Ein mögliches Leben - Hannes Köhler - E-Book

Ein mögliches Leben E-Book

Hannes Köhler

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Beschreibung

Ein junger Mann begleitet seinen Großvater auf eine Reise in die deutsche Vergangenheit, durch die sich für ihre Familie alles ändert Ein Wunsch, den Martin seinem Großvater Franz nicht abschlagen kann: eine letzte große Reise unternehmen, nach Amerika, an die Orte, die Franz seit seiner Gefangenschaft 1944 nicht mehr gesehen hat. Martin lässt sich auf dieses Abenteuer ein, obwohl er den Großvater eigentlich nur aus den bitteren Geschichten seiner Mutter kennt. Unter der sengenden texanischen Sonne, zwischen den Ruinen der Barackenlager, durch die Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit, werden in dem alten Mann die Kriegsjahre und die Zeit danach wieder lebendig. Und endlich findet er Worte für das, was sein Leben damals für immer verändert hatte. Mit jeder Erinnerung, mit jedem Gespräch kommt Martin seinem Großvater näher, und langsam beginnt er die Brüche zu begreifen, die sich durch seine Familie ziehen. Er erkennt, wie sehr die Vergangenheit auch sein Leben geprägt hat und sieht seine eigene familiäre Situation in einem neuen Licht. Ein vielschichtiger Roman über die tiefen Spuren, die der Krieg bis heute in vielen Familien hinterlassen hat.

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Das Buch

Ein Wunsch, den Martin seinem Großvater Franz nicht abschlagen kann: eine letzte große Reise unternehmen, nach Amerika, an die Orte, die Franz seit seiner Kriegsgefangenschaft 1944 nicht mehr gesehen hat. Martin lässt sich auf dieses Abenteuer ein, obwohl er den Großvater eigentlich nur aus den bitteren Geschichten seiner Mutter kennt.

Unter der sengenden texanischen Sonne, zwischen den Ruinen der Barackenlager, durch die Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit, werden in dem alten Mann die Kriegsjahre und die Zeit danach wieder lebendig. Und endlich fi ndet er Worte für das, was sein Leben damals für immer verändert hatte.

Mit jeder Erinnerung, mit jedem Gespräch kommt Martin seinem Großvater näher, und langsam beginnt er die Brüche zu begreifen, die sich durch seine Familie ziehen. Er erkennt, wie sehr die Vergangenheit auch sein Leben geprägt hat, und sieht seine eigene familiäre Situation in einem neuen Licht.

Der Autor

HANNES KÖHLER, geboren 1982 in Hamburg, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Studium der Neueren deutschen Literatur und Neueren/Neuesten Geschichte in Toulouse und Berlin. 2011 erschien sein Debütroman In Spuren (mairisch). Für den Roman Ein mögliches Leben unternahm er eine zweimonatige Recherchereise in die USA und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche.

HANNES KÖHLER

Roman

EIN MÖGLICHES LEBEN

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-1708-3

© 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenUmschlagabbildung: © Getty Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Paula

»I suppose if a man has something once,always something of it remains.«

Ernest Hemingway

PROLOG

Er gräbt die Hände in den feuchten Sand, bewegt die Finger, spürt das Reiben der Körner auf der Haut. Er hält die Beine angewinkelt und starrt auf seine Stiefel, stumpfes Leder, mit Erde verkrustet. Sein Zeigefinger berührt etwas Hartes, eine Muschel vielleicht; er tastet danach, spürt, dass es ein Stein ist, der sich bewegen lässt, er nimmt die anderen Finger zu Hilfe, sie schließen sich darum, ziehen ihn aus dem Boden. Er wischt mit dem Daumen über die glatte, schwarz glänzende Oberfläche. Er beugt den Oberkörper noch ein wenig weiter vor, öffnet die Lippen und tippt mit der Zungenspitze gegen den Stein. Salz schmeckt er, Meersalz, er schmeckt Bitterkeit und ein leichtes metallisches Prickeln. So schmeckt die Normandie, denkt er, hebt den Kopf.

Die Frontklappe eines Landungsbootes fällt in den Sand, und mit ihrem Aufklatschen ist das Stampfen der Boote in der Brandung zurück, der Geruch nach Diesel und Verbranntem, die Kommandorufe, das Röhren der Panzer, die den nassen Sand hinter sich aufspritzen lassen, wenn sie die erste Steigung am Anfang des Strandes emporfahren. In einiger Entfernung noch mehr und noch größere Boote, die Buge offen wie Münder. Soldaten marschieren, Jeeps und Lastwagen fahren daraus hervor, auf den Ladeflächen noch mehr Menschen, immer mehr runde Helme, immer mehr grüne Uniformen, immer mehr. Die Zeit marschiert im Kreis, immer wieder und wieder dieselben Bilder, mehr Stiefel im Sand, immer mehr Maschinen, so als reichten die Laderäume der Schiffe bis auf den Grund des Meeres und noch tiefer, als gäbe es kein Ende für diesen Strom aus algengrünen Meermännern.

Er schaut sich um, beobachtet die Kameraden, die neben ihm im Sand sitzen, ihre Augen aufgerissen, ihr weniges Hab und Gut zu ihren Füßen. Furcht erkennt er, Trauer. Die Stacheldrahtrollen um sie herum achtlos hingeworfen, die meisten Wächter haben sich von ihnen abgewandt, auch sie betrachten das Schauspiel am Ufer, einige begleiteten das Anlanden einzelner Boote oder Gefährte mit Pfiffen und Gelächter. Noch immer kein Ende, er sieht die nächsten Boote über die Wellen tanzen, sieht noch größere Schiffe dahinter, sieht Dampf aufsteigen, sieht die sonderbaren kleinen Zeppeline an Metallleinen über sich schweben, hört das Dröhnen der Flugzeuge aus den tiefhängenden Wolken. Ein Regen aus hauchdünnen Tropfen legt sich auf die Gesichter wie ein feines Netz. Er ballt die Faust, drückt zu, bohrt die Kante des Steins in seine Haut.

»Armes Deutschland«, sagt ein Kamerad, dessen Verband um die Stirn sich dunkel gefärbt hat. Er schüttelt den Kopf. »Armes Deutschland.«

Sie sind vielleicht hundert Mann, nach einer Nacht auf einem Feld hat man sie an den Strand marschieren lassen, die Hände an die Hinterköpfe gelegt, zu ihren Seiten die Amerikaner. An die anderen denkt Franz, an all jene, die noch draußen sind, noch nicht gefangen, die Kameraden auf der Flucht oder im Hinterland, für die der Kampf noch nicht zu Ende ist. An Essen denkt er, an Katernberg, an Haus, Mutter und Bruder. Armes Deutschland. Er sollte ein Teil der Gegenoffensive sein, ein Teil der Rettung, jetzt ist er ein Zuschauer. Er schämt sich, nicht für die Gefangenschaft, nicht für das Sitzen am Strand, sondern für die Erleichterung, das Gefühl, wieder atmen zu können, die Seeluft tief in der Lunge zu spüren. Vorbei ist das Wort, das immer wiederkehrt, und wenn er es noch so oft in seinen Gedanken zu versenken versucht, es steigt wieder auf, wie eine Flaschenpost. Was bist du für ein Soldat, was bist du für ein Deutscher. Er führt die Faust an seine Lippen, so dass seine Zunge hineingleiten kann. Der Stein prickelt an seinem Mund, und mit ihm die Hoffnung, nicht mehr kämpfen zu müssen. Er hat versucht, ein guter Soldat zu sein, er hat es versucht, aber man hat ihn kaum gelassen, hat ihm keine Zeit gegeben. Nach ein paar Wochen Ausbildung an die Front, von der er damals nicht wusste, dass sie eine Front sein würde. Normandie, Urlaub in Frankreich, die Französinnen, hat einer gesagt. Du bist ein Bergmann, denkt er, das bist du. Er schaut auf. Niemand beachtet ihn, niemand spricht, alle starren in die Brandung, auf die Boote und die Amerikaner. Er öffnet die Brusttasche der Uniformjacke und lässt den Stein hineinfallen.

Stunden vergehen, Stunden im Regen, im Wind, Stunden, in denen er wegdöst und sein Kopf auf die Knie sinkt; und wenn er hochschreckt, sind da immer noch die Boote, die Lastwagen und Soldaten, so stetig wie das Rollen der Brandung. Erst als sie am Abend den Befehl erhalten, sich zu erheben und hinunter zum Wasser zu marschieren, ist der Strom versiegt, sind die Bäuche geleert. Aber nur, und das begreift er, als er die Kameraden sieht, die von anderen Punkten des Strandes oder der Steilküste herabmarschieren, nur geleert sind die Bäuche, um jetzt ihn und all die anderen Deutschen aufzunehmen. Überall dieselben platt geregneten Frisuren, dieselben vollgesogenen Uniformen, stoppeligen Gesichter, Augen, aus denen die Verwirrung schaut.

»On board, on board«, ruft jemand, und die ersten Kameraden laufen hinein in die Brandung. Die Wellen klatschen gegen seine Beine, durchnässen die Stiefel. Er watet durch die Wellen, über die Laderampe hinauf in das kleine Landungsboot.

Das Metall der Rampe gibt einen langen, dunklen Ton von sich, als sie geschlossen wird, ein Rumpeln geht durch das Boot, es wird zurück in die See gedrückt. Gischt spritzt über ihre Köpfe. Der Steuermann, der leicht erhöht am Heck steht, navigiert sie zwischen den großen Transportern hindurch. Franz klammert sich an die Reling, er sieht schwarze Wellen, deren Spitzen ab und an in den Laderaum schwappen. Jemand erbricht sich. Vater unser, denkt Franz, Vater unser im Himmel, und kommt nicht weiter, weil ein Kamerad stürzt und ihn beinahe umreißt. Der Steuermann ruft etwas Unverständliches.

Das Licht des Tages wird vom Meer und den Wolken über ihm geschluckt, die Nacht schickt stärkeren Regen und ein Donnern, das Fliegerbomben sein mögen oder Artillerie. Oder einfach nur ein Gewitter.

Vor ihnen im Wasser die dunkle Masse der Schlachtschiffe, der Zerstörer. Als er zur Seite schaut, erkennt er Dutzende anderer Landungsboote, sieht die schemenhaften Köpfe der Kameraden, die gemeinsam mit ihm Frankreich verlassen. Sie nähern sich einem großen grauen Kasten, dessen Kanonenrohre stumm in den Himmel deuten. Er sieht eine Ankerkette, so dick wie ein ausgewachsener Mann. Eine Trillerpfeife erklingt, eine Strickleiter fällt herab. Das ist es, denkt er und schaut zurück in Richtung Küste, über der es zu blitzen begonnen hat. Jemand stößt ihn vorwärts. Er greift die Leiter und beginnt zu klettern.

I.

Als Martin erwachte, roch es nach Kaffee. Ein Kind weinte. Die Turbinen brummten gleichmäßig, eine leichte Vibration ging durch den Flieger und setzte sich durch die Lehne bis in seinen Arm fort. Seine Sitznachbarin hatte sich eine Decke der Fluggesellschaft bis zum Kinn gezogen und schlief, durch das Fenster hinter ihr sah er faserige Wolken, vom Licht der aufgehenden Sonne in Rot getaucht, darunter das Blau des Meeres, in der Ferne eine grüne Landfläche.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Der Alte stand im Gang und lächelte ihn an. Von unten sah Martin Härchen aus seiner Nase ragen.

»Geht es dir gut?«, fragte der Alte.

Martin nickte.

»Man muss laufen«, sagte sein Großvater, »ich habe das gelesen, man soll laufen wegen der Thrombose.«

Wieder nickte Martin.

»Ich habe diese Strümpfe an«, flüsterte der Alte, »da kommt man sich vor wie eine Dame für gewisse Stunden.«

Martin musste lachen.

»Du solltest auch aufstehen.«

»Werde ich, Opa. Ich muss erst mal wach werden.«

»Dann mach das mal«, sagte der Alte, »und komm mich besuchen. Ich werde noch ganz bräsig da oben.«

Als er weiterging, berührte er kurz mit der flachen Hand den Kopf seines Enkels. Martin saß regungslos in seinem Sitz, er sah den Fingern nach, die sich von seinem Kopf entfernten, sah den goldenen Ring, die Leerstelle kurz darüber, nach dem Gelenk nur dieser weiße Knubbel Narbengewebe, vor dem er sich als Kind so gefürchtet hatte. Diese Angst, ihm könnten Teile seines eigenen Körpers abfallen, wenn er den halben Finger an der rechten Hand seines Großvaters berührte.

»Und ich leg meine Hand auf die Hauswand … und: Pamm, da hatten die Amis mir den Finger abgeschossen.«

Und zum Beweis hatte er immer die Hand emporgereckt, mit dem Stummel gewackelt und gelacht. Und der kleine Martin hatte ängstlich den Finger betrachtet, von dem er glaubte, er habe ein Eigenleben. Dass er den Ring nicht einfach am anderen Finger trug oder an der linken Hand. Wie eine Auszeichnung den Ehering ausgerechnet an diesem Stumpen zu tragen.

»Ach, der Finger«, hatte seine Mutter gesagt. »Da hab ich so viele Varianten gehört: ein Feuergefecht in Frankreich, ein Arbeitsunfall im Lager.«

»Und was glaubst du?«, hatte er gefragt.

»Dem glaube ich schon lange nichts mehr«, hatte sie geantwortet.

Martin schaute auf den Bildschirm in der Rückenlehne vor sich, betrachtete den kleinen weißen Flieger, der eine Linie hinter sich herzog, das Blau des Atlantiks schon fast überquert hatte und jetzt über dem großen Fischmaul des Sankt-Lorenz-Stroms schwebte. Martin sah die Geschwindigkeitsanzeige und rechnete nach: zweihundert Meter, jede Sekunde. Zweihundert Meter weiter weg, zweihundert Meter mehr nur er und der Alte, nur er und dieser Kontinent, nur er und die Geschichten von verlorenen Fingern und dem verlorenen Krieg.

Am Flughafen war seine Mutter völlig aufgedreht gewesen, sie war pausenlos hin und her gelaufen, hatte sich ständig geräuspert, gehustet, sie hatte ihn beiseitegenommen und ihm gesagt, er solle gut achtgeben auf seinen Großvater, auf seinen Schlaf, seine Medikamente, seine Ernährung. Und Martin hatte zum Alten geschaut, der ein wenig abseits bei ihren Koffern stand, sehr ruhig. Der Blick ein wenig trübe, wolkig, hatte Martin gedacht. Sein Großvater trug einen Anzug, hatte sich schick gemacht für die Reise, er sah elegant aus und gerade, sehr gerade. Martin dagegen fand sich krumm, verwachsen, ungepflegt in seiner Jeans und dem weiten, ungebügelten Hemd. Klein war das Wort, er hatte sich klein gefühlt, obwohl er den Alten beinahe um einen Kopf überragte.

»Dass er nicht übermütig wird«, hatte Barbara gesagt, und Martin hatte seine Mutter angelächelt und den Kopf geschüttelt. Wie mit Kindern sprach sie mit ihnen. Mit Martin immer noch und mit dem Alten jetzt erst. Das war es, was einen erwartete, dachte er, nur dass sie sich nicht traute, es ihrem Vater direkt zu sagen. Er versuchte, sich Judith vorzustellen, als erwachsene Frau, in vierzig oder fünfzig Jahren, die ihm Vorschriften machte, die versuchte, ihm eine Reise mit seinem Enkel zu verbieten. Er schaffte den Sprung nicht, schaffte es in den Kindergarten, in die Grundschule, konnte sich seine Tochter als kleines Mädchen vorstellen, aber weiter reichte seine Phantasie nicht, nicht zu einer Frau, nicht zu einer Mutter.

Er beugte sich vor, tippte auf dem Bildschirm herum, gelangte in ein Menü, suchte nach einem Film, las einige Beschreibungen, ließ es bleiben. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, spürte den Luftstrom der Düse auf seiner Stirn. Nur du und dein uralter Großvater, dachte er, was für eine Dummheit. Ein gigantischer Doppelstockbus in der Atmosphäre, Tausende Kilometer, die schon hinter dir und noch vor dir liegen. Er glaubte, sich von oben auf den Scheitel schauen zu können, der am Hinterkopf ein wenig weiter wurde. Schau an, dachte er, auch das noch. Was willst du denn, flüsterte er sich selbst ins Ohr, du hast es doch so gewollt.

Mit Regen hatte es begonnen, mit Regen, der gegen die Schräge des Dachfensters getrommelt hatte. Oder, dachte er, nicht begonnen, nicht begonnen an diesem Tag, aber sich entschieden. Es hatte sich mit dem Regen entschieden, mit diesem Morgen, an dem er aus dem Bett hinaus ins Grau des Himmels geschaut hatte, in dieses Hauptstadtgrau, in dem kein Frühling wartete, kein Garnichts. Er hatte das Kissen an die Wand geschoben und sich aufgesetzt, hatte ein leichtes Pochen verspürt, einen Druck im Magen. Nichts, was wirklich den Namen Kater verdient hätte, eher ein unangenehmes Gefühl. Damit hatte es zu tun gehabt. Und mit dem Brief, der am Vortag gekommen war, mit der Kündigung, eine Kündigung ohne Überraschung. Er kannte das sommerliche Spiel: Der Brief im Mai, irgendein Standardschrieb, den die Schulleiter wahrscheinlich vorgefertigt in ihren Schubladen hatten und an Leute wie ihn verschickten:

Bedauern wir sehr, keine Verlängerung des, wünschen Ihnen für Ihre weitere. Dann Neuanstellung Ende August, an derselben Schule, wenn möglich, an einer anderen, wenn ein weiterer Vertrag die Entfristung bedeutet hätte. Freuen wir uns sehr, Ihnen, hoffen, dass Sie, tolles Team, an unserer bunten und kreativen. Er hatte gewusst, dass dieser Brief kommen würde, dass sie ihn wieder haben wollten im August, nur eben nicht genug haben wollten, um ihm die Ferien zu bezahlen.

Also würde er trotz dieses Briefes vor der Klasse stehen, der 7a, würde unterrichten: Past tenses and their use. Würde auf die nächste Klassenarbeit vorbereiten, Kinder anlächeln, kurz vor der Pubertät oder schon mitten darin, zwergenhafte Jungen und Mädchen, deren Oberteile sich zu wölben begannen. Eine anstrengende Klasse, zu viele dumme Kinder, zu viele vorlaute, zu wenige Hoffnungsschimmer, zu schlechte Aussprache, zu wenig Interesse. Und immer Grammatik. Wieder und wieder. Wie hätte er ihnen verübeln können, dass sie gelangweilt waren. Und trotzdem: Ärger, dass sich niemand für ihn einsetzte, dass man seine Stunden nahm, sein Engagement, English Film Club, unbezahlte Extrastunden, die, wenn er ehrlich war, das Schönste an der ganzen Sache waren, dass man all das nahm, aber niemand sagte: Der ist gut, dem geben wir jetzt einen richtigen Vertrag, einen echten.

Er hatte zum Schreibtisch geschaut, die Rotweinflasche neben dem Laptop fast leer, das Blinken an der Vorderseite des Rechners verriet ihm, dass er das Gerät nicht ausgeschaltet hatte, einfach mit dem Stuhl herübergerollt und ins Bett gekrochen war. Ein stetiges Pochen hinter der Stirn, vielleicht doch ein Kater, aber ein kleiner nur.

Einen kurzen Moment versuchte Martin, sich einzureden, dass es dieser Kater gewesen war, dass alles daran gelegen hatte. Aber vor allem, dachte er, war es die Erinnerung an den Tag zuvor gewesen, an den Samstag mit Judith, an das Spielen, das Herumrobben auf dem Boden, das Grimassenschneiden. Wie sie sich festhielt, auf ihren wackeligen, speckigen Beinen, wie sie schaute und wie er alles wiederholen musste, immer und immer wieder, Hände vorm Gesicht, Hände weg, Hände vorm Gesicht, Hände weg. Ihr Laufen ein stetiges Vorwärtsfallen, ein Stürzen, das irgendwann auf dem Boden enden musste. Und als es dann passierte: Quaken und Flennen, als ginge die Welt unter. Und er hatte lachen müssen, die Kleine im Arm gehalten und lachen müssen über die Tränen seiner Tochter. Was zum Teufel ist mit dir los, hatte er gedacht, aber dann hatte sie aufgehört zu weinen und mitgelacht, hatte ihn angestrahlt und gegluckst und gekichert. Ein paar Augenblicke lang war sein Kopf leer gewesen, nur Lachen, sonst nichts.

Ein paar Stunden später hatte er vor Lauras Tür gestanden, die Kleine auf dem Arm, ihre Tasche neben sich auf dem Fußboden. Er war zu spät gewesen und hatte erwartet, dass Laura einen Kommentar machen würde, aber sie hatte ihn nur hereingewunken, hatte ihm die schlafende Judith nicht abgenommen, sondern war vorangegangen und hatte ihm zugeschaut, wie er seine Tochter in ihr Bett legte. Eine Weile hatten sie beide schweigend im Zimmer gestanden und ihr beim Schlafen zugeschaut.

Danach hatten sie im Flur gestanden und geredet, er wusste nicht mehr, über was, er hatte über ihre Schulter hinweg die offene Tür des Wohnzimmers gesehen, ein Weinglas auf dem Tisch beim Sofa, er hatte nicht erkennen können, ob es das einzige Glas auf dem Tisch war. Er hatte sich gefragt, wann er das letzte Mal dort gesessen hatte. Vielleicht bei Judiths erstem Geburtstag, inmitten kreischender Kinder und anderer Eltern. Du hast nie wirklich dort gesessen, sagte er sich, warst immer nur zu Gast.

»Alles okay?«, hatte sie gefragt, und er hatte genickt und sich verabschiedet.

»Danke dir«, hatte sie gesagt und ihm auf die Schulter geklopft.

Er ließ sich von der Stewardess einen Kaffee geben und ein kaltes Croissant. Das war es gewesen, dachte er, dieses Schulterklopfen, der Tag mit der Tochter und als Dank dieses aufmunternde Klopfen, der Weg nach Hause mit dem Fahrrad im Regen, der Wein, die kurze Nacht, der Brief und der Kater. Das war die Vorbereitung gewesen für den Moment, in dem er sich den Laptop ins Bett geholt, das Postfach geöffnet und die Nachricht gelesen hatte. »Re: Aw: Re: Viele Grüße aus Essen« im Betreff, dazu die Adresse: [email protected]. Er scrollte durch die ersten Nachrichten des Alten, die er vor zwei Wochen im Spam-Ordner entdeckt hatte, zwischen »Hi luv!«, »Potenzpillen, jetzt!!« und der Aufforderung, jemandem bei der Auszahlung seines Erbes behilflich zu sein. Er überflog die Sätze über den neuen PC, den Martins Cousin eingerichtet hatte, über die ersten Versuche mit dem Internet und die Faszination, die es im Alten ausgelöst hatte. Martin hatte sich damals die langen, dünnen Finger seines Großvaters auf der Tastatur eines Rechners vorgestellt, den abgespreizten, im Rhythmus der Anschläge wippenden Ringfingerstumpf.

Er sah ihn durch die Reihen auf der anderen Seite des Fliegers zurückkommen, er winkte, bevor er wieder die Treppe in die Businessclass emporstieg.

Mit jeder weiteren Nachricht, die der Alte aus dem Ruhrgebiet an seinen Enkel geschickt hatte, war diese Distanz zwischen ihnen geschrumpft, die sich sonst in Händeschütteln, einem Rückenklopfen oder ein, zwei ungelenken Sätzen über das Studium oder die Arbeit geäußert hatte.

Sätze über Einsamkeit hatten sich in die Belanglosigkeit gemischt, Sätze über Trauer und über das Fehlen der verstorbenen Frau. »Ich wache auf und rede mit ihr«, hatte der Alte geschrieben, »obwohl sie schon seit Wochen nicht mehr auf der anderen Seite des Bettes liegt.«

Martin hatte das Kopfkissen gegen die Wand gestellt und sich dagegengelehnt, hatte an die dunkle Kirche gedacht und den Sarg der Großmutter, die vielen Menschen in Schwarz, die vielen kalten Hände, die er an diesem Tag hatte schütteln müssen.

Und in der folgenden Nachricht hatte dieser Satz gestanden: »Ich habe die Lager gefunden.« Martin hatte sich dunkel erinnert an Geschichten aus der Gefangenschaft, Anekdoten über Fußballspiele und den Englischkurs, die auf Familienfeiern immer für einen Lacher gut gewesen waren. »Ich habe mit einer Frau geschrieben, die ein Museum betreibt in Texas, an der Stelle, wo früher unser Lager war.« Und darunter ein Link, der ihn auf eine Seite führte, auf der eine graue Baracke zu sehen war, ein gedrungen wirkender, achteckiger Wachturm, dazu viele Aufnahmen in Schwarzweiß.

Texas, hatte Martin gedacht und den Namen des Ortes gesucht, die Karte geöffnet, nur um auf einem grauen Fleck im Nirgendwo zu landen. Er musste herauszoomen, dann noch mal und noch mal, um San Antonio zu sehen, Austin und Houston.

»Es gibt noch ehemalige Wächter dort«, hatte der Alte geschrieben, »die sich regelmäßig treffen. Ab und an kommt ein Deutscher dazu, so wie ich. Das ist sicher eine Dummheit, denkst du nicht? Dieser Wunsch, dort noch einmal zu stehen, noch einmal zu prüfen, ob Texas so riecht, wie ich mich daran erinnere. Ob der Boden die richtige Farbe hat. Und die Männer zu sehen, die damals auf der anderen Seite des Zauns gestanden haben. Fernweh. Das hatte ich fast vergessen.«

Martin hatte auf den Monitor gestarrt, er hatte mit den Fingernägeln auf der Freifläche unterhalb der Tastatur getrommelt, dann auf »Antworten« geklickt.

Der Kater, dachte er, während er sich abschnallte und aufstand. Judith und Laura, die Schule, die Kündigung, dachte er, während er die Treppe in die Businessklasse hinaufstieg, einfach alles. »Dann lass uns hinfliegen«, hatte er geschrieben und die E-Mail abgeschickt. Wegen dieser E-Mail würde er jetzt wochenlang auf diesen Mann achtgeben müssen, der fast neunzig war und über dessen Gesundheitszustand er eigentlich nichts wusste. Vielleicht hättest du es stoppen können, vielleicht. Aber nur wenige Minuten später war wieder eine Nachricht in seinem Postfach erschienen: »Ich rufe Dich an!« Und beinahe im selben Moment hatte sein Handy gesummt, sein Kopf gesummt, der Alte, seine Stimme. Wie stoppt man den Enthusiasmus eines so alten Menschen?

»Da bin ich«, sagte er, und der Alte schaute von seinen Papieren auf und lächelte ihn an. Seine Lesebrille saß sehr weit unten auf der Nase. Martin ging in die Hocke.

»Was liest du?«

Er stützte sich auf die Lehne des großen Sitzes. Er roch den Alten, roch Rasierwasser und einen herben Duft, der etwas von trockener Erde hatte. In seinem Rücken dezentes Licht und das rhythmische Klackern von Fingern auf Tastaturen. Der Alte reichte ihm ein Blatt Papier. »RMS Mauretania (Schiff, 1939)«, stand oben auf dem Ausdruck, darunter einige Informationen, ein Index. Vorkriegszeit, Nachkriegszeit, las er.

»Unser Kreuzfahrtschiff«, sagte der Alte. »Oben die verletzten Amis und unten wir. Ich weiß nicht mehr, wo wir damals in England gelandet sind. Ich hab mich das oft gefragt. Eine kleine Stadt war das, an der Südküste. Von da ging es mit dem Zug nach Glasgow. Da lag sie. Mauretania. Mein erster Dampfer.«

»Wie war der Swimmingpool?«, fragte Martin.

»Topp«, sagte der Alte, »und das Büfett erst.«

Martin überflog den Text, reichte ihn dem Alten zurück.

»Die Maschinen«, sagte der Alte, »ich kannte ja das Dröhnen von Bohrern unter Tage, Lärm und Hitze. Aber dieser hämmernde, hektische Rhythmus. Das Zischen des Dampfs. Ich glaube, ich habe den ersten Tag nur gelauscht, den Kopf an der Wand des Lagerraums. Und dann ging es auf und ab in die Wellen. Wir haben einen Sturm erwischt, das sag ich dir. Das Metall hat gesungen wie ein Wal. Das sind so Sachen …«

Er tippte sich an die Stirn.

»Eingebrannt, auch wenn mir die Rübe weich wird, irgendwann. Das ist drin. Die Leute haben gekotzt und gebetet. Und sich festgeklammert, damit sie nicht durch den Laderaum rutschen. Tagelang konnten wir nicht an Deck. Alles kotzte und jammerte. Und alles stank.«

Was hast du erwartet, dachte Martin.

»Ich kannte ja Dunkelheit, eingesperrt sein, das war ja nichts Neues für mich. Bin zweimal verschüttet worden in den zwei Jahren, bevor sie mich gezogen haben. Hitze, Schwärze, all das. Aber die Erde, den Stollen, das kannte ich. Diese Kiste im Wasser. Wie soll man das aushalten, als Bergmann. Auch ein Bergmann braucht mal die Sonne.«

»Sie können hier nicht sitzen«, sagte die Stewardess. Sie stand hinter Martin im Gang und balancierte ein Tablett auf der Hand. »Dieser Bereich ist für Businesskunden reserviert.«

»Aber Fräulein«, sagte der Alte und lächelte, »Sie wollen einem alten Mann doch nicht den Enkel ausspannen!«

Sie blieb stehen, musterte die beiden.

»Ich wollte ihm das Ticket ja bezahlen, aber der junge Herr hat seinen Stolz.«

Was er zu sagen vergaß, war, dass der Stolz nur so weit gereicht hatte, um die Business abzulehnen, nicht aber das normale Ticket. Die Frau lächelte.

»Aber nur ein paar Minuten. Und wenn sich andere Gäste beschweren, müssen Sie auf Ihren Platz zurück.«

»Natürlich«, sagte Martin. Sein Großvater sah der Frau nach, er musterte ganz offensichtlich ihren Hintern. Anschließend beugte er sich vor, um aus seinem Rucksack eine Mappe hervorzuholen, sie zu öffnen und in einigen Papieren zu blättern. Martin sah den halben Ringfinger, war einen Moment versucht, danach zu fragen, ließ es aber.

»Ich hab ein paar Kopien mit«, sagte der Alte, »ein bisschen mehr Info als in den Büchern. Primärquellen, sozusagen. Hast du das Prisoners of War-Buch von Krammer gelesen?«

»Fast fertig«, log Martin. Aber immerhin, dachte er, immerhin die ersten paar Kapitel, immerhin kannte er die Zahlen, die ihm absurd hoch erschienen waren, immerhin hatte er gelesen von den Truppentransportern, die Amerikaner nach Europa brachten und Deutsche zurück, hatte die Fotos gesehen der Deutschen bei der Erstregistrierung, bei der Entlausung, die traurigen Gesichter bei der Einschiffung, die in den Nacken gelegten Köpfe der Männer, die zum Fotografen hinaufschauten, in der zusammengepressten Menge an Deck. Er hatte tatsächlich nach seinem Großvater gesucht, viele skeptische Blicke gefunden, aber auch viele lächelnde Männer. Es hatte ihn berührt, diese Gesichter zu sehen und sich vorzustellen, wie der Alte dort an Deck stand und über das Meer schaute.

Martin setzte sich und nickte seiner Sitznachbarin zu, die aufgewacht war und frühstückte. Sie hatte ihre Decke auf den freien Mittelsitz gelegt, und er legte die Blätter darauf ab, während er sich anschnallte und seinen Tisch ausklappte. Die Frau lächelte, ließ kurz einen Blick über die Papiere gleiten und widmete sich wieder ihrem Kaffee.

Prisoner of War Postcard, stand auf dem obersten Blatt, das er jetzt auf den Klapptisch legte, darunter die deutsche Übersetzung, links die Information Do not write here!, über die ein großer Stempel mit den Worten Passed By US Army Examiner gedruckt war. Oben der Name seines Großvaters, dahinter eine Nummer, vermutlich seine Registrierung, die Absenderadresse: German POW Camp, Co # 4, Texas ASF Camp Hearne/TX, USA. Und rechts unten im Adressfeld: Hannelore SCHNEIDER, Essen-Katernberg, Viktoriastr. 100, GERMANY. Er nahm die Kopie der Rückseite, blickte auf die krakelige altdeutsche Schrift des Alten, oben rechts das Datum, 5. August 1944.

Liebe Mutter, stand dort, endlich finde ich, glaubte er zu lesen, war sich aber nicht sicher, er überflog den Text und konnte kaum etwas entziffern, Star Sprengled Banner, entdeckte er weiter unten. Dann wieder Haken, Zacken, Kurven, die sich ihm nicht erschlossen. Er würde den Alten fragen müssen, vielleicht würde er ihm vorlesen. Die zweite Kopie zeigte eine Zeichnung: feine Bleistiftschraffuren, die Vorderseiten einiger länglicher Baracken, geöffnete Türen, vor den Gebäuden kleine Brücken, die einen Kanal überspannten, vermutlich einen Entwässerungsgraben, die Andeutungen einiger Pflanzen und im Hintergrund die Aussichtsplattform eines Wachturms, darüber das Dach, auf dem sich ein Scheinwerfer befand. Martin fragte sich, ob sein Großvater diese Zeichnung selbst angefertigt hatte oder ob sie das Geschenk eines Mitgefangenen gewesen war. Er hatte den Alten nie zeichnen sehen, aber was hieß das schon. Auf dem nächsten Blatt der Ausdruck eines Fotos, das einige Männer in hellen, weiten Stoffhosen und kurzärmeligen Hemden zeigte, die Armeekappen auf den Köpfen, hockend oder stehend, mit ernsten Gesichtern vor einem schwarzen Holzgebäude, von dem nicht viel mehr zu erkennen war als zwei Fenster und die Stufen zu einer geöffneten Tür. Sep ’44, stand unten rechts, mehr nicht. Er erkannte seinen Großvater erst auf den zweiten Blick; einen jungen Mann mit hellen Haaren, die an den Seiten kurzrasiert waren. Er stand hinter einem hockenden Mann, dem er die Hände auf die Schultern gelegt hatte. Die Aufnahme erinnerte ihn an das Foto einer Sportmannschaft, er dachte an die eigenen Bilder, aufgenommen von Barbara auf den Ascheplätzen in Bremen, die ernsten Gesichter der Kinder, von denen er eines war. Auch er hatte seine Mannschaftskameraden allesamt aus den Augen verloren, so wie der Alte, der nie auf einer Geburtstagfeier jemanden als Freund aus den USA vorgestellt hatte. Er betrachtete die Gesichter. Alle verloren, dachte er. Es gab diese paar Geschichten von der Hitze und dem Fußballspielen, vom Lastwagenführerschein und irgendeinem Wächter, der betrunken eingeschlafen war, Erzählungen ohne einen rechten Raum, ohne Anknüpfungspunkte. Er bemerkte eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Alten, eine sehr deutliche Verwandtschaft in Gesicht und Haltung, die ihn überraschte.

Einer Eingebung folgend, hob er die Kopie nah vor die Augen und betrachtete die Hände des jungen Mannes, der sein Großvater war. Acht, zählte er. Die Daumen verdeckt, aber auf den Schultern des hockenden Mannes acht Finger. Von wegen Schusswunde, dachte er, und dass er danach fragen musste.

Er blätterte weiter, fand noch ein paar Fotos, auf denen weder sein Großvater noch der andere Mann zu sehen waren, fand mehr der Postkarten, die für ihn unleserlich blieben, einige an die Mutter, einige an einen Josef Schneider adressiert. Das musste der Bruder sein, dachte Martin, denn wenn er die Familienchronik richtig im Kopf hatte, war sein Urgroßvater schon kurz nach Ausbruch des Krieges gestorben.

Fast schon tragisch, hatte Barbara es genannt. So ein richtig Hundertprozentiger zu sein und dann abzunippeln, bevor der Führer in seinem großen Krieg so richtig loslegen konnte. Sie hatte den Kopf geschüttelt und gelacht. Er fragte sich, ob sie diesen Kommentar im Beisein des Alten gemacht hatte, bezweifelte es aber. Seine Mutter lachte wenig im Beisein ihres Vaters.

»Der konnte das wirklich«, sagte der Alte und reichte ihm die Kopie der Zeichnung zurück. Nur eine halbe Stunde hatte Martin lesen können, dann war sein Großvater wieder an seinem Sitz erschienen. Er fühle sich sonderbar da oben, hatte er gesagt, woraufhin Martin auf den Mittelsitz gerutscht war und Franz sich auf dem Gangplatz niedergelassen hatte. Jetzt tippte er mit dem Zeigefinger auf das Blatt Papier. »Hat er mir einfach geschenkt, ohne viel Aufhebens zu machen. Hab vorher gar nicht gewusst, dass er das konnte.«

Martin stieß mit dem Ellenbogen gegen den Arm der Nachbarin am Fenster und entschuldigte sich. Die Frau warf ihm einen nicht definierbaren Blick zu, rückte ihre Kopfhörer zurecht und lehnte sich wieder gegen die Wand.

»Kanntest du den aus der Ausbildung?«, fragte Martin. Der Alte schüttelte den Kopf.

»An Bord. Hab ihn am Schlafittchen gepackt, als der Sturm tobte. Wäre sonst gegen einen Pfeiler geschleudert worden. Hat mir dafür Extrarationen bei den Wärtern besorgt, als sich der Sturm gelegt hatte. Da konnten wir alle unsere Mägen gar nicht schnell genug wieder füllen.«

»Der konnte Englisch?«

»Der war Amerikaner.«

»Was?«

Franz lächelte.

»Nicht nur. Paul war beides. Deutscher und Ami. Eltern aus Ostfriesland, Ende der Zwanziger sind die rüber. Wirtschaftskrise. Er hat keine Erinnerungen an seine Heimat, hat er gesagt. Ein amerikanischer Teenager. Aber dann ist er doch wieder rüber, Ende der Dreißiger. Für den Führer.«

Der Alte zog eine Grimasse, schaute eine Weile auf den Bildschirm in der Sitzwand.

»Das gab es?«, fragte Martin. »Amerikaner, die für die Wehrmacht gekämpft haben?«

»Na ja, den einen. Den kannte ich. Bestimmt gab’s noch ein paar mehr. Er hat von Freunden erzählt, die mit ihm gekommen sind. Sind zusammen zu Veranstaltungen gegangen, die der Amerikadeutsche Bund gemacht hat. Die haben ein paar tausend Leute versammelt im Madison Square Garden. Man glaubt das kaum, wenn man sich die Fotos anschaut. Hakenkreuz, Blasmusik und Führerbilder neben Gemälden von George Washington.«

»Und er ist dortgeblieben, in den USA?«

»Ja«, sagte der Alte.

»Keinen Kontakt mehr?«

Der Alte schaute auf seinen Ehering.

»Er ist mir abhandengekommen, sozusagen.«

Der Erste Offizier meldete sich und kündigte den Landeanflug auf Houston an. Alle Passagiere wurden gebeten, sich auf ihre Sitze zu begeben.

»Danach wollte ich dich eigentlich gar nicht fragen«, sagte er zu seinem Großvater, der sich schon abschnallte, »sondern nach deiner Ankunft in New York.«

Der Alte lachte.

»Ja, New York, die Statue, das war was. Ein andermal.«

»Look into the camera!«, sagte ein kleiner Mann in beiger Uniform. Martin drehte den Kopf, entdeckte die Webcam, ein rundes Plastikmodell; er schaute hinein, wartete auf ein Geräusch oder irgendetwas, aber nichts passierte.

»Okay«, sagte der Officer.

Der Alte wurde ebenfalls fotografiert, bekam ebenfalls seinen Stempel. Sie wurden durchgewinkt, liefen unter einem Schild hindurch: »Welcome to George Bush Intercontinental – Welcome to the Lone Star State«. Sie folgten dem Strom der Menschen durch die hellen Hallen des Flughafens, durch Duftwolken von Parfum, Frittierfett und Zucker, folgten den Schildern zum »TerminaLink«. Martin überprüfte das Gate des Anschlussfluges an jedem Monitor, den sie passierten. Der Alte dagegen wirkte ruhig, er war ganz Schauen und Staunen, er drehte den Kopf hierhin und dorthin, blieb stehen vor Schildern oder Ladenzeilen. Martin wartete, bis der Alte ihm wieder folgte, er lief voran. Die großen Fliesen in den Gängen glänzten, spiegelten das Licht, spiegelten auch ihn, der er darüberlief, er sah die eigenen Schemen, einen glänzenden, undeutlichen Martin. Wie auf Wasser zu laufen, so fühlte es sich an.

Um sie herum großgewachsene Menschen mit rosigen Gesichtern, Cowboyhüte, tatsächlich Cowboyhüte, wohin man schaute, Stiefel mit Absätzen, nur die Sporen fehlten, dazwischen viele Latinos. Er schwamm durch die Menge, dann die Rolltreppe aufwärts, ein Eintauchen in Tageslicht, Sonne, ein hellblauer Himmel, rundherum Glas, die Bahnstation wie ein Terrarium, aus dem sie in die Neue Welt schauten, in seinem Rücken die silbrig glänzende Außenhülle des Terminals, vor ihnen das Flugfeld, auf dem sich winzige Flieger und Menschen bewegten.

Das ist jetzt diese Reise, dachte Martin, die du im Studium nie gemacht hast, nicht davor und nicht danach. Kein China, Japan oder Indien, kein Afrika. Keine Blogs, keine Rundmails, keine Fotoalben auf Facebook. Ein Erasmus in Kopenhagen, ein halbes Jahr, was kaum als Exotik durchging. Ein Studium und eine Wohnung mit Anne, ein Plan, bis es keine Anne mehr gab und keinen Plan, bis es nur noch Sitzen gab und Starren und Arbeiten und dann plötzlich, gegen alle Wahrscheinlichkeit, diesen kurzen Moment Laura, aus dem Judith entsprungen war.

Der Zug fuhr ein: zwei kleine, klobige Waggons ohne Fahrer, deren Türen sich geräuschlos öffneten.

»Opa«, rief Martin, aber der Alte hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und stieg ein. Martin folgte ihm. Trotz zischender Klimaanlage war es im Zug unerträglich heiß. Martin spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinablief. Der Alte lächelte, deutete hinaus auf die Startbahn, von der sich eine 747 gerade in den Himmel erhob. Die Waggons glitten langsam über die Schienen.

»Heiß wie damals«, sagte der Alte, »bei der Ankunft.«

»Und da gab es nicht mal Klimaanlagen«, sagte Martin.

»Aber feuchte Lappen«, sagte der Alte.

Martin lehnte sich an die Scheibe, drückte seine Stirn dagegen, aber das Glas war warm, er spürte, wie seine Haut daran kleben blieb. Ob Judith ihn vermisste, fragte er sich, ob sie sich überhaupt bewusst war, dass er fehlte.

»Warum jetzt?«, hatte Laura gefragt. Er auf dem Sofa neben ihr, eine Bierflasche zwischen beiden Händen.

»Weil der Alte reisen will und es jetzt noch kann.«

»Und du?«

»Schulsommerpause. Und gekündigt bin ich sowieso wieder.«

Sie hatte geseufzt.

»Ist das so eine Selbstmitleidsnummer?«

»Was soll das mit Selbstmitleid zu tun haben?«

»Flucht vor der Arbeit, der Unzufriedenheit, ab in die Neue Welt, unbegrenzte Möglichkeiten und so Zeug.«

»Ach, hör doch auf, so ein Quatsch!«

Sie hatte einen Schluck von ihrem Bier getrunken. Manchmal fragte er sich, was sie sich eigentlich angetan hatten. Oder ob es der Mangel des Antuns war, ob es gerade die Ruhe und die Gelassenheit war, mit der sie von Anfang an alles geregelt hatten, ob gerade das sie beide manchmal so wütend machte.

Sie hatte gesagt, dass das nicht gerade ihr Traum sei, den ganzen Sommer mit Judith allein zu verbringen. Und er hatte gesagt, dass es vier Wochen seien, wenn überhaupt, dass es für seinen Großvater vielleicht die letzte Chance sei.

»Ich will das machen, bevor er tot ist«, hatte er gesagt. »Aber ich will dein Okay. Ich will das nicht gegen dich machen.«

Sie hatte ihn eine Weile über die angezogenen Knie hinweg gemustert. Er hatte sich gewünscht, sie gut genug zu kennen, um ihren Blick deuten zu können.

»Na gut«, hatte sie schließlich gesagt, »ich kann wohl schlecht nein sagen nach dieser Ansprache. Aber den Rest des Jahres nimmst du sie jedes Mal ohne Widerrede, wenn ich ausgehen will.«

»Mach ich doch immer«, hatte er gesagt.

Der Zug hielt im Terminal C, sie stiegen aus, folgten den Ausschilderungen zu ihrem Gate, setzten sich zwischen die wenigen anderen Fluggäste und schauten hinaus.

»Fühlt sich sonderbar an«, sagte der Alte, »so angekommen, ohne anzukommen. Wir sollten rausgehen, einmal den Boden anfassen.«

»Wie der Papst«, sagte Martin. Der Alte lachte.

Du willst einen Stein klauen aus dem Kiesbett vor dem Terminal, dachte Martin, für die Sammlung im Arbeitszimmer, diese zahllosen Brocken, teilweise grau und stumpf, teilweise rot, schwarz, blau und glitzernd, in einer Vitrine auf Tücher oder Kissen gebettet. Als Junge hatte er geglaubt, dass sein Opa Edelsteine sammle, hatte sich die unermesslichen Reichtümer vorgestellt, die dort lagerten, sich Geschichten von Schätzen und Piraten ausgemalt. Aber eines Tages hatte ihn seine Großmutter im Arbeitszimmer erwischt, wie er sich die Nase an der Scheibe platt drückte.

»Mach dir keine Hoffnung!«, hatte sie gesagt. »Die sind absolut wertlos.«

»Als wir damals ankamen«, sagte der Alte, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und beugte sich vor, um sich die Fußgelenke zu massieren, »da ging es fast augenblicklich weiter. Wir wollten schauen, glotzen. Ich meine New York, stell dir das mal vor, wir ganzen Kappesköppe da, die wir nix kannten außer Deutschland oder vielleicht noch Russland und Frankreich, wir sind doch halb blöde geworden vor Neugier. Aber sie haben uns vom Schiff nur einen schmalen Steg hinabgescheucht, über Bahnschienen und zwischen Lagerhallen hindurch. Da waren überall Soldaten mit Gewehren, sogar auf den Dächern der Waggons, dann gab’s Kontrollen in Zelten, während all unsere Kleidung und unsere Habseligkeiten desinfiziert wurden. Papiere und Registrierung in Unterhosen. Gelacht haben wir, wie ein Schulausflug war das. Aber völlig unwirklich, völlig fremd. Trotzdem war es echter damals. Sehen konnten wir nichts. Doch man konnte die Stadt zumindest riechen, die Kohle, den Diesel, den Fisch, man konnte Türen anfassen, Eisen; man stand auf dem Boden, das erste Mal wirklich auf amerikanischem Boden. Das hier«, sagte er und legte den Kopf in den Nacken, »ist Beton und Glas wie überall.«

»Aber mit Cowboys«, sagte Martin.

»Aber mit Cowboys«, wiederholte der Alte.

Martin betrachtete seinen Großvater, sah das feuchte Glänzen in den weißen Haaren, die von der hohen, mit Altersflecken übersäten Stirn glatt bis in den Nacken gekämmt waren. Seine Stirn warf tiefe Falten, die buschigen Augenbrauen senkten sich über das schmale Gesicht, als er sagte, er denke darüber nach, sich auch so einen Hut zu kaufen. Wenn es ihm zu viel ist, dachte Martin, wenn es ihn überanstrengt, überspielt er es blendend. Und er fängt an zu erzählen, dachte Martin und schaute auf die Hand des Alten mit dem Ring, die auf dem wippenden Knie lag. Warte noch ein bisschen mit dem Fragen, dachte er. Er zog sein Handy hervor, tippte eine Nachricht, versendete dieselbe Mitteilung fünf Mal. Laura schrieb ihm direkt zurück.

»ich erzähle vom papa auf abenteuer.«

»Barbara?«, fragte der Alte.

»Laura«, sagte Martin.

Der Alte nickte und schaute schweigend aus dem Fenster. Wie das für jemanden wie ihn sein muss, ein Enkel ohne Frau, aber mit Kind, ein Dummkopf, der nicht richtig verhüten konnte. Und andererseits, dachte er, hatte es das damals bestimmt andauernd gegeben.

»Ich bin schwanger«, hatte sie ihm gesagt, kaum dass er sich hingesetzt hatte. Er hatte die Speisekarte aufgeklappt und angestrengt auf die Teesorten gestarrt. »Und ich möchte es behalten.«

Wer ist das, hatte er gedacht, wer ist diese Frau mit dem strengen Gesicht, was hat sie mit der Frau zu tun, mit der ich vor ein paar Wochen geschlafen habe? Wo sind die offenen Haare, wo ist das Lachen, wo sind die Brüste, der Arsch, wo ist der Schweiß, wo die Nacht und der Morgen und der halbe darauffolgende Tag? Er hatte aufgeschaut. Sie hatte einen Rock getragen, eine Bluse, sie hatte geschäftsmäßig ausgesehen, und vielleicht, dachte er, vielleicht passte das. Er hatte die Karte auf den Tisch gelegt und sie angeschaut. Ihre Augen hatten dieselbe Größe, dieselbe Farbe. Unverkennbar diese dichten Augenbrauen. Er hatte seine Hand gehoben, den Zeigefinger ausgestreckt und auf sich selbst gedeutet. Sie hatte genickt.

»Okay«, hatte er gesagt, die Kellnerin herangewunken und ein Bier bestellt. Die Kellnerin hatte ihn angeschaut, so als wollte sie ihm einen Augenblick geben, um über die Uhrzeit nachzudenken, aber er hatte seine Bestellung wiederholt. Als die Frau gegangen war, hatte er sich wieder Laura zugewandt.

»Dann lass uns einen Plan machen«, hatte er gesagt. Und in ihrem Lächeln, in dem kurzen Blitzen ihrer Zähne hatte er für einen Moment die Frau von vor ein paar Wochen wiedererkannt.

Der Flieger machte einen Schwenk. Martin wurde in den Sitz gedrückt, spürte seinen Magen. Es hatte etwas von einem Jahrmarktsbesuch; da war ein Kribbeln, Freude. Er schloss die Augen und stellte sich vor, laut zu schreien wie in der Achterbahn. Der Flieger war nicht einmal halb so lang wie der Airbus, die Decke niedrig, insgesamt nur drei Sitze in einer Reihe, Propeller dröhnten an den Seiten, und er stellte fest, dass ihm die Angst Spaß machte, was immer das bedeutete.

Er schaute aus dem Fenster, sah viele grüne und braune Rechtecke, Wäldchen, sah Kanäle, einen breiten Highway, über den sich kleine Punkte bewegten. Er trommelte mit den Fingern auf dem dicken Buch von Arnold Krammer, das auf seinem Schoß lag, tippte auf die weißen Buchstaben auf schwarzem Grund, Nazi Prisoners, verdeckte mit seinem Daumen ein rotes Hakenkreuz. Hunderte Seiten voller Zahlen und Tabellen, aber auch Erklärungen, Erläuterungen, Geschichten. Er hatte lachen müssen über die Passage, in der der Historiker berichtete, wie ihn nach der Veröffentlichung der ersten Ausgabe, Ende der Siebziger, ein Mann anrief und erzählte, er sei genau jener eine geflohene Kriegsgefangene, den die Amerikaner nie gefunden hätten. Verschollene Nazis, Nazis in der Wüste, in Alaska, überall diese Lager voller deutscher Soldaten.

Seit sie im Flieger nach Austin saßen, hatte Martin sich immer wieder dabei ertappt, nach seinem Großvater zu schauen, in der Hoffnung, dass diese sonderbare Geschichte, in die er sich begeben hatte, etwas von ihrer Abstraktheit und Wunderlichkeit verlieren würde. Er flog durch Texas, flog mitten hinein in die eigene Familie, in die Erinnerung des Alten, die voll sein mochte von ganz ähnlichen Geschichten wie jenen aus dem Krammer. Er fragte sich, ob sich der alte Mann verändern würde, wenn er ihn sah an jenen Orten, wenn er reden würde über die vergangene Zeit. Was er gelesen hatte, klang nicht gerade grausam, aber was wusste er schon von den Geschichten in diesem hellen, schmalen Kopf, über dessen Oberseite sich jetzt ein Kopfhörer spannte, in diesem Kopf, der vor und zurück wippte im Rhythmus einer unhörbaren Melodie.

Martin fragte sich, wo sich die alten Kameraden versteckten, die Männer aus den Lagern, ob sie alle schon tot waren oder keine der Freundschaften die Jahre überdauert hatte, so wie jene mit Paul, dem Amerikaner. Warum hatten sie nicht versucht, diesen Freund ausfindig zu machen, wenn er denn in den USA geblieben war, warum nur ein Treffen mit ehemaligen Wächtern? Andererseits, dachte er, war das besser als gar nichts.

Im Flughafen von Austin, der eigentlich nur ein einzelnes lichtdurchflutetes Gebäude war, standen am Gepäckband ein gutes Dutzend überlebensgroßer Gitarren in Grellgrün, Gelb, voller Blumen, Gesichter und Herzen. Fotos von Bars und Musikern an den Wänden, dazu in den Souvenirläden Schilder und allerlei Tassen und T-Shirts, auf denen »Keep Austin Weird« zu lesen war. Den Alten schien das alles nicht zu interessieren, er wirkte jetzt müde, die Augen und die Schatten darunter waren dunkel, immer wieder gähnte er und starrte auf das Gepäckband, auf dem ein einsamer Koffer eines vorherigen Fluges seine Runden drehte. Der halbe Ringfinger wippte in der Luft, während die restlichen Finger um den Griff des kleinen Rollkoffers geschlossen waren.

Als sie eine Viertelstunde später mit dem Schlüssel für ihren Mietwagen ins Freie traten, war die Sonne bereits untergegangen. Trotzdem tauchte man in die Hitze wie in Wasser. Im Neonlicht der Laternen liefen sie über das Parkdeck, erste Sterne zeigten sich am Himmel, und die Zikaden veranstalteten einen Lärm, der nur ab und an von einem startenden oder landenden Flugzeug übertönt wurde. Martin hatte bemerkt, wie der Alte vor dem Flughafeneingang kurz in die Knie gegangen war, so als bände er seine Schuhe. Er hatte den Griff bemerkt, in das Blumenbeet neben den Bodenplatten. Sie erreichten ihren Wagen, einen weißen, etwas eckig wirkenden Chevy. Während Martin ihr Gepäck verstaute, stand sein Großvater an den Wagen gelehnt und schaute in die Abenddämmerung, die kaum noch mehr als ein schmaler Streifen Rot am Horizont war. Er atmete tief ein.

»Wieder hier zu sein«, sagte er. »Diese schwere, dicke Luft. Damals war es schon sonderbar. Aber heute …«

Als Martin den Wagen startete, ertönte Countrymusic aus dem Radio. Er fühlte sich gleichzeitig unglaublich wach und wie in einem Traum. Sie rollten langsam vom Parkdeck, folgten den Anweisungen der elektronischen Frauenstimme und fuhren auf den Highway. Scheinwerfer in Weiß und Rot, in deren Kette sie sich einreihten. Der Alte schaltete das Radio aus.

»Damals hatten wir Tage«, sagte er, »Tage im Zug, um uns an die Vorstellung zu gewöhnen. Einmal quer durch. Wir haben es gefressen mit den Augen, dieses Land.«

»Von New York bis Texas?«, fragte Martin.

»Zwei oder drei Tage muss das gedauert haben«, sagte der Alte. »Ich weiß das nicht mehr so genau. Aber wir haben mehr als eine Nacht im Zug geschlafen. Wir fuhren los an den Docks nahe dem Bootsanleger, vielleicht war das Brooklyn. Sind rein in diese Pullmannwagen, saßen auf Lederbänken, hatten Gepäckablagen, Essen, Trinken. Wir haben uns an den Kopp geschlagen, so verrückt war das. Und am Anfang, nach den Türmen in New York, sah das alles noch halbwegs vertraut aus, dieses Grün, die Wälder und Felder. Nur die Holzhäuser nicht, die waren neu. Und die Weite, man hat immerzu dieses Gefühl der Weite gehabt, als ob nirgendwo ein Ende wäre.«

»Und ihr seid durchgefahren?«

»Die ganze Nacht. Am nächsten Morgen waren wir schon im Süden. Diese Hitze. Ich erinnere mich an riesige dunkle Bäume, an deren Ästen neben den Blättern auch graue Girlanden hingen; irgendeine Pflanze, die alles überwucherte. Wie Lametta an einem Weihnachtsbaum. Und wir drückten uns die Nasen an den Fenstern platt, bis uns die Wächter zurück auf unsere Sitze scheuchten. Dann kam das Wasser, Sümpfe, endlos lange Stelzenbrücken, über die unsere Wagen im Schritttempo rumpelten. In Unterhemden saßen wir, so heiß war das.«

»Und die Amerikaner?«

»Freundlich«, sagte der Alte, »fast schon zu freundlich. Misstrauisch machte einen das. Aber man gewöhnte sich dran. Es gab allerdings auch welche, die sich beschwerten.«

Martin verließ den Highway und rollte zwischen die Türme der Innenstadt.

»Worüber beschwerten?«, fragte er.

»Dass solch ein Aufwand betrieben wurde, um uns an den Bombenschäden vorbeizufahren.«

»Was für Bomben?«

»Na, der Luftwaffe.«

Martin lachte laut.

»Sollte man meinen«, sagte der Alte, »aber einige haben allen Schwachsinn geglaubt, den sie irgendwo gehört oder gelesen haben.«

»Und du?«, fragte Martin.

»Ach, ich. Ich hatte keine Ahnung. Tuten und Blasen. Aber mein Bruder, der wusste Bescheid, der hat sich informiert. Verbotenes Radio, ganze Nächte lang. Das bisschen, das ich wusste, wusste ich von ihm.«

Sie hielten vor dem Hotel, an dem man ihr Gepäck entlud und ihnen den Wagen abnahm. Der Alte steckte mit einer Beiläufigkeit Trinkgelder zu, als hätte er nie etwas anderes getan. Martin legte den Kopf in den Nacken und schaute den Hotelturm hinauf; eine glatte Glashaut, unter deren Oberfläche vereinzelte Lichtpunkte glühten.

»You have missed the bats«, sagte der Portier, als er ihnen die Chipkarten für ihre Zimmer gab. »You should take some time for them before your departure.«

»For the bats«, sagte Martin tonlos.

»For the colony below Congress Bridge.«

Er trat zum Alten, der im Hintergrund gewartet hatte und die Menschen in der Lobby zu beobachten schien, Geschäftsreisende und einzelne Familien. Als Martin seinen Namen nannte, zuckte er zusammen. Der Enkel entschuldigte sich. In Gedanken sei er gewesen, sagte der Alte, ganz in Gedanken. Martin reichte ihm die Chipkarte.

»Alles okay?«

»Da sind jetzt Bilder, Erinnerungen, ganz plötzlich«, sagte der Alte. Er steckte die Karte in seine Hemdtasche. »Siebzig Jahre ist das her, siebzig Jahre gibt der Kopf Ruhe. Und jetzt geht’s los, jetzt springen mich Sachen an, sind im Glas gespiegelt oder flirren einfach in der Luft.«

»Was für Sachen?«, fragte Martin.

»Gesichter, keine Ahnung, was für Gesichter, wer das ist, wer da auftaucht, auch einzelne Gegenstände, eine Schaufel, die ich in der Hand halte, das Gefühl von Baumwollblüten in der Hand, ich erinnere mich plötzlich wieder daran; Gerüche, verbranntes Holz, Schweinebraten.«

»Ernsthaft?«

»Und nicht nur einen«, sagte der Alte. Er lächelte abwesend, folgte Martin wie ein Schlafwandler in Richtung Aufzug.

Das Bier war eiskalt und leicht, Martin lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte in den Nachthimmel. Auf der Terrasse, die man auf der Lobby des Hotels errichtet hatte, waren nur noch wenig andere Gäste. Aus der 6th Street war ein leichtes Wummern zu hören, Gelächter, das Klingeln der Fahrradtaxis, die alle Straßen füllten. Du solltest auf der Straße sein, dachte Martin, solltest den Jetlag ausnutzen, die Stunden ohne den Alten. Einige Fledermäuse zuckten durch den Lichtkegel einer Straßenlaterne, dann noch ein paar, und nach einer Pause noch ein paar mehr. Er wählte sich mit seinem Telefon ins WLAN des Hotels ein, sah, dass Laura online war, und rief sie an. Er sah ihr Gesicht, dahinter die Küchenschränke, leicht verzerrt, hörte die Ansage eines Radiosprechers, der vermutlich die morgendlichen Nachrichten las. Er hielt sein Telefon hoch, damit sie ein wenig die Stadt sehen konnte. Er erzählte vom Flug, der Ankunft, seiner Schlaflosigkeit, den Geräuschen der Bands von der Partymeile, den Fledermäusen.

»Ich bin jetzt tatsächlich traurig, das verpasst zu haben«, sagte er, »Fledermaus-Immigranten aus Mexiko, über eine Million, seit über hundert Jahren schon.«

»Und das in Texas«, sagte Laura.

Sie lief ins Kinderzimmer und zeigte ihm Judith, die noch in ihrem Bettchen lag und schlief. Er erkannte ihren kleinen Kopf erstaunlich klar, er konnte sehen, wie sich ihre Nasenflügel bewegten, wenn sie einatmete.

Warum ficht dich das an, dachte er, als er aufgelegt hatte und auf seine Schuhe starrte, dann das Bier in einem Zug leerte. Woher kommt das, diese Mammapappakindgedanken, warum kannst du es nicht gut sein lassen? Alles andere war nie eine Option gewesen. Er dachte an die Geschäftsmäßigkeit, mit der sie vorgegangen waren, seitdem Laura ihn über die Schwangerschaft informiert hatte. Kontrollmechanismen, die einen vor Dummheiten bewahrten. Und dann kam Judith, und er ertappte sich dabei, in Bildern zu denken, die im Fotoalbum der eigenen Eltern geklebt hatten. Lächeln, Umarmungen, Sommerferien in der Bretagne, Geburtstagsfeste auf der Terrasse.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, hatte das Gefühl, ein wenig zu schaukeln. Es roch nach Fluss, es roch süß, die Bars in der Ferne warfen eine Decke aus Musik und Lachen über die ganze Stadt. Als er die Augen wieder öffnete, war es still, der Himmel bereits graublau, und im Osten färbten sich die ersten Wolkenfetzen rot.

Kaum dass sie im Auto saßen, schob der Alte eine CD in die Anlage. Brahms ertönte, die ungarischen Tänze, und obwohl diese Musik so unglaublich fehl am Platz wirkte, gab sie Martin einen Schub, den vorher weder Kaffee noch Rührei zu bewirken in der Lage gewesen waren. Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, und aus den Augenwinkeln sah er den Alten lächeln.

Nachdem sie den Stadtverkehr und die Highways um Austin hinter sich gelassen hatten, wurde die Landstraße schmal und der Horizont machte sich breit. Getreidesilos glänzten im Sonnenlicht, in der Ferne waren Erntemaschinen zu erkennen, winzige gelbe Käfer, aus deren Rücken die Spreu schoss. Er sah ein Propellerflugzeug, das im Tiefflug über sie hinwegglitt und irgendeine Flüssigkeit auf einem der nahe gelegenen Felder versprühte. Er hatte bei Texas an Wüste gedacht, an Felsen, an Geier.

»Die gibt’s reichlich«, sagte der Alte, »aber weiter im Westen. Dann kommt Arizona, Nevada, nix als Sand und Steine.«

Sein Großvater hatte sich im Sitz ein wenig zurückgelehnt und ließ die Landschaft, so schien es, durch sich hindurchrollen. Er wirkte sehr ruhig.

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