Ein schlimmer Streit - Helen Perkins - E-Book

Ein schlimmer Streit E-Book

Helen Perkins

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »So was ist bisher noch nie vorgekommen. Sie können es mir ruhig glauben, junger Mann. Ich kenne meine Schwester nun schon mein Leben lang. Sie ist manchmal ein bisschen wacklig auf den Beinen, vor allem, seit wir in die Jahre gekommen sind. Aber dass sie einfach umfällt, nein, das kenne ich nicht an ihr! Was meinen Sie, woran könnte es wohl liegen?« Dr. Fred Steinbach, erfahrener Rettungsarzt in der Behnisch-Klinik und Anfang Sechzig, musterte die alte Dame, die ihn aufmerksam anschaute, leicht befremdet. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal als »junger Mann« tituliert worden war. Vielleicht hätte er sie doch bitten sollen, vorne im Krankenwagen neben Jens Wiener mitzufahren. Doch sie hatte sehr vehement darauf bestanden, bei ihrer Schwester zu bleiben. Und angesichts der Tatsache, dass diese beiden Damen zusammen mehr als zwei Jahrhunderte Lebenszeit aufzuweisen hatten, war es ihm schwer gefallen, zu widersprechen. »Es scheint der Kreislauf zu sein«, mutmaßte er nun, denn dieser Blick aus rehbraunen Augen war keineswegs sanft, sondern sehr energisch und fordernd. »Hat Ihre Schwester sich vielleicht über etwas aufgeregt?« »Nicht dass ich wüsste. Aber in unserem Alter kann schon eine defekte Glühbirne zum Waterloo werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie wird aber doch wieder, nicht wahr?« »Sie ist jetzt stabil.

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Chefarzt Dr. Norden – 1222 –

Ein schlimmer Streit

... und dazu noch ein sehr persönlicher Fall für Dr. Daniel Norden

Helen Perkins

»So was ist bisher noch nie vorgekommen. Sie können es mir ruhig glauben, junger Mann. Ich kenne meine Schwester nun schon mein Leben lang. Sie ist manchmal ein bisschen wacklig auf den Beinen, vor allem, seit wir in die Jahre gekommen sind. Aber dass sie einfach umfällt, nein, das kenne ich nicht an ihr! Was meinen Sie, woran könnte es wohl liegen?«

Dr. Fred Steinbach, erfahrener Rettungsarzt in der Behnisch-Klinik und Anfang Sechzig, musterte die alte Dame, die ihn aufmerksam anschaute, leicht befremdet. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal als »junger Mann« tituliert worden war. Vielleicht hätte er sie doch bitten sollen, vorne im Krankenwagen neben Jens Wiener mitzufahren. Doch sie hatte sehr vehement darauf bestanden, bei ihrer Schwester zu bleiben. Und angesichts der Tatsache, dass diese beiden Damen zusammen mehr als zwei Jahrhunderte Lebenszeit aufzuweisen hatten, war es ihm schwer gefallen, zu widersprechen.

»Es scheint der Kreislauf zu sein«, mutmaßte er nun, denn dieser Blick aus rehbraunen Augen war keineswegs sanft, sondern sehr energisch und fordernd. »Hat Ihre Schwester sich vielleicht über etwas aufgeregt?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber in unserem Alter kann schon eine defekte Glühbirne zum Waterloo werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie wird aber doch wieder, nicht wahr?«

»Sie ist jetzt stabil. Und wir sind gleich in der Behnisch-Klinik«, erwiderte Dr. Steinbach und fügte im Geiste hinzu: »Gott sei Dank…«

»Dass Sie mir sofort Dr. Norden Bescheid geben. Maria will nur von ihm behandelt werden. Sie ist ein bisschen skeptisch, wenn es um Medziner geht, nichts für ungut. Aber ihm vertraut sie!«

Dr. Steinbach lächelte verbindlich und schwieg sich aus.

Jens Wiener setzte rückwärts zum Eingang der Notfallambulanz, sprang aus dem Krankenwagen und öffnete die hintere Tür.

Gleich darauf wurde die Patientin auf Dr. Erik Bergers Station gebracht. Dr. Steinbach reichte seinem Fahrgast den Arm und geleitete sie hinter der Rollliege mit ihrer Schwester her.

»Sie sind nett, so was findet man heutzutage nicht mehr oft«, lobte sie und drückte ihm die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Dann will ich mal mit Dr. Norden sprechen.«

Erik Berger kam aus einem Behandlungsraum gefegt, stoppte abrupt, musterte die ale Dame irritiert und setzte an: »Was…«, wurde jedoch sofort unterbrochen.

»Herr Kollege, das ist Frau Katharina Holzhauser-Brink, sie begleitet ihre Schwester Maria-Theresia Bäumler, die unter einer akuten Kreislaufschwäche leidet. Ich habe die Patientin stabilisiert, Jens hat sie in Behandlungsraum drei gebracht.«

Dr. Berger, der solche weitschweifigen Erklärungen nicht gewöhnt war, räusperte sich und murmelte: »So, na gut, dann will ich sie mir mal ansehen.«

»Moment mal!« Katharina machte einen Schritt auf den Leiter der Notfallambulanz zu und musterte ihn streng. Sie war groß und schlank, hielt sich gerade, auch wenn sie manchmal Probleme mit dem Gleichgewicht hatte. Doch ihrer Meinung nach war alles im Leben reine Willenssache. In den zurückliegenden neunundneunzig Jahren war sie mit dieser Einstellung stets gut gefahren. Mit der flotten Kurzhaarfrisur, in Jeans, heller Bluse und einer leichten Strickjacke sah man ihr diese kaum an. Willi, einer ihrer Mitbewohner, schwor Stein und Bein, dass sie keinen Tag älter als achtzig sein konnte. Er war ein echter Charmeur…

»Sie sind nicht Dr. Daniel Norden!«

»Nein, ich bin Erik Berger und leite diese Station.«

»Wo ist Dr. Norden? Meine Schwester besteht darauf, von ihm behandelt zu werden!«

»Es tut mir leid, der Chef hat keinen Dienst. Und selbst wenn, wäre es nicht seine Aufgabe…«

Katharina wischte Dr. Bergers Argumentation mit einer nonchalanten Handbewegung vom Tisch. »Er ist Arzt, nicht wahr?«

Er seufzte. Sein Hilfe suchender Blick nach dem Kollegen Steinbach ging ins Leere, denn der hatte sich mittlerweile dezent entfernt und ihn mit dieser rabiaten Dame allein gelassen. Ausgerechnet! Erik Berger war ein brillanter Mediziner, der Umgang mit Angehörigen zählte allerdings nicht zu seinen wahren Talenten. Und diese Dame hier schien eine ganz besondere Herausforderung zu sein.

»Sicher, das hier ist eine Klinik, es gibt hier viele Ärzte«, spöttelte er, kam damit aber gar nicht weiter.

»Junger Mann, behandeln Sie mich nicht wie einen kindischen Deppen. Mein Verstand funktioniert noch einwandfrei. Und ich sage Ihnen, dass meine Schwester einzig und allein von Dr. Daniel Norden behandelt werden will. Ist das so schwer zu verstehen? Oder habe ich mich verständlich gemacht?«

»Schließen wir doch einen Kompromiss«, schlug Erik Berger in einem Anflug von Verzweiflung vor. »Ich untersuche Ihre Schwester und behandele sie. Und morgen kann der Chef dann nach ihr sehen. Wären Sie damit einverstanden?«

Ein Blick in diese rehbraunen Augen, vorwurfsvoll und zugleich unduldsam, gab ihm bereits die Antwort, noch ehe sie erwiderte: »Das hat so keinen Sinn. Rufen Sie Dr. Norden an, sagen Sie ihm, dass hier eine Patientin auf ihn wartet und er herkommen soll. Das werden Sie doch wohl schaffen, oder?«

»Ich soll den Chef anrufen? Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Sicher, hier hängen genügend Uhren herum. Allerdings verstehe ich nicht, was das damit zu tun haben soll.« Sie lächelte fein. »Gehen wir das Ganze noch mal durch oder haben Sie es jetzt verstanden, Herr Dr. Berger?«

Der Chef der Notfallambulanz kapitulierte. »Nehmen Sie bitte dort drüben Platz, während ich telefoniere«, bat er resigniert.

Katharinas Lächeln vertiefte sich, als sie lobte: »Geht doch.«

Schwester Anna bot der alten Dame eine Tasse Kaffee an und kümmerte sich ein wenig um sie, während ihr Chef mit hochrotem Kopf im Bereitschaftsraum verschwand. Nicht zu fassen, dass er sich hier zum Laufburschen degradieren ließ! Doch was hätte er denn tun sollen? Anstand und Rücksichtnahme konnten zu reinen Fußfesseln werden, das hatte er gerade eben erlebt.

Daniel Norden meldete sich rasch, hörte sich an, was Dr. Berger ihm zu sagen hatte, und meinte dann: »Bäumler? Sagt mir momentan nichts. Hat sie wirklich ausdrücklich nach mir verlangt, Herr Kollege?«

»Ausdrücklich. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bitte Sie, Chef, tun Sie mir den Gefallen. Die Patientin ist hundertzwei, ihre Schwester drei Jahre jünger und noch sehr rüstig. Ich habe wirklich alles versucht…«

»Ist schon gut, nur nicht verzweifeln, Herr Kollege. Ich komme. Das klingt nach einem überaus interessanten Fall…«

»Was Sie nicht sagen«, brummte Dr. Berger, als Daniel Norden bereits aufgelegt hatte.

Wenig später traf der Chef der Behnisch-Klinik auf der Notfallambulanz ein. Er sprach kurz mit Erik Berger, den er noch nie so kleinlaut erlebt hatte. Schließlich deutete er auf eine alte Dame, die mit Schwester Anna im Wartebereich saß.

»Ich kümmere mich darum«, versprach Dr. Norden begütigend.

»Frau Holzhauser-Brink? Mein Name ist Norden.« Er drückte Katharina die Hand und lächelte ihr freundlich zu.

»Sie sind Daniel Norden. Da wird Maria sich freuen. Bitte, setzen Sie sich noch einen Moment zu mir, bevor Sie zu meiner Schwester gehen. Dann erkläre ich Ihnen alles.«

Der Klinikchef folgte ihrer Bitte, während Schwester Anna die beiden allein ließ.

»Erinnern Sie sich noch an Frau Bäumler, die Lehrerin?«, fragte Katharina ihn.

»Im Moment nicht. Helfen Sie mir.«

»Sie war ja auch nicht Ihre Lehrerin, sondern die Ihrer Mutter. Handarbeiten, um genau zu sein. Ihre Mutter war die Lieblingsschülerin meiner Schwester. Sie war sehr geschickt, konnte aus dem kleinsten Stoffrest etwas Ansprechendes zaubern. Sie strickte und häkelte und stickte von allen am besten. Und sie beherrschte sogar das Klöppeln, das meine Schwester ihr auf ihre Bitte hin beigebracht hat. Die beiden waren fast so etwas wie Freundinnen…«

Daniel Norden lächelte. »Ja, nun erinnere ich mich. Frau Bäumler, natürlich. Die beiden waren auch nach der Schulzeit meiner Mutter noch befreundet. Und Ihre Schwester war eine meiner Taufpatinnen, nicht wahr?«

Katharina lachte. »Dass Sie das noch wissen!«

»Oh, es ist schwer zu vergessen. Ihre Schwester schenkte mir damals eine wunderbare Taufkerze, die noch über viele Jahre in unserem Wohnzimmerschrank einen Ehrenplatz hatte…«

»Sie sind ein lieber Junge…« Katharina senkte den Blick. »Entschuldigung, das gehört sich natürlich nicht. Aber meine Schwester sagte das immer. Ein lieber Junge mit klugen Augen. Aus dem wird mal was. Und sie hat Recht behalten.«

»Was fehlt Ihrer Schwester, Frau Holzhauser-Brink? Wie kann ich ihr helfen?«

»Zuerst sagen Sie mal Tante Katharina zu mir, das ist nicht so kompliziert. Maria leidet seit ein paar Jahren unter einer leichten Herzschwäche. Sie ist in Behandlung, nimmt Tabletten. Damit ging es ihr eigentlich ganz gut. Und Diabetes, der Fluch des Alters. Aber im Großen und Ganzen ist sie noch ganz gut aufgestellt, wenn man bedenkt, dass sie schon dreistellig ist. Heute Abend ist sie einfach umgefallen. Das hat mir Angst gemacht. Ihr netter Notarzt meint, es wäre der Kreislauf. Aber es wäre uns beiden eben lieber, wenn Sie nachsehen…«

Daniel Norden nickte lächelnd. »Dann tun wir das doch.«

*

Maria-Theresia Bäumler lag leicht benommen auf der Behandlungsliege und fragte sich, was sie hier zu suchen hatte. Sie konnte sich daran erinnern, mit ihren Freunden Rommé gespielt zu haben. Alle waren gut gelaunt gewesen, Kathi hatte mal wieder eine Glückssträhne gehabt. Und dann…

»Jetzt geht es los«, dachte sie beklommen. Gedächtnislücken, Desorientierung, Hilfsbedürftigkeit. Nein, nur das nicht!

War es denn unabdingbar, dass man zu einem atmenden Gemüse verkam, dass Gehirnzellen sich gleich reihenweise an der Hand nahmen und verabschiedeten, dass aus dem Greis ein Kind wurde, wenn die magische Hundert überschritten wurde? Gab es denn niemanden, der bei Verstand uralt wurde?

Eine einzelne Träne rollte über ihr Apfelbäckchen. Nein, nur das nicht! Alt werden, schön und gut, der Herrgott hatte bei ihr eben ein wenig üppiger kalkuliert. Aber durfte man dann den letzten Atemzug nicht mehr bei Verstand machen? War das einfach zu viel verlangt? Maria wischte sich verschämt übers Gesicht, als die Tür geöffnet wurde und jemand kam. Nur nicht weich werden! Alte Leute, die wegen jedem Mist zu weinen anfingen, mochte doch keiner. Sie selbst am allerwenigsten! Tapfer sein. Kathi sagte es immer wieder: Alles eine Frage des Willens.

»Frau Bäumler?« Das gut geschnittene Gesicht des Mannes in mittleren Jahren erinnerte sie an jemanden. Diese Augen…

»Herr Dr. Norden, nicht wahr?« Sie lächelte matt. »Danke, dass Sie hergekommen sind und sich um mich kümmern.«

»Das ist doch selbstverständlich.« Er warf einen Blick auf die Befunde. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ein bisschen seltsam. Ich glaube, ich bin umgekippt. So was ist mir noch nie passiert. Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass Ihr Blutdruck zu niedrig ist. Normalerweise ist das nicht so schlimm. Aber wenn Sie sich aufregen, wird das Herz zu wenig durchblutet, ebenso das Gehirn. Da kann einem schon mal schwarz vor Augen werden.«

»Bei Ihnen klingt das nicht sehr dramatisch.«

»Es ist mein Beruf«, erinnerte er sie. »Aber wenn man selbst betroffen ist, sieht das Ganze doch anders aus.«

»Kann das wieder passieren?« Die kleine, alte Dame mit den weißen Löckchen und den himmelblauen Augen wirkte verängstigt. »Vielleicht, wenn ich allein bin? Oder irgendwo in der Stadt…«

»Möglich. Aber ich möchte mich da jetzt nicht festlegen. Zunächst müssen wir die genaue Ursache Ihrer Bewusstlosigkeit feststellen. Sowohl den Anlass als auch die körperlichen Auswirkungen. Dazu würde ich Sie gerne ein paar Tage hier in der Behnisch-Klinik behalten. Sind Sie damit einverstanden?«

»Wenn es sein muss, gut. Verschweigen Sie mir auch nichts? Ich finde, ich bin alt genug, um die Wahrheit zu hören.«

Dr. Norden musste schmunzeln. »Die Wahrheit ist, dass Sie den gleichen trockenen Humor wie Ihre Schwester haben, Frau Bäumler. Und ich muss sagen: Das gefällt mir. Was aus den Befunden hier hervorgeht, ist eher positiv. Ihr Zustand ist für Ihr Alter gut. Deshalb müssen wir ja herausfinden, was da heute Abend passiert ist. Und das kann eine Weile dauern.«

»Also schön, dann bleibe ich.« Sie musterte ihn mit ihren himmelblauen Augen aufmerksam. »Erinnern Sie sich denn noch an mich, Herr Dr. Norden?«

»Ich habe schon mit Ihrer Schwester darüber gesprochen. Meine Mutter mochte Sie sehr. Sie waren wie eine gute Freundin für sie.« Er lächelte. »Und wir sprachen über die Taufkerze…«

Maria erwiderte sein Lächeln. »Das ist lange her, aber ich erinnere mich noch gut daran. Darf ich Ihnen ein paar persönliche Fragen stellen?«

»Natürlich. Fragen Sie.«

»Sind Sie verheiratet? Haben Sie Familie?«

Dr. Norden nickte.

»Kinder?«

»Fünf, alle schon erwachsen. Die Jüngsten studieren.«

Die alte Dame seufzte. »Wie die Zeit vergeht… Ich seh’ noch den Täufling mit dem weichen Haarflaum, der kräftig gegen das Wasser auf seiner Stirn protestierte…«

»Sagen Sie das nicht zu laut, Frau Bäumler. Ich könnte sonst meine Autorität als Klinikchef verlieren.«

Sie lachte. »Ich wette, Ihre Ärzte gehen für Sie durchs Feuer. Sie haben gute Augen, Herr Dr. Norden. Gute Augen…« Sie wurde schläfrig. »Entschuldigen Sie, es war doch ein bisschen viel.«

»Jetzt ruhen Sie sich aus, Frau Bäumler. Sie kriegen ein Einzelzimmer auf meiner Station. Und wir sehen uns morgen.«

»Passen Sie nur auf, dass Kathi ein Taxi nimmt und nicht mutterseelenallein mitten in der Nacht durch die Gegend läuft«, bat sie noch mit matter Stimme.

»Ich kümmere mich um Ihre Schwester, keine Sorge. Schwester Anna bringt Sie jetzt auf die Innere. Und dann möchte ich, dass Sie mal nur an sich selbst denken und sich ausruhen. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Hellblau«, murmelte Maria im Halbschlaf. »Hellblau mit allerlei schönen Ornamenten war die Taufkerze. Ich sehe sie noch vor mir…«

Dr. Norden wies Schwester Anna an, gut auf seine Patientin zu achten. »Geben Sie oben Bescheid, dass alle halbe Stunde nach ihr geschaut wird. Ich möchte, dass es ihr gut geht.«

»Sie ist wohl was Besonderes«, mutmaßte die Pflegerin.

Daniel Norden nickte. »Oh ja, das ist sie.«

*

»Muss sie denn wirklich hierbleiben? Maria mag keine Kliniken.« Katharina wirkte bekümmert. »Vielleicht habe ich doch überreagiert und hätte den Notarzt nicht rufen sollen. In unserem Alter landet man leicht in einem Kühlfach…«

»Aber, Tante Katharina, Sie haben wohl zu viele Krimis im Fernsehen gesehen«, meinte Daniel Norden schmunzelnd.

»Ich seh mir am liebsten die Sendungen auf Netflix an. Haben Sie diese Reihe übers englische Königshaus gesehen? Die war wirklich gut gemacht…« Sie räusperte sich. »Lenken Sie nicht ab, Herr Doktor. Ich sorge mich um meine Schwester.«

»Dazu besteht kein Grund, sie ist hier bestens untergebracht. Aber die Sorge scheint gegenseitig zu sein. Ihre Schwester hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass Sie sicher heimkommen.«