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Obwohl Schamanismus eher an wilde Gegenden denken lässt, kann er auch in Städten und Metropolen angewendet werden. Serge Kahili King, der aus einer alten hawaiianischen Familie stammt, schildert in diesem Handbuch, wie Sie mit Huna sich selbst, Ihre Beziehungen und Ihre Umgebung heilen, kraftvolle Rituale durchführen und auf die Suche nach Visionen gehen können.
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Seitenzahl: 432
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Serge Kahili King
Ein Handbuch der Transformation durch Huna,das Urwissen der hawaiianischen Schamanen.
Aus dem Amerikanischen von Karl Friedrich Hörner
Hinweis: Die Informationen in diesem Buch sind sorgfältig und nach bestem Wissen recherchiert. Eine Garantie kann von Autor und Verlag dennoch nicht übernommen werden; eine Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. In medizinischen Fragen ist der Rat Ihres Arztes oder Heilpraktikers maßgebend.
Titel der amerikanischen Ausgabe:
Urban Shaman by Serge Kahili King, PH. D.
© Copyright 1990 by Simon & Schuster Inc., New York
Original English language edition
© Copyright 1990 by Serge Kahili King, PH. D.
Überarbeitete Ausgabe
© 2001 der deutschsprachigen Ausgabe Lüchow Verlag in J.Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld
Alle Rechte vorbehalten
Nachwort aus dem Amerikanischen von Ulrich Magin
Umschlaggestaltung: ReclameBüro, München
Umschlagfoto: © c/m Fragasso/Visum
Autorenfoto: © Spirit of Aloha
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.luechow-verlag.de
ISBN Print 978-3-89901-319-1
ISBN E-Book 978-3-89901-448-8
Pili kau, pili ho’oilo
Zusammen in der Trockenzeit,zusammen in der Regenzeit
Zutiefst dankbar bin ich den vielen Freunden,die ich in der Tradition der hawaiianischen Schamanenunterweisen durfte. Sie lehrten mich:Wenn ein Lehrer bereit ist, wird der Schüler erscheinen.
Die Vorbereitung
DAS ERSTE ABENTEUER:
Die Entwicklung des hawaiianischen Schamanentums
DAS ZWEITE ABENTEUER:
Herz, Verstand und Geist
DAS DRITTE ABENTEUER:
Die Grundprinzipien
DAS VIERTE ABENTEUER:
Harmonie im Körper erzeugen
DAS FÜNFTE ABENTEUER:
Veränderung anregen durch Intuition
DAS SECHSTE ABENTEUER:
Die Welt verändern mit schamanischem Träumen
DAS SIEBTE ABENTEUER:
Formveränderung und Gemeinschaftsdienst
DAS ACHTE ABENTEUER:
Steigern Sie Ihre schöpferische Energie
DAS NEUNTE ABENTEUER:
Vom Frieden im Inneren zum Frieden im Äußeren
DAS ZEHNTE ABENTEUER:
Die Heilkraft von Symbolen
DAS ELFTE ABENTEUER:
Die Heilkunst von Zeremonie und Ritual
DAS ZWÖLFTE ABENTEUER:
Das geistige Zusammenwachsen
Laßt uns alle miteinander reisenwie Wasser, das in eine Richtung fließt
Dies ist ein Buch über Schamanismus, besonders über die hawaiianische Tradition des Schamanentums und über das Wesen des »Stadt-Schamanen«. Damit Sie den größtmöglichen Nutzen aus diesem Buch ziehen können, möchte ich gleich zu Beginn definieren, wovon wir sprechen werden.
Nach dem französischen Historiker Mircea Eliade ist die Praxis des Schamanismus überall auf der Welt anzutreffen, unter anderem in Asien, Nord- und Südamerika sowie im pazifischen Raum. Das Wort Schamane stammt aus der tungusischen Sprache Sibiriens und ist heute eine bei Wissenschaftlern und Laien gleichermaßen gängige Bezeichnung für Personen, die den Schamanismus ausüben. Die meisten Kulturen haben für solche Menschen einen Begriff aus ihrer eigenen Sprache; das Hawaiianische beispielsweise nennt den Schamanen kupua.
Es gibt die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber, was ein Schamane ist und tut; wie Eliade neige ich jedoch zu einer genauen Definition. Nicht jeder Medizinmann ist ein Schamane, aber ein Schamane kann ein Medizinmann sein. Nicht jeder Stammespriester ist ein Schamane, aber ein Schamane kann ein Stammespriester sein. Nicht jeder mediale Heiler ist ein Schamane, aber ein Schamane kann ein medialer Heiler sein. Zum Zwecke dieses Buches und meiner Lehren definiere ich einen Schamanen als einen Heiler von Beziehungen: zwischen Geist und Körper, zwischen Menschen, zwischen Menschen und ihren Lebensumständen, zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Materie und Geist.
Bei der Ausübung seiner Heilkunst hat der Schamane eine ganz andere Sicht der Wirklichkeit als die meisten Menschen unserer Zeit, und es ist gerade diese einzigartige Perspektive (die im weiteren Verlauf dieses Buches umfassend behandelt werden soll), was den Schamanen von anderen Heilern abhebt. Sie ermöglicht ihm einige durchaus ungewöhnliche Behandlungsmethoden, die man gemeinhin mit dem Schamanismus assoziiert, zum Beispiel Formveränderung, Kommunikation mit Pflanzen und Tieren und Reisen in die »Unterwelt«. Wenn manche dieser Dinge eigenartig klingen, so lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Sie werden noch feststellen, daß viele – wenn nicht die meisten – dieser Praktiken auf eigentümliche Weise vertraut anmuten. Die Schamanen nämlich begründen ihre Kunst auf dem natürlichen Erleben des Menschen. Bald werden Sie merken, daß Sie bereits mehr über den Schamanismus wissen, als Sie dachten.
Der Schamanismus ist eine eigene Form des Heilens, und das hawaiianische Schamanentum ist eine eigene Form des Schamanismus. Unabhängig von seinem Kulturkreis, ist die herausragende Eigenschaft des Schamanen die Tendenz zum Engagement, zur schöpferischen Aktivität. Wissen und Verstehen sind nicht genug, auch passives Akzeptieren allein besitzt keinen Reiz. Der Schamane stürzt sich mit Herz und Seele ins Leben und erfüllt die Rolle des Mitschöpfers. Es gibt Gemüter, die sich damit bescheiden, Gestalt und Lage eines gefällten Baumes zu bewundern. Der Schamane dagegen gleicht eher dem Bildhauer, der den Baum mustert und erfaßt ist von dem Verlangen, ihn zum Abbild seiner inneren Vorstellung zu verwandeln ... oder in ein nützliches Werkzeug. Er hat Achtung und Bewunderung für den Baum, wie er ist, aber zugleich auch den Impuls, sich mit ihm zu verbinden und etwas Neues hervorzubringen. Dieser Aktivismus äußert sich in der wichtigsten Aufgabe eines Schamanen: in der Tätigkeit des Heilers. Unabhängig von Kultur, geographischer oder gesellschaftlicher Umgebung besteht die Aufgabe des Schamanen im Heilen von Geist, Körper und Lebensumständen. In der Tat ist es dieser Einsatz zum Dienst an Gesellschaft und Umwelt, was den Schamanen unterscheidet von dem Zauberer nach Castanedas Modell, der dem Pfad zu ausschließlich persönlicher Macht und Erleuchtung folgt. Zwar sind alle Schamanen Heiler, doch die Mehrzahl beschreitet den »Weg des Kriegers«; nur eine Minderheit, zu der auch die Schamanen-Tradition Hawaiis gehört, folgen dem Weg, den wir den »Weg des Abenteurers« nennen können.
Der »Krieger«-Schamane wird Angst, Krankheit oder Disharmonie personifizieren und sich auf die Entfaltung von Macht, Beherrschung und Kampfkünsten konzentrieren, um damit umzugehen. Ein »Abenteurer«-Schamane hingegen wird solche Zustände de-personifizieren (d.h. sie als Auswirkungen, nicht als Dinge behandeln) und mit ihnen umgehen, indem er Qualitäten wie Liebe, Zusammenarbeit und Harmonie entfaltet. Ein einfaches Beispiel mag diese unterschiedlichen Ansätze illustrieren: Wenn Sie mit einer Person konfrontiert sind, die emotional erregt ist, würde ein Krieger-Schamane Ihnen vielleicht helfen, einen starken psychischen Schutzschild aufzubauen, um Sie vor der negativen Energie des anderen zu schützen. Der Abenteurer-Schamane dagegen würde Sie vermutlich lehren, Ihre eigenen Energien zu harmonisieren, damit Sie ruhig bleiben und sogar zur Quelle der Heilung für die andere Person werden können. Ferner ist der Pfad des Krieger-Schamanen oft einsam, während der Pfad des Abenteurers von Natur aus recht gesellig ist. Trotzdem ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, den Unterschied zwischen Meistern beider Richtungen festzustellen: Je machtvoller man ist, desto liebevoller ist man auch (da es immer weniger zu fürchten gibt); und je liebevoller man ist, desto machtvoller ist man auch (da das Vertrauen immer größer wächst). Ich ging beide Wege, und ich wählte und lehre den Pfad des hawaiianischen Abenteurer-Schamanen, weil ich ihn für den praktischsten und heilsamsten halte, doch ich habe großen Respekt für die Krieger-Schamanen und ihre Art zu heilen.
Der Titel dieses Buches lautet Der Stadt-Schamane, weil das urbane Umfeld Brennpunkt und Ziel meines Lehrens ist. Obgleich der Begriff Schamanismus gewöhnlich an ländliche Gegenden oder Wildnis denken läßt, ist seine Ausübung auch im großstädtischen Bereich sowohl natürlich als auch notwendig. Erstens ist der Schamane vor allem ein Heiler, unabhängig von kultureller oder geographischem Umfeld. Zweitens leben heutzutage mehr Menschen in Großstädten und Ballungsräumen als auf dem Lande, und sie sind es, die der Heilung am meisten bedürfen. Drittens ist der Schamanismus – und besonders die hawaiianische Spielart – aus mehreren Gründen an die moderne Zeit und ihre Bedürfnisse wohl angepaßt:
1. Er ist gänzlich überkonfessionell und pragmatisch orientiert. Das Schamanentum ist ein Handwerk, keine Religion, man kann ihn allein oder in einer Gruppe praktizieren.
2. Er ist sehr einfach zu lernen und anzuwenden, obgleich – wie bei jedem Handwerk – die Vervollkommnung gewisser Fertigkeiten eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt.
3. Besonders die hawaiianische Version läßt sich jederzeit und überall praktizieren, etwa zu Hause, bei der Arbeit, in der Schule, beim Spiel oder auf Reisen. Diese Annehmlichkeit ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die hawaiianischen Schamanen meist mit dem Geist und Körper allein arbeiten. Sie verwenden keine Trommeln, um veränderte Bewußtseinszustände herbeizuführen, und sie gebrauchen keine Masken, um andere Formen oder Qualitäten anzunehmen.
4. Es liegt im Wesen des Schamanismus, daß der Praktizierende, indem er andere heilt auch sich selbst heilt, und indem er den Planeten transformiert, den Weg der eigenen Transformation beschreitet.
In längst vergangenen Zeiten, als die Menschen noch in voneinander recht isolierten Dorfgemeinschaften lebten und das Bild der Welt des einzelnen sich auf die unmittelbare Umgebung von Tal, Berg oder Insel beschränkte, war es angebracht, daß jemand, der den Weg des Schamanen gemeistert hatte, im Laufe seines Lebens einen, zwei oder drei Lehrlinge ausbildete. Diese kleine Zahl vermochte alle Bedürfnisse der Dorfgemeinschaft zu erfüllen. Heute jedoch leben wir in einem globalen Dorf mit Milliarden von Menschen, und wir brauchen zumindest Tausende von Stadt-Schamanen, um dazu beizutragen, eine harmonische, gesunde Existenz aufrechtzuerhalten. Stadt-Schamanen, das heißt: Menschen wie Sie.
Ich wurde als Stadt-Schamane aufgezogen. Mein Vater war außerordentlich weitgereist und wohl versiert in zahlreichen Kulturen und Traditionen der Welt, darüber hinaus unterzog er sich einer gründlichen Ausbildung in der Tradition des hawaiianischen Schamanentums. Er war sehr geübt in den Praktiken und Fertigkeiten von Busch und Dschungel, Wald und Feld, Wüste und Tundra, und ich lernte von ihm sehr viel über die Natur. Aber vor allem und in erster Linie war er ein Städter, Inhaber medizinischer und ingenieurstechnischer Titel, und er fühlte sich ganz zu Hause in Wirtschafts- und Regierungskreisen. Zu Beginn eines Krieges trat ich in sein Leben, und er verließ das meine am Ende eines Krieges. Ein großer Teil der dazwischenliegenden Jahre war mit Reisen zwischen den verschiedensten Großstädten ausgefüllt. In unseren siebzehn gemeinsamen Jahren kam der Schamanismus, wie ich ihn durch Vorbild und Übung kennenlernte, vor allem in Städten, Großstädten und Schulen zur Anwendung.
Ich spreche zwar von »Ausbildung«, doch es gab keine Lehrstunden oder Unterweisungen, bei denen mein Vater als Lehrer und ich als Schüler fungierten. Die Ausbildung, die ich genoß, würde man als sehr traditionell bezeichnen, weil sie im Rahmen der gewöhnlichen Aktivität stattfand. Mitten in einer Unterhaltung – beispielsweise über Gemüse – lehrte mein Vater mich etwa eine Technik zur Kommunikation mit Pflanzen, die ich selbst üben konnte, um dann später mit ihm darüber zu sprechen. Oder er führte im Laufe des Tages eine Situation herbei, die mir Gelegenheit bot, kürzlich gelernte Fertigkeiten anzuwenden, und ihm, mein Tun oder Nicht-Tun zu kommentieren. Häufig ließ er faszinierende Hinweise fallen, Anregungen, Gedanken und Vorschläge, denen selbst nachzugehen mir freigestellt war. Es war eine Ausbildung, weil es bewußt und gezielt geschah, und weil ich sicherlich daraus lernte, trotzdem war es nicht im geringsten organisiert oder arrangiert wie eine Schule.
Nach dem Tode meines Vaters ging meine Ausbildung zum Schamanen in der gleichen Art bei Angehörigen unserer hawaiianischen Familie weiter; die Praxis fand nach wie vor hauptsächlich in Großstädten, Städten und Schulen statt – eine gewisse Zeitlang auch bei der Marine. Ich brachte das erlernte Wissen auf sehr praktische Weise zur Anwendung, und dazu war es gedacht. Es half mir bei der Stärkung meiner Gesundheit und Kraft – und unterstützte eine rasche Genesung, wenn ich die Anwendung vergessen hatte und krank oder verletzt wurde. Schamanen-Wissen half mir an der University of Colorado, ein übervolles akademisches Programm und gleichzeitig drei Jobs zu erfüllen, und schließlich als hervorragender Akademiker mit einem Titel in Asienkunde abzuschließen. Ich wendete das Wissen wieder an, als ich mir meinen Weg durch die American Graduate School of International Management in Arizona erarbeitete und einen Bakkalaureus- und einen Magister-Titel mit Auszeichnung erwarb, und viel später, um an der California Western University meinen Ph.D. (Dr. phil.) in Psychologie zu erlangen.
Als meine Ehe drei Jahre und mein erster Sohn zwei Jahre alt waren, zogen wir nach Westafrika, um sieben Jahre lang dort zu leben. Etwa die Hälfte dieser Zeit verbrachte ich im Busch – in Dschungel, Wald und Wüste –, wo ich noch viel über die verschiedenen Aspekte des Schamanismus lernte, den ich jedoch weiterhin hauptsächlich in urbaner Umgebung praktizierte. Ich wendete meine Kenntnisse an, um die Beziehung mit meiner Frau glücklich und erfüllt zu halten, um meine (schließlich drei) Söhne körperlich und akademisch bei guter Gesundheit zu halten und zu erreichen, daß sie einander und mir gute Freunde waren; um Haustiere zu erziehen und zu heilen; um Familie, Freunden und Nachbarn zu helfen, gesünder und erfolgreicher zu sein; und um meine eigene Karriere zu fördern und mein Wissen mit Menschen überall auf der Welt zu teilen. Ich arbeite mit schamanischen Fertigkeiten, um Fahrzeuge und Computer gut instandzuhalten, um auf Reisen die Kooperation von Fluggesellschaften und Wetter sicherzustellen und um die Lernfähigkeit von Schamanen und anderen zu steigern, die ich unterweise. Ich gebrauche es auf unzählige Weisen, um mir und meiner gesellschaftlichen und physischen Umgebung zu nutzen, wo auch immer ich mich aufhalte. Ich habe in meinem leben viele Dinge gelernt und befaßte mich mit vielen Richtungen der Religion (z.B. Christentum, Judentum, Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus, Islam, Woo-doo), der Philosophie (hauptsächlich Taoismus, Yoga, Zen, westlicher Pragmatismus) und des Heilens (Massage, Kräuter, Energie-Arbeit, Glaubensheilung, Hypnose, um nur wenige zu nennen); der Schamanismus hat mein Wissen von jedem dieser Bereiche vermehrt. Heute lebe ich auf Hawaii und leite Aloha International, ein weltumspannendes Netz von Schamanen/Heilern, das die hawaiianische Tradition des Heilens durch Kurse und Seminare, Ausstellungen und örtliche Gruppen fördert; der Stadt-Schamanismus ist in allen unseren Aktivitäten zu erkennen.
In diesem Buch gedenke ich zu zeigen, daß die Gedanken und Praktiken des hawaiianischen Schamanentums sehr wohl zur Anwendung in der modernen Großstadt-Gesellschaft geeignet sind, aber auch in Umfeldern, die man als der Natur näherstehend betrachtet. Wie bereits erwähnt, werden dem Leser vermutlich manche Begriffe, Beispiele und Übungen bekannt erscheinen, andere wiederum recht fremdartig anmuten. Grundlage dieses Textes sind zwei Schamanen-Ausbildungskurse, die ich durchführe; die einzelnen Themen und Lehren werden in annähernd der gleichen Reihenfolge wiedergegeben, in der ich sie dort darbiete. In diesem Buch jedoch können wir viele Gedanken wesentlich eingehender erforschen, als es im Rahmen eines Seminars möglich ist.
Frei und offen präsentiere ich viele Dinge, die in manchen Traditionen als große Geheimnisse behandelt werden. Einige fürchten einen Mißbrauch des Wissens, manche meinen, es werde an Macht verlieren, wenn es jedermann zugänglich ist, und wieder andere fürchten Bestrafung von einer Hierarchie, die bestimmt hätte, daß nichts von diesen Dingen bekannt werden dürfte.
Ein echter Schamane jedoch macht kein Geheimnis aus Wissen, das helfen und heilen kann. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, Wissen geheimzuhalten, sondern die Menschen zu bewegen, es zu verstehen und zu gebrauchen. Was den Mißbrauch angeht, so erwächst er allein aus Unwissenheit. Je mehr jedermann weiß, wie Dinge zu verändern sind, desto weniger Verlockung und Gelegenheit wird es geben, das Wissen zu mißbrauchen. Weit verbreitetes Wissen hat tatsächlich mehr Macht als Geheimnisse, die unter Verschluß gehalten und ungenutzt bleiben. Geheimgehaltenes Wissen ist etwa ebenso nützlich wie das Geld unter der Matratze des Geizigen. Die Heiligkeit des Wissens liegt nicht darin, daß es einigen wenigen vorbehalten ist, sondern in seiner Zugänglichkeit für viele. Jene Angst vor freiem Ausdruck hat wahrscheinlich mehr mit einer grundlegenderen Angst zu tun, der Hüter des Wissens habe in Wirklichkeit gar nicht viel zu beschützen – oder verstehe nicht, was er besitzt. Schließlich erkennen Schamanen keine Hierarchie oder Autorität in Dingen des Geistes an. Wenn es überhaupt eine Gruppe von Menschen gibt, von der man sagen kann, daß sie spirituelle Demokratie praktizieren, so sind es die Schamanen dieser Welt.
Die Hawaiianer können auf ein sehr reiches spirituelles, psychologisches, kulturelles und praktisches Erbe blicken, und ich vermag nur jenen kleinen Teil davon vorzustellen, den zu empfangen ich das Privileg hatte. Dieses Erbe ist tatsächlich so reich, daß eine Reihe von Traditionen aus ihm hervorgegangen sind, und nicht alle Hawaiianer oder Schüler von Hawaiiana stimmen in der Definition des Erbes überein. Was ich Ihnen hier vermittle, erfuhr ich selbst über meinen hawaiianischen Adoptivvater und dessen Vorfahren, über meinen leiblichen Vater und seine hawaiianischen Adoptiv-Geschwister, und schließlich durch mich und meine spezielle Persönlichkeit und Betrachtungsweise. Obgleich es sich um traditionelle Weisheit handelt, die in moderner Sprache für die heutige Zeit dargeboten wird, übernehme ich die volle Verantwortung für alles, was ich sage.
Ein großer Teil des von den Hawaiianern bewahrten Erbes liegt in deren Sprache. Diese ist trügerisch einfach, umfaßt nur zwölf Buchstaben und keine Form des Verbums sein. Doch Sie finden darin die tiefsten Begriffe, die Sie sich vorstellen können, in bezug auf spirituelles Gewahrsein, psychologische Denkgebäude, das Wesen der Wirklichkeit, Liebe, Macht, Errungenschaft und so weiter und sofort. Weil diese Sprache den meisten meiner Leser unbekannt sein dürfte, habe ich ihren Gebrauch auf jene Bereiche beschränkt, bei denen die Übersetzung allein dem eigentlichen Sinn nicht gerecht würde. Falls Sie die Aussprache probieren möchten, riskiere ich den Zorn der Puristen unter denen, die die hawaiianische Sprache beherrschen, und verrate Ihnen, daß es am einfachsten ist, die Wörter so auszusprechen, als seien sie aus der deutschen Sprache.
Dies ist also der Anfang meiner Geschichte, und nun folgt das Wissen, das ich mitteilen möchte. Möge es Ihnen helfen, mehr Frieden, Liebe und Macht zu finden und zu genießen.
Alte Geheimnisse werden nun enthüllt
Donner krachte, der Wind heulte, Sturzbäche von Regen erfüllten die Luft, berghohe Wellen erhoben sich und brachen, doch immer noch zerrte der mächtige Maui und riß an seinem magischen Angelhaken. Schließlich erhoben sich mit dem Getöse von tausend Wasserfällen die Hawaii-Inseln aus dem Meer. Maui hatte wieder einmal gesiegt, und der Mensch hatte neues Land zu erkunden und zu kultivieren.
Die Entwicklung des hawaiianischen Schamanentums beginnt mit den Mythen von Maui. Als Magier, Schwindler, Halbgott, Wunderwirker, Glücksbringer war Maui vom einen Ende Polynesiens bis zum anderen bekannt; keine andere männliche Gestalt der polynesischen Mythenwelt war so berühmt. Die einzige, weithin bekannte weibliche Figur in der Mythologie Polynesiens war Hina, die Göttin des Mondes und Mutter von Maui.
Die Geschichten, die man sich über Maui erzählt – sie sind zahlreich wiedergegeben in Beckwiths Hawaiian Mythology, Andersens Myths and Legends of the Polynesians und Fornanders An Account of the Polynesian Race –, zeigen deutlich, daß er ein archetypischer Schamane jener uralten Tradition war, die man auch anderswo auf der Welt antreffen kann, auf den Hawaii-Inseln jedoch mit einer polynesischen Note. Maui zog nicht nur die Hawaii-Inseln aus der See (ein Entdeckungs-Mythos), sondern er verlangsamte auch die Sonne dergestalt, daß seine Mutter ihre Kleider trocknen konnte (ein weiterer Entdeckungs-Mythos: Lande in hochnordischen Breiten werden gefunden). Ferner besuchte er die Oberwelt und überlistete die Götter, das Geheimnis des Feuers preiszugeben (ein Mythos von der schöpferischen Intuition durch schamanische Trance), stieg in die Unterwelt, um verschiedene Ungeheuer zu überwinden (ein Mythos von der schamanischen Trance zum Heilen), beherrschte den Umgang mit Magie und magischen Gegenständen und sprach frei mit Vögeln, Tieren und den Naturelementen. Aufgrund seiner Hilfsbereitschaft, seiner Abenteuerlust, seiner Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit und seiner Zugänglichkeit war Maui die populärste Gestalt in der Mythologie Polynesiens. Als Halbgott (genauer gesagt: als ein Mensch mit magischen Fähigkeiten) wurde er zwar nie verehrt, konnte aber als Glücksbringer angerufen werden. In Neuseeland, wo die Maori sein Bild in Gestalt eines menschlichen Embryos in Holz oder Jade schnitzten und es oft als Talisman trugen, wurde er »Maui Tikitiki« genannt; in Hawaii, wo niemals ein Bild von ihm geschaffen wurde, nannte man ihn »Maui Kupua«. Beide Namen lassen sich übersetzen als »Maui, der Schamane«.
Schon sehr früh entstand in Polynesien eine Lebensphilosophie namens Huna. (Manche Traditionen, z.B. die Kahili-Familie, die mich adoptierte, und jene, die von Leinani Melville in Children of the Rainbow dargestellt sind, sollen sogar bis zum untergegangenen Kontinent Mu zurückreichen, obwohl der Gerechtigkeit halber gesagt sein soll, daß viele dieser Behauptung widersprechen.) Huna bedeutet »Geheimnis« oder »verborgenes Wissen«. Dieser Name bezog sich nicht auf irgendein Bestreben, das Wissen anderen vorzuenthalten, sondern meinte vielmehr ein Wissen von der verborgenen oder unsichtbaren Seite der Dinge. Die Experten oder Meister unter den Ausübenden dieser Philosophie wurden auf hawaiianisch kahuna genannt, in der Sprache Tahitis tahuna und auf Maori tohunga. Irgendwann bildeten sich drei separate Gruppen. Die Existenz dieser drei Gruppen wird von vielen Quellen erwähnt (z.B. Malos Hawaiian Antiquities und Ancient Hawaiian Civilization von der Kamehameha School), aber die meisten der folgenden Einzelheiten erfuhr ich von Ohialaka Kahili und Wana Kahili, meiner Tante und Onkel durch Adoption nach hawaiianischer Tradition. Im Alter von siebzehn Jahren wurde ich nach dem Tode meines leiblichen Vaters von der Kahili-Familie hanai’d (adoptiert). Dabei handelte es sich nicht um eine Adoption im juristischen Sinne, für den Hawaiianer jedoch bedeutet es, in seiner Familie als einer der ihren aufgenommen zu werden.
Eine der vorgenannten Gruppen konzentrierte sich auf die Künste körperliche Therapie, zeremonielle Religion, Politik und Krieg; in Hawaii wurde sie bekannt als der Ku-Orden. Eine zweite Gruppe konzentrierte sich auf die spirituellen und materiellen Aspekte von Handwerk und Wissensgebieten wie Fischerei und Landwirtschaft, Schiffsbau und Navigation, Holzschnitzerei und Kräuterheilkunde. Dies war der Lono-Orden in Hawaii. Die dritte Gruppe, der hawaiianische Kane-Orden, befaßte sich vornehmlich mit Magie, Mystik und Psychologie; seine Angehörigen waren die Schamanen. Jeder Orden hatte viele Untergruppen, und in jedem Orden gab es Heiler. Doch die Kunst des Heilens durch den Geist wurde zur Hauptaktivität der Schamanen. Ku, Lono und Kane waren Archetypen oder Personifikationen von Körper, Seele und Geist. Kane hieß ursprünglich Kanewahine, was man als »Mannfrau« übersetzen könnte, und stützt sich auf einen Polaritätsbegriff, der Parallelen zur Yin/Yang-Lehre der taoistischen Schamanen zeigt. Kane war ein archetypischer Gott der Wälder und Hochländer, der Wasserquellen und des Friedens. Das ist wichtig, denn die Hawaiianer bewohnten in der Regel nur die Küstenstreifen ihrer Inseln. Abgesehen von gezielten Raubzügen der Küstenbewohner zur Erbeutung von Sandelholz, zum Fällen von hohen Bäumen für hochseetaugliche Kanus sowie zum Sammeln von Federn für ihre Umhänge, waren die Schamanen die einzigen Hawaiianer, die viel Zeit in den Wäldern und Hochländern verbrachten.
Als eine Gilde gliederte sich der Kane-O rden grob in Lehrlinge, Reisende und Meister; manche Lehrer nennen jedoch eine andere Zahl von Kategorien. Ich begann meine Ausbildung als Lehrling und meisterte im weiteren Verlauf noch unterschiedliche Bereiche. Die Schamanen Hawaiis – und auch anderswo – haben keine Hierarchie. Die Lehrlinge sind Schüler und Kollegen zugleich, keine Jünger oder Nachfolger; der Meister ist ein Meister des Wissens, nicht Herr über Menschen. Das hawaiianische Wort für Meister in diesem Sinne – ein Mensch mit spiritueller und materieller Fachkenntnis in einem bestimmten Bereich – ist kahuna. Dieser Begriff wird heutzutage recht großzügig gebraucht. Korrekt verwendet, und um überhaupt einen richtigen Sinn zu vermitteln, sollte er immer von einem qualifizierenden Attribut begleitet sein. Ein Meister-Heiler beispielsweise, der mit Hilfe von Kräutern, Massagen und Energien behandelt, ist ein kahuna lapa’au; ein Meister von Gebet und Zeremonie ist ein kahuna pule, und ein Meister-Schamane ist ein kahuna kupua. Der »große Kahuna« an den Surf-Stränden wäre übrigens ein kahuna he’e nalu. Der Schwarzmagier oder Hexer wurde kahuna ‘ana’ana genannt.
Sehr viel Unsinn wurde über die kahunas Hawaiis bereits veröffentlicht und geredet, angefangen von dem roten Blitz im Auge, den man angeblich sieht, wenn man einem echten kahuna begegnet, über unfehlbare Sofortheilungen von Knochenbrüchen bis hin zum Erwecken von Toten und zu dem berüchtigten »Todesgebet«. Da der lobenswerte oder schändliche Ursprung vieler dieser Dinge den Schamanen nachgesagt wird, möchte ich hier und jetzt zu diesen Themen etwas klarstellen.
Beginnen wir gleich mit dem roten Blitz, der Glaube an ihn wurde sogar übers Fernsehen verbreitet. Er entstand aufgrund eines Wortspiels, wie es die Polynesier so lieben. Das für Blitz verwendete Wort ist makole, es heißt »rotäugig« und kann sogar »Bindehautentzündung« bedeuten. Das gleiche Wort steht auch für »Regenbogen«, und dieser ist ein Symbol für die Anwesenheit von Häuptlingen, Göttern oder Geistern. In bezug auf einen kahuna ist makole ein Ausdruck der Achtung.
Die Augenblicks-Heilung eines Knochenbruchs ist unter den richtigen Umständen jedem Heiler möglich. Sie kann besonders dann gelingen, wenn reichlich Energie und Glauben zur Verfügung stehen und keinerlei Zweifel herrscht. Die Berühmtheit des kahuna für diese Fertigkeit ist vor allem auf eine einzelne Geschichte in dem Buch Geheimes Wissen hinter Wundern von Max Freedom Long zurückzuführen. Da erzählt Long von einer weiblichen kahuna, die das Bein eines Mannes heilte, der es in betrunkenem Zustand gebrochen hatte. Die kahuna besaß offenbar genug Energie und Glauben, und der Mann war vermutlich zu betrunken, um noch Zweifel zu hegen. Aber nicht einmal kahunas können dies jederzeit und unfehlbar vollbringen.
Die Auferweckung von Toten gab es in jedem Kulturbereich, manchmal auch spontan, ohne daß ein Schamane oder Heiler anwesend war. In solchen Fällen hatte sich die »tote« Person tatsächlich in einem tiefen Koma oder Trancezustand befunden, oder auf dem Weg auf die andere Seite. Es mag geraten sein zu glauben, daß Jesus recht hatte, als er sagte, daß das Mädchen nur geschlafen habe, das er ins Leben zurückrief. Eine für kahuna-Schamanen typische Technik, um einen anscheinend Toten aufzuerwecken, bestand darin, den wandernden Geist der Person über die großen Zehe in den Körper zurückzustoßen. Das ist ganz raffiniert, wenn man bedenkt, daß das Drücken der großen Zehe eine wohlbekannte Methode ist, um Ohnmächtige wieder zum Bewußtsein zu bringen.
Doch nun zu dem dicksten Hund, dem sogenannten »Todesgebet«. So etwas wurde nur von den ‘ana’ana angewendet, den Schwarzmagiern oder Hexern, die von den kahunas aller Orden verachtet werden. Jene Abtrünnigen waren meist Lehrlinge in einem der genannten Orden, die einiges Wissen aufgenommen hatten und aufgrund ihrer negativen Persönlichkeit oder ihres Verhaltens von ihrer Gilde verlassen oder von ihr ausgestoßen worden sind. Es waren Europäer, die ihnen als erste den Namen kahuna gaben, und die Missionare brachten die Vorstellung in Umlauf, daß alle kahunas böse Hexer seien. Das »Todesgebet« selbst war nichts weiter als ein Verwünschungs-Gesang, der offen und telepathisch Einfluß auf die Ängste des Opfers nehmen sollte. Ohne Angst vor dem Fluch hatte dieser keine Wirkung. Es gab gewisse kahunas, die sich darauf spezialisierten, die Attacken der ‘ana’ana zu neutralisieren, sei es, indem sie den Hexer direkt beeinflußten oder das Opfer stärkten. Manchmal wurden auch diese »Gegenzauberer« kahuna ‘ana’ana genannt.
Die Schamanen-Ausbildung in Polynesien kann formell oder recht formlos sein, das hängt von der Gegend ab. In Neuseeland besuchten Maori-Kandidaten früher die Whare Wananga oder »Psychische Schule« und unterzogen sich einem rigorosen Training und Prüfungen. Die hawaiianische Tradition war viel mehr von der Familie geprägt. Die Kandidaten wurden ausgewählt oder wurden in die Familie eines Meister-Schamanen adoptiert und von diesem Schamanen oder seinen fortgeschrittenen Schülern ausgebildet. Bei den Maoris erhielt man spezifische Aufgaben, die zu erfüllen waren, und wurde danach geprüft. Im hawaiianischen Schamanismus werden einem Erlebnisse, Vorführungen, Hinweise und Suggestionen gegeben, und dann kann man selbst entscheiden, die Initiative zu ergreifen und Selbstdisziplin zu entwickeln, um jene Dinge zu meistern – oder es bleiben zu lassen. Hat man das Gefühl, fertig zu sein, geht man zum Meister und bittet ihn, ihm seine neue Fertigkeit vorführen zu dürfen. Der Meister gibt einem dann entweder Ratschläge, seine Geschicklichkeit zu verbessern, oder er erkennt die erworbene Fachkenntnis an und stellt einen vor eine neue Herausforderung – wenn er darum gebeten wird.
Das hawaiianische System ist meines Erachtens das wesentlich härtere von beiden, weil die Richtlinien so unklar sind. Wana Kahili beispielsweise, mein hawaiianischer kahuna-Onkel, sagte etwa unvermittelt: »Es ist eine gute Sache, die Energien von Steinen und steinartigen Dingen zu verstehen.« Also fragte ich ihn: »Heißt das, daß du meinst, ich sollte mich damit befassen?« – »Nein«, erwiderte er. »Willst du, daß ich es tue?« fragte ich erneut. »Nein«, sagte er wieder. Zuerst konnte ich nicht ausmachen, warum er es erwähnt hatte, aber dank der vorausgegangenen Erfahrungen mit meinem Vater und mit M’Bala, meinem afrikanischen Schamanen-Mentor, kam mir endlich blitzartig die Eingebung, und ich fragte ihn: »Wie lernt man die Energien von Stein zu verstehen?« – »Nun, man beginnt beispielsweise, indem man ...« Und dann unterbreitete er mir zum Anfang mehrere Vorschläge. Hätte ich nicht die richtige Frage gestellt, hätte er mir nicht geholfen, mein Wissen auf diesem Gebiet zu erweitern. Im hawaiianischen Schamanentum spielt die Eigeninitiative eine sehr große Rolle und wird belohnt.
Ein – im Vergleich zum indianischen Schamanismus – neuartiger Aspekt des polynesischen Schamanismus ist das Fehlen von Masken, Trommeln und Tanz. Masken als Darstellungen von Göttern, Geistern oder Tieren wurden in Polynesien nirgendwo verwendet, obwohl manche Menschen meinen, die melanesischen Masken aus Neuguinea seien polynesisch. Wenn die Tänzer, Schamanen oder Priester Polynesiens die Anwesenheit oder Aktivitäten von Göttern, Geistern oder Tieren vermitteln wollten, beschränkten sie sich auf Geräusche und Gesten. Selbst die kunstvolle Gesichtstätowierung der Polynesier war zur Unterstreichung der Schönheit gedacht, nicht als eine Maske. Das Trommeln als ein Mittel, um in Trance zu gelangen, wurde nicht gebraucht. Es galt der Kommunikation, zur Aufrechterhaltung des Rhythmus und zur Energetisierung. Beim heiligen Hula ging ein Darsteller vor dem eigentlichen Tanz durch Meditation über den Gott, Geist oder Zweck, den es darzustellen galt, in eine Art von Trance. Der Tanz selbst war sorgfältig inszenierte Choreographie; seine Macht erwuchs aus der Fertigkeit des Tänzers, sich mit dem darzustellenden Geist oder Zweck zu verbinden. Eine tiefere Trance oder Konzentration mag dabei als Nebenwirkung entstehen, der eigentliche Zweck des heiligen Hula besteht jedoch darin, die Zuschauer zu unterrichten oder zu bewegen. Ekstatischer oder tranceherbeiführender Tanz war nie Teil der polynesischen Kultur.
Polynesische Schamanen wurden als Heiler in sieben Disziplinen ausgebildet und obwohl man, um kahuna-Schamane zu werden, einen gewissen Grad von Meisterschaft auf allen sieben Gebieten erreicht haben muß, war nicht jeder in allen Bereichen gleichermaßen geschickt, was auf Unterschiede in natürlicher Begabung und Interesse zurückzuführen ist. Grundsätzlich wurde der Schamane als ein Medium ausgebildet, als ein Löser mentaler und körperlicher Blockaden, als ein Bewirker von Ereignissen, als ein Formveränderer, als ein Friedensmacher, als ein Lehrer und als ein Abenteurer. Die Form der Ausbildung unterschied sich von Lehrer zu Lehrer, aber auf jeden Fall wurde Wert gelegt auf Selbstachtung, innere Autorität und die Macht der Worte, Energie zu lenken, bildhafte Vorstellungen hervorzurufen und Überzeugungen zu erschaffen. Im allgemeinen wurden den Lehrlingen Gesangs-Formeln gegeben (die wir heute als Affirmationen erkennen würden), Bilder, um darüber zu meditieren und sie zu erforschen, und elementare, tierische oder pflanzliche Formen, um sie nachzuahmen oder zu gestalten. Eine formelle Ausbildung fand gewöhnlich von Tagesanbruch bis Mittag statt, aber vom Lehrling wurde erwartet, daß er das Gelernte bei jeder sich bietenden Gelegenheit tags oder nachts anwendete. Atemübungen zur Steigerung der spirituellen Energie und zur Ausrichtung der Gedanken spielten eine wichtige Rolle.
Als ein Medium wurde der Schamane ausgebildet in: Telepathie und Hellsehen, aber auch im Reisen in andere Welten, innere wie äußere; Kommunikation mit Geistern; Channeling; Traumarbeit; Kommunikation mit Pflanzen, Tieren und den Naturelementen der Erde. Alle diese Tätigkeiten wurden als Formen der Telepathie verstanden, der vermutlich wichtigsten aller schamanischen Fertigkeiten. Techniken wie Steine-Werfen, Orakelsteine und Wünschelruten wurden oft gebraucht, um die mentalen Fertigkeiten zu üben und zu vervollkommnen.
Als ein Löser von Blockaden lernte der Schamane den Gebrauch von Energie zur Beruhigung körperlicher, emotioneller und mentaler Spannungen, sowie Methoden zur Umwandlung einengender Denkmuster und Überzeugungen. Die Freisetzung von Energie basierte zumeist auf lomi-lomi, einer hawaiianischen Form der Massage. Hierbei handelt es sich um eine Kombination von Elementen, die an die schwedische und an die Esalen-Massage erinnern; sie läßt an Rolfing und Polarity, an Akupressur, Handauflegen und andere Techniken denken. Doch auch Personen- und Umfeld-Geomantie kommen zum Einsatz. Die Auflösung einengender Denkmuster geschah mit Hilfe einer Reihe von Methoden, besonders verbreitet war jedoch eine Art von Gesprächstherapie, bei der häufig Affirmationen eine Rolle spielten. Man konnte sie selbst üben, für einen anderen oder in der Gruppe anwenden.
Als ein Bewirker von Ereignissen lernte der Schamane Dinge wie, das Wetter zu verändern, den Wohlstand zu mehren (etwa durch Herbeiführen einer reicheren Ernte oder eines größeren Fanges der Fischer) und verschiedenartige Geschehnisse zu manifestieren (zum Beispiel eine Insel zu finden oder eine Zusammenkunft der Häuptlinge zu veranlassen). Neben mehreren anderen gebräuchlichen Methoden gibt es auch eine Form der Kontemplation oder passiven, konzentrierten Aufmerksamkeit. Sie ähnelt gewissen Yoga-Praktiken, bei denen ein Gedanke ruhig im Bewußtsein gehalten wird, bis er genügend Energie gesammelt hat, um sich im Äußeren zu manifestieren. Zu diesem Teil der Ausbildung gehören auch Astralreisen und Psychokinese.
Als ein Formveränderer lernt der Schamane, durch Gesang, Schauspiel oder Tanz verschiedene Rollen oder die Charakteristika von Tieren oder Gegenständen anzunehmen, mit den Elementen der Natur zu verschmelzen und sie mittels Resonanz zu beeinflussen. Die geschicktesten Schamanen lernen schließlich, vor den Augen anderer zu verschwinden oder in einer anderen Gestalt zu erscheinen.
Als ein Friedensmacher lernt der Schamane, Harmonie zu erzeugen in sich selbst, in anderen, zwischen den Menschen, zwischen Mensch und Natur und in der Natur. Die Arioi, eine Schamanen-Vereinigung auf Tahiti, hat sich darauf spezialisiert. Mit Gesang, Tanz und Poesie reisen sie von Insel zu Insel und geben ihre Darbietungen. Sie waren so geachtet, daß für die Zeit ihrer Anwesenheit jegliche kriegerischen Handlungen oder Auseinandersetzungen ruhen. Die Arioi erinnerten die Kämpfenden mit Hilfe von Mythen und Legenden an ihren gemeinsamen Ursprung und Bestimmung; mit ihrem frechen und respektlosen Humor versuchten sie, den Antagonisten das Irrige an ihrer Handlungsweise vor Augen zu führen. Diese zentrale Rolle des Friedens gehört zu den hervorragenden Merkmalen der polynesischen Schamanen. Während die meisten Schamanen heute dem Weg des Kriegers folgen, der Macht sucht und die Überwindung des Selbst, beschreiten die polynesischen Schamanen den Weg des Abenteurers, den Pfad der Liebe (aloha) und der Erweiterung des Selbst.
Als ein Lehrer lernt der Schamane, sein Wissen zu veranschaulichen und mitzuteilen, sowie Menschen zu helfen, zu entdecken, wie sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und verändern können. Ein Schamane wird nur sehr selten zum kahuna a’o, zum Meister-Lehrer, der vor Gruppen spricht. Weitaus häufiger geschieht die Unterweisung stattdessen durch Vorbild, Vorschlag und Rat.
Als ein Abenteurer lernt der Schamane, flexibel zu sein, sich auf Veränderungen einzustellen und diese in eine positive Richtung zu lenken. Er übt sich in der Freiheit, bei seinem Handeln neue Wege und Bedeutungen zu erkunden, und bringt sein Wissen durch Reisen und den Austausch mit anderen laufend auf den neuesten Stand.
Wie war es möglich, werde ich häufig gefragt, daß Polynesien trotz solcher Kräfte und Fähigkeiten je von Eindringlingen überwältigt werden konnte? Warum haben die Schamanen das nicht verhindert? Da sie mit der Entwicklung des Schamanentums in Polynesien unmittelbar zusammenhängt, will ich diese wichtige Frage hier beantworten. Jeder Teil der polynesischen Inselwelt besitzt seine eigene, lokale Variation über dieses Thema, aber die Geschichte Hawaiis ist typisch genug, um als Beispiel für alle zu dienen.
Fornander berichtet in An Account of the Polynesian Race: Um das Jahr 1200 – zur Zeit der Ritter in Europa und der Regierung des Dschingis Khan in Asien – zog ein Mann namens Paao, ein machtvoll motivierter und entschlossener kahuna vom Orden der Ku, mit einem Häuptling von Samoa und Kriegern aus Samoa und Tahiti nach Hawaii, einem seinerzeit recht friedlichen Ort. Die verschiedenen Gebiete der Inseln unterstanden Häuptlingen, die wie Dorfälteste oder Dorfhäuptlinge regierten. Die Schiffsbauer von Hawaii hatten alle Hände voll zu tun, und hochseetüchtige Kanus verkehrten regelmäßig und ermöglichten Handel und Reisen zwischen den Hawaii-Inseln, Samoa und Tahiti. Der Ku-Orden, den Malo in Hawaiian Antiquities erwähnte, existierte in Hawaii bereits als eine zeremonielle Priesterschaft. Sie war zuständig für die meisten Tempel und die Feste, die dem Ackerbau, dem Fischen und Heilen gewidmet waren. Bis zur Ankunft von Paao lebten die Ku-Priester in relativer Harmonie mit den Kane-Schamanen und den Angehörigen der Berufsstände (den Kräuterkundigen, Astrologen, Steuermännern, Schiffsbauern usw.) vom Lono-Orden. Die Menschen lebten nicht nur in Frieden, sondern auch zufrieden. Hätte einer geahnt, was bevorstand, hätte ihm niemand Glauben geschenkt. Hier war das Paradies – was könnte schon passieren?
Paao hatte ein spezielles Talent; in Verbindung mit seinem Ehrgeiz sollte es die Gesellschaft Hawaiis tiefgreifend wandeln. Er war ein Organisationsgenie. Bald nach seiner Landung (manche sagen, er sei von Big Island gestartet) richtete er mit den mitgebrachten Kriegern samt Häuptling eine Operationsbasis ein. Dann begann er kraft seiner machtvollen Persönlichkeit und Organisationsbegabung, den örtlichen Ku-Orden in eine streng hierarchische und exklusive Gesellschaft von Priestern und deren Gehilfen umzuwandeln. Irgendwann führte er in die Zeremonien dann auch Menschenopfer ein – zum ersten Mal auf Hawaii – mit der üblichen Begründung, das menschliche Leben eigne sich aufgrund seiner besonderen Heiligkeit zum machtvollsten Opfer. Als der Ku-Orden organisatorisch erstarkte, begann sich Paao mit Unterstützung seiner Krieger auch politisch durchzusetzen. Während er ein Gebiet nach dem anderen eroberte, ersetzte Paao mit Hilfe der örtlichen Priesterschaft das Dorfhäuptling-System durch eine neue, aristokratische Ordnung. Nachdem vorher alles Land Gemeinbesitz war, gehörte es nun ausschließlich den neuen Häuptlingen, die es nach Belieben zuweisen und entziehen konnten. Die Aristokratie hatte natürlich ihre eigene Hierarchie, die dem Feudalsystem Europas weitgehend ähnlich war, und Paao sorgte dafür, daß seine Macht über das Volk mit der Macht der Priesterschaft eng verknüpft war. So war das eine vom anderen abhängig, und beide sollten einander kontrollieren – ebenfalls ähnlich den europäischen Verhältnissen. Obschon er das grobe Klassensystem Hawaiis in ein strengeres Kastensystem verwandeln konnte, gelang es ihm doch nie, die Leibeigenschaft einzuführen. Der gemeine Mann war Lehnsmann, aber nie Leibeigener. Er gehörte nicht zum Besitz des Häuptlings. Wenn er mit seinem Häuptling nicht zufrieden war, konnte er in ein anderes Gebiet übersiedeln, das von einem anderen Häuptling regiert wurde.
Nur aus zwei Richtungen hatte Paao echten oder möglichen Widerstand zu erwarten: von den Schamanen und von den Berufsständen. Also gingen Paao und seine Anhänger daran, beide auszuschalten. Mit als erstes wurde der Handelsverkehr mit den anderen Inseln im Südpazifik eingestellt. Hochseetüchtige Kanus durften die Inseln nicht mehr verlassen (das sei »gegen den Willen der Götter«), und alle ankommenden Schiffe wurden beschlagnahmt, und so kam jeglicher Warenaustausch bald zum Stillstand. Ohne den Handel jedoch bestand kein Bedarf mehr für den Schiffsbau, und die Werften wurden geschlossen. Schiffsbauer und Steuermänner waren natürlich auch nicht mehr gefragt, und so gingen diese beiden Berufsstände ein und ihr Wissen verloren. Da die meisten Astrologen auch Navigatoren waren, ging ein großer Teil ihres Wissens unter. Bereits siebenhundert Jahre, bevor der eiserne Vorhang sich über Europa senkte, hatte Paao seinen noch wirksameren »Ozean-Vorhang« über Hawaii verhängt.
Der Lono-Orden litt sehr unter Paao. Buchstäblich nur die Farmer, Fischer und Kräuterkundigen überlebten die nächsten fünfhundert Jahre bis zum Eintreffen Kapitän Cooks; ihr Nutzen ließ sich nicht leugnen, und sie bedeuteten keine Gefahr für die neue Ordnung. Die Kane-Schamanen mit ihrer Botschaft von der Freiheit und individuellen Macht waren tatsächlich die größte Bedrohung für Paao, aber in gewissem Sinne vermochten sie ihm auch am wenigsten Widerstand zu leisten. Die Schamanen konnten sich schützen – und taten dies auch –, indem sie sich in Wald und Hochland zurückzogen; nur sehr wenige andere Hawaiianer besaßen den Wunsch und den Mut, dorthin zu gehen. Doch die Schamanen konnten auf die Menschen nur auf solche Weise Einfluß nehmen, wie diese beeinflußt werden wollten. Paao dagegen bot als Gegenleistung für die Aufgabe der persönlichen Freiheit und Verantwortlichkeit absolute Sicherheit; mit Erfolg appellierte er an die Angst der Menschen, die sich seinen neuen Wegen fügten. Die Sicherheit gewährleisteten nicht nur die Soldaten der neuen Herrscher, sondern auch eine Klasse der Exekutoren, die von den Herrschern und der Priesterschaft eingestellt wurde, um bei Nacht hinauszugehen und Feinde zu bestrafen und Kandidaten für die Menschenopfer zu sammeln. Die Bevölkerung war mit der neuen Ordnung im allgemeinen einverstanden, und die Schamanen waren weder nach ihrer Zahl noch organisatorisch stark genug, um sich der Politik Paaos direkt entgegenzustellen. So zogen sie sich in die Wildnis zurück und informierten nur wenige über ihre Aufenthaltsorte. Sie heilten jene, die sie finden konnten, und hielten sich so weit wie möglich im Hintergrund.
Als Cook am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Hawaii-Inseln entdeckte, hatte die Ku-Priesterschaft das ganze Gebiet fest im Griff, obwohl alle Inseln im Kriege miteinander lagen. Der Lono-Orden hatte den größten Teil seines Wissens verloren und war praktisch zu einem untergeordneten Zweig der herrschenden Priesterklasse geworden; die Kane-Schamanen waren schattenhafte Gestalten im Hinterland, die man in Zeiten der Not um Rat fragte, ansonsten aber mied. Nur auf Kauai hatten die Schamanen einen gewissen Einfluß behalten. Als sich der glänzende König Kamehameha mit Hilfe westlicher Strategie und Technik Hawaii, Maui, Oahu und Molokai unterwarf, vermochten die Schamanen von Kauai mit Hilfe ihrer Magie zwei Mal, ihn von der Eroberung Kauais abzuhalten. Kamakau berichtet in Ka Po’e Kahiko (Die Menschen der alten Zeit), daß Kamehameha mit zehntausend Kriegern in See stach, um den Kanal zu überqueren, der Oahu und Kauai voneinander trennt. Doch ein starker Wind kam auf und drohte, die ganze Flotte zu vernichten, so daß der König zur Umkehr gezwungen war. Im Jahre 1804 sammelte Kamehameha erneut über siebentausend Krieger für eine Invasion Kauais und rüstete sich mit Musketen, Kanonen, Drehbassen, Mörsern sowie gepanzerten Schonern und Kanus. Dieses Mal war es eine Typhus-ähnliche Krankheit, die seine Streitmacht dahinraffte und die Invasion verhinderte. In Kauai: The Separate Kingdom, einem Bericht über jene Zeit, schreibt Edward Joesting: »Auf allen Inseln war Kauai bekannt für die religiöse Gesinnung seines Volkes und wurde oft als ›Kauai pule o’o‹ bezeichnet, als Kauai der starken Gebete.«
Weder der durch Verhandlungen erreichte Eintritt Kauais in Kamehamehas Union noch die Störung und buchstäbliche Vernichtung der Priesterschaft kurz nach dem Tode des großen Königs, weder die Ankunft der Missionare noch der Erwerb Hawaiis durch die Vereinigten Staaten hatte eine große Auswirkung auf die Schamanen der Hawaii-Inseln und ihre Lebensweise. Einmal kamen etliche von ihnen aus der Wildnis hervor, um König Kalakauas Versuch zu unterstützen, die alten Heilkünste mit neuem Leben zu erfüllen. Als jedoch der Einfluß politischer Aktivisten – der sogenannten »Missionars-Gruppe« – stark genug wurde, den König zu zwingen, seine von kahunas geführte Gesundheitsbehörde aufzugeben, zogen die Schamanen sich still zurück und verschwanden wieder von der Bildfläche.
Während all der Jahre, in denen die Kultur Hawaiis von den Missionaren und der neuen wirtschaftlichen und politischen Elite Amerikas verdrängt wurde, lebten und wirkten die Insel-Schamanen weiter, in gleichem Maße wie schon während der jahrhundertelangen, von Paao begonnenen Unterdrückung. Sie meisterten die Kunst, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, und so blieben sie entweder unentdeckt in den Hochländern, oder sie mischten sich als dem Anschein nach ganz gewöhnliche Menschen unter ihre Zeitgenossen. In beiden Fällen dienten sie mit ihren Fertigkeiten nur Angehörigen, Freunden und den Bedürftigsten. Die Gesetze Hawaiis, die es zu einem Verbrechen stempelten, sich als kahuna zu bezeichnen, hatten auf ihre Tätigkeit kaum eine Auswirkung.
Die Saat des Wandels unter den kahunas Hawaiis wurde in den sechziger Jahren von gesellschaftlichen Veränderungen gelegt; in den Siebzigern und Achtzigern keimte sie und wuchs nach Kräften. Wie andere Menschen in anderen Ländern begannen allmählich auch die Hawaiianer, Stolz zu empfinden, Hawaiianer zu sein; die tapfersten unter ihnen begannen die besten Aspekte ihrer uralten Kultur mit neuem Leben zu erfüllen und zu verbessern. Künste und Handwerk, Tanz und Gesang nach traditionellen alten und einzigartig neuen Weisen gewannen an Beliebtheit, und irgendwann wurde auch das Gesetz gegen die kahunas aufgehoben. Während der Stolz der Hawaiianer wuchs, nahmen auch die Aktivitäten der hawaiianischen kahunas zu. Doch die Unterdrückung durch Kirche und Staat hatte einen hohen Preis gekostet: Nur sehr wenige echte kahunas jeder Art waren geblieben, und noch weniger Lehrlinge befanden sich in ihrer Ausbildung. So stolz die Hawaiianer auf ihr Erbe auch sein mochten, hatte das Wirken der Kirchen doch tiefe Spuren hinterlassen; alles kahuna-Volksgut wurde mit schwarzer Magie gleichgesetzt. Selbst jene Hawaiianer, die mutig genug sind, sich für die Heilweisen dieser großen Tradition zu interessieren, tun dies nicht ohne Angst. Doch ihre Zahl wächst weiter.
Heute jedoch werden die großen heilerischen, metaphysischen und schamanischen Traditionen Hawaiis vor allem von jener selben Rasse am Leben erhalten, die sie einst fast völlig ausrottete. Ohne das weiße Publikum vom Festland hätten selbst die spärlichen Lehrer-kahunas von Hawaii buchstäblich niemanden zu unterweisen. Ein mir befreundeter kahuna sagte einmal, daß die Hawaiianer selbst wohl erst dann zu dem uralten Huna-Gut zurückkehren würden, wenn genügend Weiße ihnen sagten, daß es gut sei. Ein anderer hawaiianischer kahuna – er besuchte einen meiner Vorträge, um zu hören, was dieser haole kahuna zu sagen habe – bestätigte mir, was ich gelernt hatte. Er vermittelte mir seinen Segen und Dank, daß ich es weitergebe, während ihn ein seltsames Gefühl beschlich, zu hören, wie dieses Wissen nach so vielen Jahren der Unterdrückung nun so öffentlich verbreitet wurde. Andererseits sind einige Hawaiianer – wenn auch meines Wissens keine kahunas –, der Ansicht, die heiligen Überlieferungen Hawaiis sollten nur Bewohnern ihres Landes nahegebracht werden.
In gewissem Sinne ist es ein Glück und ein Unglück gleichermaßen, daß kahuna-Weisheit – Huna – heute vor allem Weißen vom Festland gelehrt wird. Es ist ein Glück, weil ihre Zahl, ihre Aufgeschlossenheit und relative Furchtlosigkeit sicherstellen, daß das Wissen erhalten und verbreitet wird – ein Unglück jedoch, weil das Wissen auch für die Hawaiianer selbst von großen Nutzen sein könnte auf ihrer modernen Suche nach Selbstachtung und Selbstbestimmung. Zur Zeit gibt es weniger als ein halbes Dutzend Lehr-kahunas, die hauptsächlich auf dem Festland unterrichten. Nur einer von ihnen ist vom Kane-Orden, und auch er ist ein haole, ein Weißer. Dieser Lehrer bin ich. Keiner der übrigen kahuna-Schamanen, die ich kenne, verspürt ein Verlangen zu unterrichten, doch beginnen wenigstens einige kahunas der anderen Orden, in die Öffentlichkeit zu treten, um ihre Fertigkeiten und ihr Wissen weiterzugeben. Ich habe große Hoffnungen für meine wenigen polynesischen Lehrlinge, doch scheinen wir auf eine Geschichtsepoche zuzugehen, in der Unterschiede immer weniger Bedeutung haben.
Das hawaiianische Schamanentum und der Geist des aloha, auf dem es basiert, stellen eine Lebensweise dar, die für alle Menschen sehr wertvoll ist. Der beste Einsatz allen schamanischen Wissens, ob städtisches oder anderes, wäre der für die Sache des Friedens im Inneren und Äußeren. Ein altes hawaiianisches Sprichwort sagt: He ali’i ka la’i, he haku na ke aloha (Frieden ist ein Häuptling, der Herr der Liebe). Mögen Frieden und Liebe uns Führer und Ziel sein, während wir daran arbeiten, unsere Welt zu heilen.
An keiner Schule wird alles Wissen gelehrt
Die Weltanschauung der Schamanen Hawaiis zeigt Parallelen zu anderen Denkgebäuden, die den menschlichen Geist und seinen Einfluß auf das Universum kennen; gleichwohl gibt es deutliche Unterschiede. Vor vielen Jahrhunderten fanden die spirituellen Meister Hawaiis zu den gleichen Erkenntnissen, zu denen auch anderen Menschen zu anderen Zeiten und an anderen Orten gelangten. Es gibt einen Bewußtseinsaspekt, der indirekt und im Verborgenen tätig ist (das Unterbewußte); es gibt einen Bewußtseinsaspekt, der offen und direkt arbeitet (das Bewußte), und es gibt einen Bewußtseinsaspekt, der über beide hinausgeht und sie doch in sich umfaßt (das Überbewußte). Die Eigenheiten im hawaiianischen Denken betreffen Wesensart, Funktionen und Beziehungen der verschiedenen Aspekte. In der Überschrift dieses Kapitels habe ich sie Herz, Verstand und Geist genannt. Ihre Wesensart und Aufgabe aus hawaiianischer Sicht könnte zum Praktischsten gehören, was Sie je lernen werden.
Die Unterscheidung von drei Aspekten ist eine Möglichkeit, das komplexe Wesen des Menschen bequem in drei Teile zu gliedern, deren jeder eine eigene Funktion und Motivation hat. Nichts im polynesischen Denken deutet jedoch an, daß diese drei Wesensglieder voneinander tatsächlich getrennt seien. Es ist vielmehr so, als bezeichnete man eine Papaya-Frucht mit den drei Aspekten Schale, Mark und Samen. Diese drei Teile bilden tatsächlich eine ganze Papaya, die aus einem Ursprung hervorging; doch aus praktischen Gründen ist es zuweilen angebracht, von Schale, Mark und Samen separat zu sprechen.
Nichts könnte uns davon abhalten, auch beim Menschen eine Teilung in beispielsweise vierzehn Aspekte vorzunehmen. Die Zahl Drei ist jedoch nützlich, bequem und deshalb als brauchbar akzeptiert. Im Hawaiianischen heißen die drei Aspekte Ku (Herz, Körper oder Unterbewußtes), Lono (Verstand, Denken oder Bewußtes) und Kane (Geist, Uberbewußtes).
Die Hauptfunktion dieses Bewußtseinsaspektes ist das Gedächtnis. Dank des Ku können wir lernen und uns erinnern, Fertigkeiten und Gewohnheiten entwickeln, die Integrität des Körpers erhalten und einen Sinn unserer kontinuierlichen Identität bewahren. Das Ku entspricht weitgehend dem westlichen Begriff des Unterbewußten, ist mit diesem jedoch nicht identisch.
Das Wichtigste, was man über die Erinnerungen wissen muß, ist die Tatsache, daß sie im Körper als Schwingungs- oder Bewegungsmuster gespeichert werden. Das genetische Gedächtnis existiert natürlich auf zellularer Ebene, doch Erfahrenes, Erlebtes und Erlerntes wird auf einer oder mehreren der vielen muskulären Ebenen gespeichert. Auf den richtigen Reiz hin – von innen oder außen, mental oder körperlich – kommt es zu einer Regung, und die Erinnerung wird freigegeben. Sie veranlaßt dann ein mentales, emotionales oder körperliches Verhalten. Wird die Regung behindert – etwa durch Spannung oder Streß –, ist auch die mit ihr verbundene Erinnerung blockiert. Dies gilt für das genetische und das angelernte Gedächtnis gleichermaßen.
Durch das genetische Gedächtnis weiß der Körper lediglich, was schon seine Vorfahren wußten. Dies ist jedoch ein derartig reicher Erinnerungsschatz, daß körperliche und emotionale Verhaltensweisen und Reaktionen in der Regel mehr oder weniger vom angelernten Gedächtnis beeinflußt sind. In einer Streßsituation wendet sich das Ku zuerst zum Erb-Gedächtnis, um eine adäquate Verhaltensweise zu finden. Stößt es hier auf eine Auswahl mehrerer Möglichkeiten, geht es weiter zum Lern-Gedächtnis, um über Einzelheiten zu entscheiden.
Angenommen, Sie sind in einer Streß-Situation, die Ihr Selbstwertgefühl belastet, das sich gewöhnlich im Brustbereich manifestiert. Das Erb-Gedächtnis bietet Ihnen nun die Auswahl von Bronchitis, einer Angst-Attacke oder Asthma. Wenn Ihr Ku etwa im Laufe der vorausgegangenen Woche von einer anderen Person oder aus dem Fernsehen alles über die Symptome einer Bronchitis gelernt hat, überwiegt die Wahrscheinlichkeit, daß es sich für diese Option entscheiden wird.
Das Erb-Gedächtnis ist in jeder Zelle verankert, das Lern-Gedächtnis hingegen scheint in spezifischen Bereichen des Muskelgewebes gespeichert zu sein. Sein Speicherplatz steht anscheinend in Beziehung zu dem Teil des Körpers, der während des Lernprozesses aktiv oder energetisiert war. Wenn der Körperteil, in dem die Erinnerung gespeichert ist, in ein gewisses Maß von Spannung gerät, so wird jene Erinnerung behindert oder sogar unzugänglich.
Bei einer Wanderung in einer Wildnis-Gegend von Kauai merkten eine Freundin und ich, daß wir die Spur für unseren Rückweg verloren hatten; es schien unmöglich, sie wiederzufinden. Wir erinnerten uns beide, daß es auf der anderen Seite eines Baches war, konnten uns aber nicht darauf einigen, wie die gesuchte Stelle aussah. So verbrachten wir einen ganzen Tag damit, am Bach entlang auf und ab zu gehen, um auf eine Stelle zu stoßen, die wir beide wiedererkennen konnten. Nachdem wir in einem nassen, schlammigen Sumpf genächtigt hatten, beschloß ich am nächsten Morgen, das Wissen unseres Kus zu nutzen. Mit behutsamem gegenseitigen Befragen fanden wir heraus, daß meine Gefährtin sich an eine eigentümliche Schlammbank in der Nähe des Weges erinnerte, von der ich überhaupt nichts mehr wußte; in meiner Erinnerung dagegen war ein kleines Bächlein mit einem großen Felsen in der Nähe, deren sie sich nicht mehr entsinnen konnte. So gingen wir am Wasser entlang, bis wir beide Elemente nebeneinander wiederfanden – und dort war auch die gesuchte Spur, genau dazwischen.