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Angelika ist sehr jung, besonders hübsch und lebenslustig. In der Klinik, in der sie zur Krankenschwester ausgebildet wird, lernt sie den attraktiven Arzt Dr. Werner Hütten kennen. Die aufkommenden Gefühle verwirren sie und sie entscheidet sich nach schweren Kämpfen, ins Ausland zu gehen. Sie gelangt nach Capri und damit in eine Welt, die viel glanzvoller ist, als sie es sich vorher hat vorstellen können. Und wieder erlebt sie Dinge, die ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheinen. Sie begibt sich zurück in die Heimat, auch in der Hoffnung, ihren Freund Werner wiederzufinden. Aber sie muss erfahren, dass sich Werner, auf den sie gehofft hatte, mit einer anderen verloben will. Ist daher alles umsonst gewesen?
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Seitenzahl: 316
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Ein Mädchen wie Angelika
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1963 by Lichtenberg Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718704
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Kritisch betrachtete Angelika sich in dem hohen Spiegel neben dem Doppelbett. Mit Erleichterung stellte sie fest, daß die Verkäuferin sie doch richtig beraten hatte. Das Minikleid aus hellblauer Baumwolle mit dem großen Flatterkragen war zwar gewagt, aber sie konnte es tragen. Es brachte ihre langen, durchtrainierten Beine wunderbar zur Geltung. Oder waren sie vielleicht doch eine Spur zu muskulös?
Angelika trat noch einen Schritt zurück, so daß sie mit dem Rücken fast den Kleiderschrank berührte, Nein, sie konnten sich durchaus sehen lassen, und die hell schimmernden Perlonstrümpfe taten das Ihre dazu, sie schmeichelhaft zu modellieren. Sie überlegte gerade, ob sie statt der hochhackigen Sandaletten nicht lieber ihre Ballerinaschuhe tragen sollte, als die halb geöffnete Zimmertür aufgestoßen wurde. Sie fuhr herum.
Jupp, der Mann ihrer Schwester, war eingetreten und musterte sie, erst überrascht, dann mit jenem schmierigen Grinsen, das sie so sehr an ihm haßte. »Du weidest dich wohl wieder mal an deiner Schönheit, was?« fragte er.
»Entschuldige, bitte!« Sie wollte an ihm vorbei.
Aber er versperrte ihr breitbeinig den Weg zwischen dem Fußende der Betten und dem Kleiderschrank. »Warum so eilig?«
»Ich hab’ noch was vor.«
»Immer auf dem Juhu, wie?«
»Bitte, Jupp!«
Er hatte es sich, wie immer, wenn er zu Hause war, bequem gemacht, den Schlips abgenommen, die Jack ausgezogen und sogar das Hemd abgelegt; jetzt ließ er seine Muskeln spielen. »Ich wollte mich immer schon mal mit dir unter vier Augen unterhalten!«
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus. »Laß mich durch!«
»Und was kriege ich dann dafür?«
»Wenn du mich nicht gleich durchläßt, werde ich schreien!«
»So, wirst du das? Das würde ich mir an deiner Stelle aber dreimal überlegen. Ich bin nicht in dein Zimmer gekommen, sondern du in unser Schlafzimmer! Eine ziemlich verfängliche Situation, wie?«
»Jupp, was soll das alles?« fragte sie, sehr bemüht, ruhig zu bleiben. »Du hast deinen Spaß gehabt, also laß mich jetzt raus!«
Statt ihrem Wunsch nachzukommen, ging er noch näher auf sie zu. Die animalischen Ausdünstungen seines Körpers stiegen ihr in die Nase, und sie wich unwillkürlich zurück.
Er griff nach ihr. »Mit deinen Ärzten«, sagte er, »bist du bestimmt nicht so zimperlich …«
Da trat sie zu. Er schrie auf, griff nach seinem Knie und tanzte auf dem unverletzten Bein. Angelika stieß ihn beiseite, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß er fast das Gleichgewicht verloren hätte, und hastete zur Tür. Aber ehe sie noch das Zimmer verlassen konnte, stürzten ihre Mutter und ihre Schwester herein.
»Was ist los?« schrie Eva und blickte von Angelika auf ihren Mann, der sich mit schmerzverzogenem Gesicht sein Schienbein rieb. »Jupp, hast du dir weh getan?«
Jupp richtete sich auf und sagte mit der Unschuldsmiene eines beleidigten Jungen: »Sie … sie hat mich getreten!« Er wies dabei mit der ausgestreckten Hand auf Angelika.
Eva sah ihre Schwester an. »Ist das wahr?«
»Ja«, antwortete Angelika böse, »aber, bitte, frag ihn auch, warum ich es getan habe!«
»Woher soll ich denn das wissen?« protestierte Jupp. »Ich bin nur reingekommen, um mir’ ne neue Rasierklinge zu holen. Das ist doch schließlich mein gutes Recht … oder? Ich wollte zu meinem Nachttisch, aber statt mich einfach durchzulassen, hat sie mich getreten. Gegen’s Schienbein. Mit ihrem verdammten Absatz!«
»Wenn ihr das glaubt«, sagte Angelika, »müßt ihr verrückt sein!«
Sie versuchte zwischen Mutter und Schwester aus dem Zimmer zu entwischen.
Eva hielt sie am Arm fest. »Halt! Erst will ich wissen … was hat sich hier wirklich abgespielt?« Und als Angelika schwieg, fügte sie drohend hinzu: »Das ist unser Schlafzimmer. Der einzige Raum, den Jupp und ich für uns haben. Was hattest du hier überhaupt zu suchen?«
Angelika erschrak vor dem Haß in Evas Augen, dennoch hielt sie ihrem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Du weißt genau, wie klein mein Zimmer ist«, sagte sie, »man kann sich ja nicht einmal drin umdrehen. Und einen anständigen Spiegel habe ich auch nicht. Deshalb bin ich in euer Schlafzimmer gekommen. Um festzustellen, ob mein Kleid in Ordnung ist.«
»So wird es schon gewesen sein«, versuchte ihre Mutter sie zu unterstützen, »was sollte sie sonst auch in eurem Schlafzimmer gewollt haben?«
»Ja, nimm du nur wieder mal für Angelika Partei!« fauchte Eva, »Natürlich, sie ist der Unschuldsengel, das arme verfolgte Lamm. Das ist ja die Masche, auf der sie reist. Aber bei mir zieht das nicht, Kleine. Bei mir nicht. Ich habe längst gemerkt, was du vorhast. Auf meinen Mann hast du es abgesehen, jawohl. Dein ewiges Schmollen und Kokettieren und Ausweichen, alles nur Tricks, um dich interessant zu machen. Und ich weiß auch, warum du ihn getreten hast … um seine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Nur darum.« Eva mußte eine kleine Pause einlegen, um Luft zu schnappen.
»Jetzt wird’s mir aber wirklich zu blöd«, sagte Angelika, »du warst doch früher mal eine ganz vernünftige Person, Eva. Wie kannst du nur so verbohrt sein? Hast du wirklich noch nicht gemerkt, was du dir mit deinem Jupp eingehandelt hast?«
»Er ist mein Mann, und ich liebe ihn!«
»Na, dann herzlichen Glückwunsch! Paß nur gut auf ihn auf, damit du ihn noch lange behältst!«
»Was soll das heißen? Das nimmst du sofort zurück, Angelika, oder …«
»Bitte, hört auf damit, Kinder«, sagte die Mutter, »dieser ewige Streit! Laß Angelika jetzt endlich gehen, Eva, sie muß sich ja noch fertigmachen!«
»Ich denke nicht daran!« protestierte Eva. »Nicht, bevor sie sich entschuldigt hat!«
»Ich soll mich entschuldigen?« Angelika mußte fast lachen. »Etwa bei Jupp? Willst du behaupten, daß ich schuld bin, wenn er …« Sie stockte mitten im Satz; sie wollte ihre Schwester nicht unnötig verletzen.
»Was … wenn Jupp?« rief Eva. »Wenn du ihn verrückt gemacht hast, willst du wohl sagen!«
»Ich habe nichts dergleichen getan«, erklärte Angelika mit Nachdruck, »und du weiß das ganz genau, Eva! Wenn einer sich hier entschuldigen müßte, dann ist es Jupp!«
»Ach ja, beklag dich nur, du armes Schäfchen!« kreischte Eva. »Du hast es gerade nötig! Wer profitiert denn am meisten davon, daß Jupp hier bei uns wohnt? Doch nur du, Angelika! Ich möchte wirklich wissen, wie du dein Studium finanziert hättest, wenn Jupp nicht gerzahlt hätte! Und zum Dank dafür …«
»Das ist doch nun wirklich Unsinn, Eva«, unterbrach die Mutter sie, »daß Jupp seinen Anteil an unserem Haushalt zahlt, ist nicht mehr als recht und billig und …«
Angelika benutzte die Gelegenheit, als die allgemeine Aufmerksamkeit sich von ihr abwandte, um aus dem Raum zu schlüpfen. Hinter sich vernahm sie die streitenden Stimmen ihrer Mutter und ihrer Schwester. Jupp brummte etwas dazwischen – Angelika atmete auf, als sie endlich ihre Kammertür hinter sich abschließen konnte.
Wie ekelhaft das alles ist, dachte sie, wie beschämend, wie scheußlich! Dieser fürchterliche Jupp, und Eva, die ganz blind ist vor lauter Verliebtheit, und die arme Mutter, die nicht gegen die beiden aufkommt! Immer Reibereien, böse Worte, Zank und Streit. Bloß weg von hier!
Aber sie stellte mit Genugtuung fest, daß die kleine Szene sie nicht mehr so aufregte wie früher. Sie wußte ja und vergaß es nicht einen Augenblick, daß sie es nun bald überstanden hatte.
Angelika klappte die Schreibtischplatte ihres kleinen Anbauschranks herunter, stellte den plastikgerahmten Spiegel auf und breitete ihre Kosmetikutensilien aus. Lange und sehr aufmerksam berachtete sie ihr Gesicht.
Übergroße graue Augen über schrägen Backenknochen, eine winterlich blasse Haut – käsig, dachte Angelika und begann mit Sorgfalt warm getönten Puder aufzulegen. Dann tuschte sie ihre langen, schön gebogenen, viel zu hellen Wimpern, bürstete sie, bis kein Härchen mehr an dem anderen klebte und zog über den Wimpern einen feinen Strich.
Kritisch betrachtete sie ihre schlanken, kräftigen Hände mit den ovalen Nägeln. Seit sie sich vor zwei Jahren entschlossen hatte, an dem Lehrgang für Krankengymnastik teilzunehmen, feilte sie sie sehr kurz. Vorgestern hatte sie ihre Ausbildung abgeschlossen, mit einer ausgezeichneten Prüfung.
Zwei Jahre, dachte sie, wie schnell ist die Zeit vergangen, und doch, wie endlos sind mir diese Jahre manchmal vorgekommen, als ich noch mittendrin steckte. Aber jetzt brauche ich nur noch mein Praktikantenjahr, und da werde ich natürlich schon nicht mehr zu Hause wohnen. Sicher verschafft mir Professor Haßberger eine Stellung an irgendeiner Klinik. Wahrscheinlich nicht mal hier in Köln.
Ich werde endlich von Eva und Jupp und diesen ewigen Reibereien in der viel zu engen Wohnung nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Ja, fort, nur fort von hier. Es gibt nichts, was mich hier hält.
Sie ließ den Lippenstift sinken und starrte gedankenverloren in den Spiegel. Gab es wirklich nichts, was sie hier hielt?
Sie hatte sich etwas vorgemacht. Sie würde nicht leichten Herzens von der Heimat Abschied nehmen können, solange Dr. Werner Hüttenbrinck hier zurückblieb – solange ihr noch ein Funken Hoffnung auf seine Liebe blieb.
Sie wußte, daß die meisten ihrer Kolleginnen für den jungen Assistenten Professor Haßbergers schwärmten, sie war sich in den vergangenen Jahren mit ihren Gefühlen manchmal albern vorgekommen. Und dennoch – sie hatte immer wieder deutlich gespürt, daß auch er etwas für sie empfand. Die Art, wie er ihr zulächelte, wie er manchmal zur ganzen Klasse sprach und doch nur sie zu meinen schien. Nein, das konnte sie sich nicht nur eingebildet haben.
Vielleicht hatte er in den vergangenen Jahren eine so betonte Zurückhaltung bewahrt, weil er ihr Lehrer war – aber jetzt? Jetzt war das vorbei. Heute abend war ihr Abschlußball, und auch er würde da sein. Heute abend mußte sich zeigen, ob sie sich nicht getäuscht hatte.
Jupps Aufdringlichkeit, Evas Eifersucht, die ganze häusliche Misere waren unwichtig gegenüber dieser Frage.
Der Abschlußball der jungen Krankengymnastinnen fand in einer Studentenkneipe in Köln-Lindenthal statt. Sie hatten für diesen Abend den großen Saal gemietet, hatten ihn ganz umgeräumt und festlich geschmückt.
Angelika hatte dabei mitgeholfen, dennoch war sie ganz überrascht von dem prächtigen Bild, das sich ihr bot. Jetzt, im gedämpften Licht – alle Lampen waren mit rotem, blauen und gelben Kreppapier drapiert –, wirkte er zauberhaft verwandelt. Auch die Mädchen zeigten sich von ihrer besten Seite, viele trugen zur Feier des Tages ein langes Abendkleid. Angelika kam sich in ihrem Mini, auf das sie so stolz gewesen war, falsch angezogen vor.
Aber ihre Niedergeschlagenheit dauerte nur eine Sekunde. Sie sah Dr. Werner Hüttenbrinck. Er stand an der kleinen improvisierten Bar und beobachtete sie mit einem Blick, der sie erröten ließ.
Sie mußte an sich halten, um nicht zu ihm hinzulaufen aber dann kam er auf sie zu, blieb dicht vor ihr stehen und sagte nur ein einziges Wort: »Angelika!«
Sie fühlte, wie das Blut in ihre Wangen schoß und sagte unsicher: »Sie tanzen nicht, Herr Doktor?«
Seine Augen ließen sie keine Sekunde los. »Ich habe auf Sie gewartet!«
»Das war … sehr nett von Ihnen!« Sie gab ihm die Hand.
Er nahm sie mit festem Druck. »Wie kalt sie ist, Angelika!« Er hielt ihre Finger fest, als ob er sie wärmen wollte. »Wenn das der Herr Professor wüßte! Eine Krankengymnastin braucht zur Ausübung ihres Berufes …«
Sie lachte. »… ja, ich weiß: kräftige, trockene und warme Hände! Wie froh ich bin, daß ich die theoretische Ausbildung nun endlich hinter mir habe!« Ihre Befangenheit war verflogen.
»Ich auch!« sagte er ehrlich.
»Wieso … Sie?«
Er schob einen Arm unter ihren Ellenbogen. »Das fragen Sie noch? Glauben Sie, es ist lustig, einem schönen Mädchen gegenüber den gestrengen Lehrer spielen zu müssen?«
Die kleine Band – Studenten, die sich auf diese Weise etwas nebenbei verdienten – spielte einen Cha-cha-cha. Im selben Augenblick kamen ein Medizinstudent und der Internist Dr. Heigel auf Angelika zu, um sie aufzufordern.
Aber Dr. Werner Hüttenbrinck wehrte sie ab. »Tut mir leid, meine Herren … diese Dame ist für mich reserviert!« Er zog Angelika an sich. »Ich glaube, wir sollten erst einmal einen Schluck trinken, damit Sie warm werden.«
»Oh, das würde ich beim Tanzen, glaube ich, auch.«
»Sind Sie mir böse, daß ich Ihre Verehrer abgewimmelt habe?«
Sie sah ihn aus glücklichen Augen an. »Bestimmt nicht!«
»Sie sind also bereit, sich mir anzuvertrauen?«
Sie konnte nur nicken, stumm und ganz überwältigt.
»Dann unterwerfen Sie sich auch meiner Regie. Erst trinken wir ein Glas Sekt miteinander … getanzt wird später.«
»Jawohl, Herr Doktor.« Mit einem verschmitzten Lächeln spielte sie die gehorsame Schülerin.
Er verzog sein Gesicht zu einer kleinen Grimasse. »Nicht, bitte nicht! Ich kann dieses ‹Herr Doktor› wirklich schon nicht mehr hören. Sie sollten doch wissen, wie ich heiße!
»Doktor Werner Hüttenbrinck!«
»Sehr gut. Aber jetzt lassen Sie mal den Doktor und den Hüttenbrinck weg … was bleibt dann übrig?«
»Werner.«
»Ausgezeichnet. Sie sind und bleiben eine Musterschülerin … sogar noch beim Abschlußball, Angelika!«
Er half ihr auf den Barhocker, schwang sich neben sie und bestellte Sekt.
Als ihre Gläser aneinander klangen, sagte er: »Ich habe heute mehr als einen Grund zum Feiern, Angelika!«
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
»Gerade heute hat es sich entschieden, daß ich die Praxis von Doktor Berger in der Severinstraße übernehmen werde. Das geht zwar nicht von heute auf morgen, Doktor Berger kann sich nur schwer entschließen, sich zur Ruhe zu setzen. Aber in einem Jahr wird er siebzig … es ist also abzusehen, wann ich an die Reihe kommen werde.«
»Ach, das freut mich aber sehr«, sagte sie ehrlich, »Severinstraße ist eine gute Gegend, nicht wahr?«
»Erstklassig. Deshalb ist die ganze Angelegenheit für mich auch nicht billig.« Dr. Hüttenbrinck trank einen Schluck Sekt. »Na ja, über die Schattenseiten dieses Daseins wollten wir uns ja heute abend nicht unterhalten. Jedenfalls ist es eine gute Chance für mich …« Er lächelte ihr zu. »Und eigentlich lohnen sich ja überhaupt nur Dinge, die man sich erkämpfen muß.«
»Ich habe mir meine Ausbildung als Krankengymnastin auch erkämpfen müssen«, sagte sie und konnte eine leichte Bitterkeit in der Stimme nicht unterdrücken.
Er nahm zärtlich ihre Hand. »Es hat auch sein Gutes. Deshalb haben Sie den Antrieb gehabt, wirklich zu lernen. Sie würden nie auf den Gedanken kommen, Ihren Beruf als eine Spielerei zu betrachten wie einige dieser jungen Gänse … Pardon, ich wollte sagen: wie einige Ihrer verehrten Kolleginnen.«
»Ja, ich nehme ihn wirklich ernst«, sagte Angelika, »es ist ein schöner Beruf … interessant. Und man kann den Menschen helfen.« Sie holte tief Luft. »Ich bin froh, daß ich es geschafft habe.«
»Und Ihre Pläne für die Zukunft?«
Sie beobachtete die perlenden Bläschen in ihrem Glas. »Ach«, sagte sie, »darüber habe ich mir eigentlich noch gar keine Gedanken gemacht. Erst will ich mein Praktikantenjahr machen, und dann …« Sie zögerte.
»Was dann?« fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte sie ausweichend, dann nahm sie allen Mut zusammen und sah ihn an. »Jedenfalls, wenn Sie mal für Ihre Praxis einen Krankengymnastin brauchen … ich würde Sie bestimmt nicht enttäuschen.«
»Das weiß ich, Angelika«, sagte er, »wenn ich eines weiß …« Er füllte ihre Gläser noch einmal und stieß mit ihr an. »Aber jetzt schleunigst Schluß mit diesen ernsten Gesprächen, sonst fangen wir noch an zu fachsimpeln.« Er leerte sein Glas in einem Zug und schwang sich vom Hokker. »Kommen Sie, Angelika … wollen wir tanzen?«
Die Band spielte gerade einen langsamen Walzer.
Dr. Werner Hüttenbrinck tanzte gut, aber ein wenig steif – Angelika merkte es gar nicht, sie schien auf Wolken zu schweben. Sie hatte nur noch den einen Wunsch: immer so weiter tanzen zu dürfen.
Viel zu schnell war der Walzer verklungen, aber sie blieben auf der Tanzfläche, tanzten die nächsten Tänze miteinander, tanzten so lange, bis die Band eine größere Pause einlegte. Dann erst zogen sie sich atemlos und erhitzt an die Bar zurück und tranken noch ein Glas Sekt zusammen.
»Ach, Werner«, sagte Angelika strahlend, »dies … ich übertreibe nicht … ist wirklich der schönste Abend, den ich je erlebt habe!«
Er küßte ihre Hand. »Hoffentlich haben Sie noch nicht allzuviel erlebt, Angelika!«
»Nicht viel Schönes, jedenfalls«, sagte sie, »wissen Sie, bei uns zu Hause … aber, ach was, warum soll ich Sie damit langweilen! Gerade jetzt, wo ich beinah alles überstanden habe.«
»Bitte, erzählen Sie doch, Angelika! Alles, was Sie betrifft, interessiert mich! Rauchen Sie?« Er bot ihr eine Zigärette an.
»Hin und wieder.« Sie bediente sich. »Es ist eine ganz alltägliche Geschichte«, sagte sie, »und gerade deshalb wahrscheinlich so zermürbend.« Er gab ihr Feuer. »Mein Vater ist bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Meine Mutter hatte es nicht leicht, meine Schwester und mich großzuziehen. Wir haben zwar nie wirklich Not gelitten, aber es hat eben immer an allen Ecken und Enden gefehlt. Trotzdem waren wir ganz glücklich, bis …« Sie schüttelte sich leicht. »Aber davon mag ich jetzt wirklich nicht reden. Ich will nicht einmal daran denken. Es würde mir den ganzen Abend verderben.«
Die Band war inzwischen wieder aufs Podium zurückgekehrt, die Musiker stimmten! ihre Instrumente.
»Wollen wir?« fragte Angelika rasch. Sie wies mit dem Kopf zur Tanzfläche. »Mir kribbelt es schon wieder in den Beinen!« Sie drückte ihre Zigarette aus und sprang vom Barhocker.
Professor Haßberger stand plötzlich vor ihr, wie aus dem Erdboden gewachsen.
»Ja, Sie sollen tanzen, mein schönes Kind«, sagte er lächelnd, »aber jetzt einmal mit mir!«
Angelika begriff, daß er auch an der Bar gesessen und Fetzen ihrer Unterhaltung gehört haben mußte. Aber sie hatte ihn gar nicht gesehen, sie hatte ja, ganz befangen in ihrem Traum, überhaupt nicht auf ihre Umgebung geachtet.
»Natürlich, gern, Herr Professor.«
»Unser guter Doktor Hüttenbrinck schaut jetzt ganz melancholisch drein, wie ein Pudel, dem man ein Stück Wurst vom Mund weggeschnappt hat. Nein, drehen Sie sich nicht nach ihm um, lassen Sie ihn ruhig schmachten. Na, jetzt endlich!«
Angelika wußte nicht, was dieses »Na, jetzt endlich« zu bedeuten hatte und hätte sich für ihr Leben gern umgedreht. Aber sie tat es nicht; sie zwang sich, Professor Haßberger anzusehen.
Der alte Herr hatte eine seltsame Art zu tanzen. Er ging mit ruhigen Schritten vor und zurück, hin und her, ohne dabei die geringste Rücksicht auf den Rhythmus zu nehmen, und schob Angelika dabei in einigem Abstand vor sich her. Angelika blieb nichts anderes übrig, als, so gut es eben gehen wollte, mitzumachen.
»Ich muß Ihnen sagen, es sind von verschiedenen Seiten Beschwerden über Doktor Hüttenbrinck an mich herangetragen worden«, erklärte Professor Haßberger mit Grabesstimme.
»Beschwerden?« Angelika erschrak.
»Ja.« Professor Haßberger zwinkerte mit dem rechten Auge. »Man fragte mich, woher er das Recht nähme, die schönste Dame des Abends ausschließlich für sich zu beschlagnahmen. Ich bin sehr froh, daß ich dieser Tyrannei ein Ende machen konnte. Bitte, widersprechen Sie mir nicht … Sie wollen mir doch wohl nicht die Illusion rauben, daß ich Sie erlöst habe?«
Angelika spürte, daß Professor Haßberger es gut mit ihr meinte, und lächelte zu ihm auf. »Jedenfalls werde ich es in meinem Tagebuch vermerken, daß der berühmte Professor Haßberger heute abend mit mir getanzt hat!«
»Machen Sie sich nur über mich alten Herrn lustig. Tatsächlich habe ich einen ganz besonderen Grund … abgesehen davon natürlich, daß es mir ein Vergnügen ist, mit Ihnen zu tanzen … ich wollte Sie wenigstens für fünf Minuten unter vier Augen sprechen.«
»Ja?«
»Es handelt sich um Ihre Zukunft, Fräulein Hoffmann. Ich will ehrlich sein, ich habe etwas mit Ihnen vor. Aber hier ist nicht der richtige Ort, darüber zu sprechen.«
Angelikas Augen verfolgten Dr. Hüttenbrinck, der jetzt mit der aparten Leonie Haßberger, der Enkelin des Professors, an ihnen vorbeitanzte.
»Ich verstehe …« murmelte sie.
»Nein, das können Sie gar nicht«, sagte der Professor, »nicht bevor Sie wissen … Das Beste wird sein, Sie kommen morgen … nein, morgen ist Sonntag … also, ich erwarte Sie Montag nachmittag so gegen fünf Uhr bei mir in der Klinik.«
»Jawohl, Herr Professor.«
Professor Haßberger runzelte die Stirn. »Nun mal ganz ehrlich, Fräulein Hoffmann … haben Sie überhaupt zugehört?«
Angelika riß ihren Blick von Dr. Hüttenbrinck los. »Natürlich, Herr Professor … Montag nachmittag bei Ihnen in der Klinik!«
Angelika hatte fest gehofft, daß Professor Haßberger sie nach diesem Tanz wieder zu Dr. Hüttenbrinck zurückbringen würde. Aber kaum hatte die Band eine kleine Pause eingelegt, als schon mehrere Herren – unter ihnen wieder der hartnäckige Dr. Heigel – auf sie zustürzten. Angelika mußte, wenn sie nicht unhöflich sein wollte, die nächsten Tänze abgeben. Es war wie eine Verschwörung. Sie tanzte pausenlos, wurde stets, ehe noch der nächste Tanz begann, aufgefordert. Meist mußte sie schon drei, vier Tänze im voraus versprechen. Mitternacht war längst vorbei, als es Dr. Hüttenbrinck endlich gelang, sie zurückzuerobern.
»Na«, sagte er, als sie sich aufseufzend in seine Arme schmiegte, »haben Sie sich gut amüsiert, Angelika?« Er sagte es lachend, und dennoch konnte er den leichten Ton von Eifersucht in seiner Stimme nicht überspielen.
»Es war furchtbar.«
»Nicht schwindeln! Sie sind die Königin des Abends, und Sie müßten kein junges Mädchen sein, wenn Sie es nicht genießen würden!«
»Natürlich ist es viel schöner, beliebt zu sein, als das Mauerblümchen spielen zu müssen. Trotzdem! Ich hätte viel lieber …« Sie stockte mitten im Satz und biß sich auf die Lippen.
Aber er hatte schon begriffen, was sie hatte sagen wollen, und zog sie fester in die Arme. »Sie sind sehr lieb, Angelika …«
Seine Stimme klang zärtlich; Angelika strahlte vor Glück.
Professor Haßberger empfing Angelika in seinem großen, gediegen eingerichteten Arbeitsraum im Erdgeschoß der Chirurgischen Klinik.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen, Fräulein Hoffmann«, sagte er, »aber Sie sehen …« Er war gerade dabei, seinen weißen Kittel auszuziehen.
Angelika wartete schweigend.
»Also, bitte, setzen Sie sich doch!« sagte der Professor. »Wie ist Ihnen der Abschlußball bekommen? Natürlich glänzend, ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an. Aber um nun gleich in medias res zu gehen … Sie werden sicher schon gespannt sein, warum der alte Haßberger Sie hat kommen lassen. Zuerst eine Frage: Stimmt es, daß Sie italienisch sprechen?«
»Nicht besonders gut, Herr Professor. Ich habe einen Kursus für Fortgeschrittene auf der Volkshochschule absolviert, aber mit dem Sprechen wird’s wohl hapern.«
»Macht nichts. Das werden Sie bald nachholen können. Ich habe nämlich vor, Sie nach Italien zu schicken. Ich hoffe, daß Sie das freuen wird.«
»Italien?« sagte Angelika überrascht. »Ich verstehe nicht …«
»Können Sie ja gar nicht, bevor ich es Ihnen erzählt habe …« Er öffnete eine hölzerne Dose mit silbernem, ziselierten Deckel, die zwischen ihnen auf dem niedrigen Rauchtisch stand. »Zigarette?«
»Nein, danke«, sagte Angelika, »ich möchte gerne wissen …«
»Immer langsam. Alles der Reihe nach.« Professor Haßberger nahm sich eine dicke helle Zigarre und zündete sie umständlich, fast mit Andacht, an. »Also, die Sache ist die: Es handelt sich um eine Privatpatientin, Signora Claudia Marzetti, Gattin eines bedeutenden römischen Industriellen. Sie sucht eine Krankengymnastin, die gleichzeitig als Pflegerin helfen und als Gesellschafterin zur Verfügung stehen kann. Eine sehr hoch dotierte Stellung.«
»Aber … für wie lange sollte das denn sein?« fragte Angelika.
Professor Haßberger zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Wahrscheinlich wird die Signora bis an ihr Lebensende nicht ganz ohne Pflegerin auskommen können.«
»Das geht ja nicht«, protestierte Angelika, »ich muß doch erst mein Praktikantenjahr machen!«
»Bevor Sie sich staatlich geprüfte Krankengymnastin nennen dürfen«, bestätigte Professor Haßberger, »selbstverständlich. Aber das können Sie ja immer noch nachholen. Ich hatte gedacht, es läge Ihnen daran, möglichst schnell Geld zu verdienen.«
Angelika sah Professor Haßberger an. »Ja, schon. Aber Geld allein …«
»Da haben Sie natürlich recht. Doch von der finanziellen Seite ganz abgesehen … ich glaubte, jedes junge Mädchen müßte ein solches Angebot locken. Die große Welt … Rom … Haben Sie niemals davon geträumt? Ich kenne die Marzettis, es sind großartige Menschen. Ihr Haus in Rom ist ein richtiger kleiner Palazzo, und die Villa auf Capri, in der die Signora jetzt lebt, ist ein Traumhaus. Die interessantesten Menschen gehen dort ein und aus.«
Angelika schwirrte der Kopf. Rom – Capri – die große Welt! Die Worte des Professors hatten ihr Möglichkeiten eröffnet, von denen sie bis heute nicht einmal zu träumen gewagt hatte! Und nun lag alles vor ihr, sie brauchte bloß ja zu sagen. Aber, darüber war sie sich klar, ihre Zustimmung bedeutete die Trennung von dem Mann, den sie liebte.
»Das klingt alles sehr verlockend, Herr Professor«, sagte sie zögernd, »aber natürlich müßte ich erst meine Mutter um Erlaubnis fragen.«
»Ja, natürlich«, sagte er ungeduldig, »aber das ist doch wohl mehr oder weniger eine Formsache. Wichtig ist doch in erster Linie Ihre Entscheidung. Es hat ja keinen Sinn, daß ich Ihnen Einzelheiten erzähle, bevor ich nicht weiß, ob Sie sich für das Angebot überhaupt interessieren.«
Angelika preßte die Handflächen gegeneinander. »Seien Sie mir bitte nicht böse, Herr Professor, aber die ganze Sache ist mir doch zu … überraschend gekommen. Ich bin ganz durcheinander. Darf ich mir ein paar Tage Bedenkzeit ausbitten?«
Professor Haßberger stieß den Rauch seiner Zigarre in dicken Wolken aus. »Wie Sie wünschen«, sagte er, »aber überlegen Sie es sich nicht zu lange. Ich verstehe ja, daß Sie das Angebot eine Nacht überschlafen möchten. Aber mehr Zeit kann ich Ihnen beim besten Willen nicht zugestehen. Die Sache drängt. Sie haben doch hoffentlich einen Paß?«
»Ja, Herr Professor.«
»Na, wenigstens etwas.« Professor Haßberger erhob sich schwerfällig. »Also überlegen Sie sich die Sache, junge Dame … und wenn Sie meinen Rat hören wollen … schlagen Sie ein. Es gibt Chancen, die sich nur einmal im Leben bieten. Wenn man sie verpaßt, kommen sie nie zurück.«
Angelika war mit Dr. Werner Hüttenbrinck im ‹Café Reinhard› verabredet. Sie fuhr mit der Straßenbahn bis zum Dom. Unterwegs hatte sie Zeit, ihre Gedanken zu ordnen.
Er war schon da, als sie kam, stand auf und half ihr aus ihrem Regenmantel. »Was soll ich Ihnen bestellen, Angelika?« fragte er.
Sie sah, daß er ein Kännchen Kaffee vor sich hatte, zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Ich glaube, am liebsten hätte ich jetzt einen Cognac.«
Er lächelte, aber seine Augen blieben ganz ernst. »War es so schlimm?«
»Schlimm? Nein, Professor Haßberger war reizend, aber … stellen Sie sich nur vor, Werner, er will mich nach Italien schicken!«
»Ja, ich weiß.«
»Ihre Augen wurden dunkel. »Das haben Sie gewußt?«
»Er hat es mir heute morgen gesagt.«
»Und?«
Er sah an ihr vorbei. »Ich glaube, es ist eine wunderbare Sache für Sie!«
»Ist das Ihr Ernst?« Sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme zitterte.
»Bitte, Angelika, verstehen Sie mich nicht falsch …« Er unterbrach sich, als die Kellnerin den Cognac brachte. »Trinken Sie erst einmal, das wird Ihnen guttun.«
Sie nahm einen Schluck und sagte mit niedergeschlagenen Augen: »Sie wünschen also wirklich, daß ich … fortgehe?«
»Nein, Angelika. Natürlich nicht. Aber ob Sie das Angebot annehmen oder nicht, müssen Sie ganz allein entscheiden. Ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit weder raten noch helfen.«
»Also doch«, sagte sie.
»Angelika?«
»Wenn Ihnen irgend etwas an mir läge, würden Sie mich bitten zu bleiben.«
»Nein«, sagte er, »das kann ich nicht. Das wäre unverantwortlich und egoistisch von mir.« Er nahm ihre Hand. »Angelika … Sie haben mir doch selbst erzählt, daß Sie zu Hause in unguten Verhältnissen leben. Ich habe doch deutlich gespürt, daß Sie nicht früh genug von dort wegkommen können! Jetzt ist die Gelegenheit da! Glauben Sie, ich könnte so grausam sein, sie Ihnen zu verderben?«
Angelika schwieg. Aus allem, was Dr. Werner Hüttenbrinck sagte, hörte sie nur das eine heraus, daß er sich alle Wege offenhalten wollte. Angelika war niedergeschlagen.
»Angelika!« sagte er warm. »Jedes andere Mädchen würde mit beiden Händen nach so einer Chance greifen!«
Sie zwang sich, ihn anzusehen. »Ich bin nicht jedes andere Mädchen«, sagte sie und versuchte ihrer Stimme Festigkeit zu geben, »glauben Sie nicht, daß Sie mich jetzt trösten müssen, Doktor Hüttenbrinck. Ich bin vom Schicksal nicht verwöhnt, und ich werde auch damit fertig werden.«
»Was erwarten Sie denn von mir, Angelika? Daß ich Sie bitte, mich zu heiraten? Aber das ist doch unmöglich, ich muß mir ja erst noch eine Existenz aufbauen.«
»Ich habe verstanden«, sagte sie, »jedes weitere Wort ist überflüssig.«
»Es tut mir weh, daß Sie jetzt böse auf mich sind, Angelika, aber eines Tages werden Sie einsehen, wie recht ich hatte. Sie werden mir dankbar sein.«
»Dankbar?«
»Ja. Daß ich Sie nicht belogen habe. Es wäre ja so leicht, jetzt zu sagen: Gehen Sie nach Italien, für ein paar Monate, für ein Jahr, und dann …« Er brach ab. »Aber ich kann es nicht. Es wäre ein Unrecht Ihnen gegenüber. Wenn Sie jetzt in die Welt hinausgehen, sollen Sie sich frei fühlen; keine unsichere Bindung als Ballast mit sich herumschleppen.«
Angelika konnte nur dasitzen und ihn anschauen, aus ihren todtraurigen Augen.
»Ich freue mich, daß Sie sich nun doch entschlossen haben, Fräulein Hoffmann!« erklärte Professor Haßberger.
Angelika begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wann kann ich fahren, Herr Professor?«
»Ihre Mutter ist einverstanden?«
»Ja.«
»Sehr schön.« Professor Haßberger rieb sich die Hände und trat hinter seinen Schreibtisch. »Dann werde ich heute noch nach Rom telegrafieren. Ich glaube nicht, daß wir lange auf eine Bestätigung warten müssen. Sie sollten sich so vorbereiten, daß Sie jederzeit abfahren können.«
Er ließ sich in seinen schweren Sessel sinken, forderte Angelika mit einer Handbewegung auf, ebenfalls Platz zu nehmen und zündete sich eine Zigarre an.
»Und nun zu Ihrer Patientin«, sagte er, »ich erzählte Ihnen ja schon, Signora Marzetti ist eine Dame der allerersten römischen Gesellschaft. Sehr gute Familie, sehr reich, von Kindheit an behütet und gegen alle Einflüsse der Außenwelt abgeschirmt. Und dennoch … das Schicksal nimmt keine Rücksichten.«
»Wie ist es passiert?« fragte Angelika.
»Bei einem Sturz vom Pferd … nein, warten Sie, das stimmt nicht ganz!« Professor Haßberger zog einen Krankheitsbericht, den er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, näher an sich heran und schlug ihn auf. »Es war nach einem Ritt, beim Absitzen. Ich nehme an, die Signora sprang mit Schwung von ihrem Pferd. Jedenfalls glitt sie auf einem Ölfleck auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Pferdestall aus und fiel mit voller Wucht auf ihr Hinterteil. Sie spürte einen dumpfen Druck im Kopf, Sterne tanzten ihr vor den Augen … aber sie konnte sich noch selbst erheben und kam auch allein in die Wohnung des Pferdepflegers. Hier trank sie einen Cognac, fühlte sich sofort besser und steuerte dann noch selber ihren Wagen nach Hause. Tatsächlich scheint sie sich noch den ganzen Tag aufrecht gehalten zu haben. Am Abend überfiel sie eine bleierne Müdigkeit, Schwere in den Beinen und im Kreuz, Kopfschmerzen. Sie ging früh zu Bett, nahm vorsorglich eine Schlaftablette und … als sie früh aufwachte, merkte sie, daß sie bis zur Taille gelähmt war.«
»Schrecklich«, sagte Angelika. Unwillkürlich sah sie an sich herab, auf ihre kräftigen schlanken Beine, deren Beweglichkeit ihr immer so selbstverständlich erschienen war.
»Ja, es ist wirklich schrecklich. Sie müssen sich das vorstellen … eine schöne, lebensfrohe Frau, noch keine vierzig Jahr alt! Und dann, von einem Tag zum anderen … gelähmt. Sie sehen, daß eine wirkliche Aufgabe auf Sie wartet. Wichtiger … oder sagen wir lieber … genau so wichtig wie Ihre pflegerische Arbeit wird es sein, daß Sie die Kranke aufmuntern, daß Sie ihr Lebensmut einflößen und den Willen, gesund zu werden.«
»Ja«, sagte Angelika, »aber gibt es für sie überhaupt eine echte Chance?«
»Diese Frage sollen Sie mir lieber selbst beantworten. Hören Sie sich erst einmal die Krankheitsgeschichte weiter an. Oder bin ich Ihnen zu ausführlich?«
»Nein, Herr Professor«, sagte Angelika, »ich möchte soviel wie möglich erfahren.«
Professor Haßberger öffnete die gefalteten Hände. »Der sofort herbeigerufene praktische Arzt stellte eine schlaffe Lähmung beider Beine fest. Die Reflexe an den Beinen fehlten vollständig, ebenso die Bauchdeckenreflexe. Auch das Empfinden für kalt und warm, für spitz und stumpf war vollständig gestört. Es zeigte sich ein dumpfer Schmerz im Bereich der Dornfortsätze vom zehnten Brustwirbel an abwärts. Es war der Signora völlig unmöglich aufzustehen oder ihre Beine irgendwie zu bewegen.« Professor Haßberger lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Große Aufregung. Signor Marzetti, der Gatte der Dame, war womöglich noch verstörter als sie selbst. Ein Spezialist wurde zugezogen, und zwar Professor Mainradi, Rom, ein alter Freund von mir. Ich war damals gerade auf der Durchreise in Rom, und Mainradi zog mich zu Rate. Er untersuchte die Patientin in meinem Beisein, ohne daß sich jedoch etwas Neues ergab. Wir konnten die Diagnose des Hausarztes nur bestätigen. Nun, ich will es nicht allzu spannend machen. Wir ließen die Patientin in Professor Mainradis Klinik überführen, sie wurde geröntgt, und wir waren sehr froh, als sich dabei keine Anzeichen für eine Verdrehung oder eine Luxation oder einen Bruch im Bereich der Wirbelsäule herausstellten. Daraufhin führte Mainradi eine Lumbalpunktion durch, um die Rückenmärkflüssigkeit zu untersuchen.« Professor Haßberger machte eine kleine Pause.
»Und?« fragte Angelika gespannt.
»Mainradi stach zwischen dem fünften und dem ersten Kreuzbeinwirbel ein. Es kam nur sehr wenig Liquor, nach einer halben Minute nur noch tropfenförmig. Der Liquor selber war dunkelgelb verfärbt und zeigte bei der mikroskopischen Untersuchung rote Blutkörperchen.« Professor Haßbergers Zeigefinger schoß auf Angelika zu. »Was würden Sie daraus schließen?«
Angelika brauchte eine Sekunde, um sich zu sammeln. »Nun«, sagte sie dann, »wenn beim Einstich kein Gefäß getroffen worden war …«
»Das war es nicht!«
»… dann würde ich an eine Verletzung des Rückenmarks im Lendenwirbelbereich denken.«
»Ausgezeichnet. Die Diagnose, die ich – übereinstimmend mit Mainradi – stellte, lautete: Bluterguß und Quetschung im Bereich des zwölften Brustwirbels und des fünften Lendenwirbels. Therapie: absolute Bettruhe. Wir hofften, daß durch entsprechend lange Bettruhe der Bluterguß zurückgehen und das Ödem sich auflösen würde …« Professor Haßberger zuckte die Schultern. »Leider war es nicht der Fall.«
»Signora Marzetti ist also immer noch … vom Kreuz ab … vollkommen gelähmt?« fragte Angelika.
»Nein, ganz so ist es nicht. Die Beine sind wieder lebendig geworden, lebendig, ja, aber nicht normal beweglich. Aus der schlaffen Lähmung ist eine spastische geworden.«
»Ach so«, sagte Angelika, und es fiel ihr wieder ein, was sie über Lähmungen dieser Art gelernt hatte. »Tonusvermehrung der Muskulatur, gesteigerte und abnorme Reflexe.«
»Richtig. Und genau da muß Ihre krankengymnastische Betreuung einsetzen. Die Patientin kann ihre Beine bewegen, aber nur sehr unsicher und sehr unvollkommen. Sie müssen sie lehren, ihre Nerven und Muskeln wieder in die Gewalt zu bekommen.«
»Aber ganz kann das doch nie mehr gelingen!« sagte Angelika impulsiv.
»Natürlich nicht. Tanzen und Reiten wird die Patientin nie mehr können. Sie dürfen ihr deshalb auch keine allzu großen Illusionen machen. Aber immerhin … wenn Sie es fertig bringen, daß sie ihre Beine überhaupt wieder gebrauchen kann, daß sie wieder einigermaßen gehen kann, wäre das schon ein sehr schöner Erfolg.«
»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht«, versprach sie.
»Das weiß ich. Ich kenne Sie sehr genau, mein liebes Fräulein Hoffmann … wahrscheinlich besser, als Sie sich vorstellen.« Professor Haßberger lächelte. »Ich habe Sie selten gelobt. Ich bin von jeher der Meinung gewesen, daß Lob eher den Menschen verdirbt als ihm nützt. Heute aber, zum Abschied, möchte ich es Ihnen doch einmal ausdrücklich sagen … ich habe selten eine so intelligente, gewissenhafte und geschickte Schülerin gehabt wie Sie!«
Angelika errötete. »Danke, Herr Professor.«
»Ich setze mein volles Vertrauen in Sie. Vielleicht werden Sie sich wundern, warum ich gerade Sie und nicht eine auch in der Praxis schon bewährte Kraft nach Italien schicke?«
»Ja. Das habe ich mich wirklich schon gefragt.«
»Ich werde es Ihnen erklären. Es hängt mit der Natur der Patientin zusammen. Signora Marzetti ist eine Dame … ich sagte Ihnen das schon. Sie ist äußerst beherrscht und hat es von klein auf gelernt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Aber sie ist sensibel … sehr sensibel und empfindlich. Sie erträgt keine geschäftsmäßige Freundlichkeit, keine berufsmäßige Tüchtigkeit. Das ist auch der Grund, warum Professor Mainradi in ihre Entlassung aus dem Krankenhaus und ihre Übersiedlung in ihre Villa nach Capri eingewilligt hat. Die Signora braucht eine private und ganz persönliche Betreuung. Sie sind jung, beeindruckbar, feinfühlig, Angelika. Ihr Wunsch zu helfen ist noch nicht zur Routine erstarrt. Deshalb bin ich der Meinung, daß Sie der geeignete Mensch für diese Stellung sind.«
Angelika konnte wieder nur »Danke« sagen.
Professor Haßberger stand auf. »Sie wissen, daß Sie sehr behutsam und vorsichtig vorgehen müssen … erst ganz leichte Streichmassagen, dann Unterwassermassagen … aber wozu erzähle ich Ihnen das alles? Die rein technischen Dinge haben wir im Unterricht ja oft genug durchgekaut.«
Auch Angelika war aufgestanden. »Wenn ich einen Rat brauche«, fragte sie, »darf ich mich dann an Sie wenden?«
»Aber jederzeit! Es wäre mir sogar lieb, Wenn Sie mir regelmäßig Berichte über die erzielten Fortschritte geben würden.«
»Das werde ich tun!« Angelika reichte Professor Haßberger die Hand.
»Bevor Sie abreisen, sehen wir uns sicher noch einmal«, sagte der Professor, »aber falls es nicht klappt … auf eines muß ich Sie noch mit ganz besonderem Nachdruck hinweisen. Bei der Erkrankung wie dieser spielen die seelischen Belange eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie werden das noch selber feststellen, aber ich möchte nicht, daß es Sie unerwartet trifft. Jedes seelische Mißbehagen, jede Enttäuschung, jede Art von Erregung wird sichnegativ auf das Krankheitsbild auswirken. Es wird Ihre vorehmste Aufgabe sein, für die Patientin eine möglichst harmonische und ausgeglichene Atmosphäre zu schaffen, ihr alle Störungen vom Leibe oder … besser gesagt … von der Seele zu halten.«
»Falls das in meinen Kräften steht …«
»Es wird Ihnen gelingen, wenn Sie sich nur voll dafür einsetzen. Ich verlasse mich auf Sie, Angelika!«
Als Angelika durch das Vorzimmer auf den Gang der Klinik hinaustrat, war sie noch ganz befangen von dem, was Professor Haßberger ihr erzählt hatte. Fast hatte sie darüber schon ihre eigene Enttäuschung vergessen.
Sie war so geistesabwesend, daß sie Dr. Werner Hüttenbrinck erst erkannte, als sie fast mit ihm zusammenstieß. Einen Augenblick sahen sich beide entgeistert an und wußten kein Wort zu sägen.
Der junge Assistent war es, der als erster die Sprache wiederfand. »Angelika«, sagte er, und dann noch einmal: »Angelika!« Er mußte sich räuspern. »Waren Sie beim Professor?«
»Ja.«
»Und … was haben Sie ihm gesagt?«
»Daß ich die Stellung annehme.« Sie hatte sich in der Gewalt; ihre Stimme klang ganz kühl und unbeteiligt.
»Also doch«, sagte er, und es entging ihr nicht, daß seine Augenbrauen sich schmerzlich zusammenzogen.
Um ihre Lippen zuckte ein Lächeln, von dem sie selber nicht wußte, wie bitter es wirkte. »Sie sehen, Werner, ich bin nicht unbelehrbar«, sagte sie, »ich habe Ihren Rat befolgt.«
Darauf wußte er nichts zu sagen.