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Das Higher Barton Romantic Hotel beherbergt eine besondere Art von Gästen: Geisterjäger. Mit technischen Geräten möchten die Besucher der Vergangenheit des alten Hauses und einem Mordfall aus dem 19. Jahrhundert auf die Spur kommen. Die Hotelinhaberin Sandra Flemming, die nicht an Geister glaubt, ist trotzdem vom wissenschaftlichen Vorgehen der Gruppe fasziniert. Doch dann stirbt einer der Teilnehmer, vermeintlich weil ihn ein Geist zu Tode erschreckt hat. Sandra schließt einen Geist als Mörder aus, doch niemand hatte ein Motiv oder die Möglichkeit, den Mord zu begehen. Als seltsame, paranormale Dinge im Higher Barton Romantic Hotel geschehen, wird es für Sandra schwer, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
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Seitenzahl: 370
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Rebecca Michéle
Ein Cornwall-Krimi mit Sandra Flemming
PROLOG
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
EPILOG
NACHWORT
Higher Barton, Cornwall
Seit ihr Vater beschlossen hatte, über die dringend notwendigen Renovierungsarbeiten hinaus weitere Räume des alten, weitläufigen Hauses zu modernisieren, glich Higher Barton einer einzigen Baustelle. Wo sonst ihr Bett stand, stapelten sich Backsteine für eine neue Wand, die in den nächsten Tagen eingezogen werden sollte, daneben standen schwere Zementsäcke. Allerlei Werkzeug verteilte sich auf den mit Tüchern abgedeckten Holzdielen, über allem lag eine dicke Staubschicht. Als sie ihr Zimmer betrat, atmete sie erleichtert auf. Die Handwerker hatten ihr Tagwerk erledigt, so war sie allein. Ihre bisherige Freude auf das neue, größere Zimmer verflog. Sie kochte vor Wut, einer bis ins kleinste Detail ausgeklügelten Verschwörung erlegen und von Menschen, denen sie bedingungslos vertraut hatte, verraten worden zu sein. Obwohl sie niemanden denunzieren oder gar öffentlich anprangern wollte, konnte sie über die ungeheuerliche Intrige kein Stillschweigen wahren. Nicht nur ihr eigenes Glück, sondern auch das geliebter Menschen hing davon ab, dass die Wahrheit ans Licht kam. Sie sah aus dem Fenster auf die hügelige, liebliche Landschaft, ohne sie wahrzunehmen, und überlegte, welche Schritte sie jetzt unternehmen sollte.
»Ich weiß, was du vorhast, aber du wirst deinen Mund halten!«
Mit einem Schrei fuhr sie herum. In der Tür stand der Mann, dem sie vertraut hatte. »Was machst du hier?«
Überlegen grinsend lehnte er gegen den Türrahmen. »Hast nicht damit gerechnet und gedacht, ich hätte nicht bemerkt, wie du uns belauscht hast? Wolltest dich heimlich davonschleichen und mich bei Vater verpetzen.«
Er wirkte ungeheuer selbstsicher. »Was willst du jetzt machen? Du hast keinen Beweis für das, was du angeblich gehört hast.«
»Du wirst Higher Barton niemals erben!«, schleuderte sie ihm wütend entgegen.
Lapidar zuckte er mit den Schultern.
»Ich wüsste nicht, wie das zu verhindern wäre.«
»Vater wird erfahren, welch falsches Spiel du getrieben hast.«
Er lachte spöttisch. »Wem wird er wohl mehr glauben? Dir, einer überspannten Person, die durch die jüngsten Ereignisse zunehmend verwirrt ist, oder mir, seinem Sohn? Eines kann ich dir versichern: Sobald Vater tot ist, wird in diesem Haus für dich kein Platz mehr sein. Dann kannst du sehen, wo du bleibst, von mir bekommst du nämlich keinen einzigen Penny.«
Ihre Aufregung legte sich, sie konnte sogar lächeln. Ihre nächsten Worte würden ihm einen schweren Schlag versetzen, und sie konnte sich nicht länger zurückhalten.
»Nun irrst du dich! Längst hat Vater sein Testament geändert und mich als Alleinerbin eingesetzt.«
»Du lügst!« Er trat zu ihr, packte sie am Arm und schüttelte sie. »Eine Frau hat kein Anrecht auf das Erbe.«
»Sicher, als Frau kann ich den Titel nicht erben, weltliche Güter durchaus. Vater und unser Anwalt haben alles in die Wege geleitet, die Erbfolge zu ändern.« Triumphierend sah sie ihn an. »Du magst also den Titel bekommen, das Haus, die Ländereien und die Minen werden ohne Wenn und Aber in meinen Besitz übergehen.«
Er stieß sie heftig von sich. Hart prallte sie mit dem Rücken gegen einen Stapel Backsteine. Vor Schmerz stöhnte sie, aber er lachte nur.
»Wenn Vater von deinen Eskapaden erfährt, möchte ich lieber nicht in deiner Haut stecken«, presste sie hervor.
»Er wird mich nicht fortschicken.« Zum ersten Mal bemerkte sie eine leichte Unsicherheit bei ihm. »Er hat mich immer wie einen leiblichen Sohn behandelt und ich habe vor, mich zu bemühen, seinen Ansprüchen gerecht zu werden.«
»Das glaube ich dir sogar«, gab sie zu und schlug einen versöhnlichen Ton an, denn sie verabscheute Zank und Zwietracht. »Ich persönlich habe nichts gegen dich oder gegen deine Mutter, auch wenn es euch beinahe gelungen wäre, mein Glück zu zerstören. Das war infam, dennoch bin ich bereit, euch zu verzeihen. Wir sind schließlich eine Familie. Du musst akzeptieren, dass nach Vaters Tod, der hoffentlich noch in weiter Ferne liegt, ich die Leitung des Unternehmens übernehmen werde. Ich kann dich mit einbinden – sofern du bereit bist, Hand in Hand mit mir zu arbeiten. Gemeinsam können wir Higher Barton noch profitabler machen.«
Er schüttelte vehement den Kopf.
»Niemals lasse ich mich von einer Frau herumkommandieren! Higher Barton ist mein Erbe, auch wenn ich nicht Vaters leiblicher Sohn bin. Er hat mich schließlich adoptiert. Einzig aus diesem Grund hat Mama ihn geheiratet, sie wollte stets das Beste für mich.«
»Warum seid ihr so geldgierig?«, flüsterte sie, eher traurig als zornig. »Geld, Besitz und Macht ist nicht das Wichtigste. Glück und Zufriedenheit sind Güter, die für kein Geld der Welt zu kaufen sind. Wir alle zusammen könnten hier in Frieden leben.«
»Dann wirst du also schweigen?« Ein Hoffnungsschimmer glomm in seinen Augen. »Du wirst Vater nichts erzählen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er muss es erfahren, denn ich bin nicht bereit, auf mein Lebensglück zu verzichten.«
Er trat vor sie, die Augen zu Schlitzen verengt, und wirkte zu allem entschlossen. Sie jedoch wich keinen Schritt zurück. Wie viel Gemeinheit steckte noch in ihm? Wie viele Abgründe würden sich noch auftun? Sie fühlte sich erschöpft und ohne Kraft für eine weitere Auseinandersetzung.
»Ich glaube, es ist alles gesagt.« Sie wandte sich zur Tür. »Ich werde jetzt zu Vater gehen und ihm die Wahrheit sagen.«
Er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten, trat sogar einen Schritt zur Seite, damit sie an ihm vorbei den Raum verlassen konnte. Dann jedoch bemerkte sie eine Gestalt, die im Korridor auf sie zustürmte, einen Hammer über den Kopf schwingend. Sie riss die Arme hoch, um den Schlag abzuwehren, es war jedoch zu spät. Sie spürte keinen Schmerz, sondern nur grenzenlose Fassungslosigkeit, als das schwere Werkzeug ihre Schädeldecke zertrümmerte.
Supreme Court, London – 2019
Mit unbewegter Miene, innerlich jedoch jede Nervenfaser angespannt, erhoben sich der Anwalt Alan Trengove und sein Mandant, als die zwölf Frauen und Männer den Saal betraten. Über vier Stunden hatten sich die Geschworenen zurückgezogen. Geräuschvoll nahm die Jury ihre Plätze ein, während es sonst so still war, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Sein Mandant atmete geräuschvoll ein und aus und Alan roch seinen Angstschweiß. Er warf einen verstohlenen Blick zur Seite. Der Teint des Mannes war fahl, was nicht nur von den langen Wochen der Untersuchungshaft herrührte. Auf seinen Wangen hatten sich kreisrunde, rote Flecken gebildet und seine Hände zitterten unkontrolliert.
»Sind die Ladys und Gentlemen zu einer Entscheidung gelangt?«, fragte der Richter und schob sich die gepuderte Perücke zurecht, die ihm immer wieder in die Stirn rutschte, wie Alan es in den fünf Verhandlungstagen bemerkt hatte.
Eine Frau mittleren Alters stand auf. »Das sind wir, Eurer Ehren.«
»Ist Ihre Entscheidung einstimmig?«
»Das ist sie, Euer Ehren.«
»Wie lautet sie?«
Für einen Moment glitt der Blick der Frau zu dem Angeklagten. Unwillkürlich hielt Alan die Luft an.
»Unser einstimmiges Urteil lautet: nicht schuldig aus Mangel an Beweisen.«
Der Mann schrie leise auf und Alan atmete erleichtert auf. Er reichte seinem Mandanten die Hand, in die er einschlug, jetzt war seine Gesichtsfarbe krebsrot.
»Ich danke Ihnen, Mr Trengove«, sagte er und drückte Alans Hand so kräftig, dass die Knöchel knackten. »Ich danke Ihnen so sehr! Sie sind zu Recht der beste Anwalt des Landes.«
»Ich verliere nur ungern und daher selten einen Prozess«, erwiderte Alan verhalten, aber nicht unbescheiden. »Die Anklage war in mehreren Punkten haltlos, sie beruhte lediglich auf Indizien, es fehlten eindeutige Beweise. Es wird zwar ein Freispruch aus Mangel an Beweisen werden, aber …«
»Das ist mir egal!«, unterbrach der Mann aufgeregt.
Wenige Minuten später verkündete der Richter sein Urteil und Alan verließ an der Seite seines Mandanten, der ab sofort ein freier Mann war, das altehrwürdige Gebäude im Herzen Londons. Auf dem Platz vor dem Supreme Court verabschiedeten sich die Männer mit einem weiteren Händedruck, dann ging der Mann mit beschwingten Schritten zur nächsten Underground Station. Alan wandte sich in die entgegengesetzte Richtung zur Tiefgarage in der Great Collage Street, in der er einen Dauerparkplatz hatte. Noch heute Abend wollte er nach Hause fahren, auch wenn er erst mitten in der Nacht in Cornwall ankommen würde. Alan sehnte sich nach seiner Frau und seiner Tochter, die er seit zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte. So lange hatte ihn der Prozess in der Hauptstadt festgehalten. Bald waren Pfingstferien, vielleicht sollten er, Ann-Kathrin und die kleine Demelza für ein paar Tage verreisen? Die Toskana war um diese Jahreszeit besonders reizvoll. In der Kleinstadt Montecatini Terme kannte Alan ein idyllisch gelegenes, kleines Hotel, das auch für Kinder bestens ausgerichtet war. Gleich morgen wollte er mit seiner Frau sprechen und Reisepläne schmieden.
Es war wohl Alan Trengoves Freude auf seine Familie geschuldet, dass er den Mann nicht bemerkte, der ihn und seinen Mandanten seit dem Verlassen des Gerichtsgebäudes beobachtet hatte. Jetzt ging der Fremde, die Hände zu Fäusten geballt, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst, mit eingezogenem Kopf wie ein geprügelter Hund davon.
Sandra Flemming fuhr aus einem wirren Traum hoch. Sie war in einem undurchdringlichen Dschungel gewesen, hatte sich mit einer Machete den Weg freischlagen müssen, um zu einem rauschenden Wasserfall zu gelangen. Bevor sie ihn erreichte, wachte sie auf. Sandra schmunzelte. Der Traum war keineswegs bedrückend gewesen, im Gegenteil, sie meinte immer noch den Duft der exotischen Blumen in der Nase zu haben. Sie sah auf ihr Handy, das griffbereit auf dem Nachttisch lag. Es war fünf Uhr, genug Zeit, um noch ein Weilchen zu schlafen. Im Dunkel des Zimmers mit der Dachschräge vernahm sie ein leises Schnarchen. Sandra tastete neben sich und spürte die Wärme ihres Freundes unter ihrer Hand. Wohlig rekelte sie sich unter der kuscheligen Decke, war jetzt aber wach und fühlte sich ausgeruht. Seit sie und Christopher ein Paar waren, hatten sie schon viele wundervolle Nächte miteinander verbracht. Manchmal in seinem kleinen Apartment im Ort Lower Barton, meistens war Christopher jedoch in ihr Cottage auf dem Grund und Boden des Higher Barton Romantic Hotels gekommen, dessen Eigentümerin Sandra Flemming war. Nun erwachte Sandra seit einer Woche jeden Morgen in der Gewissheit, dass jetzt alles anders war, denn seit sieben Tagen – und Nächten! – wohnten sie und Christopher offiziell unter einem Dach. Er hatte sein Apartment gekündigt und sie hatten die ehemaligen Stallungen mit der darüberliegenden Wohnung – in der früher der Kutscher gelebt hatte – zu einem geräumigen und gemütlichen Cottage umgebaut. In der Luft lag noch der Geruch nach Holz und frischer Farbe, und den Großteil der Möbel hatten sie und Christopher neu gekauft.
»Keine Altlasten der Vergangenheit in unserem gemeinsamen Heim«, lautete Christophers Meinung, und da Sandra plante, ihr früheres kleines Haus ab dem kommenden Sommer an Feriengäste zu vermieten, war es sinnvoll, es möbliert zu belassen.
Sandra hauchte Christopher einen Kuss auf die Stirn, stand auf, schlüpfte in ihre weichen Slipper und hüllte sich in den Morgenmantel. Erst im Korridor knipste sie das Licht an und tappte die schmale Stiege hinunter. Unten befanden sich die gemütliche Wohnküche, das Wohn- und das Badezimmer. In der Küche schaltete Sandra den Kaffeeautomaten ein. Zwei Minuten später hielt sie eine große Tasse Kaffee mit einer fluffigen Haube Milchschaum in den Händen. Ein aromatischer Milchkaffee war für Sandra der perfekte Start in den Tag. Die Tasse in einer Hand, öffnete sie die Tür, die direkt von der Küche nach draußen führte, und trat einen Schritt aus dem Haus. Es war trocken und die Luft nahezu windstill. Sie sah zu den Umrissen des dunklen Herrenhauses. Der Hotelbetrieb begann in der Regel erst in zwei Stunden, wobei sie derzeit nur einen Gast hatten: Major Collins. Der ältere Gentleman und ehemalige Jagdflieger der RAF war Dauergast im Higher Barton Romantic Hotel. Auch nach fast sechs Jahren empfand Sandra beim Anblick des im Tudorstil erbauten Hauses Freude und Stolz. Higher Barton mit seinem weitläufigen Park war ihr Besitz und die Hotelleitung war für Sandra keine Arbeit, sondern ihre Berufung, sie konnte sich nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu tun.
»Kann man so viel Glück haben?«, murmelte Sandra. Ihr Leben war nicht immer geradlinig verlaufen, sie hatte Höhen und Tiefen erleben müssen, aber dennoch stand sie stets auf der Sonnenseite. Neben der Erfüllung ihres Traums, ein eigenes Hotel zu besitzen, hatte auch die Liebe in ihr Leben Einzug gehalten. Nach einigen Missverständnissen waren sie und Christopher Bourke nun sehr glücklich miteinander – und in drei Monaten sollte die Hochzeit sein.
Langsam zog ein heller Schimmer am östlichen Horizont auf. Für Februar war der Morgen angenehm mild, ganz anders als die Temperaturen zu dieser Jahreszeit in Sandras Heimat in den schottischen Highlands. Inzwischen hatte sie sich an die nahezu schnee- und frostfreien Winter in Cornwall gewöhnt. Das Laub der Bäume und Sträucher verfärbte sich nie vollständig und fiel nicht ab. Selbst in den Wintermonaten blühten zahlreiche Pflanzen an den Küsten und den Bachläufen, wie der rote Fingerhut und der Blaustern. Das Vieh blieb das ganze Jahr über auf den Weiden, deswegen rühmten sich die Cornishmen, die beste Milch im ganzen Land zu produzieren.
Sandra trank einen Schluck Kaffee und summte eine leise Melodie vor sich hin.
»Guten Morgen, Darling.«
Sie hatte Christopher nicht kommen hören und fragte: »Habe ich dich geweckt?«
Er schüttelte den Kopf. Seine Wangen waren von rötlichblonden Stoppeln bedeckt und er trug Shorts und ein weißes T-Shirt. »Ich bin aufgewacht und du warst nicht da. Somit gab es für mich keinen Grund, noch länger an der Matratze zu horchen.«
Sandra lehnte ihren Kopf an seine Brust. Christopher fand immer die richtigen Worte. Er war zugleich ihr Liebhaber und bester Freund.
»Was möchtest du zum Frühstück?«, fragte sie.
»Das Übliche: Toast, Butter, Marmelade und einen starken Kaffee«, antwortete er. »Ich springe nur rasch unter die Dusche. Gegen acht muss ich im Büro sein.«
»Hast du es derzeit mit einem Kapitalverbrechen zu tun?«
Christopher schüttelte den Kopf. »Glücklicherweise nicht, allerdings machen uns die Einbrüche Sorgen. Bisher ist niemand körperlich zu Schaden gekommen, denn die Täter kommen nur, wenn niemand im Haus ist. Leider sind sie so unhöflich, keine verwertbaren Spuren zu hinterlassen.«
Seit Anfang des Jahres hatte es drei Einbrüche in Häuser in und um Lower Barton herum gegeben. Die Beute waren stets leicht zu transportierende elektronische Geräte, Schmuck und Bargeld. An Kunstgegenständen schienen die Täter nicht interessiert zu sein, wie der Einbruch bei Catherine Bowder zeigte. Die alte Dame besaß einige wertvolle Antiquitäten und sogar ein echtes Gemälde von William Turner. Die Diebe hatten dem Bild keine Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es in Fachkreisen eine gut sechsstellige Summe eingebracht hätte.
»Ja, ausgesprochen rücksichtslos, keine Namen und Adressen zu hinterlassen«, frotzelte Sandra. »Andererseits wärst du dann schnell arbeitslos.«
»Damit hast du auch wieder recht. Können wir gemeinsam frühstücken, oder musst du gleich ins Hotel?«
»Den Vormittag über habe ich Zeit«, antwortete Sandra. »Erst am Nachmittag trifft die Dame ein, die das Hotel für die nächste Woche exklusiv gemietet hat. Der Rest der Gruppe reist morgen im Laufe des Tages an.«
»Ach ja, die Geisterjägerin.« Christopher schmunzelte. »Gern würde ich Mäuschen spielen, wenn sich die Leute auf die Suche nach den Gespenstern von Higher Barton machen.«
»Ich werde mir die Sache auf jeden Fall ansehen«, erwiderte Sandra lachend. »Eliza ist nach wie vor skeptisch, aber auch sie kann nicht leugnen, dass es im Februar eine glückliche Fügung ist, das Hotel so gut belegt zu haben. Solange der Zirkel das Haus nicht auf den Kopf stellt oder gar etwas beschädigt, sollen die Gäste von mir aus machen, was sie wollen.«
»Auf eine weiße Frau oder einen kopflosen Ritter bin ich gespannt.« Christopher küsste Sandra auf die Lippen. »Ich muss mich beeilen. Frühstück in zehn Minuten?«
»Aye, Chief Superintendent!«
Ende des letzten Jahres war Christopher Bourke vom Detective Chief Inspector zum Superintendenten befördert worden. Für den Polizeiposten in Lower Barton war das eine außerordentliche Stellung. In den letzten Jahren war in dem kleinen Ort aber so viel geschehen, dass eine versierte Polizeidienststelle notwendig war. Christopher zur Seite standen ihm sein langjähriger Mitarbeiter Sergeant John Greenbow und, seit einigen Monaten, Constable Erin Pawley. Sie war Mitte zwanzig, intelligent, klug und ihr Ehrgeiz erinnerte Sandra an ihren eigenen. Sie mochte die junge Polizistin, die zwar burschikos auftrat, aber ein weiches Herz hatte. Dass bei der Aufklärung der meisten Verbrechen Sandra ihre Finger im Spiel gehabt hatte, ja mancher Mord ohne ihr Zutun erst gar nicht als ein solcher erkannt worden wäre, beeinträchtigte ihre und Christophers Beziehung nicht. Er hatte sich damit abgefunden, dass Sandra regelmäßig über Leichen stolperte und nicht lockerließ, bis die Täter überführt waren.
Den kommenden Gästen sah Sandra gespannt, aber nicht besorgt entgegen. Sie glaubte nicht an Geister in Higher Barton, nicht an Übersinnliches und paranormale Erscheinungen. Ihre Mitarbeiterin Eliza Dexter und sie wollten dafür sorgen, dass es den Gästen an nichts mangelte, ansonsten würde Sandra die Leute machen lassen. Schließlich bezahlten sie für die Woche in Higher Barton gutes Geld.
Eine Stunde später betrat Sandra das Hotel. Trotz zahlreicher Um- und Anbauten im Laufe der Zeit hatte sich die aus dem 16. Jahrhundert stammende, große Halle nur unwesentlich verändert. Sie reichte über zwei Geschosse, eine Seite wurde von einem mächtigen Kamin beherrscht, in dem ein ausgewachsener Mann stehen konnte, darüber zierte eine Rosette aus alten, funktionsuntüchtigen Waffen aus dem Bürgerkrieg die hell getünchte Wand. Neben dem Kamin stand die Replik einer mittelalterlichen Ritterrüstung, davor eine Sitzgruppe mit einem Sofa und zwei gemütlichen Sesseln mit bunten Blumenmusterbezügen. Die Balkendecke und der grau-weiße Fliesenfußboden stammten aus dem 17. Jahrhundert. Der Eingangstür gegenüber befand sich die Rezeption, die sich gut in den Charme der alten Halle einfügte. Sandra fand den Empfang verwaist. Ein Blick in den Frühstücksraum sagte ihr, dass Major Collins noch nicht heruntergekommen war. Während der dunklen Jahreszeit schlief ihr Dauergast gern länger, im Sommer hingegen unternahm er oft schon vor dem Frühstück einen Spaziergang durch den weitläufigen Hotelpark mit dem alten Baumbestand. Sandra öffnete eine der beiden Türen hinter der Rezeption. Holly, eines der Zimmermädchen, lümmelte auf dem Stuhl, Stöpsel in den Ohren, und summte die Melodie eines rockigen Charthits mit. Als sie Sandra sah, setzte sie sich aufrecht hin und nahm die Kopfhörer heraus.
»Guten Morgen, Ms Flemming«, sagte sie hastig. »Ich habe gerade nichts zu tun, der Major schläft noch.«
»Schon gut, Holly.« Sandra winkte ab. »Ab morgen, wenn fast alle Zimmer belegt sind, bekommt ihr wieder mehr Arbeit.«
Hollys Kolleginnen Imogen und Sophie hatten bis einschließlich heute Urlaub, da in den letzten drei Wochen außer dem Major kein Gast das Romantic Hotel aufgesucht hatte. In dieser Jahreszeit war eine geringe Belegung die Regel. Sandra war das recht, denn über Weihnachten und den Jahreswechsel hatten sie alle Hände voll zu tun gehabt. Das Weihnachtsdinner und der abendliche Ball, der auch zahlreiche externe Gäste angezogen hatte, und die Silvesterparty mit über einhundert Personen hatten Sandra keine ruhige Minute gelassen.
»Ich freue mich auf die neuen Gäste.« Hollys Augen leuchteten erwartungsvoll. »So ’ne tolle Kiste hatten wir noch nie im Hotel. Glauben Sie, Ms Flemming, dass es in Higher Barton spukt und wir Geister zu sehen bekommen?«
Sandra lachte schallend. »Natürlich nicht, ein so altes Haus birgt jedoch viele Geheimnisse. Manche glauben daran, dass die Seelen der Menschen, die einst hier gelebt, geliebt, gelacht und sicher auch geweint und gelitten haben, in den Mauern noch anwesend sind.«
»Also, ich hätte nichts dagegen, einem richtigen Gespenst zu begegnen«, erwiderte Holly. »Das wäre total cool.«
Sandra antwortete nicht mehr, da die Klingel an der Rezeption anschlug und ein Mann rief: »Die Post!« Sie ließ Holly allein, nahm dem Briefträger einen Stapel Umschläge und zwei Kataloge – einer für Bürobedarf, der andere für Hotelmöbel – ab. Schnell sah sie die Briefe durch, sortierte die Rechnungen auf einen Stapel, die Werbepost auf einen anderen. Bei einem braunen, länglichen Schreiben stutzte sie, ihr Herz schlug schneller. Sie widerstand der Versuchung, den Umschlag zu öffnen, denn er war nicht an sie adressiert. Sandra eilte in die Küche. Eduard Peintré saß auf einem Hocker, in der Hand eine Tasse mit einem aromatisch duftenden Tee.
»Guten Morgen, Monsieur«, grüßte Sandra. Der kleine, gedrungene Koch mit dem lichten Haupthaar und dem dunklen, schmalen Oberlippenbart stammte aus Belgien und bestand auf dieser Anrede. »Es ist Post für Sie gekommen.«
Bedächtig stellte Peintré die Tasse ab, stand auf und nahm den Brief entgegen. Beim Blick auf den Absender wurden seine Wangen fahl und seine Hand zitterte.
»Endlich, hat lange genug gedauert«, brummte er, drehte das Schreiben unschlüssig zwischen den Fingern und machte keine Anstalten, den Umschlag zu öffnen.
»Möchten Sie den Brief nicht lesen?«, fragte Sandra, ebenso angespannt wie der Koch.
Peintré seufzte. »Muss ich wohl. Es zu ignorieren, macht die Sache nicht besser.«
Mit der langen, schmalen Klinge eines Messers ritzte er den Umschlag auf und zog ein zweiseitiges Schreiben heraus. Schnell flogen seine eng stehenden, dunklen Augen über die Zeilen. Jetzt wurde sein Teint tiefrot. Er seufzte erneut, sah auf und sagte: »Tja, Ms Flemming, wir haben mit einer solchen Entscheidung gerechnet, nicht wahr? Na ja, dann ist es eben so. Wir werden damit leben müssen.«
Sandras Herz rutschte eine Etage tiefer. Seit Monaten warteten sie und Edouard Peintré auf seine Arbeitserlaubnis – oder eben seine Ausweisung aus Großbritannien. Seit dem Brexit mussten viele ausländische Arbeitskräfte das Land verlassen, was bereits zu erheblichen Engpässen in zahlreichen gastronomischen Betrieben geführt hatte. Gefühlt hatte Sandra zwei Dutzend Anträge und Formulare ausgefüllt, um den Behörden zu versichern, dass der belgische Landsmann Eduard Peintré im Higher Barton Romantic Hotel systemrelevant war, wie es amtlich hieß. Ihr Haus würde hohe finanzielle Einbußen verzeichnen, wenn der Sternekoch des Landes verwiesen wurde.
»Wann?«, fragte Sandra mit belegter Stimme und musterte Peintré mitleidig. Wohin würde er jetzt gehen, was machen? Soviel sie wusste, hatte der Koch keine Angehörigen und auch sonst niemanden in Belgien, mit dem er sich verbunden fühlte. Dafür lebte er schon zu lange in England, hatte ein eigenes Restaurant an der Küste von Dorset geführt und war jetzt schon sechs Jahre in Higher Barton. Zugegeben, Peintré war kein einfacher Charakter, er hatte Allüren, hielt sich für den Meister seines Faches – was er zweifelsohne war, das durfte man ihm nur nicht zu oft sagen –, und einige seiner Einstellungen waren gewöhnungsbedürftig und stammten aus dem letzten Jahrhundert. Trotzdem würde er Sandra fehlen. Nicht nur als Spitzenkoch, der Gäste aus ganz Cornwall und der benachbarten Grafschaft Devon anzog, sondern auch als Mensch. Besonders als Mensch, denn Sandra hatte sich nicht nur an seine ständige Nörgelei gewöhnt, sie würde ihr sogar fehlen.
Mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck antwortete Peintré: »Wenn ich das Schreiben richtig verstehe, tritt die Entscheidung ab sofort in Kraft.«
Die Tür am Ende des Ganges der Wirtschaftsräume, die in einen kleinen Innenhof führte, klappte, kurz darauf betrat eine pummelige Frau mit rotblonden Haaren die Küche.
»Guten Morgen«, rief Rosa fröhlich. Die Küchenhilfe versprühte immer gute Laune, beim Anblick der betretenen Gesichter ihrer Chefin und des Kochs runzelte sie jetzt die Stirn. »Ist was passiert? Es ist doch hoffentlich niemand gestorben? Der Major vielleicht?«
»Um Gottes willen, bloß nicht!«, rief Sandra erschrocken und fragte sich, ob sie nicht hinaufgehen und in der Leicester Suite nachsehen sollte, ob es Major Collins gut ging und er heute nur wieder länger in Morpheus’ Armen schlummerte. Immerhin hatte der alte Haudegen die achtzig bereits überschritten, war aber fit und kerngesund. Sie erklärte Rosa: »Monsieur bekam heute den definitiven Bescheid der Aufenthaltsbehörde.«
Rosas Blick fiel auf das Schreiben in der Hand des Kochs. »Und?«
Peintré wich ihrem fragenden Blick aus und zuckte mit den Schultern.
»Ach, kommen Sie, Monsieur!«, rief Rosa unbeschwert. »Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, wird Sie aus dem Land werfen.«
»Wer sagt, dass unsere Regierung Verstand hat?«, murmelte Sandra, die von Anfang an gegen den Brexit gewesen war und bis heute nicht verstand, warum die Entscheidung mit einer so geringen Mehrheit hatte getroffen werden können. Bei einer solch drastischen Veränderung für das Land und das Volk hätten Sandras Meinung nach mindestens zwei Drittel für den Austritt aus der EU stimmen müssen. Sie war aber keine Politikerin und musste sich jetzt mit den fatalen Folgen auseinandersetzen und irgendwie zurechtkommen.
»Du hast gut reden, Rosa«, sagte Peintré wehmütig. »Du hast rechtzeitig geheiratet und bist sicher.«
»David und ich lieben uns«, entgegnete Rosa. »Ich weiß, Sie denken, wir haben nur so schnell geheiratet, damit ich nicht nach Polen zurückmuss, das ist aber nicht so.«
Trotz der angespannten Situation schmunzelte Sandra. Alle hatte es überrascht, als die Küchenhilfe Rosa Piotrowski und der Barkeeper David Jackson im Januar verkündet hatten, sie hätten geheiratet. Seit vier Jahren hatte Sandra zwar eine Beziehung der beiden zueinander vermutet, aber keine Fragen gestellt. Rosa und David waren immer sehr diskret gewesen. In die Liebesangelegenheiten ihrer Mitarbeiter mischte sich Sandra nicht ein, solange die Arbeit nicht darunter litt. Auf jeden Fall konnte die Küchenhilfe im Land und bei ihrer Arbeit bleiben, worüber Sandra sehr erleichtert war.
Fordernd streckte Rosa die Hand aus. »Nun zeigen Sie schon den Wisch, Monsieur.«
Mit einem Blick, gleich einem waidwunden Tier, reichte Peintré ihr die amtliche Mitteilung. Rosa überflog die Zeilen, biss sich erst auf die Unterlippe, lachte dann schallend und boxte den Koch kräftig gegen die Schulter.
»Was sind Sie doch für ein Filou!« Sandra kannte niemanden, sie eingeschlossen, der so mit dem Belgier reden durfte, ohne einen empörten Rüffel zu kassieren. »Sie streben wohl eine zweite Laufbahn als Schauspieler an, was? Beinahe sind wir darauf reingefallen.«
In Peintrés Augen blitzte es schelmisch und nun verstand auch Sandra. Sie stemmte die Hände in die Seiten und rief entrüstet: »Der Antrag ist genehmigt?«
Grinsend antwortete der Koch: »Deswegen sagte ich eben, dass wir mit der Entscheidung leben müssen. Zumindest für die nächsten drei Jahre haben Sie mich weiterhin am Hals, Ms Flemming.«
Spontan fiel Sandra dem Koch um den Hals und küsste seine Wangen, was sie noch nie zuvor getan hatte. Etwas verlegen machten sie sich voneinander los. Peintré, sichtlich gerührt, rieb sich die Augen.
»Das ist ein Grund zum Feiern«, sagte Sandra. »Heute Abend spendiere ich eine oder auch zwei Flaschen Champagner.«
»Was habe ich verpasst?« In der Tür erschien eine ältere, große und hagere Frau.
»Eliza, Monsieur darf bei uns bleiben«, rief Sandra ihrer Mitarbeiterin zu. »Der Bescheid ist heute gekommen.«
Ein Lächeln verschönte die sonst herben Gesichtszüge von Sandras rechter Hand und Vertrauten. »Das sind gute Nachrichten. Monsieur, der Major ist gerade heruntergekommen und möchte frühstücken. Ich fürchtete schon, wir verlören unseren geschätzten Dauergast, wenn Sie gehen müssen, Monsieur.«
»Major Collins ist eben ein Mann, der ausgezeichnetes Essen zu schätzen weiß. Ich bereite ihm heute die besten Eier zu, die er je auf dem Teller hatte«, erwiderte der Koch fröhlich. »Rosa, auf was wartest du? Na los, schneide die Tomaten und Champignons und heize die Pfanne an!«
»Sofort, Monsieur.« Rosa machte einen Schritt auf den Koch zu, Peintré wich zurück und brummte: »Du brauchst mich jetzt nicht auch noch zu küssen, sonst bekomme ich Ärger mit deinem David.«
Rosa lachte. »Besser nicht, denn bei einer Auseinandersetzung mit meinem Mann wären Sie ihm hoffnungslos unterlegen.«
»Darauf lasse ich es lieber nicht ankommen«, erwiderte Peintré. »Jetzt an die Arbeit, wir möchten unseren Gast doch nicht verhungern lassen.«
Rosa salutierte. »Aye, aye, Monsieur.«
Erleichtert verließ Sandra die Wirtschaftsräume. Monate des bangen Wartens hatten sich im Endeffekt gelohnt. In drei Jahren würde sie einen neuen Antrag stellen müssen, darüber wollte sich Sandra heute nicht den Kopf zerbrechen. Dazu war der Tag zu schön.
Im Vorfeld hatte sich Sandra keine Gedanken über Florence Carmichael, ihre neue Gästin, gemacht. Sie hatten einmal miteinander telefoniert und einige E-Mails ausgetauscht. Ms Carmichael hatte für eine Woche mehrere Zimmer und eine Suite gebucht mit dem Wunsch, das Hotel in dieser Zeit für sich und ihre Begleiter allein zur Verfügung zu haben. Nachdem Sandra versichert hatte, Major Collins würde sie nicht stören, hatte die Dame zugestimmt, den alten Mann im Haus zu dulden.
»Vielleicht findet der Major Gefallen an unserem Unternehmen«, hatte Florence Carmichael bei dem Telefonat mit einem lächelnden Unterton gemeint.
Als die Frau wie vereinbart um drei Uhr am Nachmittag im Higher Barton Romantic Hotel eintraf, war Sandra überrascht. Sie hatte eine ältere Dame erwartet, verschroben und exzentrisch, in bunte, wallende Gewänder gehüllt, mit rosa oder lila gefärbten Haaren und einem verklärten Blick, keinesfalls aber eine Frau, jünger als Sandra, mit einem schmalen, dezent geschminkten Gesicht und ansprechenden, ebenmäßigen Zügen. Florence’ blondes Haar mit dunklem Ansatz war zu einem modernen Pixie-Cut frisiert und mit dem nachtblauen Hosenanzug, der mintfarbenen Bluse und den blauen, halbhohen Pumps hätte sie jederzeit dem Vorstand eines börsennotierten Unternehmens angehören können. Florence’ Händedruck war fest, ihre Haut kühl und sie bestand darauf, mit dem Vornamen angesprochen zu werden.
»Gern«, stimmte Sandra zu und bat Florence, sie Sandra zu nennen. »Wir haben miteinander telefoniert.« Sie deutete auf Eliza, die mit säuerlicher Miene neben ihr stand und Florence anstarrte, als hätte diese zwei Köpfe. »Das ist meine Mitarbeiterin Eliza Dexter.«
»Hi, Eliza«, sagte Florence.
»Willkommen in Cornwall, Ms Carmichael«, grüßte Eliza förmlich. »Ich möchte nicht verschweigen, dass ich Ihr …«, sie schluckte, »Vorhaben für unpassend, wenn nicht bedenklich halte. Ich hoffe, unser Haus wird nicht in Misskredit oder gar in Gefahr gebracht.«
»Eliza, Sie übertreiben«, tadelte Sandra ihre Mitarbeiterin.
Florence winkte ab, lächelte verständnisvoll und wirkte wie eine toughe Geschäftsfrau, die sie wahrscheinlich auch war. Offen sah sie Eliza an und erwiderte: »Skeptische und ablehnende Haltungen gegenüber meiner Arbeit sind die Regel. Nicht selten macht man sich über mich lustig, hält mich für durchgeknallt und hier oben«, sie tippte sich gegen die Stirn, »nicht in Ordnung. Das ist okay. Nicht jedem ist die feine Gabe für die Zwischenwelt gegeben. Seien Sie unbesorgt, Eliza, das Higher Barton Romantic Hotel wird keinen Schaden erleiden, im Gegenteil. Meine Mission wird es befreien und reinigen, damit sich Ihre Gäste in den altehrwürdigen Mauern noch besser erholen können.«
»Bisher hat sich jeder Gast außerordentlich wohl gefühlt«, konterte Eliza mit einem spöttischen Unterton. »Es gibt Dinge, die sollten besser im Verborgenen bleiben.«
»Spielen Sie auf etwas Bestimmtes an?«, fragte Florence interessiert. »Besondere Vorkommnisse oder seltsame Todesfälle? Im Laufe der Jahrhunderte müssen sich im Haus doch einige Tragödien abgespielt haben.«
»Mir sind keine bekannt. Sandra muss wissen, was sie tut, sie ist die Chefin. Sie entschuldigen mich? Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als über angebliche Gespenster zu plaudern.«
Eliza machte auf dem Absatz kehrt und rauschte hoheitsvoll wie eine Königin davon.
»Sie mag mich nicht«, bemerkte Florence trocken und zuckte mit den Schultern. »Sie müssen wissen, Sandra, dass ich auch parapsychologische Beratungen anbiete. Ich versuche, Menschen zu helfen, die ungewöhnliche Dinge erleben, wobei die Betroffenen selbst definieren, was für sie ungewöhnlich ist. Für mich ist es meist gar nicht befremdlich, aber wenn jemand etwas erlebt, das er nicht versteht, hat er ein Problem, weil er nicht weiß, wie damit umzugehen ist.«
»Wie meine Mitarbeiterin«, entgegnete Sandra.
Florence nickte wohlwollend. »Ich sehe, Sie verstehen meine Arbeit, zumindest scheinen Sie ihr nicht engstirnig gegenüberzustehen. Nicht selten landen Menschen, denen Außergewöhnliches widerfährt, bei Nervenärzten und werden mit Medikamenten gefüttert, dabei gibt es in den meisten Fällen einfache Erklärungen und damit auch Lösungen. Vielleicht gelingt es mir, Ms Dexter zu überzeugen.«
Das bezweifelte Sandra. Als im letzten Herbst die Anfrage von Florence Carmichael eingegangen war, das Hotel für eine Woche exklusiv zu buchen, und Florence’ Absicht bekannt wurde, hatte Eliza sofort Einwände erhoben. Sie hatte gemeint, man dürfe das Schicksal nicht herausfordern, auch nicht für alles Geld der Welt. Schlussendlich fügte sich Eliza, da Sandra die Gäste vom geschäftlichen Standpunkt aus betrachtete. Im Februar verirrten sich nur wenige Besucher nach Cornwall. Von Anfang Januar bis Ostern, wenn die Reisesaison wieder begann, herrschte sozusagen Saure-Gurken-Zeit, in der die Gastronomen zusehen mussten, keine Verluste zu schreiben. Neben den laufenden Kosten für ein Haus wie Higher Barton trug Sandra auch Sorge für die Gehälter ihrer neun Angestellten. Im Gegensatz zu manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen entließ Sandra nämlich niemanden in der Nebensaison. So war die Buchung von sechs Gästezimmern, einer Suite und dem Ballsaal eine willkommene Einnahmequelle zu dieser Jahreszeit.
Sandra sagte: »Bei Fragen und Wünschen wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an mich, Florence.«
Florence nickte und ließ den Blick durch die Halle schweifen. »Das Haus entspricht der Beschreibung und den Fotos im Internet. 16. Jahrhundert, nicht wahr?«
»Das ist richtig«, antwortete Sandra stolz. »In den vergangenen Jahrhunderten erfolgten immer wieder Um- und Anbauten, der alte, ursprüngliche Teil von Higher Barton, wie hier die Halle, ist jedoch nahezu unverändert erhalten geblieben.«
»Absolut perfekt!« Begeistert klatschte Florence in die Hände und wirkte gar nicht mehr kühl und geschäftsmäßig. »Wenn in diesen alten Mauern keine Seelen sind – wo denn sonst? Denken Sie nur an die arme Evelyn Tremaine! Sie kennen deren Geschichte?«
»Nur bruchstückhaft, eigentlich weiß ich nur, was in der Gegend erzählt wird«, antwortete Sandra. »Emma Penrose scheint mehr zu wissen, aber ich habe sie nie explizit nach den Vorfahren der Tremaines gefragt. Die alten Geschichten spielen heute längst keine Rolle mehr.«
»Das sehe ich anders«, erwiderte Florence. »Immerhin wurde die Seele von Evelyn noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Higher Barton gesichtet.« Sandra fragte sich, wie eine Seele gesehen werden konnte. Als hätte Florence ihre Gedanken gelesen, fügte sie hinzu: »Die Wesen zeigen sich uns Sterblichen nur sehr selten in einer sichtbaren Form. Wir können ihre Anwesenheit spüren und manchmal sind sie auch bereit, mit uns zu sprechen. Durchscheinende, nebelhafte Körper sind jedoch Klischees und eine Erfindung der Medien. Das, was in Filmen gezeigt und zur Spannung eingesetzt wird, erschwert die professionelle und wissenschaftliche Arbeit enorm, weil die Menschen erwarten, menschenähnlichen Körpern zu begegnen.«
Florence sprach mit so viel Entschlossenheit, dass Sandra wusste: Sie meinte es wirklich ernst! Sie selbst glaubte weder an Geister noch daran, dass die Seelen Verstorbener keine Ruhe finden und in den Mauern alter Häuser gefangen waren. Sie schlug vor: »Lassen Sie uns zusammen einen Kaffee trinken und dabei die Details besprechen.«
»Für mich bitte einen Früchtetee«, erwiderte Florence. »Hagebutte oder Himbeere, wenn möglich. Wer ist die von Ihnen erwähnte Emma Penrose?«
»Emma und ihr Mann George leben schon lange auf Higher Barton«, erklärte Sandra. »Die Familie Penrose ist seit Jahrhunderten in der Gegend ansässig. Früher dienten Emma und ihr Mann der letzten Lady Tremaine als Haushälterin und Hausmeister. Heute haben sie ein lebenslanges Wohnrecht in einem der Cottages im Park und genießen ihren Ruhestand.«
»Wäre es möglich, mit Emma Penrose zu sprechen?«, fragte Florence. »Sie kann mir sicher mehr über die Geschichte des Hauses erzählen.«
»Es tut mir leid, aber das Paar hält sich derzeit auf Teneriffa auf. Vor April erwarte ich sie nicht zurück.«
»Wie bedauerlich!«
»Ich glaube auch nicht, dass Emma bereit ist, mit Ihnen zu telefonieren oder zu chatten«, räumte Sandra ein. »Wie meine Mitarbeiterin steht auch sie der Sache argwöhnisch gegenüber.«
»Das ist schade, aber meistens bin ich auf mein eigenes Gespür angewiesen«, erwiderte Florence.
Sandra klingelte und bat den Kellner Harry um einen Milchkaffee und einen Früchtetee, dann führte sie Florence in ihr Büro. Dieses lag direkt hinter der Rezeption und war mit zwei Fenstern licht und hell. Nach wenigen Minuten brachte Harry die Getränke, warf Florence einen misstrauischen Blick zu und ging, ohne ein Wort zu äußern, was für den sonst gesprächigen Harry ungewöhnlich war.
Sandra sah sich in der Pflicht, sein Verhalten zu erklären und sagte: »Für einen noch jungen Mann ist leider auch er skeptisch. Er wird sich dennoch korrekt verhalten, das versichere ich Ihnen.«
Florence nickte verstehend. »Selbstverständlich sind Sie und Ihr Personal eingeladen, sich unseren Treffen anzuschließen, um einen Einblick in mein Vorgehen zu bekommen.«
»Ich werde es mir auf jeden Fall ansehen«, erwiderte Sandra und fragte: »Wie genau habe ich mir den Ablauf der kommenden Woche vorzustellen?«
Lächelnd antwortete Florence: »Mein Mitarbeiter und ich werden heute die Zentrale im Ballsaal einrichten und die erste Begehung des Hauses machen. Morgen, im Laufe des Tages, treffen die Teilnehmer ein. Wir werden Messungen vornehmen und auch die Atmosphäre auf uns wirken lassen. Was wann genau geschehen wird …« Sie zuckte mit den Schultern. »Das einzuschätzen, ist unmöglich. Manchmal geschieht über Tage hinweg gar nichts, manchmal überschlagen sich die Ereignisse. Das macht die Sache ja so spannend.«
»Sie glauben, die Mauern von Higher Barton beherbergen einen Geist, den Sie finden und jagen können?«, fragte Sandra und versuchte, nicht skeptisch zu klingen.
»Ich mag den Ausdruck Geisterjägerin nicht besonders«, antwortete Florence ernst. »Mit Jagd verbindet man etwas Negatives, als würde man eine Beute erlegen. Keinesfalls möchte ich ein Wesen, das sich in der Zwischenwelt befindet, zur Strecke bringen. Nein, ich möchte einen freundlichen Kontakt herstellen, um mehr über die Vergangenheit des Wesens zu erfahren und warum es sich noch hier aufhält. Darüber hinaus ist es extrem interessant, die feinstofflichen und energetischen Schwingungen auszuloten. Jeder meiner Fälle ist neu, keiner ähnelt einem anderen.« Florence trank einen Schluck Tee, dann fuhr sie fort: »Es ist in Ordnung, wenn Sie mich Geisterjägerin nennen. Ich selbst bezeichne mich eher als Seelen- oder Wesenserforscherin. In unserem Sprachgebrauch gibt es leider kein Wort, das meine Tätigkeit richtig beschreibt.«
»Seit wann machen Sie diese … Arbeit?«, fragte Sandra.
»Eigentlich schon immer, nur als Kind war ich mir meiner Fähigkeiten nicht bewusst«, antwortete Florence. »Vor acht Jahren nahm ich an einer Tagung zu dem Thema teil, arbeitete danach in einem Team und forschte mehrere Monate in Irland. Das Land ist voller Ruinen von Burgen und verlassenen Häusern. Nirgendwo sonst in Europa halten sich so viele Seelen in alten Mauern auf und wir konnten einige bemerkenswerte Feststellungen machen. An englischen Herrenhäusern fasziniert mich, dass jede Generation ihre Spuren darin hinterlassen hat. Sie sind voller Geheimnisse und die Geschichten werden stets weitergetragen. Vor vier Jahren entschloss ich mich, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen, ein Schritt, den ich nie bereut habe.« Sie lächelte versonnen. »Eigentlich ist es keine Arbeit für mich, sondern eine Berufung. Es gelang mir, vielen Menschen ihre Furcht vor dem Paranormalen zu nehmen und ihnen aufzuzeigen, dass wir von den Seelen nichts zu befürchten haben. Sie und wir – wir leben in einem harmonischen Miteinander. Zeigen sich die Wesen durch die eine oder andere Art, dann haben sie uns etwas mitzuteilen. Sie tun es nicht, um die Lebenden zu ängstigen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Sandra, obwohl sie überhaupt nicht verstand, welchem Zweck das Hotel in der nächsten Woche dienen sollte. Florence machte nicht den Eindruck, als würde sie wie das Team aus dem Film Ghostbusters seltsamen Gestalten nachjagen.
Ein weiteres Mal schien Florence Sandras Gedanken zu erahnen, denn sie erklärte: »Die Suche nach unerklärlichen Vorkommnissen ist eine wissenschaftliche, sie basiert auf physikalischen Kenntnissen, Erfahrungen und jahrelangen Weiterentwicklungen in dem Metier. Ich arbeite nicht mit wabernden Nebelschwaden, durchscheinenden Körpern, qualvollem Stöhnen und lautem Kettengerassel um Mitternacht.« Florence machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das sind Geschichten, mit denen man heutzutage nicht einmal mehr Kindern Angst einjagen kann. Die brauchen nur den Fernseher einzuschalten und bekommen weitaus schrecklichere Dinge zu sehen.«
Dem konnte Sandra nur zustimmen und fragte: »Wie gehen Sie vor, Florence?«
»Es ist Tatsache, dass die Geschichte der jungen Evelyn eine tragische ist«, fuhr Florence fort. »Sie soll in diesem Haus brutal ermordet worden sein. Heißt es nicht, ihre Seele sei im 20. Jahrhundert mehrmals gesichtet worden?«
»So erzählt man es sich«, gab Sandra zu. »Andere Meinungen lauten, Evelyn sei aus Liebeskummer ins Meer gegangen.«
»Ihre Leiche wurde nie gefunden«, wandte Florence ein. »Ich setze große Hoffnung darauf, dass Evelyn bereit sein wird, mit uns zu kommunizieren, und die Wahrheit berichtet.«
Wie das vor sich gehen sollte, konnte sich Sandra beim besten Willen nicht vorstellen, es war aber auch nicht ihre Angelegenheit. Eine andere Frage beschäftigte sie: »Woher kennen Sie so gut Evelyn Tremaines Geschichte?«
»Ich halte meine Augen und Ohren offen, bin stets auf der Suche nach alten, oft längst verlassenen Häusern, in denen ich vermute auf Wesen aus der Zwischenwelt zu stoßen. Auch werde ich von Leuten engagiert, die ein paar …«, Florence lächelte versonnen, »Probleme in ihren vier Wänden haben. In der Regel kann ich behilflich sein.«
»In England gibt es kaum ein altes Gemäuer, das nicht mindestens einen Geist beherbergen soll«, sagte Sandra. »Ergo werden Sie über mangelnde Beschäftigung nicht zu klagen haben.«
Florence nickte. »Viele sind stolz auf ein eigenes Hausgespenst und vermarkten seltsame Erscheinungen und Ereignisse für Besucher.«
»Nicht in meinem Hotel«, entgegnete Sandra entschieden. »Die Gäste, die Higher Barton buchen, suchen Ruhe und Entspannung. Wenn sie Nervenkitzel wollen, sind sie bei uns an der falschen Adresse. Was wissen Sie noch über das Haus?«
»Die Eigentümer von Higher Barton waren immer gut situiert und in Cornwall angesehen«, erklärte Florence und Sandra mutete es seltsam an, dass eine Fremde so viel über das Haus wusste. »Im 18. und besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Higher Barton zu einem herrschaftlichen Anwesen, denn durch den Zinn- und Kupferbergbau vermehrte die Familie Tremaine ihr Vermögen enorm.«
»Das ist mir bekannt«, warf Sandra ein. »Selbst nach dem Niedergang des Bergbaus vor über hundert Jahren konnten die Tremaines ihren luxuriösen Lebensstil fortsetzen, was in jener Zeit nur wenigen Familien gelang. Die Letzte mit dem Familiennamen, Lady Abigail Tremaine, ist noch am Leben. Vor Jahren verließ sie Cornwall und ließ sich in Südfrankreich nieder.«
Florence sah Sandra aufmerksam an und fragte: »Sie sind Lady Abigail nie begegnet?«
»Leider nein«, antwortete Sandra. »Emma Penrose erzählte mir von ihr, mehr weiß ich jedoch nicht.«
»Auch das ist bedauerlich«, murmelte Florence. »Lady Abigail hätte mir Auskünfte über ihre Vorfahren geben können, sicher auch über Evelyn. Von einem Tag auf den anderen verschwand die junge Frau. Wie Sie erwähnten, soll sie Selbstmord begangen haben. In den folgenden Jahrzehnten wurde Evelyns Anwesenheit mehrmals wahrgenommen. Nicht von naiven, abergläubischen Menschen, sondern von solchen, die zuvor die Existenz von Geistern vehement leugneten. Abgesehen von Evelyn Tremaine gab es in Higher Barton auch weitere Todesfälle.«
Dem konnte Sandra nicht widersprechen. Einige Menschen waren in diesem Haus getötet worden und sie selbst hatte mitgeholfen, die jeweiligen Mörder zur Strecke zu bringen.
Nachdenklich sagte Sandra: »Wenn die Mauern von Higher Barton sprechen könnten, hätten sie uns viel zu sagen.«
»Ja, das wäre faszinierend, sozusagen das Flüstern der Wände … Nun, es ist meine Aufgabe, zumindest einen Teil der Geheimnisse der Vergangenheit ans Tageslicht zu fördern.«
»Sind Sie ein Medium?«, fragte Sandra. Florence Carmichael interessierte sie immer mehr, auch wenn sie sich durch nichts und niemanden überzeugen lassen würde, Higher Barton mit paranormalen Wesen zu teilen.
Schmunzelnd antwortete Florence: »Wenn Sie den Begriff Medium in der Richtung interpretieren, dass ein Mensch von einer fremden Macht ergriffen wird, diese in seinen Körper schlüpft und er mit der Stimme eines Verstorbenen spricht – dann muss ich Sie enttäuschen, Sandra. Manchmal habe ich zwar eine Regression …«
»Regression?«, unterbrach Sandra sie. »Mit dem Begriff verbinde ich etwas anderes als die Suche nach Gespenstern.«
»Wesen, Sandra, nennen Sie sie Wesen oder Seelen«, belehrte Florence. »In meiner Branche bezeichnen wir Gespenster als angebliche Erscheinungen mit übernatürlichen Kräften, die sichtbar sind oder sich sichtbar machen können. Sie spuken, um die Lebenden zu erschrecken, nicht selten auch um ihnen zu schaden. Das sind allerdings Ammenmärchen, wie ich bereits erwähnte, und ich glaube nicht an Gestalten in weißen Bettlaken mit rot glühenden Augen. Alle Forschungen ergeben, dass solche Figuren immer einen realen Hintergrund haben, der von Lebenden dazu benutzt wird, Schabernack zu treiben. Seelen oder Wesen hingegen möchten den Lebenden, mit denen sie die Häuser teilen, nichts antun, sondern dort in Ruhe und Frieden existieren.«
»Sehr interessant, Florence. Der Unterschied war mir nicht bekannt.« Nur schwer konnte Sandra ernst bleiben. Florence Carmichael war also doch etwas skurril. Gegenüber ihren Gästen musste sich Sandra stets wertfrei und zuvorkommend verhalten, daher sagte sie schnell: »Sie wollten mir den Begriff Regression erklären, Florence.«
»Ach ja, richtig. Entschuldigen Sie meinen kleinen Ausflug in die Welt der Geister. Es ist mir wichtig, dass die Unterschiede bekannt sind, denn aus Unwissenheit entstehen die meisten Missverständnisse. Als Regression bezeichnen wir es, wenn Erinnerungen an frühere Zeiten in uns aufsteigen, die wir nicht kontrollieren können.
»Haben wir das nicht alle?«, fragte Sandra.
»Durchaus, bei Personen ohne die besondere Gabe beschränken sich solche Erinnerungen auf ihre eigenen Erlebnisse, vornehmlich in der Kindheit. Wenn ich eine Regression erhalte, sehe ich durch die Augen eines längst Verstorbenen und teile dessen Erinnerungen.«
»Sie hoffen also, eine solche Regression von Evelyn Tremaine zu bekommen und dadurch festzustellen, wie sie starb?«
»Sie haben es verstanden, Sandra! In den nächsten Tagen werden wir ausreichend Zeit haben, uns eingehend zu unterhalten.
In der Halle rumpelte es, dann rief eine männliche Stimme: »Flo, wo steckst du? Soll ich alles allein schleppen?«
Über die Unterbrechung war Sandra dankbar. Viel länger hätte sie ihren gelassenen Gesichtsausdruck nicht mehr halten können.
»Mein Mitarbeiter«, erklärte Florence und stand auf.
Sandra folgte ihr in die Halle. Ein hochgewachsener, athletisch gebauter Mann mit raspelkurzen, hellblonden Haaren hatte bereits zwei große, metallene Kisten abgestellt, über der Schulter hing ein längliches, schwarzes Futteral. Trotz des