Rückkehr nach Cornwall - Rebecca Michéle - E-Book

Rückkehr nach Cornwall E-Book

Rebecca Michéle

4,8

Beschreibung

Cornwall im 19. Jahrhundert: Seit Jahren ist Marian in Matthew verliebt, doch er heiratet eine andere. Um sich abzulenken, beschließt die junge Adelige ihre Freundin Olivia nach Malta zu begleiten. Dort lernt sie den mittellosen Maler Benedict kennen und beide verlieben sich ineinander. Plötzlich verschwindet jedoch Olivia spurlos, und Marian wird verdächtigt, sie ermordet zu haben - ihr bleibt nur die Flucht. Mit Benedicts Hilfe gelangt sie zurück nach Cornwall, wo sie ihre Jugendliebe wiedertrifft und in einen gefährlichen Zwiespalt der Gefühle gerät.

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Rückkehr nach Cornwall

von Rebecca Michéle

Kapitel 1

Ich liebte Matthew Denbury von dem Tag an, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Ich war damals etwa sieben oder acht Jahre alt, als die Denburys uns auf Landhydrock Hall besuchten. Matthew, sieben Jahre älter, war schon beinahe ein junger Mann. Ernst, als sei ich kein Kind, sondern bereits eine junge Dame, beugte er sich über meine Hand und deutete einen Kuss an. "Sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Marian", sagte er, und ich kicherte verlegen, als er meine Hand wieder freigab. Seine grünen Augen blickten freundlich, und ich war glücklich, beim Tee, den wir im Garten einnahmen, neben ihm sitzen zu dürfen.

"Das sind also die neuen Besitzer von Boventon Castle", hörte ich später meine Mutter zu Vater sagen. "Es scheint eine sehr nette Familie zu sein. Ich freue mich, sie als Nachbarn zu haben. Wir werden sie in Zukunft wohl häufig sehen."

Am nächsten Tag saß ich in der Küche bei Mrs. Fiddick, die Köchin und Wirtschafterin in einer Person war, und naschte von dem süßen Teig, aus dem sie köstliche Nusskekse formte.

"Was wissen Sie über die Denburys?", fragte ich neugierig.

Mrs. Fiddick schlug spielerisch nach meiner Hand. "Du sollst nicht so viel naschen, sonst hast du nachher wieder keinen Hunger."

"Wer sind die Denburys? Woher kommen sie?", beharrte ich und steckte mir noch schnell ein Stück Teig in den Mund, als Mrs. Fiddick sich umdrehte, um nach dem Feuer im Ofen zu sehen. "Ich weiß, dass hier unten in der Küche über alles geredet wird, was in Cornwall passiert."

Mrs. Fiddick sah mich streng an. "Du kleiner Naseweis! Die Denburys sind nach dem Tod des vorigen Besitzers in Boventon Castle eingezogen, weil dieser keine Erben hatte. Somit fiel das Schloss an einen entfernten Cousin, eben Lord Denbury."

"Und wo kommen sie nun her?" Mein Wissensdurst war lange noch nicht gestillt.

"Man sagt, sie stammen aus Dorset. Mehr weiß ich nicht. Es wäre deiner Mutter gar nicht recht, dass du dir hier den Dienstbotenklatsch anhörst. Außerdem muss ich mich jetzt sputen, damit alles zur Teezeit fertig ist. Also, raus mit dir!"

Ich lachte, stibitzte noch einen fertigen warmen Keks und trollte mich.

Auf dem Korridor zum Esszimmer traf ich William, meinen Bruder. Obwohl er nur zwei Jahre älter war als ich, benahm er sich gerne von oben herab, so auch heute. "Ach, hier steckst du wieder, Marian. Mutter sucht dich. Du sollst sofort in ihr Arbeitszimmer kommen." Er war schon an der Ecke, als er mir über die Schulter hinweg zurief: "Du weißt, dass Vater es nicht möchte, dass wir uns im Dienstbotentrakt aufhalten."

"Ja, ja", murrte ich. Solange ich denken konnte, liebte ich die weitläufigen Räume des Wirtschaftsbereichs von Landhydrock Hall. Ganz besonders hatte es mir die Küche angetan. Sie war hoch wie ein Ballsaal mit einem verglasten, spitz zulaufenden Dach, in dem die Fenster über eine spezielle Vorrichtung geöffnet werden konnten. Ich saß gerne an dem riesigen Tisch und spielte mit den Dingen, die sich in den Schubladen befanden. Ganz nebenbei hatte ich bemerkt, dass die Küche der Raum des Hauses war, in dem man als Erster erfuhr, was in der Umgebung geschah. Solange ich ein Kind war, hatten mich meine Eltern gewähren lassen, auch Mrs. Fiddick hieß mich jederzeit willkommen.

Aber seit dem letzten Jahr wünschten meine Eltern, dass ich meinen vertrauten Umgang mit dem Personal einschränkte, das heißt, hauptsächlich mein Vater wünschte es. "Marian, es gibt eine strenge Trennung zwischen Herrschaft und Dienerschaft. Das Personal von Landhydrock Hall ist beinahe wie eine große Familie, aber es ist nicht unsere Familie. Wir dürfen in keiner Situation vergessen, dass der Name Elkham einer der ältesten im ganzen Königreich ist."

Meine Mutter nickte zwar, aber sie sagte kein Wort. Lediglich der Blick, den sie mit Vater tauschte, verriet mir, dass sie nicht seiner Meinung war. Zwei Menschen konnten charakterlich kaum unterschiedlicher sein als unsere Eltern. Dabei waren sie einander in solch zärtlicher Liebe zugetan, wie sie nicht inniger sein könnte. Dennoch verging kaum ein Tag, an dem ihre beiden Dickköpfe nicht aufeinander prallten und sie nicht heftig miteinander diskutierten. Natürlich vermieden sie einen Streit vor uns Kindern. Trotzdem blieb es mir nicht verborgen, dass Mutter und Vater recht unterschiedliche Lebensanschauungen hatten. Meine Mutter war eine stolze und sehr schöne Frau. Für mich war sie alterslos, ihrer Figur sah man nicht an, dass sie mehreren Kindern das Leben geschenkt hatte. Vater stand ihrem Stolz in nichts nach, wobei er jedoch auf eine strenge Trennung zwischen oben und unten achtete. Oben, das waren wir, die Familie – unten, das war das Personal, das auf einem so großen Besitz wie Landhydrock Hall sehr zahlreich war. Rein äußerlich bestand zwischen unseren Eltern eine große Ähnlichkeit. Beide waren sie groß und schlank mit dunklen, lockigen Haaren. Während die Augen meiner Mutter in einem sanften Braun schimmerten, sprühten aus Vaters stahlblauen Augen oft genug die Funken.

Deutlich erinnere ich mich an eine Auseinandersetzung, die ich heimlich belauscht hatte.

"Jedes Haus, das etwas auf sich hält, beschäftigt einen Butler. Wir können und wir werden dem in nichts nachstehen!", hatte Vater gesagt.

"Ach, und nur weil in sämtlichen Nachbarhäusern ein solcher Kauz, der aussieht, als habe er einen Stock verschluckt, lautlos herumschleicht, müssen auch wir einen einstellen?" Meine Mutter lachte laut auf. "Wir haben genügend Personal, und Kate ist in ihrer Rolle als Empfangsdame perfekt. Ich bin vollauf mit ihr zufrieden."

Doch Vater beharrte auf seinem Entschluss: "Meine Entscheidung ist gefallen, liebe Cellie, und ich habe mich auf meiner letzten Londonreise bereits nach einer geeigneten Person umgesehen. Nächste Woche wird der Mann hier eintreffen."

Meine Mutter murrte zwar noch etwas, schlussendlich gab sie aber nach.

So zog Dobson in das Schloss ein. Zuvor hatte er viele Jahre einem Parlamentsabgeordneten in der Stadt gedient und ging in seiner neuen Stellung als Butler sofort mit Leib und Seele auf. Mir war Dobson immer etwas unheimlich. In seinem dunklen Anzug mit der gestreiften Weste und dem steifen Kragen wirkte er wie ein Beerdigungsunternehmer, und er schlich auf lautlosen Sohlen durch die Räume. Nie wusste man, aus welcher Ecke er urplötzlich auftauchte und mit seiner näselnden Stimme einen Besucher meldete. Obwohl Mutter gegen die Anstellung Dobsons gewesen war, behandelte sie ihn stets höflich und ganz so, wie es der Herrin eines großen Besitzes anstand.

Ich liebte unser Haus. Landhydrock Hall war ein großes und sehr altes Gebäude. Seine heutigen Mauern waren im 16. Jahrhundert in Form eines großen E erbaut worden, damals geschah das häufig zu Ehren der großen Königin Elizabeth. Bereits im 11. Jahrhundert hatte an gleicher Stelle ein Kloster gestanden, das durch einen Brand vernichtet worden war. Einzig die kleine normannische Kirche, die in nordöstlicher Richtung an Landhydrock grenzte, zeugte noch von den vergangenen religiösen Zeiten.

Unter den sorgsamen Händen meiner Eltern blühte und gedieh Landhydrock Hall. Mochten Mutter und Vater in vielen Dingen auch unterschiedlicher Meinung sein, in einem waren sie sich absolut einig: Ihre Herzen hingen an Landhydrock Hall, und sie taten alles, um uns Kindern ein gemütliches Heim zu bescheren. So war die Ehe meiner Eltern in allen Bereichen ein Vorbild für mich, und ich war überzeugt, dass ich ein ebensolch glückliches und erfülltes Leben führen würde, wenn ich erst verheiratet war.

Zwischen meinen Eltern und Lord und Lady Denbury entwickelte sich bald eine gute Freundschaft. Die Familien besuchten sich oft gegenseitig, wobei ich jedes Mal dem Wiedersehen mit Matthew entgegenfieberte.

Obwohl er älter war, behandelte er mich nie wie ein kleines Mädchen. Wenn ich ihm etwas erzählte, so hörte er mir ernst und aufmerksam zu und gab mir so manchen Ratschlag, ohne dabei belehrend zu wirken. Einmal flocht er mir einen Kranz aus Gänseblümchen und setzte ihn auf mein Haar. "Jetzt siehst du aus wie eine Königin. Meine Königin."

Ich lachte, ergriff seine Hand, und gemeinsam rannten wir über die Wiese. Obwohl ich noch so jung war, wusste ich genau, dass Matthew Denbury der Mann war, den ich eines Tages heiraten würde.

"Landhydrock Hall ist der schönste Platz auf Erden", sagte meine Mutter oft, und ich teilte ihre Meinung.

Die Pächter und Bewohner der umliegenden Dörfer nannten unser Heim nur das Schloss, obwohl Landhydrock Hall eher ein ländliches Herrenhaus war, allerdings eines der elegantesten und größten in ganz Ost-Cornwall, das vielen Pächtern Lohn und Brot gab. Mein Vater, Lord Simon Elkham, leitete das Anwesen, wobei ihm ein tüchtiger Verwalter zur Seite stand, denn Vater hatte einen Sitz im Oberhaus, was seine regelmäßige Anwesenheit in London erforderlich machte, wo wir auch ein Stadthaus besaßen. Ich selbst war noch nie in der Stadt gewesen, es zog mich aber auch nichts nach London. Ich liebte die Beschaulichkeit des Landlebens, obwohl es allein schon aus dem Grund, dass wir fünf Geschwister waren, in Landhydrock Hall selten ruhig zuging. Für die damalige Zeit waren wir dennoch keine große Familie, zehn, manchmal auch zwölf Kinder waren keine Seltenheit. Zu unserem Haushalt gehörte Nanny Granger, die sich um die Kleinen kümmerte, und Tante Kate, die eigentlich gar nicht unsere richtige Tante war, sondern eine langjährige Freundin meiner Mutter. Solange ich denken konnte, lebte sie im Schloss, und wir Kinder liebten sie zärtlich.

Bis wir alt genug waren, in das Mädchenpensionat oder nach Eton zu gehen, wurden wir von Kate und Mutter selbst unterrichtet. Auch das war ein Streitpunkt zwischen unseren Eltern gewesen, denn Vater hatte darauf gepocht, für uns Kinder eine Gouvernante einzustellen.

"Die Kinder brauchen keine Person, die durch äußere Umstände dazu gezwungen ist, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und deswegen ihre Arbeit nur widerwillig macht", hatte Mutter argumentiert. "Von mir aus können unsere Kinder auf die Schule in Helland oder in Bodmin gehen."

"Auf eine öffentliche Schule? Niemals! Die Nachkommen der Elkhams setzen sich nicht mit dem einfachen Volk auf dieselbe Bank!", hatte Vater gewettert.

Meine jüngere Schwester Rosanna und ich lauschten gespannt hinter der Tür, wussten aber nicht, ob die Aussicht, eine strenge und sauertöpfische Erzieherin zu erhalten oder eine öffentliche Schule zu besuchen, uns mehr beunruhigte.

"Mein lieber Simon, ich glaube, es ist an der Zeit, dich wieder an etwas zu erinnern, was du nur allzu gerne vergisst." Die Stimme von Mutter hatte zuckersüß geklungen, dennoch schwang ein Unterton mit, der sich stets einschlich, wenn Vater sich zu sehr in seinem Standesdünkel verlor. Ein Charakterzug, der meiner Mutter völlig fremd war. Auch dieses Mal trug Mutters Bemerkung Früchte.

"Nun gut, du und Kate könnt die Kinder unterrichten, bis die Mädchen auf das Pensionat und die Jungen nach Eton gehen werden."

So fungierte Tante Kate als unsere Erzieherin, war aber viel mehr unsere Freundin. Sie war etwas älter als meine Mutter und hatte nie geheiratet. Ihr Äußeres war wenig attraktiv, aber das war völlig gleichgültig, denn in ihrer Brust schlug ein gutes Herz, und sie liebte uns Kinder zärtlich.

Überhaupt glich unser Haushalt wenig dem eines typischen kinderreichen Haushalts im ausgehenden 19. Jahrhundert, war es doch allgemein üblich, dass man Kinder zwar sah, aber nicht hörte, und diese sich fast ausschließlich in den Kinderzimmern aufhielten. Die besaßen wir zwar auch, trotzdem stand uns das ganze Schloss zum Spielen zur Verfügung und bot herrliche Verstecke. Morgens und mittags aßen wir mit Nanny und Tante Kate, am Abend aber bestanden unsere Eltern darauf, das Dinner gemeinsam mit uns einzunehmen. Dabei herrschte in dem großen Speisezimmer stets eine ausgelassene Stimmung, alle sprachen durcheinander und berichteten von den Erlebnissen des Tages. Auch Tante Kate saß mit am Tisch. Sie war diejenige, die uns Einhalt gebot, wenn wir zu laut wurden oder die Kleinen mehr mit ihrem Essen spielten, als dass sie die Speisen zu sich nahmen.

Mein Vater musste oft nach London reisen, und manchmal begleitete Mutter ihn. Meine Eltern mochten nie lange getrennt sein. Dann blieben wir Kinder in der Obhut von Nanny Granger und Tante Kate. Wir waren fünf Geschwister und bewohnten ein ganzes Stockwerk in Landhydrock für uns allein. Nanny Granger war zwar schon recht betagt, kam aber ihren Aufgaben gewissenhaft nach. Ich glaube, wenn es hätte sein müssen, hätte sie ein ihr anvertrautes Baby mit bloßen Händen aus den Pranken eines Löwen gerissen. Ich wusste nicht, wie sie mit Vornamen hieß, aber das war egal. Für uns war sie immer nur Nanny. In ihrem geräumigen Zimmer stand stets eine Kinderwiege, in einem angrenzenden Raum hatte sie für sich und die Kinder ein eigenes Badezimmer. Mein älterer Bruder William besuchte, wie alle Jungen vergangener Generationen von Elkhams, ab seinem zwölften Geburtstag das Internat in Eton. Rosanna und Diana waren drei, beziehungsweise sechs Jahre jünger als ich, Derek ein Jahr. Nie werde ich die Zeit im Jahre 1883 vergessen, als unsere jüngste Schwester Sarah an Typhus erkrankte und nur wenige Tage nach Ausbruch der ersten Krankheitszeichen starb. Sie war nur zwei Jahre alt geworden. Wir Geschwister durften damals nicht zu ihr ins Zimmer, denn zu Sarahs Erkrankung kam noch die Gefahr der Ansteckung für alle Bewohner. Doch Mutter wich nicht von ihrem Bett und war bei ihr, als Sarah ihren letzten Atemzug tat. In dieser Zeit gab es nur eine Person, die die Trauer, die das Herz von Mutter umschloss, durchbrechen konnte: Tante Kate.

"Wir haben früher zusammen die Schulbank gedrückt", verriet mir Tante Kate einmal kichernd. "Deine Mutter war keine sehr fleißige Schülerin, aber du darfst ihr nicht verraten, dass ich dir das erzählt habe."

Ich nickte, doch etwas anderes beschäftigte mich viel mehr. "Dann hat Mama eine öffentliche Schule besucht?", fragte ich erstaunt.

Nun gab es seit längerer Zeit in England die Schulpflicht, seit einigen Jahren wurde für öffentliche Schulen auch kein Schuldgeld mehr erhoben, trotzdem mutete es mich seltsam an, dass eine Lady aus dem Adelsstand nicht in einer Privatschule erzogen worden sein sollte.

Kaum hatte ich die Frage gestellt, begann Kate hektisch die vor ihr liegenden Bücher wahllos hin und her zu schieben. Sie mied meinen Blick und war sichtlich nervös, als sie abrupt das Thema wechselte: "Hast du eigentlich deine Hausaufgaben schon gemacht? Du solltest doch einen Aufsatz über den Status Indiens im Commonwealth schreiben." Damit war für sie das Thema erledigt, und ich wusste, es war zwecklos, weitere Fragen zu stellen.

So widmete ich mich seufzend der Geschichte Indiens, obwohl ich viel lieber mehr über die Kindheit meiner Mutter erfahren hätte.

Wenn man, so wie ich, behütet und von Eltern und Geschwistern zärtlich geliebt, frei von jeglichen Sorgen in ländlicher Abgeschiedenheit auf einem herrschaftlichen Schloss aufwächst, dann hat man keine Vorstellungen, was für Widrigkeiten die Zukunft für einen bereithalten kann. Mein Leben verlief in den folgenden Jahren in geregelten Bahnen, und mit vierzehn brach ich in gespannter Erwartung in das Pensionat auf. Die Schule lag an Rand der Stadt Barnstable in der Nachbargrafschaft Devon, also nicht weit von Cornwall entfernt. Das Pensionat war in einem georgianischen Gebäude mit Säulenvorbau untergebracht. Die Schülerinnen stammten durchweg aus adligen Familien, und ich fand schnell Freundinnen. Neben den allgemein wichtigen Fächern wurden wir auch in Musik, Literatur, Tanz und im richtigen Verhalten auf gesellschaftlichem Parkett unterrichtet.

Ich war gerne in der Schule, freute mich aber stets auf die Ferien, die ich in Landhydrock Hall verbrachte, denn dann traf ich Matthew Denbury. Er studierte zwischenzeitlich in Oxford und kam ebenfalls nur in den Ferien nach Cornwall. Durch die enge Freundschaft unserer Eltern sahen wir uns beinahe jedes Wochenende. Wenn es das Wetter zuließ, ritten wir aus oder spielten Tennis, bei Regen lauschte ich gerne Matthews Berichten über seine Erlebnisse an der Universität. Erzählte Matthew von seiner Arbeit oder von Vorkommnissen auf seinem Besitz, so hing ich wie gebannt an seinen Lippen und lauschte seiner warmen und tiefen Stimme. In seiner Gegenwart fühlte ich mich reifer und erwachsener. Oft wünschte ich mir, die Zeit einfach mit einem Rädchen weiterdrehen zu können, damit ich endlich alt genug sein würde, um Matthew zu heiraten.

Der Besitz der Denburys lag am Ufer des Flusses Tamar im Südosten der Grafschaft. Von der Hauptstraße führte ein langer, gewundener Weg zu dem alten Herrenhaus, gesäumt von meterhohen blühenden Hecken und Bäumen, deren Kronen sich über der Straße vereinigten und so einen dichten, grünen Tunnel bildeten. Einst hatte Boventon Castle seinen Namen zu Recht getragen, denn es war eine zinnenbewehrte Burg gewesen, erbaut unter normannischer Herrschaft. Doch es waren unzählige Umbauarbeiten erfolgt, die aus der mittelalterlichen Burg ein wohnliches Herrenhaus gemacht hatten. Trotzdem war jeder Besucher, der Boventon Castle zum ersten Mal sah, von seiner Wehrhaftigkeit und schlichten Eleganz beeindruckt. Der normannische Turm war erhalten geblieben, um ihn herum waren moderne Gebäude um einen kopfsteingepflasterten Innenhof angeordnet.

Ich liebte das alte Gemäuer. Als Matthew und ich noch jünger waren, spielten wir oft darin Verstecken. Dabei lernte ich jeden Winkel des Hauses kennen. Bald wurde ein ganz besonderer Platz zu meinem liebsten Aufenthaltsort. Die unteren Gärten von Boventon Castle grenzten an den Tamar und damit auch an England. Wie jeder Einwohner Cornwalls wusste ich, dass der Fluss die natürliche Grenze zwischen den zwei Grafschaften Cornwall und Devon bildete. Allerdings sagten die Einheimischen seit Jahrhunderten: "Dort drüben liegt England", und nicht: "Dort liegt Devon", wenn sie über den Tamar deuteten.

An einer steil zum Fluss abfallenden Stelle stand eine kleine Kapelle, neben der ich eines Tages eine hölzerne Gedenktafel entdeckte. Nur mit Mühe konnte ich entziffern, was darauf stand:

In Erinnerung an Sir Richard Trelawny, der an dieser Stelle in den Fluss sprang und damit nicht nur sein Leben, sondern das ganze Königreich rettete.

Matthew erklärte mir, was es mit Sir Richard auf sich hatte: "Es war vor vielen Jahrhunderten während der Rosenkriege. Sir Richard war dem Hause Lancaster, der roten Rose, treu ergeben. Dann aber dominierten die Yorks, die in ihrem Wappen die weiße Rose führten. Nach einer Schlacht wurde Richard verfolgt, bis er hier zum Fluss kam. Entsetzt stellte er fest, dass die Häscher ihn bereits von drei Seiten umzingelt hatten. So blieb ihm nur der wagemutige Sprung in den Tamar. Es gelang ihm tatsächlich, das andere Ufer zu erreichen, dabei verlor er allerdings seinen Hut. Als seine Verfolger diesen auf dem Wasser treiben sahen, nahmen sie an, Sir Richard sei ertrunken, und zogen ab. Richard indes floh nach Frankreich, wo er sich Henry Tudor anschloss und in dessen Gefolge nach England zurückkehrte. Als Henry König wurde und Sir Richard diesen Besitz hier erhielt, ließ Richard als Dank für seine Rettung eine Kapelle errichten. Genau an der Stelle, an der er einst in den Fluss gesprungen war."

Ich liebte diese Geschichte. Sie war so wunderbar tragisch, führte aber doch zu einem glücklichen Ende. So war ich gerne bei der Kapelle und glücklich, wenn Matthew an meiner Seite auf einer Bank saß und wir schweigend nach England hinübersahen.

Ein anderes Erlebnis ist mir ebenso eindringlich im Gedächtnis geblieben. Es war in dem Sommer, bevor mein letztes Jahr im Pensionat anbrach. Matthew und ich waren ausgeritten und kehrten erst kurz vor der Teezeit nach Landhydrock Hall zurück.

Ich wusste, meine Mutter und Lady Denbury würden im Salon bestimmt schon auf uns warten, darum streifte ich in der inneren Halle meine Handschuhe ab. "Ich ziehe mich rasch um", grinste ich und sah an meinem staubbedeckten Reitkleid hinab. "So kann ich meiner Mutter unmöglich vor die Augen treten."

"Hm …", murmelte Matthew und starrte gedankenverloren auf das lebensgroße Portrait meiner Großmutter, welches über dem kleinen Kamin in der inneren Halle hing.

Betrat man das Schloss durch den Haupteingang, so kam man in die größere Halle, wo man von Dobson empfangen wurde. Besucher der unteren Gesellschaftsklassen, wie zum Beispiel Pächter oder Kaufleute, hatten hier zu warten, bis ihre Ankunft gemeldet worden war. Höher gestellte Personen führte der Butler in die gemütlichere innere Halle, in der für die Besucher bequeme Sessel zum Ausruhen und auf der Anrichte stets Erfrischungen bereitstanden. Der kleine Raum wurde von dem Bild über dem Kamin dominiert. Ich liebte das Portrait. Leider hatte ich meine Großmutter nie kennen gelernt; sie starb, bevor meine Eltern heirateten. Aber man hatte mich, die älteste Tochter, nach ihr benannt: Marian. Das Ölgemälde zeigte eine noch attraktive Frau mit edel geschnittenen Gesichtszügen und offen blickenden Augen, in denen jedoch ein umflorter Ausdruck lag. Die Ähnlichkeit mit meiner Mutter war unverkennbar. Ich wusste kaum etwas über meine Großeltern. Abraham Elkham, Marians Ehemann, war einst bei einer Kutschfahrt ums Leben gekommen. Mein Vater war noch ein Kind, als er schon den Titel Lord Elkham erbte. Bis zu ihrem frühen Tod hatte Marian Elkham alle Fäden auf Landhydrock Hall fest in der Hand gehalten.

Zu meiner Verwunderung stand Matthew immer noch vor dem Portrait meiner Großmutter, als ich zwanzig Minuten später gewaschen, gekämmt und umgezogen in die Halle zurückkam. Sein Reitdress war staubig, seine Haare zerzaust, so konnte er unmöglich zum Tee im Salon erscheinen!

"Matthew, hast du die Zeit vergessen?", mahnte ich ihn. "Wir werden ungeduldig erwartet."

Matthew drehte sich um und schaute mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen. In seinen Augen lag ein Ausdruck grenzenlosen Erstaunens. In seiner typischen Art zog er die Brauen zusammen, dass sich über seiner Nasenwurzel drei Falten bildeten. Seine grünen Augen schauten nachdenklich. "War Lady Marian Elkham eigentlich die Mutter deiner Mutter oder deines Vaters?", fragte er plötzlich und richtete seinen Blick wieder auf das Bild.

"Ähem … das weiß ich nicht …" Mich überraschte die Frage. Tatsächlich hatte ich mir nie darüber Gedanken gemacht. "Ich denke, dass sie die Mutter meiner Mutter war. Die Ähnlichkeit ist doch deutlich zu sehen", fuhr ich fort.

Nachdenklich fuhr sich Matthew durch sein kurzes, rotblondes Haar, das dadurch noch mehr in alle Richtungen abstand. "Das dachte ich bisher auch, aber ihr Name lautete Marian Elkham, so wie der Name deines Vaters und dessen Vaters zuvor. Lady Marian muss folglich die Ehefrau von Abraham Elkham und die Mutter deines Vaters gewesen sein. Dagegen spricht allerdings die Ähnlichkeit mit Lady Celeste, deiner Mutter."

Verwirrt strich ich mir über die Stirn. Matthews Worte waren logisch, eigentlich konnte es nur eine Erklärung dafür geben: Vater hatte eine Frau geheiratet – meine Mutter –, die seiner Mutter sehr ähnlich war. Ich wandte mich zum Gehen. "Ich werde meine Eltern fragen. Sie haben mir ohnehin kaum etwas von der Frau, deren Namen ich trage, erzählt."

"Das würde ich lieber nicht tun." Matthews strenger Ton ließ mich am Fuß der geschwungenen Treppe innehalten. "Marian, vergiss einfach, was ich eben gesagt habe. Manchmal ist es besser, nicht in der Vergangenheit herumzustochern. So, jetzt muss ich mich aber rasch umkleiden. Wenn du so freundlich wärst, mich noch einen Augenblick bei den Damen zu entschuldigen?" Mit großen Schritten stürmte er an mir vorbei, die Treppe in den Gästetrakt hinauf.

Sehnsuchtsvoll sah ich seiner schlanken Gestalt mit den breiten Schultern und schmalen Hüften nach. Bald würde ich keine Schülerin mehr sein, und Matthew würde mir seine Liebe erklären können. Ach, ich wünschte, das folgende Jahr möge wie im Sturm verfliegen! Matthews Worte hatten jedoch meine Neugierde geweckt, und ich wusste, dass ich so bald wie möglich meine Mutter in einem ruhigen Moment über Lady Marian befragen würde.

Da meine Eltern drei Tage später nach London reisten, kam es zu einem solchen Gespräch nicht mehr. So oft es ihr möglich war, begleitete Mutter unseren Vater in die Stadt.

"Du weißt, Marian, dass wir es nicht ertragen können, länger als ein paar Tage voneinander getrennt zu sein", bemerkte Vater und drückte Mutter zärtlich an sich. Eine solche Demonstration von Gefühlen war unüblich und wäre bei den meisten Damen des Adels Grund für heftigen Tadel gewesen, daher tauschten meine Eltern nur vor den Augen von uns Kindern Zärtlichkeiten aus. Weil sie in vielen Bereichen anders als andere Menschen waren, liebte ich meine Eltern besonders.

Auch wenn Mutter die Trennung von uns Kindern nicht leicht fiel, wusste sie uns doch bei Tante Kate und Nanny Granger in den besten Händen. Vater und Mutter reisten immer mit der Kutsche, denn Mutter lehnte es strikt ab, die Eisenbahn zu benutzen. "Kein Mensch bekommt mich in ein solches metallenes, stinkendes Gefährt", sagte sie und war zu keinem Meinungswandel bereit. Lieber nahm sie es in Kauf, mit der Kutsche mehrere Tage unterwegs zu sein und zwischendurch Rast in Gasthäusern machen zu müssen. Wenn Vater allein nach London reiste und dabei den Zug benutzte, stand Mutter tausend Ängste aus. Ebenso wurde ich stets von unserem Kutscher in das Pensionat gebracht und zu den Ferien wieder von ihm abgeholt. Obwohl einige andere Mädchen durchaus selbstständig mit der Bahn reisten, war es mir streng untersagt worden. Warum das so war, darüber hatte ich nie nachgedacht. Wenn man jung ist, nimmt man Tatsachen, die das ganze Leben schon so waren, als gegeben hin und kommt nicht auf den Gedanken, sie zu hinterfragen.

So war es Tante Kate, der ich von Matthews Frage, wessen Mutter Lady Marian Elkham gewesen war, berichtete.

Ihre Reaktion erinnerte mich an die Situation, als wir über den gemeinsamen Schulbesuch gesprochen hatten. Fahrig strichen Tante Kates Hände über ihren Rock, obwohl keine Falte an der falschen Stelle lag. "Das musst du deine Mutter selbst fragen, Marian", stotterte sie.

"Aber Tante Kate, du warst schon in diesem Haus, lange bevor ich geboren wurde! Hast du meine Großmutter vielleicht sogar gekannt?"

Die tiefe Röte, die sich von ihrem Hals aus über das ganze Gesicht ergoss, sagte mir, dass ich dabei war, in ein Wespennest zu stechen. Gab es hier vielleicht ein Geheimnis, von dem ich und meine Geschwister nichts wussten? Eine innere Stimme riet mir, die Sache auf sich beruhen zu lassen, denn manchmal war es nicht gut, Dinge zu entdecken, die besser unentdeckt geblieben wären.

"Marian, ich möchte dich nicht anlügen, denn wenn man einmal lügt, verstrickt man sich immer mehr in ein Netz, aus dem es eines Tages kein Entrinnen mehr gibt." Tante Kates Stimme war leise, aber bestimmt, und ich erkannte, wie ernst es ihr mit diesen Worten war. "Darum bitte ich dich: Frag nicht weiter, denn du wirst von mir keine Antwort erhalten. Aber ich werde mit deiner Mutter darüber sprechen, sie wird entscheiden, was zu tun ist."

Kates Worte versetzen mich in eine viel größere Unruhe, als es jede Wahrheit gekonnt hätte.

Zum Weihnachtsfest waren wir nach Boventon Castle eingeladen worden, und das alte, ehrwürdige Haus war bis unters Dach voll mit Gästen. Der ganze ostkornische Landadel war der Einladung der Denburys gefolgt, und so wurde zwei Tage lang gegessen, getrunken, gefeiert und getanzt. Erst am Abend des letzten Feiertags hatte ich die Möglichkeit, kurz mit Matthew unter vier Augen zu sprechen.

"Erinnerst du dich noch daran, dass du wissen wolltest, wessen Mutter Lady Marian war?", fragte ich ihn. Matthew nickte. "Es ist seltsam, aber niemand möchte darüber sprechen. Vielleicht weiß deine Mutter Näheres?"

Matthew wich meinem Blick aus, etwas, das er nie zuvor getan hatte. "Sie weiß nichts", sagte er, und instinktiv wusste ich, dass er log. "Komm, lass uns wieder zu den anderen gehen, sie haben bestimmt schon mit dem Scharadenspiel begonnen."

Es blieb mir nichts anderes übrig, als Matthew in den Salon zu folgen. Die Gelegenheit für ein weiteres Gespräch mit ihm oder auch mit Lady Denbury ergab sich nicht. Ich erwähnte die Angelegenheit meinem Bruder William gegenüber, aber er lachte mich nur aus, als ich andeutete, hier vielleicht einem Familiengeheimnis auf der Spur zu sein.

"Marian, Marian, deine Fantasie besitzt Flügel und fliegt mit dir davon. Wir sind eine völlig normale Familie, da ist es doch völlig gleichgültig, wessen Mutter unsere Großmutter war. Hauptsache, sie hat existiert, denn sonst wären unsere Eltern nicht auf der Welt, und wir folglich auch nicht."

So war William – stets nüchtern, sachlich und in seinen Gedanken klar strukturiert. Fantasie war für ihn eine sinnlose Eigenschaft hungriger Künstler. In dieser Beziehung war er wie Vater, wobei unsere Mutter sich oft in Tagträumen verlieren konnte. Dann saß sie meist in dem kleinen, entzückenden Innenhof von Landhydrock Hall, Pantrys Court genannt, der im Sommer voll von blauen und violetten Hortensien war. Es war eine Oase der Ruhe, und wir alle wussten, dass Mutter nicht gestört werden wollte, wenn sie im Liegestuhl ruhte und das Gesicht der Sonne zuwandte.

Eines Tages, es war Ostern und ich war für eine Woche nach Landhydrock Hall gekommen, stand ich am Fenster im oberen Stockwerk und sah meine Mutter in Pantrys Court. Auf ihrem Schoß lag ein Buch, aber sie las nicht darin, sondern hatte die Augen geschlossen. Schnell lief ich über die Dienstbotentreppe, die den Frauen vorbehalten war, nach unten und betrat den Innenhof durch die niedrige Pforte. Das Personal in Landhydrock Hall war streng nach Geschlechtern getrennt, so hatten Frauen und Männer jeweils ihre eigenen Ein-und Ausgänge wie auch gesonderte Treppenhäuser zu den Räumen, in denen sie ihre Arbeit zu verrichten hatten. Die einzige Ausnahme war Dobson, der als Butler die Oberaufsicht über das ganze Personal hatte und alle Gänge, Flure und Treppen benutzte.

Meine Mutter hatte nicht geschlafen und mich, als ich mich ihr zögernd näherte, gleich bemerkt. "Marian, komm, setz dich zu mir", forderte sie mich auf und rückte ein Stück zur Seite, so dass ich mich auf die Kante des Liegestuhls niederließ.

"Mama, darf ich dich etwas fragen?"

Meine Mutter lächelte, dabei bildeten sich in den Augenwinkeln winzige Fältchen, das einzige Attribut, das mich daran erinnerte, dass sie die vierzig bereits überschritten hatte. "Alles was du möchtest, meine Kleine."

Obwohl ich es sonst nicht mochte, als Kleine bezeichnet zu werden, fühlte ich mich in diesem Moment meiner Mutter sehr nahe. Zwei Fragen brannten mir auf der Seele. "Im Juli ist doch wieder das Picknick auf Boventon Castle. Nun werde ich nächsten Monat achtzehn, und im Sommer verlasse ich die Schule. Könnte ich da nicht …"

"… am Ball teilnehmen?" Mutter hatte mir meinen sehnlichsten Wunsch von den Augen abgelesen.

Das Gartenfest der Denburys war ein fester Bestandteil unseres Landlebens. Adlige Familien von nah und fern fanden sich ein, und Lady Denbury hatte die Tradition auch nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren aufrecht erhalten. Am nachmittäglichen Picknick nahmen auch die Kinder teil, aber am Abend, wenn der Ball stattfand, wurden sie zu Bett geschickt. Noch im letzten Jahr gehörte auch ich dazu, derweil mein Bruder William sich bereits unter die Tanzenden reihen durfte. Wir Kinder schlichen uns zwar später zu dem Guckloch, von dem aus man die ganze Halle überblicken konnte, aber es war nicht das Gleiche, von einem Versteck aus die Damen und Herren in ihren eleganten Roben zu bewundern, wie selbst dabei zu sein. Ich bin sicher, Mutter wusste, dass ich seit Jahren durch das Guckloch zusah, aber sie erwähnte es nie.

"Ach Mama, ich würde so gerne einmal tanzen! Schließlich haben wir es in der Schule gelernt."

Mutter lächelte und strich mir leicht übers Haar. "Ich sehe, so langsam wirst du erwachsen, Marian. Ja, du darfst dieses Jahr zum Ball aufbleiben, aber nur, wenn dein Schulabschluss unseren Vorstellungen entspricht."

Ich umarmte meine Mutter so stürmisch, dass wir beide beinahe vom Liegestuhl gefallen wären. "Wegen der Prüfungen brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Mama. Ich bin eine gute Schülerin."

"Das weiß ich, mein Kind. Nun, dann wirst du auch ein Ballkleid brauchen. Ich werde dir eines nach Vorlage eines deiner Kleider schneidern lassen. Was hältst du von den Farben Weiß und Grün?"

Ich beteuerte, dass mir das sehr gut gefallen würde. Endlich, endlich würde ich nicht mehr das kleine Mädchen sein, dass beim Picknick bei den Kindern saß und mit ihnen zu Bett geschickt wurde. Endlich würde auch ich tanzen können! Wer mein Partner sein würde, stand außer Frage. Sicher wartete Matthew schon lange darauf, seine Hände um meine Hüften zu legen und mit mir übers Parkett zu schweben. Ich beschloss, in den nächsten Wochen noch fleißig die gängigsten Tanzschritte zu üben, denn ich hatte beobachtet, dass Matthew ein guter Tänzer war. Auf keinen Fall wollte ich mich in seinen Armen blamieren! Mein Herz war von solcher Vorfreude erfüllt, dass ich beinahe meine zweite Frage vergessen hätte. Erst als Mutter mich daran erinnerte, wurden meine Gedanken von dem bevorstehenden Ball abgelenkt.

"Was hast du noch auf dem Herzen, Marian?"

"Meine Großmutter Marian, nach der ihr mich benannt habt … ist sie eigentlich deine oder Vaters Mutter gewesen?"

Mich überraschte die Wandlung, die im Gesicht meiner Mutter vor sich ging. Ihr eben noch offener Blick wurde überschattet, und sie senkte rasch die Augen. Ich sah, wie ihre Hände leicht zitterten, obwohl sie bemüht war, diese schnell hinter ihrem Rücken zu verstecken. Erneut spürte ich, dass Lady Marian Elkham ein Geheimnis umgab, ein Geheimnis, das man vor uns Kindern verbarg.

"Sie war … Simons Mutter", antwortete Mutter schließlich.

Wie bei Matthew war ich sicher, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Nein, ich glaubte nicht, dass Mama mich belog, dennoch befriedigte mich ihre Antwort nicht. "Was ist mit deinen Eltern? Ich weiß nur, dass sie nicht mehr am Leben sind."

Noch immer sah meine Mutter mich nicht an, als sie schnell sagte: "Meine Mutter starb bei der Geburt ihres zweiten Kindes, das ebenfalls nicht überlebte. Mein Vater wanderte nach Amerika aus, und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört." Sie erhob sich, klappte das Buch zusammen und legte es zur Seite. "Aber jetzt muss ich in mein Zimmer, es warten einige Briefe darauf, beantwortet zu werden."

Ich sah meiner Mutter nach, als sie Pantrys Court verließ. Leider wusste ich nicht, wie und wo ich mehr über meine Großmutter erfahren konnte, denn es gab in Landhydrock Hall keine Familienchronik oder einen Stammbaum. Ein weiterer Punkt, in dem sich unsere Familie von anderen unterschied. In Boventon Castle hing in der Halle ein großer, kunstvoll gemalter, farbiger Stammbaum, der die Familienmitglieder der Denburys seit dem 16. Jahrhundert lückenlos aufführte. Unten endete eine Linie bei Matthews Onkel, der ja kinderlos gestorben war, und ein neuer Zweig für Matthews Eltern ragte nach links. Matthews Name stand bereits in zierlicher Schrift auf dem Stammbaum, und der Platz daneben wartete darauf, mit einem weiblichen Namen gefüllt zu werden. Marian Denbury – zuckersüß klang dieser Name in meinen Ohren. Beim Gedanken an Matthew vergaß ich meine Großmutter, denn die Vorfreude auf meinen ersten Ball überstrahlte alles andere.

Tags darauf packte ich meine Sachen und brach zu meinen letzten Monaten im Pensionat auf.

Das alles geschah in jener Zeit, in der ich unbeschwert die Tage genoss. Ich hing meinen Träumen von Matthew nach und dachte, das Schicksal hätte mich auf die Sonnenseite des Lebens gestellt. Die ganze Welt erschien mir licht und strahlend. In den letzten Tagen, die ich in dem eleganten Mädchenpension verbrachte, konnte ich nicht ahnen, wie grundlegend sich bald alles ändern sollte. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, durch ein Fenster einen Blick in die Zukunft zu werfen, hätte ich an den folgenden Geschehnissen nichts ändern können.

Meine Freundinnen und ich genossen die letzten Tage unserer Schulzeit, bevor wir uns in eine für uns alle glanzvoll sich darbietende Zukunft verabschiedeten. Die Prüfungen waren vorüber, und ich hatte als eine der Besten abgeschnitten. Nun warteten wir mit einem lachenden, aber auch einem weinenden Auge auf den Tag der Abreise. Manche Mädchen würde ich bestimmt vermissen, hatten wir in den letzten Jahren doch nicht nur den Schlafsaal miteinander geteilt. Andererseits freute ich mich auf zu Hause und auf meine Eltern. Und ich freute mich auf das Wiedersehen mit Matthew. Wir hatten uns seit Weihnachten nicht mehr gesehen, und jetzt kehrte kein kleines Mädchen, sondern eine junge Frau aus dem Pensionat nach Cornwall zurück.

Matthew … Wie immer, wenn ich an ihn dachte, wenn sein Bild vor meinem geistigen Auge auftauchte, durchzog mich ein warmes, angenehmes Gefühl. Matthew gehörte zu meinem Leben wie die Luft zum Atmen. Bald, sehr bald schon würde ich seine Frau sein …

Es war nicht wichtig, dass er mich bisher nicht mit Komplimenten überschüttet hatte, es nicht bemerkte, wenn ich ein neues Kleid trug oder ein buntes Band in meine Haare geflochten war. Viel wichtiger als diese Äußerlichkeiten war das Vertrauen, das zwischen uns bestand. Matthew machte aus seinen Gefühlen kein Geheimnis, ich wusste stets, in welcher Stimmung er sich befand. Und jetzt durfte ich beim alljährlichen Gartenfest auf Boventon Castle zum ersten Mal am abendlichen Ball teilnehmen und das Kleid tragen, das Mutter mir für diesen Anlass extra hatte nähen lassen.

"Marian, träumst du? Ich habe dich bereits zweimal gerufen!", riss mich eine laute Stimme aus meinen Gedanken. Emilys Hand legte sich auf meine Schulter. "Wir sitzen alle draußen im Garten. Möchtest du dich nicht zu uns gesellen?" Emily war ein hübsches Mädchen, einzig ihre etwas spitze Nase störte ein wenig die Harmonie ihres fein geschnittenen Gesichts.

Schnell stand ich auf und folgte Emily in den Garten. Der Tag war zu schön, um ihn in einem abgedunkelten Zimmer zu verbringen.

Unter zwei großen Apfelbäumen saßen meine Freundinnen: Amalia, Bernadette und Victoria. Ich ließ mich neben Emily auf den ausgebreiteten Decken nieder und griff nach einem Glas Zitronenlimonade. In den Zweigen über uns zwitscherten die Vögel. Ihr Gesang mischte sich mit dem Murmeln des Baches, der sich wenige Meter neben uns durch die Obstwiesen schlängelte.

"Wir sprachen gerade darüber, dass wir uns im Herbst alle in London wiedersehen werden", klärte mich Victoria auf. "Meine Mutter schrieb in ihrem letzten Brief, dass ich eine ganze Anzahl von neuen Kleidern für die Saison erhalten werde. Ach, ich bin schon furchtbar aufgeregt!"

Ich lachte laut auf. "Ich weiß nicht, ob es sonderlich erstrebenswert ist, als Debütantin in London herumgereicht zu werden. Das ist ja beinahe wie auf einem Sklavenmarkt und dient einzig und allein dem Zweck, uns so gut wie möglich zu verheiraten."

Victoria knuffte mich spielerisch in die Seite. "Warum solch kritische Worte, Marian? Sieh es doch mal so: Eine Saison in London bedeutet ein immerwährendes Fest. Wir werden in die ersten Häuser eingeladen, jeden Abend eine Dinnerparty und an den Wochenenden Bälle. Ich jedenfalls freue mich, so lange zu tanzen, bis die Sohlen meiner Schuhe durchgescheuert sind."

"Also ich finde, Marian hat nicht ganz Unrecht. Ich werde mich jedenfalls nicht mit jemandem verheiraten, nur weil er vielleicht einen Titel trägt und unermesslich reich ist. Meine Zukunft stelle ich mir anders vor", sagte Bernadette, die schon immer eine gewisse Unabhängigkeit an den Tag gelegt hatte.

"Das Beste an London ist, dass wir alle wieder zusammen sein werden", warf Amalia ein. "Obwohl ich wahrlich glücklich bin, dass die Lernerei nun ein Ende hat, ist es ein komisches Gefühl, euch künftig nicht mehr täglich zu sehen und nicht mehr mitten in der Nacht von Emilys Schnarchen aufzuwachen."

"Ich schnarche nicht!", schnaubte Emily und verdrehte die Augen. "Ja, ihr werdet mir auch fehlen, aber ich werde in London nicht dabei sein …" Sie brach ab, senkte den Kopf, und ihre Wangen färbten sich rosa.

"Warum nicht?" Die Mitteilung überraschte uns alle.

"Ich … Es ist nicht nötig, zu debütieren, denn ich …" Sie gab sich einen Ruck, holte tief Luft und patzte heraus: "Ich habe mich an Weihnachten verlobt und werde im September heiraten!"

Die Mitteilung, die Monarchie in England wäre abgeschafft worden, hätte uns nicht mehr verblüffen können. Emily war immer ruhig und zurückhaltend gewesen, hatte es nicht verstanden, ihre Schönheit zur Geltung zu bringen und ihre gute Figur mit den richtigen Kleidern zu unterstreichen. Ausgerechnet Emily, die Schüchternste und Stillste von uns sollte als Erste heiraten!

"Wer ist er?"

"Wo hast du ihn kennen gelernt?"

"Sieht er gut aus und ist er charmant?"

"Ist er reich?"

Die letzte Frage stammte von Amalia, die immer schon die praktischste in unserem Quintett gewesen war. Sie stammte aus einem vermögenden Haus bei Exeter und war der festen Meinung, dass ein Mangel an Geld jede noch so romantisch begonnene Liebe schon im Keim ersticken würde.

Emily nickte mit strahlenden Augen. "Er ist ein Freund meines Bruders und verbrachte mehrmals die Ferien in unserem Haus. Meine und seine Eltern haben zugestimmt."

Emilys Bruder studierte im Cambrigde und wurde von ihr schwärmerisch verehrt.

"Warum heiratet ihr schon so bald?", fragte Victoria und runzelte die Stirn. "Warum genießt du nicht noch eine Saison die aufregenden Attraktionen Londons? Wenn du erst eine brave und tugendsame Ehefrau bist, ist es mit solcher Ausgelassenheit vorbei. Nein, für mich wäre das nichts! Ich möchte mein Leben erst genießen und etwas von der Welt sehen, bevor ich mich in das Joch der Ehe begebe."

Die folgende Stunde wurde über die Vor-und Nachteile der Ehe diskutiert, wobei ich immer stiller wurde. Die Nachricht, dass Emily in wenigen Wochen zum Altar schreiten würde, hatte mich überrascht. Ich hatte immer geglaubt, ich würde die Erste aus unserem Kreis sein und alle meine Freundinnen als Brautjungfern zu meiner Hochzeit einladen. Dass mir Emily nun zuvorgekommen war, machte mich neidisch. Mit ihrer Neuigkeit stand sie im Mittelpunkt des Interesses, alle wollten ganz genau über den Bräutigam Bescheid wissen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum ich nun unüberlegt herausplatzte: "Ich werde wahrscheinlich auch nicht nach London kommen, denn auch ich werde bald heiraten!"

Mit dieser Bemerkung war ich der ungeteilten Aufmerksamkeit meiner Freundinnen sicher. Die gleichen Fragen, mit denen wir noch kurz zuvor Emily gelöchert hatten, schwirrten nun mir um die Ohren. Bereitwillig gab ich Auskunft. "Sein Name ist Matthew Denbury, und er ist sieben Jahre älter als ich. Da sein Vater vor zwei Jahren gestorben ist, ist er der Besitzer von Boventon Castle im Südosten Cornwalls."

"Also ein guter Fang", nickte Amalia wohlwollend. "Marian Elkham, du bist wie Emily eine Heimlichtuerin! Wann habt ihr euch verlobt?"

Nun war es an mir zu erröten. "Äh … also wenn ich ehrlich bin, so sind wir noch nicht verlobt", musste ich gestehen. "Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er um meine Hand anhält. Matthew ist ein Ehrenmann und wartet, bis ich die Schule verlassen habe, also erwachsen bin."

"Er hat dich noch gar nicht gefragt, ob du seine Frau werden willst? Woher willst du dann wissen, dass er dich heiraten will?" Victoria musterte mich mit großen, erstaunten Augen, dass mir mulmig wurde. Vielleicht war ich einen Schritt zu weit gegangen?

"Ich kenne Matthew fast mein ganzes Leben lang", unternahm ich den schwachen Versuch einer Verteidigung. "Er hat in Oxford studiert, aber seit sein Vater gestorben ist, widmet er sich ganz der Verwaltung des Besitzes. Matthew kommt uns, wenn ich in den Ferien daheim bin, regelmäßig in Landhydrock besuchen, dann reiten wir zusammen aus. Wir können über alles sprechen, ich habe vor ihm keinerlei Geheimnisse."

Bernadette hob seufzend die Schultern. "Manchmal ist es ganz gut, den Männern nicht alles zu offenbaren. Sie lieben Frauen, die geheimnisvoll sind, denn dann können sie diese Frauen ergründen. Mein Bruder sagt immer, es gäbe auf dieser Welt nichts Langweiligeres als Frauen, die einem Mann gleich alles über sich erzählen."

Ich erhob mich mit einem Ruck. "Ich habe jetzt genug von euren Unkenrufen. Zwischen Matthew und mir besteht ein unsichtbares Band, unser beider Seelen sind seit Jahren miteinander vereint. Aber das ist etwas, von dem ihr nichts versteht!" Ohne den Freundinnen noch einen Blick zu schenken, ging ich über die Wiese ins Haus zurück.

Bernadettes Worte klangen mir in den Ohren nach und hatten meine empfindlichste Stelle getroffen. Alles, was ich über das Verhältnis zwischen Matthew und mir gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. War ich in seiner Nähe, so wurden meine Knie weich wie Pudding und meine Hände zitterten, wenn ich ihm Tee einschenkte. Das musste doch Liebe sein, oder? Zwar hatte Matthew mit mir nie über die Zukunft gesprochen, aber ich zweifelte keinen Moment daran, dass er meine Vorstellungen teilte. Warum sonst hätte er sich all die Jahre so intensiv mit mir beschäftigen sollen? Meine Eltern würden mir keine Steine in den Weg legen, dessen war ich sicher. Matthew sah nicht nur gut aus, sondern er stammte auch aus einem guten Haus und verfügte über hohes Ansehen. Mit Lady Denbury verstand ich mich ebenfalls gut, sie würde mich sicher als Schwiegertochter willkommen heißen. Nein, nein, dass Matthew bisher nicht von Liebe und Heirat gesprochen hatte, lag nur daran, dass ich noch zu jung war. Den leisen Zweifel an seiner Zuneigung, den Bernadettes Worte in mir geweckt hatten, verdrängte ich geschickt. Und so fieberte ich dem Tag des Balles auf Boventon Castle entgegen.

Kapitel 2

Die letzten Stunden im Pensionat waren angebrochen. Überall wurde gepackt und nach den Dingen gesucht, die uns in den letzten Jahren in der Schule das Gefühl von Heimat gegeben hatten. Morgen würde ich nach Landhydrock Hall fahren, zurück nach Hause und zurück zu Matthew, um dann nie wieder aus Cornwall fortzugehen. In unserem Schlafsaal summte es wie in einem Bienenstock, Kleider und Röcke flogen hin und her, Koffer und Taschen lagen wild durcheinander auf dem Fußboden und den Betten.

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