Ein schamanisches Abenteuer in der Mongolei - Serge Kahili King - E-Book

Ein schamanisches Abenteuer in der Mongolei E-Book

Serge Kahili King

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Beschreibung

Ein junger, angehender Schamane aus Hawaii begibt sich erneut auf eine Reise ins Unbekannte. Dieses Mal liegt das Ziel im Herzen der Mongolei. Im Zentrum dieses Abenteuerromans steht eine Kette aus Elfenbeinperlen in der Form menschlicher Schädel, die zu den wertvollsten Besitztümern des großen Eroberers und Herrschers Dschingis Khan zählte. Dschingis Khan wurde nicht nur von weltlichen Erfolgen angetrieben, sondern auch von einem großen Interesse an philosophischem und spirituellem Gedankengut. Nach seinem Tod verschwindet die Kette zusammen mit seinen übrigen Schätzen. Viele Jahre später tauchen die Perlen bei einem chinesischen Schmied wieder auf, der im 19. Jahrhundert im Königreich Hawaii lebt und dort überraschend stirbt, weil sich die Elfenbeinkette in seinem Besitz befindet. Der junge Schamane wohnt Mitte der 1990er Jahre in Honolulu. Sein Abenteuer beginnt auf Hawaii mit einer schamanischen Lehrstunde unter der Anleitung seines Großvaters am Gipfel des Mauna Loa. Kurz darauf erhält er einen Auftrag von Interpol, in die Mongolei zu reisen. Er soll die örtliche Interpol-Dienststelle bei der Suche nach einem uralten Artefakt, einer merkwürdigen Perlenkette, unterstützen, die im Umfeld mongolischer Schamanen zu finden sein soll. Mit seinen beiden attraktiven Begleiterinnen begibt er sich auf eine gefährliche geografische und schamanische Reise, die die Grenzen von Raum und Zeit in Frage stellt.

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Seitenzahl: 530

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Serge Kahili King

Ein schamanisches Abenteuer in der Mongolei

Abenteuerroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über den Autor

Deutsche Ausgabe

Hinweise des Autors

EINFÜHRUNG

EINS: DAS ENDE

ZWEI: HANALEI

DREI: MAUNA LOA

VIER: SPRECHENDE STEINE

FÜNF: EINE UNERWARTETE NACHRICHT

SECHS: KOREA

SIEBEN: ULAN-BATOR

ACHT: NOCH MEHR WODKA

NEUN: DAS ORGANISIERTE CHAOS

ZEHN: DER FAMILIENBAUM

ELF: LICHT AM HIMMEL

ZWÖLF: PFERDE UND SCHAFE

DREIZEHN: SCHAGAI

VIERZEHN: HIRSCHSTEINE

FÜNFZEHN: STADT DES TODES

SECHZEHN: WASSERSTRASSEN

SIEBZEHN: SCHÄTZE?

ACHTZEHN: ABSCHIED

NACHWORT

EPILOG

Impressum neobooks

Über den Autor

Serge Kahili King, Ph.D., ist Autor vieler Werke über Huna und den hawaiianischen Schamanismus, darunter „Der Stadt-Schamane“ und „Schamanische Kräfte und Sinne“. Er ist Doktor der Psychologie und erhielt seine Ausbildung in Schamanismus von der Kahili-Familie aus Kauai sowie von afrikanischen und mongolischen Schamanen. Sein erster veröffentlichter Roman, „Okora Mask“, spielt in Westafrika. In seinem zweiten Roman, dem Thriller „Stadt-Schamanen in gefährlicher Mission“, spielt Keoki McCoy ebenfalls eine Hauptrolle bei einem Abenteuer in Hawaii und Europa.

Dr. King leitet als Executive Director die Organisation Aloha International. Aloha International ist ein gemeinnütziges, weltweites Netzwerk von Menschen, die sich der Aufgabe verschrieben haben, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er lebt mit seiner Frau und seinen Computern auf der Insel Hawaii.

Weitere Informationen über Dr. King und seine Arbeit finden Sie auf den folgenden Webseiten: www.huna.org und www.huna.net

Astrid Mohr-Kiehn ist Übersetzerin (www.mohr-kiehn-partner.de) und Fotografin (www.amk-pictures.com).

Deutsche Ausgabe

Titel der englischen Originalausgabe: MONGOLIAN MYSTERY

Das englische Original ist 2012 unter der ISBN 978-1-890850-26-5 erschienen bei:

Hunaworks, 15-1737 1st Avenue A1, Keaau HI 96749, USA

© Copyright 2012 by Serge King

www.huna.net

[email protected]

Deutsche Ausgabe:

Serge Kahili King, Astrid Mohr-Kiehn: Ein schamanisches Abenteuer in der Mongolei

Deutsche Übersetzung: © Copyright 2020 Astrid Mohr-Kiehn, [email protected]

Umschlaggestaltung: Markus Löffler, Cover-Foto: © Copyright 2012 Serge King

Alle Rechte vorbehalten. Der Abdruck, die Vertonung oder die sonstige Wiedergabe dieses Buches, auch auszugsweise oder online im Internet, in irgendeiner Art ist untersagt. Für die Verwendung kurzer Zitate zu Werbezwecken oder Buchbesprechungen sowie für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte den englischen Verlag ([email protected]) oder die Übersetzerin ([email protected]).

Hinweise des Autors

WIDMUNG

Dieses Buch ist meiner Freundin Sarangerel gewidmet. Möge ihr die große Reise Frieden bringen. Außerdem ist dieses Buch meinem Bruder Dawaatseren gewidmet. Seine Reisen mögen ihm weitere Abenteuer schenken.

DANK

Zunächst danke ich Sarangerel, die mit ihrer Freundschaft und Unterstützung in der Mongolei mein Herz und meinen Geist für viele neue Abenteuer öffnete und deren Bücher, Riding Windhorses und Chosen By The Spirits, mir außerordentlich wertvolle Einsichten und Erkenntnisse vermittelten. Allen meinen Freunden in der Mongolei, die mir auf so vielerlei Arten halfen, ebenfalls vielen Dank. Meine große Anerkennung gilt Arlene Lum, Herausgeberin von Sailing For The Sun: The Chinese in Hawaii 1789-1989, und den Anbietern zahlloser Webseiten, ohne die ich viel mehr hätte erfinden müssen, als ich es getan habe. Schließlich auch mahalo a nui loa an meine Lektoren Astrid Mohr-Kiehn, Susan Pa’iniu Floyd und Stewart Blackburn.

HINWEISE DES AUTORS

Die historischen und kulturellen Hintergründe in diesem Buch sind so präzise beschrieben, wie es mir mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln möglich war. Soweit es unterschiedliche wissenschaftliche Standpunkte gibt, habe ich mich für die Sichtweise entschieden, die mir im Rahmen dieser Geschichte am geeignetsten erschien. Selbstverständlich sind alle Interpretationen der historischen und kulturellen Aufzeichnungen meine eigenen.

Ein Hinweis zu den verschiedenen Sprachen: Für die hawaiianische Sprache habe ich das ‘Okina-Zeichen berücksichtigt, nicht aber das Kahako-Zeichen. Bei der chinesischen Sprache verwende ich eine Kombination aus der neueren Pinyin-Umschrift und älterer Romanisierungen. Es scheint keine Standardromanisierung für die mongolische Sprache zu geben, so dass ich auch hier eine Mischung verwende.

EINFÜHRUNG

Ein Wald. Bäume, an denen der letzte Regen heruntertropft. Duft von Kiefern, Hemlocktannen und Lärchen, durchdrungen von einem intensiven Geruch feuchter Erde mit einem Hauch nassen Granits.

Sonnenuntergang. Rosa gefärbte Wolken mit zunehmender Beimischung eines dunklen Rosarots. Oben blauer Himmel, am Horizont mit leicht grünlicher Einfärbung. Die Sonnenscheibe verschleiert durch einen dünnen Vorhang träger Wolken.

Eine großzügige Lichtung im Wald. Eine Hütte aus massiven Hölzern gebaut, durch die Jahre, die Witterung und das Moos nachgedunkelt. Draußen ganz klar der Eindruck einer urzeitlichen Festung, hier und da durch Blumenkästen mit rotblühenden Pflanzen gedämpft. Drinnen ganz klar der Eindruck eines urzeitlichen Palastes, im Überfluss mit Jagdwaffen und deren Opfern geschmückt: Reh, Rothirsch, Antilope, Amerikanischer Elch, Bär und - ziemlich aus der Reihe tanzend - mehrere Löwen und ein einzelner Tiger.

Im verblassenden Licht, das nur schwer seinen Weg durch das Fenster eines eher kleinen Raums im Obergeschoss findet, eine Stimme.

„Die Zeit zum Handeln ist gekommen.“ Autorität, mit einer leichten Spur des Alters.

„Es stimmt also?“ Nervosität. Keuchen. Rascheln, wie ein Körper, der seine Position in einem schweren Stuhl verändert.

„Bestätigt.“ Gewissheit. Ein leises Knarzen, als habe sich jemand zurückgelehnt.

„Es ist wirklich schwer zu glauben.“ Sehnsüchtig. Heiser. Ein tiefer Seufzer.

„Glaube es.“ Zuversicht. Finger klopfen langsam auf Holz.

Aus einer dunklen Ecke ein Husten, dann eine dritte Stimme. „Wer wurde auserwählt?“ Gelangweilt. Nahezu.

Das Geräusch einer dicken Mappe, die über eine glatte Oberfläche rutscht. „Sieh selbst.“ Leichte Verärgerung.

Etwas wird aufgehoben. Das Rascheln von Seiten, die umgeblättert werden. „Das ist eine merkwürdige Wahl.“ Anflug von Belustigung. „Nur eine Person für all das?“

Grunzen. „Mehr Personen hätten zu viel Verdacht erregt.“

Kichern. „Da werden zweifellos mehr Personen sein, ob uns das gefällt oder nicht.“

„Letztlich macht das keinen Unterschied.“ Entschlossenheit. Eine Flasche wird geöffnet. Schlucken.

Die zweite Stimme. „Wie wirst du vorgehen?“ Zaghaftigkeit.

„Dafür wurde gesorgt.“ Überzeugung.

„Und die Rückholung?“ Nörgeln.

„Geht dich nichts an.“ Nachsicht.

Die dritte Stimme. „Warum gerade diese Person?“ Ein Hauch von Interesse.

„Zwei Kerneigenschaften: Zuverlässigkeit.“ Pause. „Und Entbehrlichkeit.“ Selbstgefällig.

EINS: DAS ENDE

Es war das Jahr 1227. Der Großkhan lag im Sterben.

Nur zwei Tage zuvor hatte er einen der befriedigendsten Augenblicke seines außergewöhnlich langen Lebens genossen. Auf einem Hügel außerhalb der wehrhaften Mauern von Deshun, der Hauptstadt der einzigen nicht eroberten Provinz des Reiches Xixia, hatte Temudschin - den meisten Menschen unter dem NamenDschingis Khan bekannt - zugesehen, wie seine Belagerungsingenieure aus chinesischer und persischer Schulung endlich die großen Steine zertrümmern konnten, die das letzte große Bollwerk des rebellischen Tanguten-Reichs geschützt hatten.

Als seine Truppen voranstürmten, um die Stadt zu erobern, führte der General der Tanguten, Ma Jianlong, seine Streitkräfte ein ums andere Mal in einem Ausfall zur Verteidigung gegen sie an. Die Lanzenreiter standen bereits vor der Durchbruchstelle. So konnten die Bogenschützen nur die feindlichen Soldaten auf den Mauern ins Visier nehmen. Die Luft war erfüllt von den rauen Rufen kriegslüsterner Männer, den Schmerzschreien verwundeter Pferde, dem Zischen der mongolischen Pfeile und dem ätzenden Staub des tödlichen Konflikts. Ma Jianlong war ein sehr guter General, fast gut genug, um die Schlacht zu gewinnen.

Bei seinem letzten Angriff gelang es dem General und einem Dutzend seiner Tanguten-Krieger tatsächlich, die Linie der Angreifer zu durchbrechen und in Richtung des Hügels vorzustoßen, auf dem sich der Gefechtsstand der mongolischen Armee befand. Der Großkhan spürte das Kribbeln der Vorfreude, seine Finger zuckten am Elfenbeingriff seines Krummsäbels, aber das war nur die Auswirkung jahrzehntelanger Kampferinnerungen, die sich in ihm regten.

Er trug zwar die typische Rüstung eines mongolischen Kavalleristen (ein Seidenhemd gegen ein tiefes Eindringen der Pfeile und dann doch ein Kettenhemd, denn er war ja der Khan und kein Kavallerist, welcher einen eisenverstärkten Lederpanzer tragen würde), aber die Tatsache, dass er der militärische Befehlshaber war, bedeutete, dass er so weit wie möglich aus dem Kampfgeschehen herausgehalten wurde. Die Mongolen hatten zu viel Hochachtung vor einem brillanten Militärstrategen, als dass sie ihn an der Front gefährdet hätten.

Ein Beobachter hätte annehmen können, dass der berühmte Anführer in dieser Lage trotzdem in das Geschehen einzugreifen gezwungen sein würde. Ma und seine Männer trieben ihre Pferde immer weiter den Hügel hinauf. Die Hufe sprengten Erdklumpen in alle Richtungen, Krummsäbel wurden bereitgehalten, um sofort zuschlagen zu können. Sie waren nun auf offenem Gelände, doch die Bogenschützen unten konnten nicht schießen, weil sie möglicherweise ihren eigenen Khan hätten treffen können. Der Khan selbst zeigte äußerlich keine Regung. Im Inneren wünschte er jedoch, dass er seinem Feind gegenübertreten könnte - Krummsäbel gegen Krummsäbel. Aber das wäre unklug gewesen und er hatte schon sehr viele Jahre lang nichts Unkluges mehr getan. Er konnte die finsteren Gesichter von Ma und seinen Männern sehen, sogar die Schweißtropfen, die an ihnen herunterrannen, während ihre Pferde voranstürmten.

Als es fast schon zu spät erschien, schob der Khan sein Kinn ganz leicht nach oben. Zu seinen beiden Seiten erhoben die beiden Gruppen aus je zehn Bogenschützen, Arav genannt, ihre Bögen aus Horn, Holz und Sehnen, legten ihre Pfeile an und schossen sie in perfektem Gleichklang ab. Dieses harmonische Manöver wirkte, als hätten die Schützen dies über Hunderte von Stunden geübt, was ja auch tatsächlich der Fall war.

Mit der ersten Salve wurden die Pferde unter den heranstürmenden Männern niedergestreckt. Der General und einige seiner Männer landeten auf ihren Füßen und rannten einfach weiter. Andere Männer landeten im Dreck und waren vollkommen benommen, als sie auf dem Boden aufprallten. Die Übrigen lagen unter ihren Pferden und schrien ebenso wie ihre sterbenden Reittiere. Die zweite Salve wurde mit unverminderter Präzision nur Sekunden später abgefeuert und beendete rasch das Leben der wenigen Männer, die noch vorwärts stürmten. General Ma, bereits während seines letzten verzweifelten Sprungs von fünf Pfeilen getroffen, starb, als er mit ausgestrecktem Arm die Spitze seines Krummsäbels nur noch wenige Zentimeter vom linken Vorderfuß des treuen Pferdes von Dschingis Khan entfernt ins Ziel zu bringen versuchte.

Nach der Eroberung von Deshun übermittelte der neue Kaiser des Reiches Xixia, Li Xian, die Botschaft seiner Kapitulation. Wäre dies vor Beginn des Krieges geschehen, hätte die kaiserliche Familie möglicherweise überlebt. Aber nach mehr als zwanzig Jahren der Rebellion unter der mongolischen Herrschaft kam die Kapitulation einfach viel zu spät. Dschingis Khan ergriff die Gelegenheit, sich dieser nervtötenden Opposition endgültig zu entledigen, und machte sich dazu eine uralte mongolische Gepflogenheit zu Eigen. Für eine opulente Siegesfeier wurde eine große hölzerne Plattform errichtet, unter die die lebendigen Körper des Kaisers und all seiner potenziellen Erben gelegt wurden. Oben auf dieser Plattform wurden so viele Menschen des Hofes und des Militärs zur Triumphfeier versammelt, wie dort gerade noch Platz hatten, bis auch das letzte Mitglied der Tanguten-Dynastie zu Tode zerquetscht war.

Nun jedoch lag der Körper des Khans auf dem Bett in seiner großen Jurte, die er zu nutzen pflegte, wann immer er zu reisen gezwungen war. Die Jurte war so groß, dass sie auf einem Gestell mit vier Rädern aufgebaut war, das von zweiundzwanzig Rindern gezogen werden musste. Diese Rinder grasten gerade auf einer Weide irgendwo in der Nähe des Lagers. Seine große Jurte diente ihm auch als Kommandozentrale für die Schlacht und als Hoflager. Im Augenblick waren fast der gesamte Hofstaat und die meisten hochrangigen Offiziere seiner Armee draußen um die Jurte herum versammelt. Es wurde leise und in ernstem Tonfall darüber gesprochen, was geschehen war, was eintreten konnte und was sich wohl gerade innerhalb der großen Jurte abspielte.

Diese Spekulationen kreisten um die Menschen innerhalb der Jurte als Kommandozentrale, nicht um die Jurte selbst, denn jeder Einzelne bis hinunter zum letzten Soldaten dieser riesigen Armee wusste, wie die Jurte an sich beschaffen war. Wie jede Jurte der Mongolen war auch diese Jurte des Dschingis Khan sowohl mit materiellen als auch mit spirituellen Aspekten versehen, die im mongolischen Denken gleichermaßen pragmatisch vertreten waren.

Unter materiellen Gesichtspunkten betrachtet waren die Wände und das Dach aus Esgii gefertigt, also aus Wollfilz, einem Gewebe, das durch Walken und Pressen nasser, erhitzter Wolle hergestellt wurde. Große Bahnen dieses Wollfilzes wurden an einem Gerüst angebracht, das aus Birkengittern, Khana genannt, für die Wände und Uni, den Dachstangen aus Birkenholz, bestand. Die Dachstangen waren an dem einen Ende mit dem Wandgitter verbunden und am anderen Ende mit einem Toono, einem runden, hölzernen Dachkranz in der Mitte des Daches.

Der Eingang der Jurte war durch einen einfachen Filzvorhang abgedeckt. Im Inneren befand sich in der Mitte der Gal Golompt, eine mit Steinen abgegrenzte Feuerstelle, die als Heizung und zum Kochen genutzt wurde. Aufgrund der außergewöhnlichen Größe der Jurte und des Zwangs zur Mobilität gab es statt der zwei Bagana - große hölzerne, meist rot angemalte, tragende Pfosten rechts und links der Feuerstelle - bei dieser Jurte vier Pfosten. Ein dickes, rotes Seil hing in drei großen Schlingen vom Dachkranz herunter und war an dem Birkengitter befestigt. Mit diesem Seil wurde das Dach bei starkem Wind stabilisiert.

An den Wänden befanden sich bunt verzierte Möbel, sie waren mit den traditionellen mongolischen Symbolen für die guten Dinge des Lebens geschmückt. Die Ausnahme bildete ein großer, lackierter chinesischer Tisch, der gegenüber vom Eingang stand. Auf dem Boden waren kunstvoll gestaltete Teppiche aus vielen Königreichen ausgelegt.

Die spirituellen Aspekte der Jurte des Dschingis Khan entsprachen ganz der mongolischen Tradition, selbstverständlich in viel umfangreicherem Ausmaß, als dies bei einer normalen Jurte der Fall war. Der Eingang wurde immer nach Süden ausgerichtet, mindestens symbolisch, aber möglichst auch geographisch. Das Feuer in der Mitte repräsentierte das Zentrum des Universums, die Pfosten standen für den Weltenbaum, mittels dessen die Geistwesen in die Obere, die Mittlere und die Untere Welt reisten, die wiederum selbst durch die drei Schlingen des herunterhängenden Seils symbolisiert wurden. Der westliche Teil wurde als männlich betrachtet und bot Platz für Gäste, wo diese ihren Besuch abstatten, essen, trinken und schlafen konnten. Im nördlichen Teil war üblicherweise ein Altar untergebracht, der aber häufig auch durch einen Schreibtisch ersetzt wurde, wenn dies angemessen war. Der östliche Teil symbolisierte das Weibliche, hier hielt sich nur die Familie auf. In diesem östlichen Teil lag der Körper des Khans auf einem großen Bett an der Wand.

Seine Kampfrüstung und sein Sattel waren auf einem Gestell links vom Eingang abgelegt. Man hatte ihm seinen Deel, den traditionellen, langen Mantel der Mongolen, abgenommen, aber die Unterbekleidung aus Rohseide, die vor dem tiefen Eindringen feindlicher Pfeile schützen sollte, bedeckte nach wie vor seinen Rumpf.

Als er da so ruhig auf seinem Lager lag, das Heben und Senken seines breiten Brustkorbs nur noch schwach zu erkennen, die Farbe aschfahl, die üblicherweise dynamische Aura gedämpft, zeigte der Körper des Khans erstmals so etwas wie Gebrechlichkeit. Das war in einer Zeit, in der die meisten Menschen mit dreißig Jahren schon als alt galten, nicht überraschend für einen Körper, dessen Alter schon mehr als siebzig Jahre zählte. Aber für Temudschin, den Eroberer des größten Reichs, das die Welt je gesehen hatte, war dies ungewöhnlich.

Der Körper des Großkhan lag also zweifellos im Sterben. Der Geruch des herannahenden Todes war für jede Person offenkundig, die ihn betreute oder die Jurte betrat. Der Geist des Reichsgründers war jedoch nicht tot - und lag auch sicher nicht im Sterben. Temudschin war sich bewusst, dass sein Körper darum kämpfte, am Leben zu bleiben. Er war sich der Männer bewusst, die ruhig in der Nähe saßen - einige von ihnen waren seine Söhne, andere enge und zuverlässige Freunde, wieder andere einfach nur Freunde und einigen von ihnen konnte er keinesfalls vertrauen.

Er konnte hören, wie sie leise die Pläne besprachen, in denen er sorgfältig und genau festgelegt hatte, was im Falle seines Todes zu geschehen hatte. Mitunter stritten sie auch gedämpft. Bis ins Detail hatte er seine Befehle dargelegt: wie seine Armeen aufzustellen waren, wie seine Schätze aufgeteilt werden sollten, wie die Führung des Reiches auszuüben war und wie seine Expansionspläne weitergeführt werden sollten. Was gab es also zu diskutieren und zu streiten? Jedenfalls war das für ihn nicht mehr wichtig. Er nahm die Jurte wahr, deren Wände mit Teppichen aus Seide geschmückt waren und die mit wertvollen Gegenständen aus den eroberten Städten seines Reiches übersät war. Er war sich auch, fast schmerzhaft, bewusst, was er noch alles hatte erreichen wollen. Es gab so viele Dinge zu lernen, zu sehen, zu leisten, wenn die Schlachten erst einmal vorüber waren. Er war sich auch, fast genüsslich, bewusst, wie weit er gekommen war …

Temudschin war am Oberlauf des Flusses Onon in der Nähe des heiligen Berges Burchan Chaldun als Mitglied des Klans der Borjigin geboren worden und gehörte damit dem Volksstamm der Mongolen an. Sein Vater gab ihm den Namen Temudschin, was „der Eisenarbeiter“ bedeutete. Im Stillen lächelte Temudschin über all die falschen Geschichten, die über die Bedeutung und den Zweck seines Namens in Umlauf gebracht worden waren, um das heilige Wissen seiner Abstammung zu schützen, nachdem sein Vater, Yesugai, getötet worden war und er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus dem Klan verstoßen worden war.

Eine der Geschichten erzählte, er sei nach einem Tatarenführer benannt worden, den sein Vater angeblich in einer Schlacht gefangen genommen hatte. Als ob so etwas je vorgekommen wäre. Nach dem Anführer eines feindlichen Klans benannt zu werden? Und wie hätte dann diese Geschichte die Namen seines Bruders, Temulin, und seiner Schwester, Temuge, erklärt? Wäre demnach sein Vater erneut ausgezogen, um weitere Tatarenführer zu fangen, nur damit er Namen für seine Kinder hatte?

Nein, seine Herkunft ging auf die Darkhanboo zurück, auf die weisen schamanischen Schmiede, die sich darauf spezialisiert hatten, rituelle Werkzeuge für Geisterschlachten und Heilungsrituale, aber auch die alchemistischen Rezepturen der heiligen und hochgeheimen Zubereitung der magischen Arshaan herzustellen, der Elixiere des Lebens, der Gesundheit, der Stärke und der Potenz.

Er, sein Bruder und seine Schwester waren auserkoren, dieser Tradition zu folgen, aber all das hatte sich geändert, als die Tataren seinen Vater in einem tödlichen Akt des Verrats vergiftet hatten.

Obwohl der neunjährige Temudschin Anspruch auf die Nachfolge in der Position als Anführer des Klans erhoben hatte, wollten sich die Borjigin nicht von so einem kleinen Kind führen lassen. Also wurden er, seine Schwester, all seine Brüder und seine Mutter vom Stamm seines Vaters ausgesetzt. Sie mussten sehen, wie sie in der Wildnis mit Früchten und Wildtieren überleben konnten.

Das waren harte Zeiten gewesen damals. Sehr gefährliche Zeiten. Um das Überleben seiner Familie zu sichern, war er sogar gezwungen gewesen, mit seinem Halbbruder Bekter zu kämpfen und ihn schließlich zu töten, weil dieser ihnen nach einer Jagd alle Nahrung entreißen wollte. In diesen schweren Zeiten entwickelte Temudschin seinen unstillbaren Drang nach Ausdehnung, nicht nur durch einen gewissen Durst nach Rache beflügelt, sondern mehr noch durch den Wunsch nach der Erweiterung seines Wissens, seines Aktivitätsradius, seines Seins.

Nun dachte der Geist von Temudschin darüber nach, dass dieser Drang der Faktor war, der zur Stärke seines Hiimori, seines „Windpferdes“ oder seiner persönlichen spirituellen Kraft, beigetragen hatte, das ihn durch so viele Gefahren getragen und ihm so viele starke Männer zugeführt hatte … und Frauen.

Ja, die Frauen, sinnierte sein Geist. Er dachte an Borte, seine erste Frau. Er war mit ihr verlobt worden, als er neun Jahre alt gewesen war, mit der Absicht, sie im Alter von zwölf Jahren zu heiraten. Aber aufgrund der Turbulenzen konnte die Hochzeit erst stattfinden, als er sechzehn war. Schließlich wurde sie die Große Kaiserin des Reiches, die Mutter seiner Erben, seine zuverlässige Beraterin und seine wahre Liebe. Natürlich war sie nicht die einzige Frau, die er liebte, aber die einzig wahre Liebe. Sie war bereits in das Reich der Ahnen vorausgegangen. Er wusste, dass er ihr bald folgen würde.

Dann beschäftigten sich seine Gedanken einige Zeit lang mit einer raschen Abfolge von Bildern und Zusammentreffen mit anderen Frauen, schönen Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe und jeder Größe, manche Erinnerungen angenehmer als andere. Er musste in sich hineinlachen, als ihm eine Feststellung in den Sinn kam, die ihm zugeschrieben wurde. Sie stammte nicht wirklich von ihm, er wünschte sich aber geradezu, dass er darauf gekommen wäre: „Das größte Glück ist es, deine Feinde zu bezwingen“, sollte er gesagt haben, „sie vor dir herzujagen, ihnen ihren Reichtum zu nehmen, ihre Lieben in Tränen zu sehen und ihre Frauen und Töchter an deinen Busen zu drücken.“

Feinde. Er folgte nun diesem Gedankengang. Die mistfressenden Bjartskular fielen ihm zuerst ein. Früher einmal waren sie Verbündete seines Vaters gewesen. Dann hatten sie ihn während eines Überfalls gefangen genommen, als er zwanzig Jahre alt war, hatten ihn als Gefangenen gedemütigt, ihn als Sklaven gehalten und ihn Gewänder tragen lassen, die für Frauen gemacht waren. Ein Gefühl der Genugtuung überkam ihn, als er sich an die Nacht seiner Flucht erinnerte. Dank eines wohlgesinnten Wachmanns, dem seine Behandlung zu hart erschien und der sich im entscheidenden Augenblick abwendete, konnte Temudschin in der Dunkelheit flüchten und sich zwischen den Felsen an der Krümmung eines nahe gelegenen Flusses verstecken. Der Wachmann selbst schlug dann Alarm, die Krieger der Bjartskular suchten die ganze Nacht bei Fackelschein nach ihm. Erfolglos.

Am nächsten Morgen suchten sie erneut nach ihm, konnten aber sein Versteck zwischen den Felsen und dem Schilf im Wasser trotzdem nicht finden. Er blieb dort bis tief in die nächste Nacht, kroch dann davon und kehrte über die Steppe zu seinem eigenen Stamm zurück. Diese Flucht trug erheblich zu seinem Ruf als genialer Anführer bei.

Seine Gedanken sprangen von den Bjartskular weiter zu den Tanguten, die er schließlich besiegt hatte. Nur weil sie seine Herrschaft nicht akzeptieren wollten, hatte er mit ihnen sechs Kriege ausgefochten. Und nach ihrer Niederlage rebellierten sie stur immer wieder, wann immer er sich anderen Dingen widmen wollte. Jetzt nicht mehr! Nun, da er die gesamte kaiserliche Nachkommenschaft der Tanguten ausgerottet hatte, sollten seine Söhne keine weiteren Probleme mit ihnen haben.

Dieser letzte Krieg mit ihnen, er bemerkte, dass es der letzte Krieg seines Lebens war, hatte länger als ein Jahr gedauert, obwohl seine Krieger sie in jeder Schlacht geschlagen hatten. Das lag zum großen Teil an der kämpferischen Führung durch den General, Ma Jianlong, der einfach nicht aufgeben wollte. Diesem Mann konnte man wirklich Respekt entgegenbringen. Wenn er ihn nur hätte überzeugen können, sich den Kräften des Khans anzuschließen, hätten sie gemeinsam Großes leisten können. Andererseits, musste sich Temudschin eingestehen, war es gut, dass der General bei Deshun an seinen Wunden gestorben war.

Darauf folgten Gedanken an die Jin, jene arroganten Feinde südöstlich seines Heimatgebietes, deren korruptes Reich schließlich vollkommen in seine Hände gefallen war. Dann das Reich Choresmien, dieses riesige moslemische Reich weit im Westen, das als zu mächtig gegolten hatte als dass er es mit seinen Nomadenkriegern mit ihm aufnehmen konnte. Aber nachdem dort eine von ihm gesandte, friedliche Handelskarawane dahingeschlachtet worden war und kurz darauf noch eine Gruppe seiner Repräsentanten erniedrigt und enthauptet worden waren, konnte Temudschin ein Armee von zweihunderttausend Männern zusammenbringen und das Tian Shan-Gebirge überqueren, um einen Angriff von drei Seiten durchzuführen. Dies veranlasste den Schah dazu zu fliehen, um sein Leben zu retten. Dadurch fiel dann das gesamte Reich unter die Macht des Temudschin. Eine wirklich gute Zeit. Wirklich gut.

Seine Gedanken wandten sich den Merkiten zu, einem der mongolischen Stämme, die er in sein erstes Bündnis einbezogen hatte. Sie waren diejenigen gewesen, die seine geliebte Borte kurz nach ihrer Hochzeit geraubt hatten. Was für ein Abenteuer! Er erinnerte sich, wie geschickt und bravourös er und Jamukha sie befreit hatten und wie wunderbar sich dieser Sieg angefühlt hatte. Er und Jamukha … er und Jamukha …

Einige Zeit war er nun von Trauer und Bedauern erfüllt. Er und Jamukha waren schon vor der Rettung von Borte Anda, also Blutsbrüder, gewesen. Sie hatten geschworen, sich ewig treu zu sein. Aber nachdem Jamukha zum Khan seines eigenen Stammes, der Jajirat, geworden war, entfremdeten sein Stolz und sein Ehrgeiz ihn mehr und mehr von ihren Schwüren und ihrer Freundschaft.

Als Jamukha den Titel Gurkhan, Universeller Herrscher, annahm, hatte er bereits eine Koalition aus Stämmen gebildet, die gegen Temudschin kämpfen wollten. Aber wegen seiner mangelnden Fähigkeiten als Kriegsführer und wegen seiner maßlosen Grausamkeit wandten sich seine eigenen Männer gegen ihn und übergaben ihn den Kriegern von Temudschin als Gefangenen. Temudschin bot ihm an, ihm zu vergeben und ihn wieder als Freund an seine Seite zu nehmen, aber Jamukha lehnte das ab.

Mit großer Trauer erinnerte sich Temudschin an die Worte, die sein früherer Anda gesprochen hatte, bevor er um einen ehrenvollen Tod bat: „Es kann nur eine Sonne am Firmament geben.“ Wie schade! Wenn Jamukha sich ihm wieder hätte anschließen wollen, hätte Temudschin seine größten Sehnsüchte und sein größtes Geheimnis mit ihm geteilt …

Manche Männer dürsteten nach Macht mehr als nach allem anderen. Das war die Schwäche von Jamukha gewesen. Temudschin hatte Macht, mehr Macht als jeder andere Mensch seiner Zeit. Er war der Herrscher über Millionen Menschen, über Tausende Stämme, über Dutzende Reiche, über Ländereien vom Japanischen Meer im Osten bis zum Kaspischen Meer im Westen, vom Sibirischen Bergland im Norden bis zu den Grenzen von Tibet und den Wüsten Arabiens im Süden. Kaiser und Könige, Städte und Armeen verneigten sich vor ihm. Natürlich hatte dies seine Vorzüge und angenehmen Seiten, aber dies war nur eine Nebenerscheinung seiner wahren Absicht. Ihn dürstete nicht nach mehr Macht.

Manche Männer strebten nur nach Schätzen, nach dem Besitz der schönen und wertvollen Dinge. Nun, er hatte Schätze in gewaltigem Überfluss: auserlesene Keramik und Seide aus dem Jin-Reich; reizende Glasobjekte und atemberaubende Textilien aus goldenem Gewebe aus den islamischen Ländern; Tonnen von Goldschmuck aus Xixia und unüberschaubare Mengen an Silber aus dem fernen Westen; sagenhafte Gewänder und Rüstungen, Waffen und sogar gewöhnliche Haushaltsartikel, die Wunder des handwerklichen Könnens waren. Überwältigende Mengen an Schätzen aus allen Teilen der Welt. Aber letztlich, dachte Temudschin, so schön solche Gegenstände anzusehen waren und so wunderbar sich Seide auf der Haut anfühlte, letztlich erfüllte auch eine hölzerne Schale ihren Zweck, um einen guten Schluck darzubieten, genau wie ein Becher aus massivem Gold, der mit Perlen und Jade verziert war - und er war nicht so schwer. Nein, es war nicht die Anziehungskraft der Schätze, die ihn antrieb.

Manche Männer suchten die Liebe anderer, brauchten sie, verzehrten sich nach ihr, forderten sie. Er hatte zweifellos viel Liebe erfahren, die echte Liebe und das, was man so dafür hielt. Treue Freundschaften, bewundernde Höflinge, Schmeicheleien über alle Maßen und, natürlich, alle Frauen, die er haben wollte. Über all die Jahre waren es Hunderte, wenn nicht Tausende gewesen. Frauen, die willig waren, Frauen, die er sich nahm, Frauen, die ihm zum Geschenk gemacht wurden. Er wusste, dass es - überwiegend im Süden und Westen - Männer gab, die so auf Liebe erpicht waren, dass sie darauf bestanden, als Gott behandelt zu werden. Was für erbärmliche Kreaturen solche Männer waren, die nicht damit zufrieden waren, Männer zu sein. Temudschin schätzte wahre Liebe sehr und genoss alle andere Arten der Liebe, aber darauf hatte er es nicht abgesehen.

Was wollte er also wirklich? Was hatte ihn Tag und Nacht angetrieben, durch Prüfungen und Schwierigkeiten getragen, zu den Siegen und Erfolgen geführt? Was er mehr als alles andere wünschte, war, länger zu leben. Der Grund dafür, dass er länger leben wollte, war, dass er die Welt verändern wollte.

Er hatte als junger Mann nicht so hart gekämpft, um einfach nur die Kontrolle über einen Stamm zu erlangen. Er hatte - zum ersten Mal in der Geschichte - alle mongolischen Stämme vereint und ein Gesetzbuch eingeführt, die Jassa, das von allen Menschen befolgt werden musste. Solange die Menschen das Gesetz achteten, würden alle in Frieden und Wohlstand leben, unabhängig von der Volkszugehörigkeit, der Kultur, der Örtlichkeit, der Sprache oder der Religion. Diejenigen, die Widerstand leisteten, würden natürlich besiegt werden müssen. Wenn sie dann das Gesetz befolgten, konnten sie in sein Reich integriert werden, wenn nicht, mussten sie ausgelöscht werden. Eine Herrschaft, eine Welt, ein Frieden. Aber dafür benötigte er ein längeres Leben.

Wenn sein Vater noch gelebt hätte, als er ein kleiner Junge war, und wenn er der Khan seines Stammes geworden wäre, statt mit seiner Familie ausgestoßen zu werden, weil der Stamm ihn als Anführer für zu jung befand, dann wäre er in die esoterische Tradition der schamanischen Schmiedekunst eingeweiht worden, wie es ihm zugestanden hatte. Aber sein Vater war gestorben, er war verbannt worden und der Schamane, der ihn schließlich doch in das Amt des Khans eingesetzt hatte, war kurz darauf gestorben, ohne all sein Wissen über die Zubereitung des Goldenen Elixiers weitergeben zu können. Das Goldene Elixier hätte ihm ein außergewöhnlich langes Leben, vielleicht sogar ewiges Leben, geschenkt.

Deshalb hatte Temudschin gleich nach seiner Ernennung zum Khan des mongolischen Stammes seinen Bruder Temulin und seine Schwester Temuge angewiesen, alle Darkhanboo, die schamanischen Schmiede, ausfindig zu machen, die es noch bei den anderen eroberten Stämmen gab, in der Hauptsache bei den Naimanen, den Merkiten, den Uiguren und den Tataren.

Das Wissen, das sie bei den Darkhanboo jener Stämme erlernen konnten, war sehr nützlich gewesen, damit er eine weit über das Normale hinaus anhaltende Stärke und gute Gesundheit bewahren konnte, aber es war nicht ausreichend. Also beauftragte er seinen Bruder und seine Schwester, die Suche bei allen weiteren eroberten Völkern fortzusetzen und jede Person zu ihm zu bringen, die Kenntnisse oder zumindest eine Ahnung von dem Geheimnis des Goldenen Elixiers haben könnte.

Auf Befehl des Großkhan suchten Temulin und Temuge die Schmiede und Alchemisten im Reich Xixia, im Jin-Reich, in Liao und Kara-Kitai, im Reich Choresmien, in Afghanistan, Indien, Persien und Armenien auf. Sie sammelten zwar wertvolles Wissen über die Schmiedekunst und die Alchemie, aber sämtliches Wissen über ein wahres Elixier blieb ihnen verborgen. Unterdessen befragte Temudschin unablässig religiöse Führer, Priester, Lehrer und Mystiker der eroberten Völker. Auch seine eigenen Leute dachten, er habe einfach ein ungewöhnlich starkes Interesse an Religion und Philosophie, aber in jedem einzelnen dieser Gespräche, die immer vertraulich geführt wurden, kam die Sprache irgendwann auf die Frage bezüglich eines Mittels zur Verlängerung des Lebens.

Im Jahr 1219 schließlich, als Temudschin bereits in seinen Sechzigern und gerade dabei war, Turkestan zu erobern, hörte er von einem taoistischen Mönch mit dem Namen Qiu Chuji, der in Abgeschiedenheit im Dorf Laizhou auf der Halbinsel Shandong im damals bereits eroberten Jin-Reich lebte. Der Mönch hatte über neun alchemistische Methoden zur Herstellung des Elixiers des Lebens geschrieben, also ließ Temudschin ihn zu sich rufen. Im Jahr 1220 verließ Qiu Chuji mit achtzehn Schülern Laizhou und machte sich auf die fünftausend Kilometer lange Reise vom östlichsten Teil des mongolischen Reiches in die schneebedeckten Berge Turkestans. Die Reise dauerte zwei Jahre.

Temudschin ließ sich auf viele vertrauliche Gespräche und - es lässt sich nicht anders sagen - Verhandlungen mit dem taoistischen Mönch ein, die sich um das Elixier des Lebens drehten.

In diesen Gesprächen vermittelte ihm Qiu Chuji, dass die taoistische Alchemie in zwei Gebiete unterteilt war: in Waidan, die äußere Alchemie, und in Neidan, die innere Alchemie. Zur Kunst des Waidan gehörte es, Elixiere anzurühren, die aus natürlichen Inhaltsstoffen hergestellt wurden. Neidan dagegen folgte dem Ansatz, dass die alchemistischen Veränderungen im Alchemisten selbst zu geschehen hatten. Qiu Chuji postulierte, dass die beiden Richtungen gemeinsam zur Anwendung kommen mussten, um ein wirklich wirksames Elixier des Lebens zu erschaffen.

Das Elixier der Unsterblichkeit erforderte nicht nur ein reines Herz und strenge Genügsamkeit, es konnte nur durch einen Prozess erschaffen werden, für den die „immanente und erworbene Luft innerhalb des menschlichen Körpers“ erforderlich war. Die „erworbene Luft“ stellte sich als die inhalierte Essenz einer bestimmten alchemistischen Mixtur heraus, die allein Qiu Chuji, und noch nicht einmal seinen Schülern, bekannt war. Die „immanente Luft“ bestand aus dem Atem einer reinen Person. Zur Herstellung des Präparats war natürlich sehr viel mehr erforderlich, aber dieser Teil wurde als Geheimnis bewahrt.

Nun, im Sterbeprozess, erinnerte sich Temudschin an ein Gespräch mit Qiu Chuji, das indirekt zu den eigentlichen Verhandlungen mit ihm geführt hatte. Einmal hatte der Alchemist zu erkennen gegeben, dass er auch ein Meister der taoistischen Magie war und dass zu seinen Kräften die Fähigkeit gehörte, magische Gegenstände zu entdecken und ihren Zweck zu bestimmen. Fasziniert von dieser Aussage hatte der Khan einen Dienstboten geschickt, um eigenartige Perlen zu holen, die ihm der Schamane, der ihn als Khan eingesetzt hatte, kurz vor dessen Tod anvertraut hatte.

Die Perlen waren groß, jede Einzelne hatte im Durchmesser etwa die Größe seines ersten Daumengelenks. Sie waren auf einer Schnur aus irgendeiner natürlichen Faser aufgereiht. Es waren neunzehn Perlen, alle in der Form menschlicher Schädel geschnitzt. Alle waren unterschiedlich und alle waren aus sehr altem Elfenbein gefertigt. Es hatte nur einen Grund gegeben, warum er auf sie aufmerksam geworden war: Eine seiner Konkubinen hatte die Perlen für sich beansprucht, sobald sie aber Hand daran gelegt hatte, hatte sie einen lauten Schrei ausgestoßen und war in Ohnmacht gefallen.

Da seine Diener vom Interesse des Khans an ungewöhnlichen Gegenständen wussten, hatten sie ihm die Perlen gebracht, vorsichtig am Ende eines Stocks getragen. Als Temudschin sie angefasst hatte, konnte er nur ein starkes Kribbeln spüren. Das war aber für ihn interessant genug, die Perlen zu seinen persönlichen Schätzen bringen zu lassen. Der Großkhan hatte sie gewürdigt, sie dann aber ganz vergessen. Als nun die Perlen in seine Jurte gebracht wurden, überreichte der große Herrscher sie dem taoistischen Meister.

Qiu Chuji berührte die Perlen jeweils einzeln. Sein Gesicht zeigte keine Regung, er war offensichtlich sehr tief in Gedanken versunken. Schließlich legte er sie auf dem Schreibtisch des Khans ab und berichtete: „Diese Perlen sind ausgesprochen alt, aus der Zeit von Khara Hot, also weit bevor die Mongolen eine Vorstellung von sich selbst als Mongolen hatten, noch bevor die Jin auch nur verstreute Stämme waren, noch bevor die Gobi eine Wüste war, zu der Zeit, als die Eindringlinge von dem weit entfernten östlichen Ozean kommend ihr Reich ausdehnten. Diese Perlenschädel enthalten die Geister von neunzehn mächtigen Hexenmeistern. Jeder dieser Hexenmeister verfügt über Wissen, das bei der Herstellung eines wahren Goldenen Elixiers von großer Hilfe sein kann, Großer Khan.“

„Und Sie können dieses Wissen ermitteln, Meister Qiu?“, hatte der Khan gefragt.

„Nur nach umfangreichen Forschungen und Studien“, hatte der taoistische Meister geantwortet.

„Und wenn Sie diese Informationen besäßen, könnten Sie sie mit anderen Personen teilen?“

„Bei ausreichender Motivation, ja.“

Temudschin hatte gelächelt. „Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen …“

Ergebnis der Verhandlungen war gewesen, dass Temulin und Temuge bei Qiu Chuji in die Lehre gehen sollten, damit sie lernen konnten, wie das Elixier herzustellen sei. Schließlich sollten sie es dann Temudschin bringen. Die Geschwister wurden ebenfalls beauftragt, eine Gesellschaft der Schmiede, die Darkhan, zu gründen, deren Zweck der Schutz und die Wahrung des Wissens sein sollte. In der Zwischenzeit würde der taoistische Mönch dem Großkhan die winzige Menge des Elixiers überlassen, die er mit sich führte. Diese Menge würde ausreichen, das Leben zu verlängern, war aber nicht mächtig genug, ihn unsterblich zu machen. Und Qiu Chuji würde die gesuchten Informationen aus den Schädeln gewinnen und seinen neuen Lehrlingen übermitteln.

Der Großkhan verlieh Qiu Chuji offiziell die Titel Shenxian („Unsterblicher“) und Taizonshi („Großer Meister“) und unterstellte ihm alle taoistischen Sekten in seinem gesamten Reich. Die Zentrale sollte im Yanjing-Palast in Beijing angesiedelt werden.

Qiu Chuji kehrte mit seinen Schülern und seinen neuen Lehrlingen nach China zurück. Temudschin, der mit einer erneuerten Stärke und Vitalität ausgestattet war, die er so seit seiner Jugend nicht mehr verspürt hatte, brachte seine Eroberung von Turkestan zum Abschluss und kehrte zurück, um den Aufstand der Tanguten in Xixia niederzuschlagen, während eine zweite Gruppe aus seiner Armee in Russland, Georgien, Bulgarien und Ungarn einfiel.

Als die letzte Schlacht gegen das Reich Xixia geschlagen war, nachdem die noch übrigen Abkömmlinge der kaiserlichen Familie nach alter Tradition unter der Last der Feier des Großkhan und seiner Generäle auf einer hölzernen Plattform durch deren Gesamtgewicht zerquetscht worden waren, war Temudschin durch sein Heerlager hindurch zu seinem Hauptquartier geritten, abgekämpft, aber sehr zufrieden.

Er ritt neben seinem unübertroffenen Feldherren Subutai, dem einzigen Mann, den Temudschin in Angelegenheiten der Militärstrategie und Militärtaktik als ihm selbst fast ebenbürtig einschätzte. Gleichzeitig war Subutai der einzige Mann überhaupt, abgesehen von seinem Bruder, mit dem er über Angelegenheiten von Leben und Tod sprechen konnte.

Subutai war der Sohn eines Schmieds und war damit auch in Teile des esoterischen Wissens eingeweiht, über das die Darkhanboo verfügten. Ihre Familien waren sich schon sehr lange verbunden. Der Vater von Subutai, Qaban, hatte seinen Sohn im Alter von nur siebzehn Jahren zu Temudschin gebracht, damit dieser ihm diene. Seitdem war Subutai in den höchsten Rang aufgestiegen, der für jemanden ohne direkte verwandtschaftliche Bande mit dem Khan erreichbar war.

„Was hältst du von dem Huihui Pao?“, fragte Temudschin und bewegte dabei seine Schultern, um die Anspannung durch den Ritt etwas zu lindern.

„Das neue Katapult aus Persien?“ Subutai lächelte. „Viel besser als das alte chinesische SiJiao Pao. Mit diesen Rädern ist es beweglicher, es sind weniger Männer erforderlich und wir haben mehr Schlagkraft. Wie schnell diese Mauern eingenommen waren! Das SiJiao Pao ist allerdings besser, wenn es darum geht, außen an der Mauer Steine anzuhäufen, damit die Männer daran hochklettern können.“

Temudschin kicherte und wollte gerade etwas erwidern, aber plötzlich war nichts mehr wie zuvor.

Er hatte die Heilsrufe gehört, die seine Soldaten, die Zimmerer, die Wagner, die Schmiede, die Plattner, die Pferdewarte, die Hirten, die Köche, die Ausrüster, die Dienstboten, die Frauen, Kinder und Huren und all die anderen Personen ausstießen, die sich in dem Tal sammelten, in dem das Lager errichtet war. Er hatte den Schweiß der Tiere und Männer gerochen, die Aromen der Nahrungsmittel und Gewürze, die prägnante Geruchsspur erhitzten Metalls, gelegentlich einen Hauch von Parfüm und die Trockenheit der staubigen Ebene.

Er hatte das Gewicht seiner Rüstung und der Waffen gespürt, seinen Sattel und die Steigbügel, die Bewegungen des Streitrosses unter ihm. Aus dem Augenwinkel heraus hatte er seine Wachen aus Bogenschützen gesehen, die neben und hinter ihm ritten, der rechte Arm entblößt und glänzend, damit sie im Kampf größere Bewegungsfreiheit hatten.

Er hatte sich eben gewundert, warum seine Wahrnehmung so scharf und klar war, als er sich gleichzeitig mehrerer anderer Umstände bewusst wurde: einer plötzlichen Leere in seinem Herzen, einer unvermittelten Kälte seiner Gliedmaßen, einer unerwarteten Vision vom Alchemisten Qiu Chuji, der ein überraschtes Gesicht machte. Und dann, als sein Geist jeglichen direkten Kontakt zu seinem Körper verlor, während dieser scheinbar sehr langsam und in Zeitlupe von seinem Pferd fiel, wusste er, dass die Verbindung zwischen ihm und Qiu Chuji, die mit dem Atem und dem Elixier des Alchemisten geknüpft worden war, abgebrochen war. Der chinesische Meister lag im Sterben. Und damit lag er, Temudschin, ebenfalls im Sterben. Was er nicht wusste, war, dass Qiu Chuji soeben von einem tödlichen Messerstich in den Rücken getroffen worden war, von einem seiner maßlos eifersüchtigen Schüler getroffen, weil der Alchemist die beiden barbarischen Mongolen mit einer solchen Bevorzugung bedachte. Solche Einzelheiten spielten nun jedoch keine Rolle mehr.

Temudschin spürte nicht, wie sein Körper auf dem Boden aufschlug. Er spürte auch nicht, dass der Körper aufgehoben und in seine Jurte getragen wurde. Er hörte nicht die Schreie und Rufe, roch nicht die Ausdünstungen der Angst und der tiefen Erschütterung. Er nahm kaum wahr, als sein Körper in seiner Jurte abgelegt wurde und wie er - und mit ihm der gesamte Hof - aus der heißen, trockenen, staubigen Ebene von Deshun in die wunderbar kühlen und malerischen Liupanshan-Berge verlegt wurde. Er war sich allerdings mit absoluter Sicherheit und mit dem denkbar tiefsten Bedauern sehr bewusst, dass er als Mann nun nicht mehr die Gelegenheit bekommen würde, für immer zu leben.

Tage später jedoch, als sein Geist frei umherstreifte, verspürte er kein Bedauern mehr. Sein Körper starb, aber er wusste, dass er selbst am Leben war. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um seiner Welt Harmonie zu verleihen. Und er hatte auch alles getan, was er konnte, um diese Welt auf seinen Tod vorzubereiten. Es waren bereits Pläne ausgearbeitet, die seine Nachfolge, die Aufteilung des Reiches und die Verteilung der Reichtümer bestimmten. Und er hatte viele weitere Einzelheiten vorausgeplant, die er ebenfalls nach seinem Tod geregelt wissen wollte, soweit das erforderlich war. Er erlaubte sich ein letztes, amüsiertes, innerliches Auflachen. Denn zu diesen geplanten Einzelheiten gehörte auch der Verbleib seines Körpers im Falle seines Todes an einem Ort, an dem niemand je suchen würde, sowie die anschließende, gezielte Streuung von Gerüchten, die dafür sorgen würden, dass womöglich überall gesucht werden würde, nur nicht an diesem einen Ort.

Mit diesem letzten Gedanken über irdische Angelegenheiten verließ der Geist von Temudschin die Jurte, in der sein sterbender Körper lag. Frei von physischen Einschränkungen ließ er seine Söhne und Generäle sowie seinen Hof hinter sich, glitt über die besorgten Truppen hinweg, die nicht wussten, was ihnen bevorstehen würde, und ließ ebenso die bemühten Abordnungen hinter sich, die auf politische Vorteile hofften, genau wie die Mitläufer, die sich hauptsächlich auf ihr Überleben von einem Tag zum nächsten konzentrierten.

Er bewegte sich ein letztes Mal zwischen seinen Tierherden. Es blieben nur schwache Erinnerungen an die Gerüche von Pferdeschweiß, Rinder- und Yak-Mist, Ziegen- und Schaf-Atem. Schließlich stieg er weit hoch über die scheinbar leere Steppe. Er wusste nun, dass sie nicht wirklich leer war, dass dort draußen etwas anderes auf ihn wartete, das wichtiger war als alles, was er in seinem physischen Körper erreicht hatte. Angefüllt mit zufriedener Vorfreude eilte er dem entgegen, eilte er ihr entgegen: Borte!

*

Viele Kilometer entfernt, in Beijing, gab es Tumulte im Yanjing-Palast. Enebish, der mongolische Statthalter, hatte den Mörder von Qiu Chuji innerhalb kürzester Zeit gefangen genommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet. Die Höflinge debattierten über das Richtig und Falsch des Vorgehens durch den Statthalter. Die Mönche stritten bereits darüber, wer Qiu Chuji in seiner Führungsrolle in der taoistischen Bewegung nachfolgen sollte. Die Militärs spekulierten, welche Schritte der Großkhan anordnen würde, wenn er über die Entwicklung informiert war. Die chinesischen Schüler des Meister-Alchemisten weinten und jammerten und wanderten umher, bis zur Ohnmacht erschüttert durch den unbegreiflichen Tod des „Unsterblichen“.

Temulin gelang es schließlich, all die Schüler aus dem Gebäude für alchemistische Studien hinauszudrängen und sie in einen taoistischen Tempel zu geleiten, wo sie für den verstorbenen Geist von Qiu Chuji beten konnten. Währenddessen begann seine Schwester Temuge damit, Schriftrollen, Ausrüstungsgegenstände und sorgfältig eingewickelte Substanzen in gut gepolsterte Leder- und Leinenbehälter zu packen.

Als Temulin zurückkehrte, hatte Temuge erst etwa ein Viertel des Werks bewältigt, also half er ihr. Sie arbeiteten bis tief in die Nacht hinein. Bei dieser Aufgabe konnten sie keine Hilfe durch andere gebrauchen. Glücklicherweise, so dachten sie, war sonst auch niemand daran interessiert, nach dem tragischen Tod des Meisters an diesem Tag das alchemistische Labor zu betreten.

„Wir werden Hilfe benötigen, um diese Behälter zu transportieren“, sagte Temuge, während sie ihre Stirn mit einem Seidentuch abtupfte, das sie in einem der weiten Ärmel ihres dunkelblauen Gewands bei sich trug. Das Muster der eingestickten Kraniche, Symbol eines langen Lebens, schimmerte im Licht, als sie das Tuch in der Hand hielt.

Temulin, der gerade mit Flüssigkeiten gefüllte und in Polstermaterial aus Baumwolle eingewickelte Phiolen in einem eisenverstärkten Fass verstaute, blickte auf. „Unsere mongolischen Diener werden sich darum kümmern. Ich habe bereits veranlasst, dass die Wagen in der Nähe in Bereitschaft gehalten werden.“

„Es ist ein Wunder, dass unser Bruder ein solches Erfordernis vorausgesehen hat.“ Temuge packte weiter Schriftrollen in Bambusrohre.

„Kein Wunder“, antwortete Temulin. „Unser großartiger Bruder hat es sich seit Jahren zur Gewohnheit gemacht, für alle Eventualitäten vorzusorgen, egal wie unwahrscheinlich sie erscheinen mögen.“ Er steckte einen mit einer Schnur verschlossenen Beutel, der einen Strang mit schweren, schädelähnlichen Elfenbeinperlen enthielt, in eine Innentasche des Deel, den er bereits angelegt hatte.

*

Bis die Vorbereitungen abgeschlossen waren, dauerte es Tage. Aber schließlich war die Armee bereit, in die neue militärische Hauptstadt Karakorum zurückzukehren, die in den üppigen Ländereien südlich des Baikalsees und nördlich des Altai-Gebirges gelegen war. An der Spitze der langen und geräuschvollen Prozession fuhr der Streitwagen des Großkhan, von Vorreitern bewacht. Im Streitwagen selbst lag der tote Körper eines alten Mannes auf einem Bett aus üppigen Seidenlagen. Es war nicht ersichtlich, was den Tod des Mannes verursacht hatte. Hinter dem Streitwagen folgten die Truppen und ihre Ausrüstung, danach kam ein langer Zug aus knarzenden Wagen, die bis zum obersten Rand mit sagenhaften Schätzen gefüllt waren, der Kriegsbeute. Dahinter reihten sich die Versorgungswagen, Zivilpersonen und ganze Herden Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen ein.

Als sich die Prozession Monate später Karakorum näherte, bemerkte niemand einen alten Wagen, der mit zerschlissenen Tüchern abgedeckt war und der sich von der Karawane entfernte und in Richtung Norden abbog. Und niemand erwähnte oder schrieb je über eine andere, kleinere Prozession, die aus Beijing kam und diesen alten, zerschlissenen Wagen auf einem überlegt ausgewählten Pfad traf.

ZWEI: HANALEI

Für Ah Sing nahm dieser Tag einen guten Anfang, einen schlechten Verlauf und ein schlimmes Ende.

Der beste Teil des Tages war das Frühstück. Als er im Esszimmer seines mit Schindeln bedeckten Hauses saß, das mit kostspieligen, direkt aus seinem Heimatland importierten Kunstwerken ausgestattet war, konnte er den köstlichen Duft des Reisgerichts riechen, das seine Mui Tsai - seine chinesische Sklavin - zubereitete. Diese Sklavin war von ihren ausgehungerten Eltern, ärmlichen Kleinbauern, an einen Zwischenhändler verkauft worden, der sie als ‚Verwandte’ an Ah Sing verschickt hatte. Die Tatsache, dass sie praktisch eine Sklavin war, war nur dem innersten Familienkreis und den engsten Freunden bekannt, weil zu diesem Zeitpunkt die Sklaverei im Königreich Hawaii gesetzeswidrig war. Die Chinesen nannten das Königreich Hawaii Tang Heung Shan: Land der Sandelholz-Berge.

Min Tuk, die Sklavin, hatte am Abend zuvor ein Huhn zusammen mit etwas Reis, Wasser und einem Pidan, einem ‚Tausendjährigen Ei’, in einem Topf eingelegt.

Selbstverständlich war das Ei nicht wirklich tausend Jahre alt. Das war natürlich nur eine poetische chinesische Bezeichnung. Das Ei war allerdings deutlich älter, als es viele Menschen für möglich hielten. Zur Zubereitung des Pidan hatte Min Tuk ein frisches Entenei mit einer Tonmischung aus roter Erde, die es auf der Insel Kauai im Überfluss gab, sowie Salz, Holzkohle, Kalk und Schwarzem Tee überzogen. Dann hatte sie es zusammen mit mehreren anderen, ähnlich überzogenen Eiern in Reishülsen eingewickelt und das Paket in einen irdenen Topf gelegt, der mit dem schweren Boden der Reisfelder von Hanalei ausgekleidet worden war. Danach hatte sie den irdenen Topf an dem kühlsten und trockensten Ort deponiert, den sie finden konnte. Dort war die Mischung ganze drei Monate lang gestanden. Als die Pidan fertig waren, war das Eigelb grün eingefärbt, das Eiweiß hatte sich in eine schwarze, opalartige Farbe verwandelt. Das Ganze hatte die Konsistenz einer Avocado, der Geschmack erinnerte an einen gehaltreichen, scharfen Käse.

Manchmal reichte sie das Pidan einfach so, aufgeschnitten und mit einer besonderen Soße garniert, deren Zutaten aus Reiswein, Essig, gehacktem Ingwer und Soja bestanden. Manchmal kombinierte sie es mit Schweinefleisch. Heute aber bereitete sie es mit Huhn zu. Das Mahl hatte die ganze Nacht lang auf einer sorgfältig gehüteten Schicht aus Kohle geköchelt. Sie war eben dabei, etwas Salat aufzuschneiden und auf echtem chinesischem Porzellan eine Auswahl an gesalzenem und eingelegtem Gemüse als Beilage anzurichten.

Als ihm das fertige Gericht serviert wurde, war Ah Sing bereits das Wasser im Mund zusammengelaufen. Er tauchte seine Essstäbchen aus Elfenbein mit einem Appetit in die Schüsseln und Schalen, der für einen 85-jährigen Schmied ganz anständig war. Innerhalb weniger Minuten hatte er den größten Teil des Mahls verzehrt und grunzte nun, um Min Tuk in Kenntnis zu setzen, dass er jetzt zum Tempel aufbrach und sie den Rest selbst essen dürfe.

Seine erste Ehefrau lebte bei Verwandten in Honolulu. Nach der Totgeburt seines ersten Sohnes hatte Ah Sing sie fortgeschickt und danach nicht mehr an sie gedacht. Er hatte Min Tuk noch vor der Abreise seiner ersten Frau als Sklavin gekauft und von China herbringen lassen. Ah Sing hatte kein weiteres Interesse an ihr. Seine hawaiianische Geliebte und ihre gemeinsamen fünf Kinder gaben ihm das Maß an häuslicher Zufriedenheit, das er brauchte.

Ah Sing war im Jahr 1788 an Bord des englischen Handelsschiffes Felice unter dem Kapitän John Meares nach Hawaii gekommen. Mit an Bord waren zahlreiche andere europäische und chinesische Handwerker gewesen, die im Pelzhandel des pazifischen Nordwestens gearbeitet hatten. 1788 war das Jahr, in dem Österreich Russland den Krieg erklärte, in dem die Verfassung der Vereinigten Staaten ratifiziert wurde, in dem sich in England Bestrebungen zur Abschaffung des Sklavenhandels regten und in dem Pelzhändler, die in Hawaii anlandeten, Schusswaffen bei den verschiedenen verfeindeten Anführern Hawaiis gegen Lebensmittel eintauschten. Während einer zweiten Reise im Dezember des gleichen Jahres an Bord der Iphegenia beschloss der zwanzigjährige Schmied, nicht mehr in das Eis und den Schnee des damals noch vor der Gründung stehenden British Columbia zurückzukehren und stattdessen zu bleiben, um die sanften Winde und die besseren Geschäftsmöglichkeiten der Sandwich-Inseln zu genießen.

Zehn Jahre lang arbeitete er dann für Kamehameha den Großen und half bei der Herstellung der Schaluppen, die während der Kriege des Königs zur Eroberung der anderen Inseln eingesetzt wurden. Außerdem reparierte Ah Sing Kanonen und Musketen. Er wurde sogar in die Position eines Beraters befördert und war im Gefolge von Kamehameha dabei, als Kapitän George Vancouver im Jahr 1794 die Kealakekua Bay besuchte.

Als sich später abzeichnete, dass Kamehameha nach der gescheiterten Invasion von 1796 keinen weiteren Versuch unternehmen würde, Kauai gewaltsam einzunehmen, wurde Ah Sing mit einer großzügigen Abfindungszahlung aus dem Dienst entlassen. Schließlich verschlug es den chinesischen Schmied nach Kauai, wo er in den Dienst des Königs Kaumuali'i trat und mit Hilfe seines neuen Reichtums und mit seinen neuen Verbindungen verschiedene kleinere Unternehmungen gründete. Eine dieser Unternehmungen war eine Schmiede im Hanalei Valley. Nach 1841, als die Regierung Hawaiis es den Gouverneuren und Anführern erlaubte, Land an Ausländer zu verpachten, konnte Ah Sing langfristige Pachtverträge für einen erheblichen Teil des Tals abschließen. Dann heiratete er, stellte eine Reihe von Lehrlingen ein und konnte in den Jahren danach seine Interessen langsam, aber beständig ausbauen.

An diesem frühen Morgen des Jahres 1853 arbeitete der derzeitige Lehrling von Ah Sing, ein Mann namens Li Yuen, bereits hart in der Schmiede. Er trug lediglich weite Hosen und Stiefel, denn die Hitze der Esse war sehr groß. Die Stiefel sollten seine Füße vor herunterfallender Kohle und heißen Metallstücken schützen, aber sein Oberkörper war aufgrund der vielen Verbrennungen, die er über die Jahre erlitten hatte, von Narben übersät. Der Gedanke, eine Lederschürze zu tragen, wie es die meisten der weißen Schmiede taten, kam ihm nicht in den Sinn. Für ihn war jede Berührung durch das Feuer wie eine Segnung der Götter.

Die Schmiede von Ah Sing war ein mit Schindeln bedecktes Gebäude mit einem hohen Schrägdach, das vollständig aus dem dunklen Hartholz Milo gefertigt war. Sie war ein Stück vom Haupthaus abgesetzt und lag an einem langen, bogenförmigen Zufahrtsweg, der auf die Hauptstraße von Hanalei mündete und zu den Reisfeldern führte. Um die Schmiede herum lagen überall Haufen mit beschädigtem und ausrangiertem Alteisen aus defekten landwirtschaftlichen Geräten und den Überresten abgewrackter Schiffe. Auf einigen der Haufen lag nur Eisen, auf anderen lagen Eisenstücke, die noch immer an Holzresten befestigt waren. Ein spezieller Haufen enthielt Stücke und Reste von Kupfer, Messing und Bronze. All diese Materialien konnten je nach Bedarf in neue Werkstücke verwandelt werden.

In der Schmiede war das zentrale Element der Amboss. Vor seiner Ankunft auf Kauai hatte Ah Sing einen in Europa gefertigten, fast siebzig Kilogramm schweren Amboss von der Familie eines verstorbenen deutschen Schmieds gekauft, der in Lahaina auf Maui für die Ali'i, die Anführer, und die britischen und amerikanischen Handelsschiffe, die dort häufig direkt vor der Küste ankerten, gearbeitet hatte.

Der Amboss verfügte über ein langes, rechteckiges Ende mit einem gehärteten Loch für verschiedene Werkzeuge und einen Absatz direkt vor dem Horn. Er stand auf einem sechzig Zentimeter hohen Eichenblock, der aus dem Kiel eines Schiffes herausgeschnitten worden war, welches das Pech gehabt hatte, an den Riffen beim Makahoa Point gerade außerhalb der Hanalei Bay auf Grund zu laufen. Der Fuß des Amboss war mit dicken, handgeschmiedeten Bolzen an dem Eichenblock befestigt, die zusätzlich umgebogen waren, um sie so fest wie möglich zu fixieren. Um den Fuß selbst war eine schwere Kette gewickelt, die über den Amboss gelegt werden konnte, um die verschiedenen Objekte zu stabilisieren, an denen gerade gearbeitet wurde. Der Amboss war verschrammt und an vielen Stellen abgeschlagen und passte damit gut zu dem fleckigen und abgenutzten Holzblock.

In der Ecke der Schmiede befand sich die Esse, eine Kiste aus hartem Koa-Holz, die mit dem Tonboden der Hügel westlich des Örtchens Kapa'a ausgekleidet war. Die Kiste stand auf einer Schicht aus Lavasteinen. Als Brennstoff wurde Holzkohle aus Lihue verwendet, dem Regierungssitz an der südöstlichen Küste der Insel. Ein großer, lederner Blasebalg, der von Hand betrieben wurde, sorgte für die nötige Luftzufuhr.

An einer Wand stand eine Eichenbank aus den Planken eines anderen Schiffswracks. Oben auf der Bank lagen die Hammer, Meißel, Gesenke, Richtplatten, Keile und all die anderen Werkzeuge, die in der Schmiedekunst zur Anwendung kamen. An einer weiteren Wand hingen ungefähr fünfundzwanzig Zangen in verschiedenen Größen. Der übrige Platz wurde von Materialien und aktuellen Werkstücken eingenommen.

Li Yuen arbeitete angestrengt, aber das Projekt, dem er sich gerade widmete, hatte nicht direkt mit der Schmiedekunst zu tun. In der Zwischenzeit spazierte Ah Sing in die Stadt und dachte über die beunruhigenden Neuigkeiten nach, die er kürzlich aus China über Taiping Tianguo erhalten hatte, also den Taiping-Aufstand. Er hatte bereits zum Tod vieler seiner Angehörigen geführt.

Verglichen mit den Problemen in seinem Heimatland erschien das Hanalei Valley wie ein wahres Paradies auf Erden. Ein vorüberziehender Regenguss ließ am Himmel über der Hanalei Bay einen Regenbogen erstrahlen. Die Überreste tief hängender Wolken drängten sich um die smaragdgrünen Hänge des Namolokama und des Mamalahoa, die sich steil über das Tal erhoben. Sie erinnerten Ah Sing an ein Gemälde aus der Song-Dynastie, Tausend Meilen Flüsse und Bergevon Wang Ximeng. Warme Winde sorgten für kräuselnde Bewegung in den Reis- und Taro-Feldern unterhalb der Berge. Im ruhigen, blauen Wasser der Bucht lagen verschiedene Segelboote und Handelsschiffe vor Anker. Als Haupteinreisehafen auf Kauai war Hanalei eine ziemlich betriebsame Stadt. Der Verwaltungsbezirk wies eine vergleichsweise hohe Bevölkerungszahl von fast zweitausend Einwohnern auf.

Zu diesem Zeitpunkt herrschte in China immer noch die Qing-Dynastie der Mandschu, die Zentralchina im 17. Jahrhundert erobert hatten. Sie hatten gleich nach der Konsolidierung ihres Sieges und der Gründung der neuen Dynastie Haartracht und Bekleidung vorgeschrieben, die alle Chinesen tragen mussten. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften wurde mit dem Tod geahndet.

So trug Ah Sing sein Haar also zu einem langen Zopf geflochten, auf seinem Kopf saß eine krempenlose Kappe aus schwarzer Seide mit einem Knopf in der Mitte. Ansonsten war er mit einem Changpao, einem langen, weiten, schwarzen Gewand, bekleidet, das ebenfalls aus Seide gefertigt war, das aber mit einem zarten Chrysanthemen-Muster verziert war. Beim Schuhwerk hatte er sich für das Praktische entschieden: er trug ein Paar stabiler Ledersandalen.

Ah Sing nahm den Weg durch das Zentrum der Stadt, wo er mit vielen Einwohnern Grüße austauschte, auch mit Kapitän John Kellett, Postamtsvorsteher, Eintreiber der Zollgebühren und Hafenmeister. Dieser trug trotz der hohen Temperaturen wie immer seine Marineuniform mit hohem Kragen.

„Guten Morgen, Kapitän“, rief Ah Sing und verbeugte sich leicht. Nach all den Jahren des Umgangs mit Briten und Amerikanern war seiner Sprache nur noch ein leichter chinesischer Tonfall anzumerken. Er war mit den Ausdrucksweisen aus beiden Kulturkreisen vertraut.

Kellett nahm seine Mütze ab und wischte sich mit einem roten Taschentuch über die Stirn. Anschließend steckte er das Taschentuch zurück in den Ärmel seiner Jacke. „Auch Ihnen einen guten Morgen, Ah Sing. Kommen Sie wegen einer Lieferung?“

„Nein, Kapitän, ich mache nur einen Spaziergang.“ Dass er zum chinesischen Tempel ging, brauchte er diesem Daibizi gegenüber, der seine große Nase überall hineinsteckte, nicht zu erwähnen.

Während sie noch miteinander plauderten, kam ein junger Hawaiianer mit der Post aus dem Kalalau Valley gelaufen, einem steilen, tiefen Tal an der nordwestlichen Na Pali-Küste der Insel. Das Tal war nur vom Wasser aus oder über einen sehr tückischen, fast achtzehn Kilometer langen Pfad durch mehrere enge Täler und über reißende Ströme hinweg entlang der dreihundert Meter hohen Klippen zugänglich.

Der Bote trug einen Malo, eine Art Lendenschurz aus Kapa.Kapa war ein Stoff, den die Hawaiianer aus der Rinde bestimmter Bäume herstellten. Außerdem trug der Bote ein verschlissenes, verblasstes, rotes Wollhemd, das er vermutlich bei einem Matrosen gegen irgendetwas anderes eingetauscht hatte. Es musste wohl in der Hitze des Tals unbequem sein, aber in jenen Tagen verlieh das Hemd dem jungen Mann ein gewisses Ansehen bei seinen Freunden. Wie gewöhnlich war die Post in Bananenblätter eingewickelt, damit sie nicht vom Regen durchnässt wurde.

„Eia na leka, e Kapena. Hier ist die Post, Kapitän“, schnaufte der Hawaiianer.

„Pehea ke ala i ke kapakai? In welchem Zustand ist der Pfad an der Küste?“, fragte Kellett in fließendem Hawaiianisch.

„Aia kekahi hehe'e mamamala ma Nualolo Kai. Bei Nualolo Kai gibt es einen kleinen Erdrutsch“, antwortete der Bote.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Bote keine Post für ihn von seinen Pächtern an der Na Pali-Küste dabei hatte, verließ Ah Sing den Postamtsvorsteher, damit der sich darum kümmern konnte, dass Arbeiter den Pfad freiräumen würden. Ah Sing setzte seinen Spaziergang fort, grüßte und sprach mit den Menschen, die er traf: mit den Weißen auf Englisch, mit den Chinesen aus dem nördlichen Teil Chinas in dem Dialekt seiner Heimat, Beijing, und mit den Hawaiianern und den anderen Chinesen auf Hawaiianisch.

Auf dem Weg zum Tempel machte er noch einen Abstecher in die Gemischtwarenhandlung, die ihm gehörte und in der die Menschen der ganzen Nordküste Kauais, von den Plantagenarbeitern im Ort Kilauea im Osten bis zu den Fischern aus den isoliert gelegenen Tälern im Westen, einkauften: Werkzeuge, Kattun- und Denim-Stoffe, Kaffee und Tee für die Plantagenarbeiter, eiserne Angelhaken, Nähnadeln, Seile und Schnüre für die Fischer sowie Reis, Mehl, Zucker und Süßigkeiten für alle.

Im Hinterzimmer der Gemischtwarenhandlung standen Spieltische, an denen die chinesischen Plantagenarbeiter den größten Teil ihres Wochenlohns bei Ah Sing verloren. Obwohl es noch früh war, konnte er schon das Klappern der Spielsteine hören, mit denen einige Arbeiter, die heute frei hatten, das alte Spiel Tin Kau spielten. Ah Sing lächelte bei dem Gedanken an all das Geld, das ihm vollkommen ohne eigene Anstrengung zufloss. Er trat zur Tür und beobachtete die Spieler einige Minuten lang.

Gerade spielten vier Personen, die die Spielsteine so schnell ablegten und aufnahmen, dass man mit den Augen kaum folgen konnte.

Das Spiel hatte zwar gewisse Gemeinsamkeiten mit Bridge, aber Fremde schienen nie so richtig dahinterzukommen, wie man es nun genau spielte. Viele dachten, dass es ähnlich dem simplen, westlichen Dominospiel war, weil auch dort Spielsteine mit Punkten darauf verwendet wurden.

Nicht nur, dass sie die Regeln vollkommen verwirrend fanden, sie konnten auch die komplexe Verquickung des erforderlichen Könnens und Glücks nicht verstehen. Außerdem hatten sie mit der Tatsache Schwierigkeiten, dass jeder Spielstein wichtige und grundlegende Aspekte der chinesischen Kultur symbolisierte.

Der alte Mann beobachtete, wie die Spieler ihre Spielsteine in Vorbereitung auf die nächste Runde aufteilten. Zweifellos waren diese des Lesens und Schreibens unkundigen Bauern nur am Gewinnen interessiert und waren sich nicht der Tatsache bewusst, dass sie es mit den mächtigen Kräften des Himmels, der Erde, des Menschen und des Wunsches nach Harmonie zu tun hatten. Er seufzte, drehte sich um und entschied dann, die Belege später zu prüfen.

Sein weiterer Weg führte ihn am Zugang zum Waioli Valley an dem ziemlich großen, weiß-grünen Walmdachhaus der christlichen Missionare Abner und Lucy Wilcox sowie deren Kirche Hui'ia, Vereinigt, vorbei, die sich durch eine grüne Fassadenverkleidung, einen Kirchturm sowie Buntglasfenster auszeichnete. Ah Sing und die Missionare machten miteinander Geschäfte, wenn sie das mussten, aber sonst war ihr Kontakt auf eine kühle Höflichkeit reduziert, hauptsächlich weil Abner und Lucy Wilcox Glücksspiele streng verurteilten.

Schließlich erreichte Ah Sing den kleinen Tempel, den er finanziert hatte. Er bestand nur aus einem einzigen Raum. Es handelte sich um ein einfaches Bauwerk, das aus wunderbar glänzend poliertem Koa-Holz errichtet worden war, das in der Sonne golden schimmerte. Der Schmied grüßte den taoistischen Priester, Pao Yap, auf Mandarin, weil sich das angesichts seiner Position so gehörte.

„Zao shang hao, Pao Shifu. Guten Morgen, Priester Pao. Hao bu hao? Wie geht es Ihnen?“ Ah Sing verbeugte sich etwas tiefer als sonst.

„Hao. Ni hao ma, Ah xiansheng? Gut. Und Ihnen, ehrenwerter Ah?“ Pao Yap verbeugte sich noch etwas tiefer als Ah Sing. Schließlich war dieser sein Mäzen.

„Hao. Gut.“ Ah Sing folgte dem Priester in den Tempel.

Pao Yap war ein sehr gebildeter Mann um die Vierzig, der sich um den Tempel, seine Schreine und seine Götter kümmerte, die Gläubigen unterstützte und in seiner Freizeit chinesische Klassiker las.

Seine Kappe und sein Changpao