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Sandra Flemming, Managerin des Higher Barton Romantic Hotel in Cornwall, freut sich auf das Weihnachtsfest, welches mit einer großen Feier in ihrem ausgebuchten Haus begangen werden soll. Selbst ihre Eltern aus Schottland wollen kommen. Dass kurz vor dem Fest ein Doppelmörder aus dem Gefängnis flieht, bekommt Sandra nur am Rande mit. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Der Flüchtige tötet erneut, ein Freund von Sandra entgeht nur knapp einem Anschlag, eine ihrer Mitarbeiterinnen verschwindet, und ein Dieb scheint sein Unwesen im Hotel zu treiben. Sandra kommt dem Doppelmörder auf die Spur, muss aber schweigen, um ihr Leben und das ihrer Lieben zu retten.
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Seitenzahl: 395
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Ein Cornwall-Krimi vonRebecca Michéle
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
Plymouth,April 2001
Mit einem Plopp sprang der Korken aus dem Flaschenhals, perlend ergoss sich der Champagner über ihren bloßen Oberkörper. Als sie das kühle Nass auf ihrer Haut spürte, quietschte sie und rief: »Wir sind hier doch nicht bei der Formel Eins.« Der Mann grinste, die Flasche in seiner Hand war nur noch zu zwei Dritteln gefüllt. »Der schöne Champagner!«, schmollte sie.
»Ich kann ihn ja auflecken.«
Provozierend streckte sie ihm ihre üppigen Brüste entgegen und kicherte, als seine Zunge ihre Brustwarzen berührte. Eine leere Champagnerflasche lag achtlos auf dem Teppich, dementsprechend angeheitert war das Paar, obwohl es noch nicht einmal Lunchzeit war.
»Die Bettwäsche ist nass und muss gewechselt werden«, stellte er fest.
Sie kicherte erneut. »Das Mädchen ist verschwiegen und wird mehr als gut dafür bezahlt, einmal in der Woche hier Ordnung zu schaffen.«
Er packte sie an den Schultern und drückte sie in die Kissen, dann senkte sich sein Mund auf ihre vollen sinnlichen Lippen. Wohlig rekelte sie sich unter seinem muskulösen Körper und stöhnte. Ihre Finger gruben sich in seine perfekt gerundeten Hinterbacken.
»Du bist unersättlich, Susan. Nicht nur, was Champagner angeht. Gib mir ein paar Minuten, dann bin ich fit für die nächste Runde.«
»Wir haben nur noch eine knappe Stunde, dann muss ich zurück.«
»Keine Sorge, meine Schöne, das bekomme ich hin.« Sanft löste er sich von ihr und schenkte in ihre Gläser ein. »Hast du keine Angst, dein Mann könnte misstrauisch werden?«
»Müssen wir jetzt von meinem Mann sprechen?« Unwillig runzelte sie die schmal gezupften Brauen. »Offiziell besuche ich einen Französischkurs, er hat keinen Grund, daran zu zweifeln.«
»Und das ist nicht einmal gelogen, denn Französisch machst du‘s durchaus.« Er grinste anzüglich. »Wenngleich ich der Meinung bin, dass du auf diesem Gebiet nichts mehr dazulernen musst.«
Seit ein paar Monaten trafen sie sich nahezu jeden Donnerstagvormittag in dem kleinen Apartment, das sie angemietet hatte. In dem unpersönlichen Hochhaus, nur wenige Gehminuten vom Plymouth Hoe entfernt, gab es vier Dutzend Wohnungen. Manchmal begegneten sich die Mieter im Lift und nickten sich zu, mehr nicht. Kaum jemand kannte seine Nachbarn, Gespräche fanden keine statt. Da Susan auf das Klingelschild einen falschen Namen geschrieben hatte, befürchtete sie nicht, es könnte herauskommen, zu welchem Zweck ihr die Wohnung diente. Selbst wenn: Ihr Privatleben ging niemanden etwas an. Ihrem Mann hatte sie gesagt, sie besuche in Plymouth einen Kurs, um ihre französischen Sprachkenntnisse zu vertiefen. Er hatte keine Einwände erhoben, im Gegenteil. Auch wenn Susan nicht in der Firma mitarbeitete – an der Seite ihres Mannes musste sie repräsentieren. Regelmäßig empfingen sie ausländische Gäste und reisten aufs Festland. So war es durchaus von Vorteil, eine Fremdsprache zu beherrschen. Damit ihre Lüge nicht aufflog, hatte sich Susan französische Lehrbücher und CDs gekauft und arbeitete immer mal eine Lektion ab, so lernte sie die Sprache tatsächlich. Da Nicolas sich von morgens bis abends in der Firma aufhielt, oft Unterlagen mit nach Hause brachte und auch am Abend und an den Wochenenden nicht von der Arbeit lassen konnte, hatte sie ja genügend Zeit.
»Hast du je daran gedacht, ihn zu verlassen?«, raunte Ron an ihrem Ohr. »Warum hast du ihn überhaupt geheiratet?«
»Ich besaß das Geld, das er und sein Vater für die Firma dringend benötigten, und er gab mir den Titel einer Lady.«
»Also eine rein geschäftliche Verbindung«, stellte Ron fest. »Was würde geschehen, wenn du dich scheiden ließest?«
»Die Firma ginge pleite, wenn er mich auszahlen muss, da ich mich mit einem entsprechenden Vertrag abgesichert habe.« Sie stützte sich auf die Ellenbogen und kniff die Augen zusammen. »Ich ziehe eine Trennung nicht in Betracht. Warum auch? Nicolas sieht gut aus, er ist charmant und gebildet, wir verkehren in den ersten Kreisen, und ich führe ein angenehmes, sorgloses Leben.« Ihre Lippen verzogen sich spöttisch, als sie hinzufügte: »Wenn deine Frage einen Hintergrund hat, dann möchte ich eines klarstellen: Ich werde meine Ehe nicht für ein Leben mit dir aufgeben. Für einen einzigen Mann bin ich nicht geschaffen. Es gab welche vor dir, andere werden nach dir kommen. Ich dachte, bei unserer kleinen Liaison seien auf beiden Seiten die Fronten geklärt. Es gefällt mir, wie es im Moment ist, also belassen wir es dabei. Und jetzt möchte ich nicht länger mit Reden die Zeit verschwenden.« Ihre Hand tastete unter die Bettdecke, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.
Er drehte sie auf die Seite und drückte sich gegen ihren Rücken. Seine Männlichkeit war wieder erwacht. Noch eine halbe Stunde, dachte Susan, und überließ sich seiner fordernden Leidenschaft.
Ein Geräusch, zuerst knirschend, dann, als würde Holz splittern, ließ beide hochfahren.
»Verdammt, was ist …?« Susan setzte sich auf.
Die Zimmertür wurde aufgerissen, eine schwarz gekleidete Person, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, stand plötzlich im Zimmer.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?«, rief Ron. »Verlassen Sie sofort die Wohnung!«
»Du Flittchen!« Die Stimme unter der Kapuze war verzerrt. »Du schamloses, kleines Flittchen!«
Ron sprang aus dem Bett und eilte auf den Maskierten zu. Dieser hob einen Arm, in der Hand einen Revolver mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.
»Wollen Sie … wollen Sie Geld?«, stammelte Susan. »Sie können alles haben, ich bin reich …«
»Lassen Sie uns reden«, rief Ron. »Wir sind erwachsen, wir können über alles sprechen!«
An einer Unterhaltung war der Eindringling jedoch nicht interessiert. Ohne dass seine Hand auch nur einen Hauch zitterte, richtete er die Waffe auf Ron. Sein Zeigefinger krümmte sich, der Schuss war leiser als das Ploppen des Champagnerkorkens. Er traf Ron mitten ins Herz. Susan, vor Entsetzen gelähmt, hatte keine Chance. Die nächste Kugel hinterließ ein kreisrundes Loch über ihrer Nasenwurzel.
Higher Barton Romantic Hotel,Dezember 2018
Mit einem schlichten Reifen schob Sandra Flemming ihre dunklen, gewellten Haare aus der Stirn, zupfte den Wasserfallkragen ihres roten Pullovers zurecht, lächelte ihrem Spiegelbild zu und sagte laut: »Dann wollen wir mal, Sandra. Die werden vielleicht Augen machen.«
Bevor sie ihr Cottage verließ, nahm sie den auf dem Tisch liegenden Umschlag und steckte ihn in die Handtasche. Der Brief war ihr heute Morgen per Einschreiben zugestellt worden. Seit Tagen hatte Sandra ungeduldig auf diese Nachricht gewartet, hatte befürchtet, eine Widrigkeit könnte ihre Pläne im letzten Moment zunichtemachen, doch nun war es amtlich und mit allen notwendigen Siegeln beurkundet. So richtig glauben konnte es Sandra immer noch nicht, obwohl Alan Trengove, ihr Anwalt und der Mann ihrer Freundin, seit Wochen darauf hingearbeitet hatte. Eine große Herausforderung stand vor Sandra. In den vierunddreißig Jahren ihres Lebens hatte sie sich nie derart zuversichtlich und voller Tatendrang gefühlt wie am heutigen Tag.
Von dem zweistöckigen, weit über einhundert Jahre alten Cottage mit den weiß getünchten Wänden und den Sprossenfenstern waren es nur wenige Schritte zum Hotel. Obwohl Sandra seit neunzehn Monaten täglich diesen Weg ging, blieb sie nach einigen Yards stehen und blickte auf das Herrenhaus mit dem klangvollen Namen Higher Barton Romantic Hotel. Erbaut vor über vierhundert Jahren aus dem typischen grauen Stein der Gegend, zu Ehren von Königin Elisabeth in Form eines großen E’s, zwei Voll- und ein Dachgeschoss, mit Steinpfosten durchbrochene Fenster, die Scheiben bleiverglast. Higher Barton war der Inbegriff eines elisabethanischen Landsitzes, wie man ihn sich in Südengland vorstellte. Jahrhundertelang war das Haus im Besitz derselben Familie gewesen, vor drei Jahren dann an eine Hotelkette verkauft und umgebaut worden, ohne dass der Charme alter Zeiten verlorengegangen war. Im Frühjahr des vergangenen Jahres war Sandra aus Schottland in den Südwesten Englands gekommen, um das Hotel zu leiten. Zwar war ihr Start in Cornwall holprig gewesen, und auch später hatte Sandra einige Schwierigkeiten überwinden müssen, doch sie war eine Frau, die Hindernissen, gleich welcher Art, entschlossen und mutig entgegentrat. Vor zwei Monaten hatte Sandra befürchten müssen, ihre Stellung zu verlieren. Im Hotel waren schreckliche Dinge geschehen, an denen sie keine Schuld trug und die sie auch nicht hätte verhindern können, doch der Vorstand der Hotelkette sah es anders. Er vertrat die Meinung, Sandra sei als Managerin zu jung und nicht in der Lage, ein entsprechendes Haus zu führen, ohne dass es zu Katastrophen kam. Bei der Erinnerung daran grinste Sandra. Nun hatte sich alles verändert. Wochenlang hatte sie geschwiegen, obwohl sie bei ihren Bemühungen, das Geheimnis zu wahren, fast geplatzt wäre, und heute war es endlich soweit.
Sandra ging die fünf Stufen zum Haupteingang hoch, stieß die nur angelehnte Tür auf und trat in die Halle. Auch hier war das Ursprüngliche längst vergangener Tage weitgehend erhalten geblieben. Die hellgestrichenen Wände zierten alte, nicht mehr funktionstüchtige Waffen und farbenfrohe Drucke mit Motiven der cornischen Klippenlandschaft; in einer Ecke stand eine Ritterrüstung; vor dem mannshohen Kamin mit dem lodernden Feuer lud eine gemütliche Sitzgruppe zum Verweilen und Teetrinken ein. Eine breite, geschwungene Treppe aus poliertem Eichenholz führte in die oberen Etagen. Am letzten Novemberwochenende war Higher Barton weihnachtlich geschmückt worden. Zwischen der Treppe und dem Zugang zu den Wirtschaftsräumen stand eine deckenhohe Tanne, deren Nadeln Wohlgeruch verbreiteten und die geschmückt war mit Dutzenden von Lichtern, Strohsternen und Kugeln aus silber- und goldglänzendem Glas. Es hatte drei starke Männer gebraucht, den Baum aufzustellen. Über dem Kamin baumelte ein Mistelzweig, auf den Tischen standen kleine, liebevoll angefertigte Gestecke aus Tannenzweigen mit jeweils einer Kerze. Jeden Abend achtete Sandra darauf, dass alle Kerzen vorschriftsmäßig gelöscht wurden und verließ das Haus erst, wenn die Dochte erkaltet waren.
Hinter dem Tresen der Rezeption stand eine nicht mehr junge, hagere Frau, gekleidet in ein dunkelblaues Kostüm mit einer roséfarbenen Bluse, das angegraute Haar zu einem lockeren Knoten aufgesteckt.
»Guten Morgen, Sandra.« Eliza Dexter nickte ihr zu. »Was führt Sie ins Hotel? Sie haben heute doch Ihren freien Tag. Gibt es ein Problem?«
»Es ist alles gut, Eliza, Sie ahnen nicht, wie gut und perfekt alles ist!« Bei diesen kryptischen Worten runzelte Eliza die Stirn, um bei Sandras nächsten vor Verwunderung die Augen aufzureißen. »Eliza, sind Sie bitte so freundlich, das Personal zu versammeln. Es sind heute doch alle im Haus, nicht wahr?« Eliza nickte. »In einer halben Stunde im Personalzimmer, dann sind wir mit der Besprechung fertig, bevor der Lunch serviert wird.«
»Eine Personalversammlung?«, fragte Eliza Dexter. »Sandra, ist etwas geschehen, das das erforderlich macht?«
Sandra antwortete nicht, sondern lächelte nur, und Eliza stellte keine weiteren Fragen. Sandra Flemming war die Chefin. Früher hatte Eliza deren Anweisungen häufig infrage gestellt und versucht, Sandras Autorität zu untergraben. In den letzten Monaten hatten sich die beiden Frauen indes angenähert.
Sandra betrat das Büro hinter der Rezeption und schenkte sich aus der bereitstehenden Kanne eine Tasse Kaffee ein. Was Heißgetränke betraf, war Sandra keine typische Britin, da sie Kaffee dem Tee vorzog. Sie war in Schottland geboren und aufgewachsen, hatte ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau in London absolviert, danach in Häusern in Frankreich und der Schweiz gearbeitet. Das Klischee, Engländer könnten keinen guten Kaffee zubereiten, war längst überholt. Die Vollautomaten waren auf der ganzen Welt gleich, da brauchte man kein Barista zu sein, um wohlschmeckende Kaffeespezialitäten servieren zu können.
Achtzehn Augenpaare sahen Sandra gespannt entgegen, als sie eine halbe Stunde später das Personalzimmer betrat.
»Danke für Ihre Zeit, ich werde mich kurzfassen, aber ich habe Ihnen wichtige Neuigkeiten mitzuteilen.« Sandra kam gleich zur Sache. »In diesem Hotel wird sich nun einiges ändern.«
»Henderson hat Sie entlassen!« Der rundliche Koch, der Sandra nur bis zur Schulter reichte, sprang auf. »Wir stehen alle hinter Ihnen, das wissen Sie, Sandra. Wenn Sie gehen müssen, gehen wir ebenfalls. Dann sollen die oben in Schottland zusehen, woher sie neues Personal bekommen.«
»Genau!«, rief Eliza, nicht minder erschrocken, auch die Zimmermädchen nickten, und David, der Barkeeper, meinte: »Wir dachten, die Sache wäre vom Tisch. Seit Wochen haben wir nichts mehr vom Vorstand gehört.«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden.« Sandra schmunzelte. Die Reaktionen des Personals rührten sie sehr. Alistair Henderson, der Vorstandsvorsitzende der Kette Sleep and Stay Georgius, kurz SSG genannt, war nicht davor zurückgeschreckt, jeden Angestellten über Sandras Befähigung zu befragen. Bereits damals hatten alle ihre Loyalität zu ihrer Chefin bekundet.
»Sie sind nicht entlassen worden«, sagte Rosa ruhig, »sonst wären Sie nicht so fröhlich.«
»Gut erkannt, Rosa.« Sandra nickte der polnischen Küchenhilfe zu, dann stieß sie hervor: »Ich muss es jetzt sagen, sonst platze ich. Also, die Sache ist die …« Sie machte doch noch mal eine Pause. »SSG hat das Hotel verkauft.«
»Verkauft?«
»An wen?«
»Aber wieso?«
»Was wird jetzt aus uns? Bleibt es ein Hotel? Oder müssen wir alle gehen?«
»Gerade jetzt! Bald ist Weihnachten, und das Haus ist so gut wie ausgebucht.«
Alle redeten durcheinander, die Nachricht hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Sandra hob die Hände.
»Bitte, beruhigen Sie sich und hören Sie mir zu! Selbstverständlich bleibt Higher Barton ein Hotel, wenngleich wir uns im kommenden Jahr etwas verkleinern werden. Darüber werden Eliza und ich im Einzelnen noch sprechen. Für Sie alle wird sich nichts ändern.«
»Der neue Eigentümer hat uns übernommen?«, fragte Eliza. »Unsere Arbeitsplätze bleiben unverändert?«
»Nicht ganz, Eliza.« Sandra musste sich beherrschen, um den nötigen Ernst an den Tag zu legen. »Eliza, Sie werden den Posten der Managerin übernehmen.«
»Ich?« Elizas Augen waren zwei große Fragezeichen. »Was ist mit Ihnen, Sandra? Müssen Sie doch gehen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Wem gehört Higher Barton denn nun? Finden Sie es fair, uns derart auf die Folter zu spannen?«
»Sie haben recht, Eliza«, stimmte Sandra ihr zu. »Die Lage ist so: Der neue Eigentümer, beziehungsweise die neue Eigentümerin, wird sich nach wie vor um die Belange des Hauses und vorrangig um die Gäste kümmern. Sie hat bereits konkrete Pläne, was verbessert werden kann, um effektiver zu arbeiten, dabei wird nichts überstürzt werden. Auf jeden Fall werden Sie, Eliza, von heute an die Leitung von Higher Barton übernehmen. Den entsprechenden Vertrag setzen wir nachher auf.«
»Wieso setzen wir den Vertrag auf?« Eliza stutzte, ihre Lippen formten ein großes O, dann rief sie: »Sie? Sie! Sie haben das Hotel gekauft!«
»Ihre schnelle Auffassungsaufgabe schätze ich sehr an Ihnen, Eliza«, sagte Sandra schmunzelnd, dann sah sie zu den anderen, denen es die Sprache verschlagen hatte. »Um allen Spekulationen aus dem Weg zu gehen: Ein überraschender Lottogewinn ermöglichte es mir, das Haus und das Grundstück von SSG zu erwerben. Alistair Henderson war zu einem Verkauf mehr als bereit nach all dem, was im Herbst geschehen ist. Die endgültigen amtlichen Unterlagen wurden mir heute Morgen zugestellt. Ich werde mich allerdings nicht zur Ruhe setzen, dafür bin ich zu jung, sondern – sozusagen als Repräsentantin – das Hotel und das Wohl der Gäste im Auge behalten.« Sandra sah auf ihre Armbanduhr und fuhr fort: »Das war es im Moment, es wird jetzt Zeit, den Lunch zu servieren. Heute Abend lade ich Sie zu einer kleinen Feier mit Umtrunk ein. Monsieur Peintré«, Sandra wandte sich an den Koch, der immer noch ungläubig den Kopf schüttelte, »seien Sie bitte so freundlich, ein paar Kanapees zuzubereiten.«
»C‘est à en devenir dingue!«, war alles, was der Koch in seiner Muttersprache herausbrachte. Er war Belgier, was zu betonen er nicht müde wurde, stammte aus Namur, der Hauptstadt der wallonischen Region, in der die Amtssprache Französisch war. Mehrmals schon hatte Sandra einen Vergleich zwischen Monsieur Edouard Peintré und Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot gezogen. Auch sie fühlte sich den Figuren der großartigen Schriftstellerin verwandt. In den vergangenen Monaten hatte Sandra zwar nicht verhindern können, dass Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung ermordet wurden, sie hatte jedoch wesentlich zur Überführung der Täter beigetragen. Darauf war Sandra alles andere als stolz und wies jeden Hinweis auf eine lebendig gewordene Miss Marple vehement von sich. Ihr Leben war aufregend genug, auch ohne dass sie sich auf die Spur von Verbrechern begab. Dem Ruf des Hotels hatten die Vorfälle bisher glücklicherweise nicht geschadet, und Sandra war entschlossen, alles zu tun, um nicht erneut in Verbrechen verwickelt zu werden.
Die Angestellten verließen gegen einundzwanzig Uhr die Feier, nur Eliza Dexter blieb noch. Zu dem kleinen Kreis waren auch Ann-Kathrin Trengove, Sandras beste Freundin, und Christopher Bourke, der Chief Inspector von Lower Barton, gestoßen. Zu viert saßen sie jetzt beieinander, und Ann-Kathrin sah immer wieder nervös auf ihre Armbanduhr.
»Er wird bald kommen«, sagte Sandra. »Ich verstehe, dass Alan seinen Termin nicht verschieben konnte.«
Die Freundin nickte. »Der Richter wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn Alan heute abgesagt hätte«, erklärte sie. »Der alte Mann hat nur noch wenige soziale Kontakte. Wenn Alan ihn besucht, sie zusammen essen und danach eine Partie Schach spielen, sind die Abende für Richter Audley etwas Besonderes.«
Alan Trengove, seines Zeichens Rechtsanwalt, und zwar einer der erfolgreichsten in Cornwall, traf sich regelmäßig mit Edward Audley. Bis zu seiner Pensionierung war der heute Mittsiebziger oberster Richter am Strafgericht in Truro gewesen. Laut Alans Aussage ein strenger, aber gerechter Mann, dem viele Verbrecher eine harte Strafe zu verdanken hatten. Nach Abschluss des Studiums hatte Alan mit dem Richter zusammengearbeitet, da er zuerst mit einer Tätigkeit als Staatsanwalt oder Richter geliebäugelt hatte. Schlussendlich entschloss sich Alan, auf die andere Seite zu wechseln und als Anwalt die Interessen der Angeklagten zu vertreten. Von Edward Audley hatte er während ihrer gemeinsamen Zeit viel gelernt, schätzte den alten Mann sehr und freute sich seinerseits auf die stets anregenden Gespräche mit ihm. Audley war Witwer, wegen eines Hüftleidens war er auf Gehhilfen angewiesen und verließ nur noch selten das Haus. Nachdem Alan erfahren hatte, dass Sandra ausgerechnet heute Abend die Übernahme des Hotels feiern wollte, hatte er gemeint, er wolle gleich nach dem Essen mit Audley nach Higher Barton kommen.
»Das Schachspiel lasse ich heute ausfallen«, waren Alans Worte gewesen. »Ich lasse es mir nicht nehmen, mit dir, Sandra, auf deinen neuen Lebensabschnitt anzustoßen.«
Alan und seine Frau Ann-Kathrin waren die Einzigen gewesen, die gewusst hatten, dass Sandra eine so große Summe im Lotto gewonnen hatte, um das Hotel kaufen zu können. Alan hatte sich um alle Formalitäten gekümmert, Sandra mit Rat und Tat unterstützt und den Kauf abgewickelt.
Aus dem Augenwinkel sah Sandra jetzt zu Christopher Bourke. Bisher hatte er nur wenig gesprochen und starrte mit ausdrucksloser Miene in sein Glas mit Organgensaft. Die Nachricht, Sandra habe das Hotel gekauft, hatte Christopher sehr überrascht, und sie ahnte, dass er ihr übelnahm, nicht in ihre Pläne eingeweiht gewesen zu sein.
»Hast du einen neuen Fall«, fragte Sandra betont munter, »oder ist es in Lower Barton ausnahmsweise mal ruhig, und die Mörder halten sich von unserem malerischen Ort fern?«
»Nur das Übliche: Schlägereien, Auto- und Ladendiebstähle.« Christopher sah Sandra an. »Kein Mord, und ich wäre dankbar, wenn es dabei bliebe.«
»An mir soll es nicht liegen!«, rief Sandra.
»Na, ich weiß nicht …« Vielsagend zog Christopher eine Augenbraue hoch.
»Du tust gerade so, als wäre ich scharf darauf, dass in diesem Haus wieder jemand umgebracht wird«, erwiderte Sandra empört.
»Streitet bitte nicht!« Ann-Kathrin hob besänftigend die Hände. »Niemand möchte einen weiteren Mord, egal wo. Christopher, ich merke dir an, dass da noch was ist, was wir wissen sollten.«
»Du kennst mich gut, Ann-Kathrin.« Der DCI grinste, fuhr dann aber ernst fort: »Tatsächlich muss ich euch über etwas Wichtiges informieren. Ich habe gewartet, um uns den Abend nicht zu verderben. Letzte Woche floh ein Gefangener aus dem Gefängnis in Bristol. Er kehrte von einem Freigang nicht zurück, und bisher gibt es keine Spur von ihm.«
»Was hat der Mann getan?«, fragte Sandra.
»Doppelmord«, antwortete Christopher. »Die Taten geschahen im Frühjahr 2001, der Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.«
»Ach herrje!« Sandra riss die Augen auf. »Könnte es sein, dass sich der Mörder in unserer Gegend aufhält, weil du über die Flucht informiert bist?«
Christopher nickte ernst. »Der Gesuchte stammt aus Fowey. Seit der Auflösung des dortigen Polizeipostens im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahmen gehören Fowey und die Umgebung zum Ermittlungsgebiet von Lower Barton. Der gesamte Polizeiapparat Englands ist zusätzlich informiert, da wir annehmen, dass er versuchen wird, das Land so schnell wie möglich zu verlassen.« Aus der Innentasche seiner Jacke zog Christopher ein zusammengefaltetes Blatt Papier und reichte es Sandra. »Das Bild ist älter, es kann sein, dass er sich in den letzten Tagen einen Bart hat wachsen lassen.«
Das Foto stellte einen Mann mit dunkelblonden, sehr kurz geschnittenen Haaren, grauen Augen, einer großen, langen Nase und einem markanten Kinn dar.
»Er sieht gar nicht wie ein Mörder aus.«
Christopher lachte. »Wenn wir jedem Menschen den Verbrecher ansehen könnten, würde das unsere Arbeit immens erleichtern.«
»Nicolas Lambourne«, las Sandra den Namen von dem Blatt ab.
Eliza Dexter griff nach dem Zettel, sah sich das Fahndungsfoto an und sagte leise: »Ich erinnere mich an den Fall. Alle Medien berichteten ausführlich über die brutalen Morde, wohl auch, weil es sich bei dem Täter um eine Persönlichkeit der Gegend handelte, dem Sohn von Sir Walter Lambourne, Lord Beechwood von Beechwood House. Besaß die Familie nicht eine Firma?«
Christopher nickte, griff zu der auf dem Tisch stehenden Etagere und nahm einen in lindgrünes Papier eingewickelten, kleinen Keks in die Hand.
»Lambourne Biscuits, einer der besten Keksproduzenten Südenglands. Mit seinem Vater zusammen führte Nicolas Lambourne die Firma, bis er die Taten beging.«
Sandra nickte verstehend. Von der Hauptstraße, die von der A 390 nach Fowey führte, erkannte man etwa zwei Meilen nördlich des kleinen Küstenortes die Gebäude der Keksfabrik. Das Hotel bezog regelmäßig eine Auswahl der dort hergestellten Kekse, die in den Gästezimmern, in der Hotelhalle und den Nebenräumen zum Naschen angeboten wurden.
Christopher wickelte den Keks aus, schob ihn sich in den Mund und murmelte: »Mandel-Kokos in weißer Schokolade, diese Sorte mag ich am liebsten.«
Auch Ann-Kathrin griff nach einem. »Ich bevorzuge Zartbitter-Rum-Nuss«, und aß den Keks mit sichtlichem Genuss.
Sandra hingegen machte sich nicht viel aus Süßem, sie gab herzhaften Speisen den Vorzug.
»Ich glaube nicht, dass sich Lambourne in der Gegend blicken lässt«, fuhr Christopher fort. »Er wird wissen, dass hier besonders intensiv nach ihm gefahndet wird, trotzdem bitte ich euch, Fremden gegenüber vorsichtig zu sein. Selbst wenn du, Sandra«, er zog die Augenbrauen zusammen und sah sie ernst an, »ihn entdecken solltest, informierst du mich augenblicklich! Keine Alleingänge, verstanden?«
»Als ob ich scharf darauf wäre, wieder einem Mörder zu begegnen«, murmelte Sandra, und lauter: »Warum bekommt einer, der zwei Menschen getötet hat, überhaupt Freigang? Das stärkt nicht gerade mein Vertrauen in den Rechtsstaat.«
»Sandra, die Morde liegen über siebzehn Jahre zurück, so lange war Lambourne stets hinter Gittern«, erwiderte Christopher. »Jeder Mensch sollte eine zweite Chance erhalten …«
»Die er sofort nutzt, um abzuhauen!«
»Streitet nicht«, ermahnte Ann-Kathrin die Freunde. »Auch ich glaube nicht, dass Lambourne es wagt, ausgerechnet hierher zu kommen. Wir werden die Augen trotzdem offen halten.«
Die Glocke an der Rezeption erklang. Sandra und Eliza sprangen gleichzeitig auf. »Überlassen Sie das mir, Sandra, das ist heute Ihr Abend«, sagte Eliza.
»Ihr versteht euch inzwischen besser?«, fragte Ann-Kathrin, nachdem Eliza das Zimmer verlassen hatte.
Sandra nickte. »Ich werde zwar weiterhin die oberste Leitung des Hotels innehaben, erteile Eliza aber mehr Verantwortung und auch Prokura. Sie hat ihre Eigenheiten, mit denen ich zurechtkomme, und ich bin ja auch nicht einfach.« Sie zwinkerte Ann-Kathrin zu. »Jeder von uns hat seine Ecken und Kanten.«
»Ich versuche, Alan telefonisch zu erreichen.« Ann-Kathrin stand auf. »Er wollte schon längst hier sein.«
Mit Christopher allein, fragte Sandra: »Bist du mir böse, weil ich dir von dem Lottogewinn und dem Plan, das Hotel zu kaufen, nichts erzählt habe?«
Sandra war eine direkte Frau und redete nicht lange um den heißen Brei herum, besonders nicht bei Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Der Beginn ihrer Bekanntschaft mit Christopher war sehr unerfreulich gewesen, der Detective Chief Inspector hatte sie sogar als Tatverdächtige verhaften lassen. Sandra hatte Christopher längst verziehen, denn damals hatte er nicht anders handeln können. Inzwischen waren sie Freunde geworden, und Sandra dachte manchmal, ob es wohl mehr als nur Freundschaft war. Sie konnte Christopher nicht einschätzen. Mal war er aufmerksam, fast schon liebevoll, dann wieder – als hätte man einen Schalter umgelegt – zog er sich zurück und benahm sich ihr gegenüber wie ein professioneller Polizeibeamter. Im vergangenen Herbst hatte Christopher sein Leben riskiert, um Sandra zu retten. Nur einen Tag später hatte er ihr allerdings mit brutaler Deutlichkeit gesagt, er würde es begrüßen, wenn sie Cornwall verließe und nach Schottland zurückginge. Sandra vermutete, seine Worte entsprangen der Sorge um sie, trotzdem hatten sie einen bitteren Beigeschmack.
Weil er auf ihre Frage nicht antwortete, legte Sandra eine Hand auf seinen Unterarm. »Alan wickelte den Verkauf ab, ich wollte nicht, dass außer ihm und Ann-Kathrin jemand davon erfährt. Ich bin nicht abergläubisch, meine Mutter sagt jedoch immer, man solle über wichtige Dinge erst sprechen, wenn nichts mehr dazwischenkommen kann. Alles andere bringe Unglück. Es war also nicht persönlich gegen dich gerichtet, Christopher.«
Die Sandra wohlbekannte Rotfärbung kroch über Christophers Hals bis zu seinen Ohren, die jetzt die Farbe seines kurz geschnittenen Haares annahmen.
»Es ist okay«, antwortete er leise, hob den Kopf und sah Sandra direkt an. »Ich wollte dich etwas fragen.«
»Ja?«
»Also, es ist so …«, er stockte, nun röteten sich auch seine Wangen. Sandra wusste inzwischen, dass Christopher seit seiner Kindheit unter ständigem Erröten litt, was sein Gegenüber unweigerlich mit Unsicherheit oder gar Inkompetenz gleichsetzte. Dabei war der DCI genau das nicht. Er hatte einen scharfen Verstand, war ausgeglichen und beherrscht und betrachtete bei seinen Ermittlungen alle Aspekte. So mancher Verdächtige schätzte Christopher falsch ein, was ihm zum Vorteil gereichte.
»Was möchtest du mich fragen, Christopher?«
»Ach, ich glaube, das geht ohnehin nicht«, wich er aus. »Nachdem das Hotel nun dir gehört, wirst du am kommenden Samstagabend kaum freinehmen können.«
»Warum sollte ich nicht?«, fragte Sandra. »Was ist am Samstagabend?«
»Ein Hotel in Newquay veranstaltet einen Adventstanz.« Christopher stieß die Worte hastig hervor und vermied es, Sandra anzusehen. »Nichts Großes, nur ein bisschen Musik. Ich dachte, ob du nicht … also, vielleicht ist es eine dumme Idee …«
»Christopher, wenn du mich fragen willst, ob ich mit dir zum Tanzen gehen möchte, dann lautet meine Antwort: Ja, das würde ich sehr gern.«
»Wirklich?« Er sah auf, zwischen seinem Teint und seinen Haaren war kein Farbunterschied mehr festzustellen.
»Ich wusste nicht, dass du tanzen kannst«, sagte Sandra. »Ich selbst habe seit Jahren kein Parkett mehr betreten.«
»Ich bin kein großer Tänzer, mir fehlt meistens die Zeit für solche Vergnügungen«, gab Christopher zu. »Du kannst am Samstagabend wirklich von hier weg?«
Sandra nickte. »Über das Wochenende haben wir nur zwei Zimmer vermietet, sozusagen die Ruhe vor dem Sturm. Ab Freitag vor Weihnachten sind wir dann voll belegt. Am Heiligen Abend hat eine Firma für ihre hundert Mitarbeiter die Weihnachtsfeier gebucht, am Weihnachtstag findet mittags das Christmas Dinner statt, und am Abend soll hier getanzt werden. Wir haben mehr Anfragen erhalten, als wir Gäste unterbringen und bewirten können. Demzufolge bin ich der Meinung, dass ich mir durchaus einen freien Abend gönnen kann, bevor es hier rundgeht.«
»Wann kommen deine Eltern?«
»Nächsten Donnerstag«, erwiderte Sandra. »Nachdem meine Mutter alles andere als erfreut war, dass ich auch in diesem Jahr nicht nach Hause kommen werde, hat sie auf meinen Vater so lange eingeredet, bis er zustimmte, den Laden für zwei Wochen zu schließen und nach Cornwall zu reisen.«
Sandras Eltern, deren einziges Kind sie war, besaßen ein Gemischtwarengeschäft in Dufftown im Nordosten der Grampian Mountains. Weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt war die kleine Stadt wegen seiner sieben Whiskybrennereien und galt als Zentrum des Aqua Vitae in Schottland.
Die Tür klappte, und Eliza kehrte zurück. Auf Sandras Frage, was gewesen war, winkte sie ab. »Der Major benötigte ein neues Handtuch, seines fiel ihm in die volle Badewanne und ist nun klatschnass.«
Major Collins, der sein ganzes Leben im Dienst der britischen Armee verbracht hatte, war Dauergast im Higher Barton Romantic Hotel. Der alte Herr war alleinstehend und verfügte über ein gewisses Vermögen, das ihm ermöglichte, eine Suite im Hotel zu mieten. Hier hatte er alles, was er brauchte: drei warme Mahlzeiten am Tag, geputzte Räume und vor allem Ansprache. Er war ein angenehmer Gast, den Sandra und alle Angestellten schnell ins Herz geschlossen hatten.
Nun kehrte auch Ann-Kathrin zurück, dicht hinter ihr Alan Trengove. Er lächelte Sandra entschuldigend an und meinte: »Es tut mir leid, dass ich so spät komme, aber …«
»Ich weiß, der Richter hat dich nicht gehen lassen«, vollendete Sandra seinen Satz, griff nach der Weinflasche und wollte Alan einschenken, er aber schüttelte den Kopf.
»Du kannst ruhig Wein trinken«, sagte Ann-Kathrin. »Du bist jetzt mit dem Taxi gekommen, ich bin mit meinem Wagen hier, habe keinen Alkohol getrunken und fahr uns nach Hause.«
»Ich möchte keinen Wein«, murmelte Alan.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte seine Frau, und Sandra ergänzte: »Du siehst blass aus. War das Essen beim Richter nicht gut?«
»Es war köstlich wie immer«, erwiderte Alan und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf der Schweißperlen standen. »Richter Audleys Haushälterin ist eine hervorragende Köchin, sie verwendet stets frische Produkte.« Alan, der sich noch nicht gesetzt hatte, schluckte plötzlich, murmelte: »Ich fürchte, ich muss mal raus« und rannte davon.
»Oje, ihm geht‘s wirklich nicht gut«, rief Ann-Kathrin. »Verzeih, Sandra, ich muss nach ihm sehen.«
Es vergingen etwa zehn Minuten, bis Sandras Freundin zurückkehrte. Ann-Kathrin stützte Alan, dessen Wangen eine grau-grünliche Färbung angenommen hatten.
»Mir ist so schlecht«, raunte er.
Schnell schenkte Sandra ein Glas Wasser ein. Bevor sie es Alan reichen konnte, verdrehte er die Augen, schnappte nach Luft, dann sackte er wie ein nasser Sack in sich zusammen. Ann-Kathrin konnte ihren größeren und kräftigeren Mann nicht halten. Alan fiel zu Boden.
Alle schrien auf. Christopher, der in Erster Hilfe ausgebildet war, kniete sich neben den Anwalt und tastete nach seinem Puls.
»Er ist schwach und sehr schnell. Wir benötigen einen Arzt und einen Krankenwagen, und zwar rasch.«
»Ich erledige das«, sagte Eliza, das Telefon bereits in der Hand.
Mit weit geöffneten Augen kniete Ann-Kathrin neben ihrem Mann und drückte seine Hand. Alans Lider flackerten, er flüsterte kaum hörbar: »Mein Liebes«, dann verlor er das Bewusstsein.
Es wurde ein Uhr, dann zwei, schließlich halb drei. Immer wieder blickte Sandra auf ihr Handy in Erwartung einer Nachricht von Ann-Kathrin. Diese war im Rettungswagen mitgefahren, Sandra, die die Freundin hatte begleiten wollen, war es verwehrt worden.
»Es ist gut, Sandra«, hatte Ann-Kathrin gesagt. »Solange wir nicht wissen, was Alan fehlt, können wir im Krankenhaus ohnehin nichts ausrichten.«
Christopher Bourke war gegen Mitternacht gegangen mit der Bitte, ihn zu informieren, wie es Alan ging. Auch Eliza Dexter hatte sich zurückgezogen. Wie ein Raubtier im Käfig lief Sandra in ihrem Cottage auf und ab. An Schlaf war nicht zu denken. Gerade als sie eine weitere Kanne Tee aufbrühte, hörte sie Motorengeräusch und sah mit einem Blick aus dem Fenster die Lichter eines Wagens sich der Auffahrt zum Hotel nähern. Es war ein Taxi, und Ann-Kathrin stieg aus. Sandra lief ihr entgegen, breitete die Arme aus, und die einen Kopf kleinere Frau schmiegte sich an sie.
»Die Ärzte haben mich weggeschickt, ich könne nichts tun und stünde nur im Weg rum«, brach es aus Ann-Kathrin hervor. »Sie haben Alan den Magen ausgepumpt und ihn in ein künstliches Koma versetzt. Er schwebt in Lebensgefahr.«
»Komm rein, ich habe gerade Tee gemacht.«
Widerstandslos ließ sich Ann-Kathrin in Sandras Cottage führen.
»Ist es okay, dass ich gekommen bin?«, flüsterte sie. »Allein zu Hause halte ich es jetzt nicht aus. Ich muss einfach mit jemandem sprechen.«
»Du kannst bleiben, solange du willst. Ist es eine Lebensmittelvergiftung?«
Ann-Kathrin zuckte mit den Schultern. »Im Moment spricht alles dafür. Alans Mageninhalt wird so schnell wie möglich untersucht. Sie werden auch den Richter aufsuchen. Wenn es am Essen lag, dann muss es Audley ebenfalls schlecht gehen.«
»Alan wird es schaffen«, sagte Sandra überzeugter, als ihr zumute war. »Er ist noch jung, kräftig und war immer gesund. Von einem vielleicht verdorbenen Lachs lässt Alan sich doch nicht unterkriegen, da hat er schon ganz andere Dinge durchgestanden.«
Sandras Bemerkung entlockte Ann-Kathrin die Andeutung eines Lächelns. Sie strich sich eine Strähne ihres braunen, glatten Haares hinter ein Ohr und erwiderte: »Das Krankenhaus ruft mich sofort an, wenn es eine Veränderung gibt. Sandra, ich habe Angst. Ich habe wirklich große Angst!«
Sandra schloss die Freundin wieder in die Arme. Sie wünschte, sie könnte Ann-Kathrin besser trösten als nur mit hoffnungsvollen Worten.
»Darf ich mich auf dein Sofa legen?«, fragte Ann-Kathrin. »Schlafen werde ich wohl nicht können, aber ich will etwas ausruhen, schließlich muss ich in ein paar Stunden in die Schule.«
»Nicht in dieser Situation!«, rief Sandra. »Du kannst unmöglich morgen zum Unterricht gehen!«
»Solange Alan im Koma liegt, kann ich nichts tun«, antwortete Ann-Kathrin gefasst. »Der Unterricht wird mich ablenken, und am Nachmittag fahre ich wieder ins Krankenhaus. Meine Zwerge kann ich doch nicht im Stich lassen! Wir wollen Strohsterne basteln, die Kinder freuen sich seit Tagen darauf.«
Ann-Kathrin Trengove war Lehrerin an der Primary School in Polperro. Sie unterrichtete Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren in den Fächern Englisch, Rechnen, Lesen, Schreiben, Geografie und Geschichte.
»Warten wir die Nacht ab«, sagte Sandra. »Ich bin sicher, bald kommt ein Anruf mit einer positiven Nachricht. Möchtest du nicht doch einen Tee trinken? Ich könnte schnell ins Hotel rübergehen und einen Kräutertee holen, den habe ich leider nicht im Haus.«
»Das ist lieb von dir, aber nicht notwendig.«
»Wie wäre es mit einem Whisky?«, schlug Sandra vor. »Du weißt, für uns Schotten ist Whisky das Heilmittel für nahezu alles, und er beruhigt.«
»Wenn du einen Schluck trinken möchtest, nur zu, für mich bitte nicht.« Der Blick, mit dem Ann-Kathrin Sandra ansah, war verzweifelt, trotzdem lächelte sie. »Auf Alkohol muss ich in den nächsten Monaten ohnehin komplett verzichten.« Ann-Kathrin legte eine Hand auf ihren Bauch.
Sandras Augen weiteten sich, und sie rief: »Ann-Kathrin! Ist das wirklich wahr?«
Die Freundin nickte. »Alan weiß es noch nicht, ich wollte abwarten, bis ich mir völlig sicher bin und es ihm an Weihnachten sagen. Ein größeres Geschenk kann ich Alan nicht machen, und nun …« Ihre Stimme brach, und sie schluckte schwer. »Vielleicht wird Alan nie erfahren, dass er Vater wird.«
»Er wird es bald erfahren«, erwiderte Sandra entschlossen. »Alles wird gut, du wirst sehen.«
Sandra war kein sehr gläubiger Mensch, die Kirche und die Religion waren in ihrem Elternhaus nie von Bedeutung gewesen, jetzt aber betete sie wortlos. Ann-Kathrin und Alan waren die liebenswertesten und besten Menschen, die Sandra jemals kennengelernt hatte. Gott – oder das Schicksal – konnte – durfte! – es nicht zulassen, dass ihr Glück jäh zerstört wurde.
Es war sechs Uhr am Morgen, als Ann-Kathrins Handy klingelte. Sie sah auf das Display, ihre Hände begannen zu zittern.
»Das Krankenhaus«, flüsterte sie heiser.
»Soll ich abnehmen?«, fragte Sandra. »Wobei sie mir keine Auskunft geben werden.«
»Ich muss es selbst tun, egal, welche Nachricht mich erwartet.« Mit wachsbleichem Gesicht nahm Ann-Kathrin das Gespräch entgegen. Sandra hörte sie »Ja, nein«, dann wieder: »Ja, selbstverständlich« und schließlich: »Ich komme am frühen Nachmittag« sagen. Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, sah sie Sandra an. »Alan ist über den Berg, es besteht keine akute Lebensgefahr mehr. Er ist noch im Koma, da seine Vitalfunktionen massiv geschwächt sind. Die Ärzte untersuchen jetzt, ob die Vergiftung seine Leber und die Nieren angegriffen hat, das wird noch ein paar Tage dauern.«
»Er wird wieder gesund, ganz sicher!« Sandra drückte die Hand der Freundin. »War der Fisch der Auslöser?«
»Das Labor arbeitet noch an der Auswertung«, antwortete Ann-Kathrin. »Machst du mir bitte einen starken Tee? Den brauche ich jetzt, dann fahre ich in die Schule. Du musst auch ins Hotel rüber. Ich halte dich auf dem Laufenden, wie es Alan geht.«
Sandra bewunderte die Freundin für ihre Stärke und ahnte, dass es in Ann-Kathrin anders aussah.
»Du darfst dir nicht zu viel zumuten«, ermahnte sie die Freundin. »Du bist nicht mehr allein nur für dich verantwortlich.«
Ein nahezu verklärtes Lächeln erhellte Ann-Kathrins Gesichtszüge.
»Das werde ich, darauf kannst du dich verlassen. Wenn Alan erfährt, dass er Vater wird, wird ihm das ein Ansporn sein, ganz schnell wieder gesund zu werden.«
Immer wieder schweiften Sandras Blicke zu ihrem Handy, das griffbereit neben ihr lag. Es fiel ihr schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, dabei gab es für die Weihnachtsparty und das Christmas Dinner noch viel zu organisieren. Endlich, um zwei Uhr am Nachmittag, ploppte eine Nachricht auf. Sandra las: Alans innere Organe sind okay, er wird wieder ganz gesund werden, die Ärzte lassen ihn zur Sicherheit noch ein paar Tage im Koma. Lots of Love, AK.
Sandra seufzte erleichtert, und Eliza Dexter sah sie erwartungsvoll an.
»Alan Trengove ist auf dem Weg der Besserung«, erklärte Sandra ihrer Mitarbeiterin.
Auch Eliza freute sich über diese gute Nachricht. Sie hatte mit Alan und Ann-Kathrin bisher nur oberflächlich zu tun gehabt, dennoch hatte sie Alans Zusammenbruch sehr erschreckt. Sandra verschwieg, dass ihre Freundin in anderen Umständen war, denn sie hatte Ann-Kathrin versprochen, niemandem etwas zu sagen, bevor nicht Alan die freudige Nachricht erfahren hatte.
Nun endlich konnte sich Sandra auf die Sitzplatzplanung für das Dinner konzentrieren. Etwa zwei Stunden später erhielt sie eine weitere Nachricht von Ann-Kathrin: Die Polizei war vorhin hier und stellte viele Fragen. Christopher ist nun auf dem Weg zu Dir. AK.
Sandra runzelte die Stirn und tippte die Frage zurück, warum die Polizei im Krankenhaus war. Eine Antwort erhielt sie nicht.
Eine halbe Stunde später betrat Christopher Bourke das Hotel. Er begrüßte Sandra zwar mit einem Lächeln, wirkte gleichzeitig sehr ernst. Ernst und berufsmäßig, dachte Sandra, die diesen Gesichtsausdruck bei Christopher bestens kannte.
»Alan geht es besser«, sagte sie.
Er nickte. »Ich weiß, ich komme gerade aus dem Krankenhaus.«
»Das hat Ann-Kathrin mir gerade mitgeteilt. Warum mischt sich die Polizei bei einer Lebensmittelvergiftung ein?«
»Der Auslöser für Alans Vergiftung war kein verdorbenes Lebensmittel«, erklärte Christopher. »Alan hat einen wachsamen Schutzengel gehabt, der Richter hatte leider nicht so viel Glück.«
»Richter Audley!«, rief Sandra und schlug sich gegen die Stirn. »Sorry, den habe ich völlig vergessen! Ann-Kathrin hatte den Ärzten gesagt, Alan habe bei ihm gegessen, und es hieß, man wolle nach ihm sehen. Was ist mit dem Richter?«
»Er ist tot«, antwortete Christopher schonungslos. »Noch in der Nacht wurde seine Haushälterin informiert, die nach Audley sah. Da kam schon jede Hilfe zu spät. Heute Vormittag versuchte ich, mit der Frau zu sprechen. Sie ist völlig außer sich und im Moment zu keiner Aussage fähig. Sie macht sich Vorwürfe, dass ihr Essen schuld am Tod des Richters sei, dabei legt sie, ihren Worten nach, großen Wert auf gute Qualität der Nahrungsmittel.«
»Du sagst, es lag nicht am Essen.« Sandra sah ihn fragend an. »Was ist los, Christopher? Warum erkrankte Alan so schwer und starb der Richter?«
Christopher lächelte schief. »Ich will dir alles sagen, was wir bisher wissen. Allein aus dem Grund, weil du dich sonst wieder in Dinge einmischst, die dich nichts angehen und dich in Gefahr bringen könnten.«
»Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn der Mann meiner Freundin mit dem Tod ringt«, warf Sandra ein.
Zu Sandras Überraschung nickte Christopher. »Das sehe ich ebenso, und bei allem, was wir inzwischen wissen, ist es unbedingt erforderlich, dass du dich heraushältst. Alan und der Richter aßen Kekse, die mit Gift präpariert waren.«
Sandra taumelte und klammerte sich haltsuchend an die Kante des Tresens. Mit einem Schritt war Christopher neben ihr und legte einen Arm um sie.
»Gehen wir in dein Büro«, sagte er sanft. »Es ist wohl besser, wenn du dich setzt.«
Sandra ließ sich von Christopher ins Büro führen. Als sie saß, merkte sie, wie sie am ganzen Körper zitterte. Erwartungsvoll sah sie den Freund an und sagte: »Erzähl mir bitte alles!«
»Es handelt sich um Rattengift«, erklärte er. »Ganz normales Rattengift, das man überall kaufen und noch einfacher übers Internet beziehen kann. Das Labor fand Spuren des Giftes in Alans Mageninhalt und auch schon in seinem Blut. Die Spurensicherung hat alle Lebensmittel im Haushalt des Richters mitgenommen und untersucht, darunter eine angebrochene Packung Kekse, die noch auf dem Esszimmertisch lag.«
»Was für Kekse?«, fragte Sandra verwirrt.
»Wie ich dem Gestammel der Haushälterin entnehmen konnte, wurde die Packung gestern Vormittag mit der Post geliefert. Ohne Absender, lediglich mit einer Notiz versehen, es sei eine kleine Aufmerksamkeit für Richter Audley. Wahrscheinlich, weil Alan es eilig hatte, nach Higher Barton zu kommen, hat er nur zwei oder drei Kekse gegessen. Mit einem Schnelltest hat das Labor festgestellt, dass auch die Kekse in der Packung das Gift, das bei Alan festgestellt wurde, enthalten. Die Obduktion von Richter Audley, die in dieser Stunde beginnt, wird uns Gewissheit bringen. Im Gegensatz zu Alan war Richter Audley ein alter Mann und, laut Aussage seiner Haushälterin, gesundheitlich angeschlagen.«
Sandra schüttelte ungläubig den Kopf, kombinierte schnell und richtig und stieß hervor: »Wenn es sich wirklich so zugetragen hat, dann war es …«
»Mord«, vollendete Christopher den Satz mit einem grimmigen Nicken. »Im Moment spricht alles dafür, dass Edward Audley mit Vorsatz getötet wurde.«
»Ein Richter hat sicher Feinde«, mutmaßte Sandra, »Audley war seit Jahren pensioniert. Kann es jemand sein, den er einst verurteilte, der inzwischen wieder auf freiem Fuß ist und eine Rechnung mit dem Richter offen hat?«
Christopher stieß einen verächtlichen Laut aus, dann sagte er nur zwei Worte: »Nicolas Lambourne.«
Im ersten Moment konnte Sandra mit dem Namen nichts anfangen, dann erinnerte sie sich an das Gespräch vom vergangenen Abend. Wegen den dramatischen Ereignissen hatte sie nicht mehr daran gedacht.
»Du meinst, dieser entflohene Mörder könnte etwas damit zu tun haben?«
»Constable Greenbow hat heute Vormittag bereits herausgefunden, dass Richter Audley Lambourne zu der lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte. Die beim Richter gefundene Kekspackung stammt von Lambourne Biscuits, es handelt sich um die mit Orangenfüllung und Schokoladenüberzug, die ich, nebenbei bemerkt, auch sehr gern esse.«
»Ach herrje, und Lambourne befindet sich auf der Flucht«, schlussfolgerte Sandra. » Wahrscheinlich plante Lambourne all die Jahre, sich an dem Mann, der ihn hinter Gitter brachte, zu rächen.«
»Die Kollegen in Bristol werden Lambournes Mithäftlinge befragen, ob er entsprechende Andeutungen gemacht hat.«
»Und wenn, ich glaube nicht, dass ein Häftling einen anderen verrät.« Sandra winkte ab. »Lambourne muss Hilfe von außerhalb gehabt haben, schon um sich das Gift zu besorgen. Da landesweit nach ihm gefahndet wird, kann er nicht einfach in ein Geschäft gehen und Rattengift kaufen, und wie sollte er es übers Internet bezogen haben? An welche Adresse schicken lassen, wie es bezahlen?« Sie sah Christopher auffordernd an. »Ihr müsst klären, zu wem Lambourne aus dem Gefängnis heraus Kontakt hatte.«
»Ich merke, wie deine detektivische Ader aktiviert ist, und deine schnelle Auffassungsgabe habe ich immer bewundert.« Christopher lachte schallend. »Sandra, ich habe dir mehr erzählt, als ich dürfte, einzig aus dem Grund, weil ich vermeiden will, dass du selbst in der Sache herumstocherst.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Sandra mit einem Ausdruck absoluter Unschuld. »Okay, Alan ist zu einem zufälligen Opfer geworden, glücklicherweise wird er wieder ganz gesund. Den Tod des Richters bedaure ich natürlich, dem Mann bin ich aber nie begegnet. Keine Sorge, Christopher, die Belange hier im Hotel werden mich genügend fordern, dass ich mich in deine Arbeit nicht einmischen werde.«
»Kann ich das bitte schriftlich haben?«, fragte Christopher mit gespieltem Ernst. »Nur für den Fall der Fälle.«
Sandra grinste, dann sprang sie so hastig auf, dass ihr Stuhl wackelte. »Die Kekse!«, rief sie. »Ich muss sofort alle Kekse in diesem Haus einsammeln! Lambourne hat vielleicht alle vergiftet, dann …«
Christopher hielt sie am Arm fest und lachte verhalten. »Das ist übertrieben, Sandra. Die Kekse, die du deinen Gästen anbietest, wurden lange vor Lambournes Flucht produziert und von dir gekauft. Darüber hinaus: Wie sollte es ihm gelingen, eine ganze Produktion zu vergiften? Er wurde nicht einmal in der Nähe der Fabrik gesehen, die Familie ist über seine Flucht informiert, alle halten die Augen nach Lambourne offen.«
»Trotzdem werde ich die Kekse sofort entfernen«, beharrte Sandra, und Christopher versprach, sie mitzunehmen und Stichproben im Labor testen zu lassen.
»Ich gehe nicht davon aus, dass Lambourne noch mehr Produkte vergiftet hat«, fügte Christopher an. »Es sieht alles danach aus, dass er Richter Audley gezielt töten wollte.«
»Du erwähntest die Familie des Mörders«, sagte Sandra, »leitet diese die Firma?«
Christoper nickte. »Sein Bruder und dessen Frau führen die Fabrik, nachdem Nicolas Lambourne verurteilt wurde. Kurz danach starb sein Vater, das habe ich den Akten entnommen. Sandra, da ist noch etwas, das du wissen solltest.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sah Sandra fest an.
»Was noch?«
»Die Akte Nicolas Lambourne ist nicht digitalisiert, mein Mitarbeiter, Constable Greenbow, hat erste Informationen aus Exeter, wo der Prozess stattfand, erhalten. Er ist ein pfiffiger Bursche und hat schnell Schlüsse gezogen, die sich leider als richtig herausgestellt haben.«
»Welche Schlüsse?«, rief Sandra. »Spann mich doch nicht so auf die Folter, Christopher!«
Er atmete tief ein und wieder aus, dann sagte er: »Nicolas Lambourne leugnete immer, die Morde begangen zu haben. Seine Verurteilung beruht auf einem fehlenden Alibi, einem starken Motiv und auf Indizien, die derart hieb- und stichfest waren, dass dem Richter nichts anderes übrigblieb, als ihn zu lebenslanger Haft zu verurteilen. Während des Verfahrens wurde Edward Audley von einem jungen Rechtsgelehrten unterstützt, der wesentlich in das Zusammentragen der Indizien involviert war. Als Audley den Urteilsspruch gegen Lambourne fällte, saß der junge Mann neben dem Richter im Saal.«
Christopher musste nicht weitersprechen. Hektisch schlossen und öffneten sich Sandras Finger, sie bemerkte es kaum. Heiser flüsterte sie: »Der junge Mann war Alan Trengove. Mein Gott, dann plante Lambourne, auch ihn zu vergiften.«
»Davon gehe ich aus«, stimmte Christopher zu. »Lambourne muss herausgefunden haben, dass Alan gestern Abend bei Audley eingeladen war. Ich schlage vor, wir trinken jetzt eine Tasse Tee, beziehungsweise du einen Kaffee mit Milchschaum. Eine Stärkung haben wir beide nötig.«
Sandra nickte und bat flehend: »Du wirst Lambourne finden, nicht wahr? Du wirst ihn wegen des neuen Mordes und des Mordversuchs an Alan wieder hinter Gitter bringen?«
»Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ehrt mich, Sandra, ich allein werde allerdings nicht viel ausrichten können. Der gesamte Polizeiapparat Englands ist involviert, alle Flug- und Schiffhäfen und die Behörden am Eurotunnel sind informiert. Will er die Insel verlassen, muss sich Lambourne irgendwo ein Ticket kaufen. Illegal kommt niemand aus unserem Land heraus. Wir bekommen ihn, Sandra, das verspreche ich dir!«
»Wenn Lambourne Hilfe von außerhalb hat, wovon auszugehen ist, wird er sich einen neuen Pass besorgen, mit dem ihm die Flucht gelingen könnte.« Sandra lächelte beklommen. »Ich hole dir jetzt Tee und mir einen Kaffee. Noch etwas, Christopher …«
»Ja?«
»Ich nehme an, unsere Verabredung für Samstag ist passé, nachdem du dich um einen neuen Mordfall kümmern musst.«
Er grinste, wirkte wie ein großer Lausbub, errötete aber nicht, als er antwortete: »Ich denke, ich werde mir am Samstagabend ein paar Stunden frei nehmen und mich von Greenbow vertreten lassen. Telefonisch werde ich ohnehin immer erreichbar sein. Um nichts in der Welt möchte ich mir entgehen lassen, dir beim Tanzen auf die Zehen zu treten.«
Mit seinen Worten hatte Christopher Sandras Anspannung gelockert. Lachend erwiderte sie: »Dann werde ich mir sicherheitshalber Schuhe mit Stahlkappen besorgen, obwohl ich fürchte, diese sehen nicht besonders schick aus.«
»Egal, was du trägst, Sandra, du wirst immer gut aussehen.«
Sandra schluckte, heiß stieg es in ihre Wangen. Ein solches Kompliment hatte Christopher ihr nie zuvor gemacht, und sie wusste nicht, ob er sie nicht nur auf den Arm nehmen wollte. In den letzten Monaten brachte er sie immer öfter in Verlegenheit, dabei hatte Sandra früher gedacht, Christopher in puncto Schlagfertigkeit überlegen zu sein. Ein Irrtum, wie sie auch jetzt wieder feststellen musste.
Das Klingeln des Haustelefons entband sie einer Antwort. Es war Eliza, die aufgeregt rief: »Kommen Sie schnell, Sandra, Harry ist gestürzt. Auf der oberen Treppe im Ostflügel.«