hatte die Anbaufläche verhundertfacht. Mittlerweile wuchsen Haller-Trauben auf zig Lagen in der gesamten Wachau. Vom Tausendeimerberg über den Atzberg und die Riede Achleiten bis hin zum Loibenberg. Eines Tages würde das alles Antonia gehören. Schon jetzt war seine Tochter eine große Stütze im Familienunternehmen, wenngleich ihre Meinungsverschiedenheiten sie in letzter Zeit auf unterschiedliche Wege führten. Das belastete ihn sehr. Doch er war sich sicher, sie würde eine außergewöhnliche Winzerin werden und schließlich doch in seine Fußstapfen treten.
Er hob den Blick. Wo war dieser Zech eigentlich? Um ihn herum keine Spur von ihm. Der Mann hatte sich offenbar aus dem Staub gemacht. Hatte er ihn verarscht? Hier gab es keine Schäden. Haller drehte sich um die eigene Achse, sah zu dem kleinen Holzhäuschen, in dem sie die Arbeitsgeräte aufbewahrten. Er eilte zu der Hütte, rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Selbst die beiden Bienenstöcke, die letztens noch neben dem Schuppen gestanden hatten, waren verschwunden. Ihr Besitzer war der alte Honig-Lorenz, wie die Einheimischen den Imker nannten, der vor fünf Jahren das Projekt »Bienen im Weingarten« ins Leben gerufen hatte. »Die Insekten erfüllen eine wichtige ökologische Funktion«, wurde der Alte nicht müde zu predigen.
Franz Schellbaum, der verstorbene Vorbesitzer von Hallers Lage am Loibenberg, war ein Unterstützer des Projekts gewesen. Er hatte Lorenz die Erlaubnis gegeben, die Bienenstöcke hier aufzustellen. Die hatte er, Markus Haller, dem Alten wieder entzogen. Gleich nachdem die Tinte unter dem Kaufvertrag getrocknet war, den er mit Schellbaums Tochter und einziger Erbin ausgehandelt hatte. Bianca lebte schon lange in München und hatte nach dem Tod ihres Vaters an ihn, den Höchstbietenden, verkauft.
»Scheiß auf deine Bienen«, hatte Haller den alten Imker angeblafft und ihm einen Monat Zeit gegeben, die Stöcke von seinem Grund zu entfernen. Er konnte dieses summende Insektenzeug nicht leiden, und mit den Blindschleichen, Eidechsen und Gottesanbeterinnen, die in der Trockensteinmauer zu Hause waren, gab es hier schließlich schon mehr als genug Nützlinge. Außerdem mochte er den Eigenbrötler Lorenz nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Markus Haller hatte ihm gedroht, beide Bienenvölker zu vernichten, so er sie nicht rechtzeitig abholte. Dass die Drohung offenbar gefruchtet hatte, zauberte ihm ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen. Er wandte der Hütte den Rücken zu und blickte zur mächtigen Donau hinunter, die sich gemächlich durch das Tal schlängelte. Ein wahrlich malerisches Panorama. Dann sah er auf die Uhr. Schon halb neun. Genug Zeit vergeudet. Die Arbeit rief.
Er wollte sich zum Gehen wenden, als ein Geräusch ihn innehalten ließ. War da doch jemand? Den Schatten, der unversehens hinter ihm auftauchte, bemerkte er zu spät. Ein harter Schlag traf ihn am Kopf. Die Welt vor seinen Augen verschwamm.
Lou saß mit einer Kaffeetasse in der Hand auf der Gartenbank vor ihrem kleinen Winzerhäuschen. »Was für eine Aussicht, nicht wahr, Michelin?«, schwärmte sie, beugte sich nach vorn und kraulte ihrem Vierbeiner den Kopf. Der Berner Sennenhund lag auf dem Boden und hatte wie so oft die Augen geschlossen, gleichgültig gegenüber der atemberaubend schönen Landschaft. In Lou hingegen breitete sich stets ein Gefühl tiefer Geborgenheit aus, wenn sie morgens ihren Blick über die steilen Weingärten schweifen ließ. Es war halb neun, der Tag unverbraucht, die Luft frisch, und die Sonne schien. Die grünen Blätter an den Rebstöcken waren um diese Jahreszeit so dicht, dass die Sonnenstrahlen nur durch kleine Lücken hindurchschimmerten und den Boden in sanftes Licht tauchten. Unter dem Blätterdach versteckten sich üppige Trauben mit saftigen Beeren, die jetzt schon Lust auf vollmundigen Wein machten. Die Pracht zog sich bis zur Donau hinunter, wo soeben ein Frachter, der flussaufwärts fuhr, in ihrem Blickfeld auftauchte. In so einem Moment berührte der Himmel die Erde, fand Lou.
Buschige Rosensträucher und ein Marillenbaum wuchsen vor ihrem Haus. Sie hatte es vor eineinhalb Jahren gekauft und mit Hilfe von Freunden und ihren Eltern restauriert. Es lag auf einer Lichtung oberhalb von Marienkirchen, eingebettet in Weinberge der örtlichen Winzer. Der Ausblick von hier war fantastisch.
»Hab ich dir eigentlich jemals erzählt, dass meine Familie hier schon seit fünf Generationen Wein anbaut? Beeindruckend, gell?«, stellte sie Michelin eine rhetorische Frage, woraufhin der Hund zumindest die Augen öffnete. »Ich bin sozusagen zwischen diesen Rebstöcken aufgewachsen.«
Ihre Eltern, Erika und Werner Conrad, hatten den konservativen Betrieb vor zehn Jahren auf biologischen und biodynamischen Landbau umgestellt und produzierten jetzt erstklassige Bioweine, die immer mehr Abnehmer fanden. Natürlich führte Lou diese im Sortiment ihres Delikatessengeschäftes mit dem Namen Lous köstliche Welt.
Ihre Gedanken wanderten zurück zum Hausumbau. Im Zuge dessen hatte sie sich den Traum von einem gemauerten Holzbackofen im Freien erfüllt. Ebenso hatte sie eigenhändig den Tisch aus Ziegeln mit einer Steinplatte gebaut, der neben dem Backofen stand. Darauf thronte jetzt ein großer Korb mit sechs Bauernbroten, die sie gestern Abend gebacken hatte. Sie würde sie gleich mit in den Ort nehmen. Die Laibe waren die Basis der Häppchen mit unterschiedlichen Aufstrichen, die für die Kunden in ihrem Geschäft und für die Gäste des Weinherbstes auf dem Weingut ihrer Eltern zubereitet werden sollten.
Während sie den letzten Schluck Kaffee trank, betrachtete sie die Pfarrkirche aus dem späten dreizehnten Jahrhundert, deren Turm den Ort überragte. Der erhaltene Teil der mittelalterlichen Wehrmauer umschloss das Gotteshaus zur Hälfte. Ringsum drängten sich die Häuser des Ortskerns, von denen die meisten rote Ziegeldächer hatten. Eins davon war das vierhundert Jahre alte Gebäude, in dem sich Lous Delikatessenladen befand. Ihr Blick blieb am Dach der Bäckerei von Hedwig und Ernst Ast haften, die täglich um sechs Uhr öffnete. Dort gab es die besten Vollkornbrote, fand Lou. Franzis Café von Franziska Liber lag direkt daneben. Es öffnete um halb neun und schloss um halb acht Uhr abends. Die Konditorin kreierte regelmäßig neue Torten und Kuchen, die sie zuweilen Lou und ihrer Kollegin Sigrid ins Geschäft brachte. Zum Probieren und weil sie ihre Meinung hören wollte.
Entschlossen zog Lou ein Haarband aus ihrer Hosentasche, fasste ihre bernsteinfarbenen Locken zusammen und stand auf. »Komm, lass uns fahren!«
Michelin erhob sich gemächlich und streckte erst mal die Gliedmaßen. Dann sah er sie treuherzig an, stupste mit seiner kalten Schnauze gegen ihre Hand und schmiegte seinen Kopf an ihren Oberschenkel. Seine Zuneigung zeigte er auf diese Art nur ihr.
»Ich hab dich auch lieb, mein Großer.« Sie streichelte lächelnd sein schwarzes Rückenfell.
Es war nie ihr Plan gewesen, sich einen Hund anzuschaffen. Doch vor einem Jahr hatte sie ihn entdeckt. Er war mit einer kurzen Kette an einer baufälligen Hundehütte fixiert, deren Dach mehr Löcher hatte als ein Schweizer Käse. Kurzerhand hatte sie ihn der Besitzerin abgekauft und von dem Leben an der Kette erlöst. Seitdem waren Lou und Michelin unzertrennlich; sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.
Noch einmal verwuschelte sie ihm das dichte Fell. »Jetzt aber los! Die Sigi wartet sicher schon auf uns.«
Sigi hieß mit ganzem Namen Sigrid Dorfer und war eine dunkelhaarige Endvierzigerin mit Rundungen an genau den richtigen Stellen. Sie arbeitete seit zwei Jahren in Lous Geschäft, seit dessen Eröffnung. Bevor Lou den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt hatte, war sie sieben Jahre lang Ermittlerin beim Landeskriminalamt Niederösterreich gewesen und hatte in der fünfundvierzig Kilometer entfernten Landeshauptstadt St. Pölten gewohnt. Doch dann regte sich in ihr der Wunsch, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Ausschlaggebend dafür war, dass sie sich immer mehr fürs Kochen und Backen begeisterte und immer mehr heimische Spezialitäten kostete und lieben lernte. So war die Idee geboren worden, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen. Lou hatte ihren Job an den Nagel gehängt, eine Ausbildung zur Wein- und Genussexpertin absolviert, Lous köstliche Welt eröffnet und Sigrid eingestellt. Sie war mittlerweile mehr als Lous Angestellte, sie waren Freundinnen geworden.
Lou schnappte sich den Korb mit den Broten und verstaute ihn in ihrem alten Jeep. Dann stiegen Michelin und sie in den Wagen und ruckelten auf dem Pfad den Weinberg hinunter.
Fünf Minuten später bog Lou auf die Straße ab, die in den Ortskern führte, und passierte auf ihrem Weg das Landhaus Gerber. Das noch nicht eröffnete Restaurant hatte sein Zuhause in einem barocken Gebäude. Das ehemalige Landschlösschen gehörte seit sechs Monaten ihrer Jugendfreundin Mona und deren Mann. Fabio war Sternekoch und stammte aus der französischen Schweiz, Mona arbeitete als Expertin für Weinmarketing. Die beiden waren viel in der Welt herumgekommen und hatten die letzten drei Jahre in Südtirol verbracht. Mona und Lou hatten sich lange aus den Augen verloren gehabt, bis Mona unvermittelt in Lous köstlicher Welt auftauchte und ihr eröffnete, dass sie zurückkam. Und dass das Landschlösschen, das zum Verkauf gestanden hatte, nun ihnen gehörte. Samt dem ehemaligen Restaurant mit Panoramaterrasse und betörendem Donaublick, das das Erdgeschoss einnahm. Seitdem wohnte Fabio dort im ersten Stock, um die Renovierungsarbeiten zu überwachen. Mona war noch in Südtirol und kam nur ab und zu in die Wachau. Doch das würde sich bald ändern. Die Eröffnung vom Landhaus Gerber stand unmittelbar bevor.
Lous Geschäft, vor dessen Schaufenster sie den Geländewagen stoppte, lag nur einen Steinwurf davon entfernt. Sie würde heute hier nur einen Zwischenstopp einlegen, denn sie hatte ihren Eltern versprochen, ihnen beim Bewirten der Gäste des Weinherbstes zu helfen. Sigrid musste den Laden ausnahmsweise allein schmeißen.
Lou ließ ihren Blick stolz über die Geschäftsfront wandern. In der Auslage stand eine Bodenvase mit frischen Sonnenblumen. Um sie herum hatte sie Weidenkörbe arrangiert, die mit Essig-, Öl- und Weinflaschen gefüllt waren. Sigrids blaues Citybike mit dem Korb am Lenker parkte im Fahrradständer neben der Eingangstür, die offen stand und über der der Geschäftsname in verschnörkelten goldenen Buchstaben prangte. Drinnen warteten in hellen Holzregalen regionale Spezialitäten auf Genussmenschen. Marmeladen, Honig, Gemüse, Obst, Nudeln, Senf, Chutneys, Kräutermischungen, Käse, Liköre, Brände und logischerweise auch Weine sowie Erzeugnisse aus den berühmten Wachauer Marillen. Lou ließ Michelin im Auto, stieg aus, schnappte sich drei Brotlaibe und betrat den Laden. »Guten Morgen! Ich bring dir frisches Brot.«
»Morgen!«, trällerte Sigrid. »Wunderbar. Der Honig-Lorenz hat auch schon geliefert.« Sie deutete auf eine Holzkiste mit Honiggläsern auf dem Boden. »Rechnung liegt am Tresen.«
Lou nahm den Zettel von der gemauerten Verkaufstheke mit Holzplatte und steckte ihn ein. Der Imker stellte seine Lieferung oft schon vor Tagesanbruch vor der Tür ab. In Marienkirchen kam nichts weg.
»Der Honig schmeckt wieder himmlisch«, sagte Sigrid. »Hab gleich ein Glas geöffnet und probiert.«
Lorenz’ Bienenstöcke standen in den umliegenden Wäldern und seit fünf Jahren zudem zwischen Rebstöcken. Das schmeckte man.
Sigrid wischte sich die Hände an der Schürze ab, die sie über ihrem geblümten Maxikleid trug. Ihre Füße steckten in beigen Sneakers. »Ich fahr doch jeden Tag direkt am Haller-Gut vorbei«, sagte sie übergangslos. »Als ich heut früh vorbeikam, stand grad die Petra vor dem Haus. Sie machte irgendwie einen verlorenen Eindruck, deshalb hab ich angehalten.«
Lou nickte. Sie wusste, dass Sigrid so oder so gestoppt hätte. Einen Tratsch auszulassen war wider ihre Natur. Marienkirchen brauchte keine Lokalzeitung. Marienkirchen hatte Sigrid Dorfer.
Lou legte die drei Brotlaibe auf den Verkaufstresen. »Und?«
»Anscheinend hat irgendwer auf ihrer neuen Riede am Loibenberg randaliert.«
»Was?«, rief Lou überrascht.
Sigrid erzählte, dass kurz vor acht Uhr jemand Fremdes bei ihnen angerufen und von der Zerstörung in der Lage berichtet hatte. »Markus ist gleich nachschauen gefahren. Wer macht denn so was?«
»Gute Frage.« Lou schüttelte missbilligend den Kopf. »Manche Leute haben einfach keinen Respekt vor dem Eigentum anderer. Ich hoffe, sie erwischen den oder die Randalierer. So was geht gar nicht.« Sie wandte sich zum Gehen. »Sorry, aber ich muss mich beeilen. Wenn was ist, ruf an.«
»Klar, aber ich werd das Kind schon schaukeln.« Sigrid grinste. »Grüß mir deine Eltern.«
»Mach ich.«
Das Weingut Conrad lag einen halben Kilometer außerhalb des Ortes. An der Fassade des zweistöckigen ehemaligen Weinlesehofes aus dem vierzehnten Jahrhundert wucherte wilder Wein. Die offen stehende Eichenpforte zum Innenhof flankierten zwei rosafarben blühende Oleander in gelb gestrichenen Holztrögen. Davor hieß eine Holztafel die Besucher auf dem Weingut Conrad willkommen. Neben dem Eingang stand eine Gartenbank, die genauso aussah wie jene vor Lous Winzerhäuschen.
Lou parkte ihren Jeep, öffnete Michelin die Autotür, nahm den Korb mit den restlichen drei Broten und betrat kurz darauf den mit Natursteinen gepflasterten Arkadenhof, an dessen Säulen weiße und gelbe Kletterrosen emporrankten. Sie und ihre Eltern hatten schon gestern Abend Stehtische mit roséfarbenen Tischtüchern für die heutigen Besucher aufgestellt.
Michelin bog sofort in den Wohnbereich ab. Lou kannte sein Ziel: die Küche. Sie folgte ihm und sah beim Eintreten, wie ihre Mutter dem Rüden ein Stück Wurst gab. Lou hatte ihre bernsteinfarbene Lockenpracht von ihr geerbt. Im Gegensatz zu ihrer Tochter trug Erika Conrad ihre Locken jedoch seit einigen Jahren nur noch kinnlang und ließ sich deren Farbe regelmäßig beim Friseur auffrischen, damit die grauen Strähnen nicht überhandnahmen.
»Er hat heute Morgen schon genug gefressen«, sagte Lou, wuchtete den Brotkorb auf die Küchenablage und küsste ihre Mutter auf beide Wangen.
»Das war ja nur ein Happerl zwischendurch, gell?« Erika kraulte dem Rüden die Ohren. Michelin hatte das Wurststück binnen Sekunden verschlungen und wedelte in freudiger Erwartung des nächsten Leckerlis mit dem Schwanz.
»Aber die Knacker ist gewürzt. Außerdem bekommt er direkt vom Tisch sowieso nichts, Mama«, erwiderte Lou streng.
»Die Knacker ist doch gar nicht am Tisch gelegen, sondern auf der Anrichte«, sagte ihre Mutter in einem Tonfall, als würde das einen Unterschied machen. »Und so ein Stückerl Wurst wird dich schon nicht umbringen, gell, Bärli?«
»Er heißt Michelin«, erinnerte Lou ihre Mutter halbherzig.
»Aber Bärli passt so gut zu ihm, weil Berner Sennenhunde nun mal bärenhaft ausschauen, gell, mein Bärli?«, flötete Erika. »Und dir ist es eh wurscht, wie man zu dir sagt, wenn am Ende etwas zum Fressen rausspringt.« Lachend kraulte sie dem Riesen den Nacken.
»Hast schon recht«, beließ es Lou schmunzelnd dabei. »Übrigens, ich soll dir schöne Grüße von der Sigi ausrichten.«
»Danke. Ich hab sie schon lang nicht mehr gesehen. Geht’s ihr gut?«
»Bestens. Musst halt wieder mal bei ihr im Geschäft vorbeischauen, dann wüsstest auch immer gleich, was los ist.«
Erika horchte alarmiert auf. »Ist denn was passiert?«
Lou berichtete ihr von der Verwüstung auf dem Loibenberg.
»Die Leut werden immer depperter«, sagte Lous Mutter kopfschüttelnd. Sie trug bereits ihr Blaudruckdirndl mit hellblauer Schürze und dazu eine weiße Bluse mit gerüschten Ärmeln.
»Das Dirndl steht dir ausgezeichnet«, sagte Lou. »Gut, dass du dich beim letzten Besuch im Trachtengeschäft dafür entschieden hast.«
Erika zog mit drei Fingern den Dirndlrock ein wenig auseinander, sodass man das Muster besser sehen konnte. »Der Blaudruck passt einfach perfekt zu uns, weil er in ebenso aufwendiger Handarbeit hergestellt wird wie unsere Weine.« Sie ließ den Rock wieder aus ihren Fingern gleiten. »Und jetzt geh dich endlich umziehen. Nimmer lang, dann kommen die ersten Gäste.«
Lous Dirndlexemplar wartete in ihrem ehemaligen Kinderzimmer auf sie. Tracht war auf dem Weingut Conrad Pflicht beim Weinherbst. Nach dem Wochenende würde das Dirndl wieder im Kleiderkasten verschwinden und dort bis zum nächsten Fest auf sie warten.
»Und danach holst gleich die ersten Tabletts«, fügte Erika noch hinzu. »Ich war heut übrigens schon sehr früh in Dürnstein und hab Wachauer Laberl gekauft.«
Lou nickte zufrieden. Das knusprige Graugebäck aus Weizen und Roggenmehl mit der rauen Oberfläche war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in dem Nachbarort Dürnstein von Bäckermeister Schmidl erfunden worden. Mittlerweile wurde die Bäckerei in elfter Generation geführt, aber die Zutatenmischung der beliebten Laberln war nach wie vor ein streng gehütetes Familiengeheimnis.
Die letzten Tage hatten sie mehrmals wegen der Snacks für die Besucher telefoniert. Lous Vater war wie jedes Jahr der Meinung gewesen, dass Weißbrot und Wasser zum Neutralisieren der Geschmacksnerven genügten. »Wir führen keinen Heurigen, sondern sind Winzer«, behauptete er.
»Natürlich sind wir keine Lokalbetreiber«, erwiderte Lous Mutter und meinte, sie mache eh nur zwei oder drei Aufstriche. »Wie jedes Jahr – für diejenigen, die etwas mehr im Magen brauchen.«
Lous Meinung war mal wieder das Zünglein an der Waage gewesen. Sie hatte sich ebenfalls für die Brotaufstriche ausgesprochen.
»Und du, Mama, gib Michelin bitte nix mehr zu fressen. Er wird sonst zu fett.« Mit dieser Anweisung machte Lou jetzt Anstalten, die Küche zu verlassen.
»Was dein Frauli immer hat. Du wirst doch nicht fett, gell? Bist doch unser Bärli«, hörte sie ihre Mutter noch beim Hinausgehen.
Lou war klar, dass Michelin in der Sekunde das nächste Leckerli bekam. Als eine Art Entschuldigung dafür, dass er so lange im Wohntrakt bleiben musste, bis der letzte Besucher das Weingut verlassen hatte. Es gab schließlich Menschen, die sich vor großen Hunden fürchteten. Michelin war’s egal. Auch ohne Bestechung hätte er es sich auf dem kühlen Fliesenboden im Flur gemütlich gemacht und gewartet, bis man ihn wieder rausließ. So war er. Gleichmütig und duldsam.
Als Lou im Dirndl zurück in die Küche eilte, lag Michelin wie erwartet dösend im Gang. Ihre Mutter war nirgends zu sehen, hatte aber scheinbar in der Zwischenzeit mundgerechte Häppchen aus Lous mitgebrachtem Brot gezaubert und auf zwei Servierbrettern angerichtet. Darauf Topfen- und Kürbisaufstrich sowie Liptauer. Den pikanten Brotaufstrich, der aus der österreichischen Küche nicht wegzudenken war, bereitete sie noch nach einem alten Liptauerrezept von Lous Urgroßmutter zu. Mit Brimsen, gesalzenem Frischkäse aus Schafsmilch. Zudem war der Brotkorb mit Weißbrotscheiben und Wachauer Laberln gefüllt.
Lou schob sich ein Häppchen mit Liptauer in den Mund, schnappte sich die beiden Bretter, legte sie auf den Korb und trug alles in den Verkostungsraum, wo sich schon zwanzig Weingläser auf dem lang gezogenen Bartresen aneinanderreihten. Dahinter sortierte ein Mann mit gebeugtem Rücken Flaschen in den Weinkühler.
»Servus, Joschi-Onkel.«
Josef Trapl richtete sich augenblicklich auf. Er und Lou waren nicht im eigentlichen Sinne verwandt. Der Vierundsechzigjährige mit Halbglatze, altmodischer Hornbrille und rundem Gesicht war der älteste Freund ihres Vaters und kannte Lou seit ihrer Geburt. Er war Psychiater, hatte früher seine Praxis in Krems gehabt und half immer mal wieder am Weingut aus. In den letzten Jahren hatte er an den Hüften ein wenig zugelegt. Die hellbraune Hose saß straff an der Taille, und das beige Trachtenhemd spannte über seinem Bauch. Und das, obwohl er oft mit dem Rad durch die Gegend fuhr.
Er sah sie durch seine Brille an. »Griaß di, Lou.«
Sie stellte die Bretter mit den Häppchen und den Brotkorb auf dem Tresen ab und küsste ihn zur Begrüßung auf beide Wangen. Er roch nach Vanille, wie der Tabak, den er regelmäßig in seiner Pfeife rauchte.
»Ist mein Vater in der Nähe?«
Ihr Wahlonkel deutete mit dem Kinn auf das zweiflügelige Tor aus Weichholzdielen mit Schmiedebeschlägen, das ins Weinlager führte. Es stand offen. »Er holt noch ein paar Kisten.«
Wie bestellt erschien Werner Conrad. Sein ehemals semmelblondes Haar war zwar schon zur Gänze grau geworden, aber noch so dicht wie in jungen Jahren. Er trug ein weißes Trachtenhemd mit dem Aufdruck »Weingut Conrad« und dazu schwarze Jeans. Auf der Transportkarre, die er in den Raum schob, stapelten sich vier Weinkartons.
»Morgen, Papa.« Lou küsste auch ihn auf beide Wangen.
»Morgen, Kind.«
Sie griff nach der obersten Kiste und hob sie auf den Tresen.
»Was für eine verkehrte Welt«, seufzte ihr Vater. »Eigentlich sollte ich dir helfen und den Rest des Tages auf der Gartenbank sitzen.«
Lou hatte auf so eine Bemerkung schon gewartet. Er wünschte sich, dass sie endlich das Weingut übernahm, und ließ keine Gelegenheit aus, das zu erwähnen. Aber Lous Plan war ein anderer, sosehr sie die Gegend und alles, was damit zusammenhing, auch liebte. Sie wusste genau, wie es hinter der schönen Fassade aussah, wie hart die Arbeit von Winzern war. Denn die Parzellen in den steilen Terrassen wurden ausschließlich in anstrengender Handarbeit bewirtschaftet. Da war ihr Job als Besitzerin eines Delikatessengeschäftes schon angenehmer.
»Ich helfe dir gern«, antwortete Lou und nahm den zweiten Karton.
»Ich bin vierundsechzig, deine Mutter nur ein Jahr jünger. Ewig können wir das hier auch nicht mehr machen.«
»Auf der Gartenbank wird dir eh nur fad.« Sie schluckte die Bemerkung, dass es Alternativen gab, hinunter. Etwa die Trauben der Domäne Wachau zu verkaufen, die sich um die Weiterverarbeitung und Vermarktung kümmern würde. Aber von der Winzergenossenschaft wollte ihr Vater nichts wissen, denn in diesem Szenario würde der Name Conrad für immer von den Flaschenetiketten verschwinden. Dass die Domäne alle ihre Winzer mit Namen, Foto und Kurzbeschreibung auf der Homepage präsentierte, genügte ihm nicht. Ebenso wäre es möglich, die Weinberge zu verpachten, zum Beispiel an Dominik. Lous Cousin hatte in Retz im Weinviertel, nur eine Autostunde entfernt, schon das Weingut seiner Eltern übernommen und bewirtschaftete es gewinnbringend. Doch auch auf diesem Ohr war Werner Conrad taub.
»Das war nur so dahergesagt. Ich würd mich natürlich in den Weingarten setzen und nachts zum Himmel raufschauen«, fügte ihr Vater indessen hinzu.
Er hatte sich vor einigen Jahren ein Teleskop gekauft, weil der Mars sich der Erde genähert hatte. Der Planet sei in Rekorddistanz, so hatten Experten sich ausgedrückt. Seitdem war das Betrachten des Sternenhimmels zu seiner Leidenschaft geworden. Oft leistete ihm der Joschi-Onkel Pfeife schmauchend dabei Gesellschaft, und sie köpften eine gute Flasche Wein.
»Das kannst du auch so«, meinte Lou.
»Außerdem wirst du nicht jünger«, spielte er auf ihre siebenunddreißig Jahre an.
Lou ignorierte die Bemerkung. Um das Thema zu wechseln, fragte sie rasch, ob noch weitere Weinflaschen im Lager warteten.
»Zwei Kartons Riesling Federspiel.«
»Hol ich.« Lou griff nach der Karre.
Die ersten Gäste trudelten punktgenau um zehn Uhr ein: ein Ehepaar aus Heidelberg, das seine Ferien in der Wachau verbrachte. Dann eine Gruppe Radfahrer aus Wien, der weitere Besucher folgten. Das würde jetzt bis sechs Uhr abends so weitergehen.
Als die deutsche Urlauberin sich bei Lou erkundigte, weshalb in einigen Weingärten am Ende der Weinreben Rosenstöcke standen, erklärte Lou ihr, dass die Rosen eine Art Frühwarnsystem darstellten. »Sie benötigen die gleichen Bedingungen wie die Reben, sind aber anfälliger für Pflanzenkrankheiten wie etwa Mehltau. Befällt der die Rosen, können wir reagieren, bevor die Reben krank werden, und diese retten. Die Symbiose hat eine lange Tradition. Dazu kommt, dass sich Nützlinge gern nahe Rosen aufhalten.«
Ein Alarm verschluckte ihr letztes Wort.
War das die Feuerwehr?«, fragte die Urlauberin aus Heidelberg, als das Geräusch abebbte.
Lou nickte. »Hört sich danach an.« Aufgrund der Lautstärke vermutete sie, dass es sich um die Feuerwehrsirene in Marienkirchen handelte. In dem Augenblick wiederholte sich die Tonabfolge, verklang, schwoll erneut an und verstummte schließlich. Wenige Atemzüge später waren Martinshörner zu hören. »Die musikalische Untermalung haben wir aber nicht bestellt«, witzelte Lou und fragte sich stumm, was passiert sein könnte.
Zwei Frauen, die ihre Mutter eben noch bedient hatte, stellten ihre Gläser auf die Theke und schnappten sich rasch noch je ein Häppchen mit Liptauer vom Servierbrett, bevor sie den Degustationsraum verließen. In dem Moment erklangen weitere Martinshörner in der Ferne. Offenbar waren auch die Feuerwehren der Nachbarorte alarmiert worden.
Die Neugier trieb die Gäste der Reihe nach nach draußen. Da es vom Innenhof aus nicht viel zu sehen gab, strömten sie vor das Weingut. Lou, ihre Eltern und ihr Wahlonkel folgten ihnen. Mittlerweile klang das Getöse der Folgetonhörner bedrohlich, und alle sahen sich besorgt an. Einige der Gäste hatten ihre Gläser mitgenommen und kippten den Wein vor Aufregung hinunter.
Josef setzte sich schließlich auf die Gartenbank. »Da hat’s was Gröberes gegeben«, sagte er und zog eine bereits gestopfte Pfeife und eine Zündholzschachtel aus seiner Hosentasche. Er steckte sich das Mundstück zwischen die Lippen, hielt ein brennendes Streichholz an den Pfeifenkopf und begann, gelassen zu paffen. Zarter Vanille-Tabakduft breitete sich aus.
»Ja, was Gröberes«, stimmte Werner ihm zu und nahm neben ihm auf der Bank Platz.
Lou unterdrückte ein Schmunzeln angesichts des krassen Gegensatzes: Hier zwei Männer, die scheinbar gemütlich auf der Gartenbank saßen, dort ein Radau, der ein Drama prophezeite.
»Wo könnt’s denn brennen?« Erika, die neben Lou stand, hatte sich die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihre Tochter an.
»Woher soll ich das denn wissen, Mama?«
»Du bist Polizistin.«
»Das eben war aber die Feuerwehr«, brummte Lou.
»Trotzdem. Die sagen euch doch gleich Bescheid, wenn es wo brennt, oder nicht?«, ließ Erika nicht locker.
»Den Polizisten von der zuständigen Polizeiinspektion, ja«, antwortete Lou.
Wie zur Bestätigung heulte in dem Moment die Sirene eines Polizeiautos auf.
»Und ich war Kriminalinspektorin, Mama. WAR«, ergänzte Lou nachdrücklich.
Ihr Vater schien sie nicht gehört zu haben. »Ruf deine Kollegen doch mal an.«
»Das sind nicht mehr meine Kollegen. Die dürfen mir gar nichts sagen.« Lou hoffte, dass damit das Thema beendet war.
»Papperlapapp. Du wirst dich doch hoffentlich noch erkundigen dürfen, was im Ort passiert. Immerhin lebst du hier«, hielt ihr Vater dagegen.
Lou verdrehte genervt die Augen. »Früher hat’s dich aufgeregt, dass ich bei der Kripo war, und jetzt willst ausgerechnet du, dass ich bei meinen ehemaligen Kollegen nachfrage?«
Werner zuckte unbeeindruckt mit den Achseln. »Warum denn nicht?«
Das deutsche Ehepaar trat neben Lou. »Wir würden gerne sechs Flaschen vom Grünen Veltliner Smaragd mitnehmen.«
»Gern.« Lou wandte sich um, holte einen Sechserkarton aus dem Lager und ihr Mobiltelefon, das hinter dem Tresen im Verkostungsraum lag. Als sie zurück vors Weingut kam, hatten die beiden bei ihrer Mutter schon bezahlt und verabschiedeten sich, nachdem sie von Lou den Karton entgegengenommen hatten. Kurz darauf klingelte Lous Handy.
»Das ist die Sigi«, glaubte Erika zu wissen. »Die hat sich sicher schon erkundigt, was los ist.« Ihr Tonfall war vorwurfsvoll.
Auf dem Display sah Lou tatsächlich Sigrids Namen.
»Am Loibenberg brennt’s!«, rief ihre Freundin aufgeregt, kaum dass Lou rangegangen war. »Angeblich die Riede vom Haller. Ich ruf gleich alle durch, damit s’ Bescheid wissen.« Sie legte auf, noch bevor Lou antworten konnte. Das war typisch Sigrid. Die Botschaft musste schleunigst unter die Leute gebracht werden. Lou wiederholte, was sie gesagt hatte.
»Die Riede vom Haller. So was aber auch.« Josef zog an seiner Pfeife.
»Glaubt ihr, der Weinherbst wird deshalb abgesagt?«, fragte Erika.
»Geh! Doch nicht wegen eines Brandes. Den haben die Kameraden von der Feuerwehr hoffentlich gleich gelöscht«, meinte Werner und zuckte dann mit den Schultern. »Aber wissen kann man’s nicht.«
In dem Moment hörten sie erneut die Sirene eines Einsatzwagens. Lou horchte genauer hin. Eindeutig wieder die Tonabfolge der Polizei.
Erika sah ihre Tochter fragend an. »Ist das jetzt die Kriminalpolizei?«
»Keine Ahnung«, antwortete Lou.
»Aber es ist ein Polizeiauto, oder?«, hakte ihr Joschi-Onkel nach.
»Jetzt mach halt endlich was, Kind«, murrte Erika.
»Also gut«, gab Lou vor, widerwillig zu kapitulieren. Dabei war die ehemalige Kriminalpolizistin in ihr längst erwacht. »Ich ruf aber niemanden an, sondern fahr selbst nachschauen. Wenn ich etwas rausfinde, ist es gut, und wenn nicht, dann auch.«
»Die werden dir schon verraten, was los ist«, war sich ihr Vater sicher. »Die kennen dich doch noch alle.«
Lou unterdrückte ein genervtes Seufzen. »Michelin bleibt aber bei euch.«
»Magst beim Zurückfahren noch zwei Gläser Marillenmarmelade aus deinem Geschäft mitnehmen?«, stellte Erika eine rhetorische Frage. »Ich hab übersehen, dass wir keine mehr daheim haben, und würd morgen gerne Palatschinken machen.«
Familie! Lou versprach es, stieg einen Augenblick später in ihren Jeep, warf das Handy in das Fach der Mittelkonsole und fuhr los.
Die knallroten Feuerwehrautos mit den zuckenden Blaulichtern waren weithin zu sehen. Bis hinunter zur Donau, wo in dem Moment Schaulustige auf dem Deck eines Boots standen und den Loibenberg hinaufstarrten, von dem dichte Rauchsäulen aufstiegen. Der Himmel über dem Berg hatte sich grau gefärbt, der Geruch nach Rauch und verbrannter Erde hing bereits in der Luft. Lou fuhr die schmale Straße hinauf, bis ihr geparkte Einsatzfahrzeuge der Polizei den Weg versperrten. Sie ließ ihren Geländewagen ein Stück rückwärtsrollen und stellte ihn ab. Als sie kurz darauf an den Autos vorbeiging, bemerkte sie einen schwarzen Audi, der zwischen den Streifenwagen parkte. Es war ein Dienstauto vom Landeskriminalamt St. Pölten. So eins hatte sie früher auch gefahren.
Rund um eine nahe gelegene Parkbank in einer Ausweichkehre hatten sich schon ein halbes Dutzend Radfahrer in orangefarbigen Trikots und vier Wanderer versammelt. Ein Hüne in schwarzen Jeans und dunkelblauem Poloshirt unterhielt sich mit ihnen und notierte etwas. Lou vermutete, dass er Kriminalbeamter war. Etwa sechs Meter hinter dem Absperrband machte sie drei Löschfahrzeuge der heimischen und umliegenden Feuerwehren und zwei Rettungswagen aus. Den Florianijüngern war es mittlerweile gelungen, die Flammen zu löschen, obwohl das hier mit Sicherheit mehr als ein gewöhnlicher Flächenbrand gewesen war. Lou sah sich weiter um. Eine dunkelbraune Schneise zog sich durch den Weinberg, als hätte eine Horde Büffel mit brennenden Hörnern den Hang durchkämmt. Von den Reben des Weingutes Haller war nicht mehr viel übrig. Ein trauriger Anblick. Inmitten der verbrannten Rebstöcke war ein Sichtschutz errichtet worden. Lou wusste, was das bedeutete.
Wie auf Kommando überholte sie in dem Moment der graue Kastenwagen der Spurensicherung. An den geparkten Autos vorbeizufahren war Millimeterarbeit und erforderte Fingerspitzengefühl. Ein Streifenpolizist hob das Flatterband und ließ den Wagen passieren. Dann traten ein Notarzt und drei Sanitäter hinter dem mobilen Sichtschutz hervor.
An der Trockensteinmauer direkt hinter der Absperrung entdeckte Lou eine Frau in Jeans, T-Shirt und dünner Windjacke, die sie bestens aus ihrer Zeit beim Landeskriminalamt St. Pölten kannte. Verena Badinger, kurz geschnittenes braunes Haar, verschränkte Arme, Mitte fünfzig und Chefinspektorin des Ermittlungsbereichs Leib und Leben. Sie hatte Lou ausgebildet und war lange ihre unmittelbare Vorgesetzte gewesen. Lou ging die letzten zwei Meter bis zum Flatterband. Der Rauch kratzte in ihrem Hals, sodass sie hustete.
Die Mordermittlerin drehte sich um und blinzelte verdutzt. »Da schau her! Die Lou.«
»Hallo, Veni.«
Verena streckte die Hand aus und zupfte an Lous Dirndlschürze. »Oder bist du es, Mariandl?«, spielte sie spöttisch auf die gleichnamige Heimatkomödie an. Der Film war in den 1960er-Jahren im Nachbarort Dürnstein gedreht worden, mit Conny Froboess und Waltraud Haas, damals berühmte Schauspielerinnen, in den Hauptrollen. »Wohnst wieder in Marienkirchen?« Verena wusste, dass Lou aus dem Ort stammte. Darüber hatten sie sich seinerzeit öfter unterhalten.
Lou nickte.
»Hast hier am Weinberg zu tun, oder bist zufällig vorbeigekommen?«, fragte die Ermittlerin.
»Ich hab gehört, dass es brennt.«
Die Chefinspektorin neigte nachsichtig den Kopf. »Und ich hab gehört, du arbeitest nimmer für unseren Verein.«
Lou räusperte sich verlegen. »Eh, aber wenn bei uns was los ist, wenden sich manche Leut halt immer noch an mich und wollen wissen, was passiert ist.«
Verena schmunzelte. »Aha.«
»Kennst doch den Spruch: Einmal Kieberer, immer Kieberer. So denken viele im Ort.« Lou sah an der Chefermittlerin vorbei zu dem mobilen Blickschutz.
»Sag mir, was du jetzt schlussfolgerst«, forderte Verena sie auf.
»Nachdem die Spurensicherung soeben eingetroffen ist, da drüben ein Sichtschutz steht und die Rettungsmannschaft schon zusammenpackt«, Lou deutete zu den Sanitätern, die gerade eine leere Trage in den Rettungswagen schoben, »gehe ich davon aus, dass es eine Leiche gibt.«
Verena sah sie weiterhin belustigt an. »Was hast grad gesagt? Einmal Kieberer, immer Kieberer? Scheint was Wahres dran zu sein. Schad, dass du nimmer bei uns bist.«
»Lieb, dass du das sagst.« Lou schenkte ihrer Ex-Chefin ein Lächeln. »Und? Schon eine Idee, wer der Tote ist?«
Die Ermittlerin zögerte, dann bückte sie sich unter dem Plastikband hindurch, zog Lou mit sich, ein paar Schritte zur Seite, und senkte die Stimme. »Die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr Marienkirchen haben ihn erkannt, obwohl ihm das Feuer ein bisserl zugesetzt hat.«
Lou seufzte laut. »Markus Haller?«, sagte sie, während sich das Team der Spurensicherung an die Arbeit machte.
Verena runzelte die Stirn. »Wie kommst du auf ihn?«
»Weil das seine Riede ist und er laut seiner Frau morgens hergefahren ist. Die Hallers haben einen Anruf bekommen, dass angeblich jemand in dem Weinberg gewütet hat.« Lou erklärte, woher sie davon wusste.
Die Chefermittlerin zog einen kleinen Block und einen Kugelschreiber aus ihrer Jackentasche und machte sich Notizen. Dann nickte sie.
»O Gott, nein«, japste Lou, obwohl sie damit doch eigentlich gerechnet hatte. Einen Moment lang blieb ihr die Luft weg, und ihr Herz begann, wie verrückt zu hämmern. »Was für ein Unglück.« Entsetzt legte sie die Hand auf ihren Mund.
Ihre ehemalige Vorgesetzte deutete mit dem Kinn zum Weinberg. »Ein Stück weiter vorn siehst den Rest seines Autos.«
Lou starrte verdattert auf das Wrack nur wenige Meter entfernt. Es wurde halb von einem Feuerwehrwagen verdeckt. »Seine Frau und seine Tochter …« Lou konnte den Satz nicht beenden.
»Zwei Kollegen und das Kriseninterventionsteam sind schon zu ihnen unterwegs«, sagte Verena.
Lou versuchte, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren und bewusst zu atmen. Ihr Puls normalisierte sich langsam. »Wisst ihr schon, was genau passiert ist?«
Verena nickte. »Derjenige, der hierfür verantwortlich ist, hat sich nicht mal die Mühe gemacht, die Spuren zu verwischen. Die Kollegen vom Ermittlungsbereich Brand haben Benzinkanister und Hinweise auf Brandbeschleuniger gefunden.«
»Also eindeutig Brandstiftung«, fasste Lou für sich zusammen. »Hat Haller vielleicht versucht, das Feuer zu löschen, und ist dabei umgekommen?«, sprach sie ihre primäre Überlegung laut aus. »Aber der Anrufer hat doch nur von zerstörten Reben gesprochen.«
»Mehr kann ich noch nicht sagen«, erwiderte die Chefinspektorin. »Bin ja selbst erst seit zehn Minuten hier und war auch noch nicht bei der Leiche, weil jetzt erst mal die Spurensicherung dran ist. Ich weiß nur, dass er dort drüben vor der ausgebrannten Hütte liegt, in der offenbar Arbeitsgeräte gelagert wurden. Wie gut kanntest du ihn?« Verena sah Lou aufmerksam an.
Die zuckte mit den Achseln. »So gut, wie man sich in einem kleinen Ort wie Marienkirchen halt kennt. Wenn wir uns sahen, haben wir einander gegrüßt und, wenn es sich ergeben hat, auch ein bisserl geplaudert.« Lous Blick wanderte kurz zu dem Sichtschutz, hinter dem Markus Hallers Leiche lag, und dann wieder zu Verena. »Ich gehör nicht zu den Menschen, mit denen er sich lange aufgehalten hat. Wie du sicher weißt, war er einer der bekanntesten Winzer Österreichs und ständig beschäftigt. Es gibt kaum ein Fachmagazin, das nicht groß über ihn berichtet hat. Selbst das Fernsehen hatte ihn für sich entdeckt. Ging’s in einer Sendung um Wein, wurde Haller ins Studio eingeladen oder auf einem seiner Weinhänge interviewt.«
»Ich weiß, dass er ein Star in der Winzerszene war.« Die Ermittlerin rümpfte die Nase. »Aber Berühmtheit ruft immer auch Neider auf den Plan.«
»Natürlich haben ihm viele den Erfolg geneidet«, bestätigte Lou. »Dazu kommt, dass Haller ganz schön überheblich sein konnte. Und resolut, wenn er etwas durchsetzen wollte.«
»Was meinst damit?«
»Nun, sein Ziel war es, ein erfolgreicher Winzer zu werden, und das ist ihm gelungen«, antwortete Lou.
»Kennst du seine Frau?«
»Die Petra, natürlich.« Lou nickte. »Die kenne ich wesentlich besser als ihn. Sie kommt oft zu mir ins Geschäft, dann tratschen wir eine Runde. Ab und zu sehen wir einander auch in Franzis Café, beim Bäcker oder im Supermarkt. Aber engeren privaten Kontakt haben wir keinen.« Sie sah sich um. »Wer hat eigentlich die Einsatzkräfte verständigt?«
Verena nickte unauffällig in die Richtung, aus der Lou gekommen war. »Die Radfahrer in den orangefarbigen Trikots da vorn haben Alarm geschlagen. Mein Kollege spricht schon mit ihnen. Die Wanderer daneben sind erst vor ein paar Minuten aufgetaucht.«
Lou wandte sich um, als sich der Kriminalbeamte von den Augenzeugen verabschiedete. Als ein Ruf über den Weinberg schallte, drehte sich Lou wieder um und sah vor dem Sichtschutz einen Mann im weißen Overall, der Verena zu sich winkte.
»Sorry, Lou, ich muss. Wir sehen uns. Wenn dir noch etwas einfällt, ruf mich an. Die Nummer hast du hoffentlich noch?«
»Ja. Alles klar. Ciao, Veni.«
Verena eilte zu ihrem Kollegen, und gleich darauf bückte sich der Abteilungsinspektor unter dem Absperrband hindurch, um seiner Vorgesetzten hinterherzuhetzen. Lou überlegte, ob sie an Ort und Stelle warten sollte. Denkbar, dass sie in ein paar Minuten mehr erfuhr. In dem Moment entdeckte sie Sigrids Bruder Alfred. Er war Oberbrandmeister bei der Freiwilligen Feuerwehr Marienkirchen und sprach mit einem Streifenpolizisten. Also beschloss Lou, in ihren Laden zu fahren. Sigrid hatte Alfred mit Sicherheit längst angerufen. Und falls sie ihn erreicht und ausgequetscht hatte, kam Lou über sie womöglich schneller an Neuigkeiten. Außerdem musste sie die ihrer Mutter versprochene Marillenmarmelade holen und dann ihren Eltern weiter beim Weinherbst helfen.
Lou parkte ihren Jeep auf dem Parkplatz außerhalb des Ortes. Um diese Zeit wimmelte es im Zentrum von Touristen und Tagesgästen, da kam sie mit dem Auto nur schwer durch. Außerdem waren es gerade mal fünf Minuten zu Fuß bis zu ihrem Delikatessengeschäft. Vor Franzis Café waren sämtliche Tische besetzt, vermutlich der Marienkirchener Sensation geschuldet, zu der man sich allzu gern Kaffee und Kuchen genehmigte. Die Leute sprachen aufgeregt miteinander, hielten ihre Blicke dabei aber starr Richtung Loibenberg gerichtet, obwohl dieser vom Café aus gar nicht zu sehen war. In absehbarer Zeit würden sich Journalisten von Fernseh- und Radiostationen und Printmedien zu ihnen gesellen, war Lou sich sicher.
Während Franziska umherwuselte, wippte ihr blonder Pferdeschwanz fröhlich hin und her. Obwohl sie alle Hände voll zu tun hatte, lächelte sie herzlich, als sie Lou vorbeieilen sah. Die erwiderte das Lächeln ebenso liebenswürdig und verschwand dann in ihrem Delikatessenladen.
»So ein Unglück«, begrüßte Sigrid sie völlig aufgelöst.
Lou konnte sich ein wissendes Lächeln nicht verkneifen. Wie vermutet hatte sie schon mit ihrem Bruder telefoniert.
»Aber nur ganz kurz«, bedauerte Sigrid auf Nachfrage. »Er und seine Kollegen stecken noch mitten in der Arbeit. Die Polizei ist zum Haller-Gut gefahren, um Petra und Antonia Bescheid zu geben.« Sie schüttelte traurig den Kopf.
»Ja, eine furchtbare Tragödie.« Lou schloss kurz die Augen und massierte sich die Stirn. Obwohl sie Markus Haller nur oberflächlich gekannt hatte, berührte sie sein Tod. Und Petra und ihre Tochter Antonia taten ihr unendlich leid. Für die beiden Frauen würde es nicht leicht werden, den großen Betrieb ohne Markus zu führen. Er war das Aushängeschild, die Marke der Haller-Weine, die treibende Kraft gewesen.
»Vermutlich tut es Petra und Antonia jetzt leid, dass sie sich gestern Abend so heftig mit ihm gestritten haben«, riss Sigrid Lou aus den Gedanken.
Lou sah sie neugierig an. »Die drei hatten Streit? Warum?«
»Weiß ich nicht«, räumte Sigrid ein. »Ich hab sie abends nach der Arbeit gesehen, als ich mit dem Rad vorbeikam. Sie standen vor dem Haus. Ich hab angehalten, wollte ein bisschen mit ihnen tratschen. Kennst mich doch.« Sigrid lächelte kurz. »Aber dann hab ich realisiert, dass sie sich streiten. Markus stand mit dem Rücken zu mir, hat wild gestikuliert. Antonia stand ihm gegenüber, ihr Gesicht war rot vor Zorn. Petra und Markus haben sich angeschrien. Ich konnte aber nur Satzfetzen verstehen. Petra brüllte irgendwas von ›hirnverbrannter Sturschädel‹, und er gab zurück, dass das sein Weingut sei. So etwas in der Art.«
»Und dann?«, hakte Lou nach.
»Ist Markus an den beiden vorbei und im Haus verschwunden. Petra und Antonia sind noch einen kurzen Moment stehen geblieben und haben ihm nachgesehen. Dann sind sie in Petras Auto gestiegen, das in der Einfahrt stand, und weggefahren. Sie haben mich nicht bemerkt.«
»Das muss jetzt nichts bedeuten. Ein Streit kommt in den besten Familien vor«, sagte Lou und wechselte das Thema, indem sie Sigrid von der Begegnung mit ihrer ehemaligen Ausbilderin und Vorgesetzten erzählte.
»Mord?«, schlussfolgerte Sigrid erschrocken.
»Nicht unbedingt. Es ist durchaus üblich, bei so einem Vorfall die Ermittler von Leib und Leben zu informieren«, versuchte Lou ihre Mitarbeiterin und Freundin zu beruhigen. »Und mal ehrlich: Der Haller hat viele Neider gehabt, und einige hätten es bestimmt gern gesehen, dass er vom hohen Ross fällt. Dennoch traue ich niemandem zu, ihn umgebracht zu haben.«
Sigrid nickte unsicher.
»Die Untersuchungen werden sicher bald ergeben, was genau passiert ist«, flüsterte Lou, als eine Kundin das Geschäft betrat, und fischte dann zwei Gläser Marillenmarmelade aus dem Regal. »Buch die bitte aus dem System aus. Sind für meine Mutter.«
Da es von offizieller Seite kein Aus für den Wachauer Weinherbst gab, wurde weitergemacht wie geplant. Schließlich war nur von einem Brand mit Todesfolge die Rede. Doch das Unglück dämpfte die allgemeine Laune, denn jeder Gast, der in Folge auf dem Weingut Conrad auftauchte, hatte nur ein Gesprächsthema.
Mittags machte Erika gebackene Schinkenfleckerl für die Familie, zu der auch Lous Joschi-Onkel gehörte. Das Nudelgericht war rasch zubereitet und schmeckte jedem. Dazu gab es frischen Salat aus dem Garten.
Um sechs Uhr am späten Nachmittag war der Spuk fürs Erste vorbei, und die Weingüter schlossen bis zum nächsten Morgen ihre Pforten. Lou hatte sich in ihrem alten Kinderzimmer schon wieder umgezogen, als ihre Mutter anbot, für alle ein Abendessen zu richten. Joschi nahm dankend an.
»Das ist lieb, aber ich hab keinen Hunger«, lehnte Lou ab. »Außerdem will ich mit Michelin noch eine große Runde drehen. Er hat sich heute kaum bewegt.«
Sie plante, hinterher am Gartentisch vorm Haus zu Abend zu essen. Käse mit Weingelee, Honignüsse und selbst gebackenes Brot. Und dazu würde sie ein Glas Grünen Veltliner Smaragd trinken und mit Blick auf die Donau in Ruhe über den Unglücksfall nachdenken. Bislang hatten sie noch keine weiteren Neuigkeiten erreicht.
Zwanzig Minuten nach dem Ende des ersten Weinherbsttages ruckelte Lou in ihrem Jeep im Schritttempo über das Kopfsteinpflaster von Marienkirchens mittelalterlichem Ortszentrum. Sigrid schloss soeben Lous köstliche Welt ab, als die Namensgeberin daran vorbeifuhr. Sie stoppte und ließ das Fenster auf ihrer Seite nach unten gleiten.
»War alles okay?«
»Natürlich, was denkst du denn? War viel los. Die letzte Kundin ist erst vor fünf Minuten raus. Wenn’s morgen auch so zugeht, musst am Montag einiges nachbestellen.«
Lou grinste. »Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.«
Wegen des Weinherbstes würden sie ausnahmsweise am morgigen Sonntag öffnen. Als Ausgleich hatte Lou Sigrid Anfang der Woche freigegeben.
»Hast noch was vom Brand gehört?« Lou war sich sicher, dass die Freundin ihren Bruder im Halbstundentakt mit ihren Anrufen terrorisierte.
Sigrid schüttelte den Kopf. »Alfred hat sich nicht mehr gemeldet, und ich hab ihn nicht erreicht. Ich versuch es später noch mal bei ihm. Am späten Nachmittag hat die Franzi mal reingeschaut, wusste aber auch nichts Neues.« Sie hielt kurz inne, schien nachzudenken. »Ach ja, und der Fabio war vor einer halben Stunde noch schnell da. Hat den ganzen Wachauer Safran gekauft, den wir noch hatten. Den musst also auf jeden Fall nachordern.«