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Darf der Staat Menschenleben gegeneinander abwägen? Anne Ameri-Siemens' ergreifende Chronik des Deutschen Herbstes Die Tage des Deutschen Herbstes haben sich in das kollektive Gedächtnis gebrannt. Anne Ameri-Siemens erzählt aus verschiedensten Perspektiven, wie der Terror 1977 ein ganzes Land durchdrang und dann, nach der Entführung Hanns Martin Schleyers, die Bundesregierung unter Helmut Schmidt vor die furchtbare Alternative stellte: entweder Gefangene freizulassen oder den Tod der Geisel in Kauf zu nehmen. Anne Ameri-Siemens, eine der besten Kennerinnen der Zeit, hat zahlreiche, höchst unterschiedliche Zeitzeugen befragt. Damals politisch Verantwortliche kommen ebenso zu Wort wie Hanns-Eberhard Schleyer; ehemalige RAF-Anwälte ebenso wie Angehörige der Opfer, Polizisten und die Bewacher der RAF-Gefangenen in Stammheim. Das Buch setzt die Menschen, die berichten, in den Kontext ihrer Zeit, lässt die Atmosphäre des Deutschen Herbstes in einzigartiger Weise lebendig werden – Wochen, in denen Politiker im Krisenstab auch extreme Lösungen zur Rettung Schleyers diskutierten. Auf diese Weise erzählt «Ein Tag im Herbst» die ganze Geschichte des Terrorjahres 1977, das einmalig war und geblieben ist – und die Geschichte der Bundesrepublik bis heute verändert hat.
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Seitenzahl: 315
Anne Ameri-Siemens
Ein Tag im Herbst
Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer
Ihr Verlagsname
Darf der Staat ein Menschenleben opfern? Anne Ameri-Siemens’ ergreifende Chronik des Deutschen Herbstes
Anne Ameri-Siemens, geboren 1974 in Frankfurt am Main, arbeitet als Journalistin für die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», das «SZ-Magazin» und das Fernsehen. Für ihren «Spiegel»-Bestseller «Für die RAF war er das System, für mich der Vater» wurde sie 2007 u. a. mit dem Internationalen Buchpreis Corine ausgezeichnet. Mit der Verfilmung des Buchs, der Dokumentation «Wer gab euch das Recht zu morden?», war sie 2008 für den Grimme-Preis nominiert.
Vor zehn Jahren habe ich ein Buch geschrieben, das die Geschichte der «Roten Armee Fraktion» (RAF) mit Blick auf die Opfer erzählt – und nicht, wie bis dahin meist geschehen, auf die Täter. Viele Angehörige von denen, die die Terroristen ermordet hatten, schilderten mir damals, was die RAF nie hatte sehen wollen: Wer die Menschen waren, die sie als Opfer gewählt hatte. Sie berichteten mir auch, wie ihr Leben nach den schrecklichen Taten verlaufen war, wie Politik und Gesellschaft ihnen begegneten, welche Fragen für sie in der Aufarbeitung der Geschichte des Linksterrorismus in der Bundesrepublik bis heute eine Rolle spielen, in welchen Bereichen sie immer noch auf Antworten hoffen. Und warten.
Für das Buch hatte ich auch Hanns-Eberhard Schleyer einige Male getroffen. Am stärksten blieben mir, auch lange nachdem die Arbeit an dem Buch abgeschlossen war, seine Schilderungen des 16. Oktober 1977 in Erinnerung. Ein Tag im Herbst, der – so stellt es sich mir dar – nicht nur im Fall des entführten Hanns Martin Schleyer Bedeutung hat, sondern bis in die Gegenwart hinein.
Am 15. Oktober 1977 stellte der damals dreiunddreißigjährige Hanns-Eberhard Schleyer, der älteste Sohn, im Namen seines Vaters beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf eine Einstweilige Anordnung. Im Eilverfahren. Hanns Martin Schleyer war am 5. September 1977 entführt worden. Die polizeiliche Fahndung nach ihm war wochenlang erfolglos geblieben. Helmut Schmidt, seine Beratergremien und das Kabinett hatten sich darauf geeinigt, dass den Forderungen der RAF nicht nachgegeben werden dürfe. Diese verlangte im Austausch gegen Hanns Martin Schleyer die Freilassung von elf verurteilten Terroristen.
Um den Druck auf die Regierung der Bundesrepublik zu erhöhen, war am 13. Oktober 1977 zudem ein Passagierflugzeug der Lufthansa entführt worden, die «Landshut». An Bord: einundneunzig Menschen. Diese zweite Geiselnahme trieb die Konfrontation auf die Spitze.
Während die «Landshut» auf Befehl der Terroristen über Rom und Zypern nach Dubai geflogen war, wandte sich die Familie Schleyer an das Bundesverfassungsgericht – in der Hoffnung, ihr Antrag würde die Wende bringen und das Urteil die Bundesregierung zum Austausch zwingen. In Karlsruhe wurde dann aber nach einem Verfahren, das in seiner Art einzigartig war, die bis dahin eingehaltene Linie bestätigt: Die Regierung ist frei in ihrer Entscheidung, auszutauschen oder nicht.
Wurde damit auch, diese Frage stellte sich mir damals in den Gesprächen mit Hanns-Eberhard Schleyer, eine Anleitung für die Zukunft geschaffen, wie mit dem Terror umzugehen ist? Würde sich eine Regierung je von der damals festgelegten Strategie, nicht auszutauschen, entfernen?
Bis heute hat es glücklicherweise nie wieder eine solche terroristische Tat in Deutschland gegeben, nie wieder standen die deutsche Politik und Justiz vor einem solchen Dilemma, aber die Frage, ob der Staat zum Schutze des Gemeinwohls Menschenleben gegeneinander aufrechnen darf, bleibt aktuell.
In der historischen Nachbetrachtung war 1977 das Jahr, in dem der Staat den Linksterrorismus besiegt hat. Der Deutsche Herbst hat die RAF in die gesellschaftliche Isolation geführt. Immer mehr kritische Stimmen wurden laut, auch unter denen, die der RAF bis dahin solidarisch gegenübergestanden hatten. Es begann der Prozess, der viele Jahre später, nämlich 1998, zur Selbstauflösung der Gruppe geführt hat. Nach der Entführung der «Landshut» und der Ermordung Hanns Martin Schleyers waren in Deutschland und ganz Europa diejenigen in der überwältigenden Mehrheit, die den Terror ablehnten, sich für die Verfassung aussprachen und den Opfern ihre Empathie ausdrückten. Die Terrorakte hatten die bestehende Gesellschaftsordnung letztlich gestärkt. Aber Hanns Martin Schleyer starb.
Hätte er gerettet werden können? Auch darum geht es in diesem Buch.
Nach den Gesprächen mit Hanns-Eberhard Schleyer wuchs mein Interesse, wie im Herbst 1977 mit der Frage umgegangen wurde, was der Staat tun muss, um Geiseln zu retten, und wie die politisch Verantwortlichen ihre Entscheidung, die RAF-Gefangenen nicht gegen den Entführten auszutauschen, sahen. Und: Bewies der Staat durch die unmittelbar nach der Entführung festgelegte Linie, nicht auszutauschen, wirklich Stärke?
Darüber habe ich mit Menschen gesprochen, die den Deutschen Herbst auf ganz unterschiedliche Weise erlebt haben. Zum Beispiel als Angehörige der «Kleinen Lage», des engsten Beraterkreises um Bundeskanzler Helmut Schmidt, wie der damalige Innenminister Nordrhein-Westfalens Burkhard Hirsch oder Hans-Jochen Vogel, der 1977 Bundesjustizminister war. Ihm kam eine besondere Rolle zu, da er während der Wochen der Entführung den engsten Kontakt zu der Familie Hanns Martin Schleyers hielt. Darüber hinaus vertrat er die Bundesregierung in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über den Antrag, den Hanns-Eberhard Schleyer im Namen seines Vaters gestellt hatte. Im Blick zurück kann man sich fragen, was die «Kleine Lage» für die Familie war: Hoffnungsträger, die zur Rettung des Entführten beitragen würden, Partner, aber notgedrungen nicht immer durchschaubar?
Ihre Erinnerungen an die Wochen im Herbst 1977, wie sie angesichts der Entführung empfanden und die Gesellschaft damals erlebten, auch ihre Einschätzung des Verfassungsgerichtsurteils schilderten mir zum Beispiel der Jurist Heribert Prantl, der heute der Chefredaktion der «Süddeutschen Zeitung» angehört und damals Student war, Stefan Aust oder der Autor Friedrich Christian Delius, der bis 1973 im Verlag Klaus Wagenbach gearbeitet hatte, in dem auch Schriften der RAF erschienen waren und zu dessen Werk die Roman-Trilogie «Ein Held der inneren Sicherheit», «Mogadischu Fensterplatz» und «Himmelfahrt eines Staatsfeindes» gehört, die den Deutschen Herbst spiegelt. Ganz bewusst habe ich auch nach Gesprächspartnern gesucht, die damals wie heute nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit standen, wie etwa der Stammheimer Justizvollzugsbeamte Peter Jesse oder der Strafverteidiger Klaus Eschen. Wichtig war mir auch die Perspektive des Opfers einer solchen Entführung und Gefangenschaft. Jan Philipp Reemtsma hat dazu Parallelen gezogen zwischen dem Fall Schleyer und dem, was er durchleben musste.
Da ich selbst, 1974 geboren, keine bewusste Erinnerung an den Deutschen Herbst habe, begann die Auseinandersetzung für mich mit Fragen zu dieser Zeit als Jugendliche – im Wissen, dass Schleyer nach langer Geiselhaft ermordet worden war. Das war für mich der Anfang seiner Geschichte, die plötzlich in mein Blickfeld rückte, als ich fünfzehn Jahre alt war. Damals fing ich an, mich ganz grundsätzlich mit dem Thema Linksterrorismus in der Bundesrepublik zu beschäftigen. Denn am 30. November 1989 hatte ein Kommando der RAF Alfred Herrhausen ermordet, nur wenige hundert Meter von meiner Schule entfernt.
Sein Wagen war am Morgen durch eine Lichtschranke gefahren, was die Explosion einer Bombe ausgelöst hatte. Die Terroristen hatten die Lichtschranke durch eine Baustelle getarnt – wochenlang war niemandem aufgefallen, dass dort gar nicht gebaut wurde. Der dunkle Mercedes des Deutsche-Bank-Chefs war mittags in allen Nachrichtensendungen zu sehen. Mit Bildern wie diesem ist meine Generation aufgewachsen, sie waren vielfach der Auslöser, sich mit der RAF auseinanderzusetzen.
So beginnt dieses Buch mit der Nachricht vom Tod der Geisel Hanns Martin Schleyer. Es erzählt von der gesellschaftlichen Stimmung in diesen Wochen des Herbsts 1977, die durch die Nachrichtensperre und die massiven Fahndungsmaßnahmen geprägt war, zurück bis zum 5. September, dem Tag der Entführung, und versucht auf diese Weise, die Atmosphäre dieser Zeit noch einmal lebendig werden zu lassen.
Waltrude Schleyer mit ihrem Sohn Hanns-Eberhard und Daimler-Benz-Vorstand Joachim Zahn auf dem Weg zur Trauerfeier für ihren ermordeten Mann
Hanns Martin Schleyer und die Toten von Stammheim
Geschichte der Bundesrepublik. Am 25. Oktober 1977 findet der Staatsakt für Hanns Martin Schleyer statt. Vierundvierzig Tage war er als Geisel in der Gewalt der linksterroristischen Gruppe «Rote Armee Fraktion» gewesen. Dann ermordeten ihn die Terroristen.
Bundespräsident Walter Scheel führt Waltrude Schleyer, die Witwe, durch den Mittelgang der Stuttgarter Domkirche Sankt Eberhard. Sie nimmt in der ersten Reihe Platz – zwischen dem Bundespräsidenten und Bundeskanzler Helmut Schmidt, zu dessen anderer Seite Hanns-Eberhard Schleyer sitzt, ihr ältester Sohn – ein Stück weiter die drei jüngeren Brüder: Arnd, Dirk und Jörg.
Allen sind Trauer, auch Verzweiflung, anzusehen. Helmut Schmidt sitzt in sich zusammengesunken da. Mal hält er die Hand über die Augen, mal legt er sie über den Mund. In den Bänken hinter der Familie haben sich die Mitglieder des Krisenstabs versammelt.
Bundeskanzler Helmut Schmidt zwischen Waltrude und Hanns-Eberhard Schleyer beim Staatsakt in der Stuttgarter Domkirche Sankt Eberhard
In seiner Rede sagt der Bundespräsident, auch die anderen Staaten hätten jetzt begriffen, dass durch den Terrorismus ihre Ordnung, ja jede Ordnung gefährdet sei. Das merke man unter anderem daran, dass sowohl die Regierung der Sowjetunion als auch die der DDR «uns in diesen Tagen ihre Hilfe anboten». Wie aufrichtig dieses Angebot ist, zeigt sich nach dem Niedergang der DDR, als nach und nach ans Licht kommt, wie umfangreich das Ministerium für Staatssicherheit die terroristischen Gruppen in der Bundesrepublik unterstützt hat. Neben der RAF gehören dazu auch die «Bewegung 2. Juni» und die «Revolutionären Zellen».
In seiner Rede beschwört Scheel die Weltgemeinschaft, eine Konvention gegen Terrorismus zu beschließen. Wenn man auf die Forderungen der Entführer eingegangen und inhaftierte Terroristen freigelassen hätte, wäre ein «Flächenbrand» ausgebrochen. Um das zu verhindern, habe man Opfer bringen müssen. Scheel bittet die Familie Schleyer deshalb «im Namen aller deutschen Bürger» um Vergebung. Hanns Martin Schleyers Tod müsse man als Einschnitt in der Geschichte begreifen.
Fünf Tage zuvor, am Morgen des 20. Oktober, hatte Helmut Schmidt vor den Abgeordneten des Bundestags eine Regierungserklärung abgegeben. Seine ersten Worte darin lauten:
Helmut Schmidt bei seiner Regierungserklärung am 20. Oktober 1977
«Das Bundesverfassungsgericht hat in den frühen Morgenstunden des 16. Oktober im Namen unseres Volkes für Recht erkannt: Die Artikel 1 und 2 unseres Grundgesetzes verpflichten den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Angriffen von Seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderen Aufgaben, auszurichten.
Alle staatlichen Organe! Das Verfassungsgericht hat hinzugefügt: Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger.
Die Wahrnehmung dieser doppelten Pflicht setze voraus, dass die staatlichen Organe ihre Maßnahmen der Vielfalt der jeweiligen konkreten Situation ohne Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten anpassen können.»
In seiner Rede rechtfertigt Helmut Schmidt darüber hinaus das Vorgehen innerhalb der letzten sechs Wochen und lobt, wie die Parteien, wie Opposition und Regierung miteinander kooperiert hätten, «im Handeln und in der Verantwortung». Schmidt betont, dass diese vollständige Zusammenarbeit natürlich eine Ausnahme darstelle, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie notwendig gewesen sei.
Nach ihm erhält der Oppositionsführer Helmut Kohl das Wort. Er spricht den Angehörigen von Hanns Martin Schleyer seine Anteilnahme aus, erzählt von seiner Trauer und der Freundschaft, die ihn mit Schleyer verband. Am Schluss seiner Rede mahnt er, da ein Ende des Terrorismus nicht absehbar sei, jetzt «so zügig, so schnell wie möglich alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, in der Gesetzgebung genauso wie bei der notwendigen Verbesserung von Organisation und Ausbildung unserer Polizei- und Sicherheitsorgane».
Beide, sowohl Schmidt als auch Kohl, stellen die Wochen des Deutschen Herbsts als schwere Krise des Rechtsstaats dar, die nun beendet sei. Zu diesem Ende gehören die Ermordung des zweiundsechzigjährigen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, seines Fahrers Heinz Marcisz, der einundvierzig Jahre alt war, der Polizeibeamten Roland Pieler (20), Helmut Ulmer (24), Reinhold Brändle (41) und des siebenunddreißigjährigen Piloten Jürgen Schumann sowie der Suizid der RAF-Gefangenen Andreas Baader (34), Gudrun Ensslin (37) und Jan-Carl Raspe (33).
Die Nachricht vom Tod meines Vaters nahm ich in der Nacht vom 19. Oktober 1977 entgegen. Es muss kurz vor Mitternacht gewesen sein. Meine Brüder, meine Mutter und ich hatten auf den Anruf des damaligen Justizministers Hans-Jochen Vogel mehrere Stunden lang gewartet. Die Anspannung dieser Stunden und der letzten Wochen wich mit einem Mal. Ich spürte nur noch eine große Leere, als Vogel uns mitteilte, dass die Suche nach meinem Vater vorbei sei. So endete der Herbst.
Nachdem Hanns Martin Schleyer sechs Wochen zuvor entführt worden war, hatten sich zwei Gremien gebildet, um darüber zu entscheiden, wie in diesem Fall vorzugehen sei: In dem «Großen Politischen Beraterkreis» waren durch die Fraktions- und Parteivorsitzenden paritätisch alle im Bundestag repräsentierten Parteien vertreten.
Die Linie gab im Wesentlichen die «Kleine Lage» vor, bestehend aus Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen Burkhard Hirsch (FDP), Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, den Staatssekretären Manfred Schüler, Siegfried Fröhlich und Heinz Ruhnau (alle SPD), dem BKA-Präsidenten Horst Herold, Generalbundesanwalt Kurt Rebmann sowie Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD). Die beiden Gremien tagten und berieten während der Dauer der Entführung, die alle im Land in Atem hielt, ununterbrochen – in ständigem Austausch mit dem Kabinett.
Gegen 23 Uhr rief ich Hanns-Eberhard Schleyer an. «Der Tod Ihres Vaters steht nunmehr amtlich fest», sagte ich ihm. Als Justizminister hatte ich den Auftrag gehabt, während der Dauer der Entführung täglich mit ihm zu telefonieren und ihn über den Fortgang der Fahndung zu informieren. Von den Hunderttausenden Gesprächen, die ich in meinem Leben geführt habe, waren das nicht nur die ungewöhnlichsten, sondern auch die schwersten.
Der Audi, in dessen Kofferraum Hanns Martin Schleyers Leiche am 19. Oktober 1977 gefunden wurde, im elsässischen Mülhausen
Schon eineinhalb Stunden zuvor hatte die Deutsche Presse-Agentur (dpa) gemeldet, dass es sich bei dem im Kofferraum eines Audi Typ 100 gefundenen Toten um Hanns Martin Schleyer handelte. Die Rote Armee Fraktion, namentlich die Terroristen Peter-Jürgen Boock, Willy Peter Stoll, Stefan Wisniewski und Sieglinde Hofmann, hatten den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie am 5. September 1977 in Köln entführt.
Schleyer war von den Terroristen zuletzt in einer Wohnung in Brüssel gefangen gehalten worden. Im Austausch gegen ihn sollten die RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Irmgard Möller, Werner Hoppe, Verena Becker, Hanna Krabbe, Karl-Heinz Dellwo, Bernhard Rössner, Ingrid Schubert und Günter Sonnenberg aus der Haft freigepresst werden.
Hanns Martin Schleyer war, zu diesem Ergebnis kamen die Ermittler später, im Freien durch drei Kopfschüsse getötet worden. An seiner Kleidung hingen Tannennadeln und Grashalme. Nachdem die Identität der Leiche feststand, hatte Innenminister Werner Maihofer die Suche umgehend einstellen lassen.
Trage ich Schuld am Tod von Hanns Martin Schleyer? Im hohen Alter, gerade jetzt, da der eigene Tod näher rückt, denke ich oft darüber nach. Am 20. Oktober 1977, einen Tag nachdem die Polizei Hanns Martin Schleyer tot aufgefunden hatte, beendete Helmut Schmidt seine Regierungserklärung im Bundestag mit den Worten: «Gott helfe uns!»
Die tiefe Trauer, die wir alle angesichts der Tragödie empfanden, spiegelt sich in diesen Worten wider. Denn Schmidt ist kein gläubiger Mensch gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder eine ähnliche Formulierung von ihm gehört zu haben. Haben wir uns schuldig gemacht? Die Frage begleitet mich seit 1977. Und die anderen von damals, die noch leben, sicher auch. Vier Jahrzehnte des Nachdenkens, aber ich komme immer wieder zu demselben Ergebnis: Ich habe Hanns Martin Schleyers Tod zwar nicht verschuldet, aber mitverursacht habe ich ihn doch. Mir, uns allen, die der «Kleinen Lage» angehörten, war klar, dass unsere Entscheidungen Einfluss darauf nahmen, ob er überleben würde. Man hoffte natürlich. Man glaubte bis zum Schluss, dass die polizeiliche Fahndung doch noch die Wendung bringen würde. Ich glaubte es.
Hans-Jochen Vogel hatte die Ehefrau Hanns Martin Schleyers auf eine tragische Nachricht vorzubereiten versucht. Ehe er am 19. Oktober kurz vor Mitternacht in Stuttgart anrief, hatte er sich einige Stunden zuvor schon einmal gemeldet und berichtet, dass Agenturmeldungen vorlägen, nach denen ihr Mann tot aufgefunden worden sei – diese Meldungen seien noch nicht bestätigt, doch es müsste mit dem Schlimmsten gerechnet werden. In Mülhausen/Mulhouse hatten Polizeibeamte am späten Nachmittag des 19. Oktober den Kofferraum eines grünen Audis aufgebrochen und darin eine männliche Leiche entdeckt – den Hinweis auf den Wagen hatte die Polizei von einer jungen Frau erhalten, die im Stuttgarter Büro der Deutschen Presse-Agentur angerufen hatte. Sie meldete sich mit «Hier RAF» und erklärte: «Wir haben nach dreiundvierzig Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Péguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen. Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Mogadischu und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos. Andreas, Gudrun, Jan, Irmgard und uns überrascht die faschistische Dramaturgie der Imperialisten zur Vernichtung der Befreiungsbewegungen nicht. Wir werden Schmidt und den ihn unterstützenden Imperialisten nie das vergossene Blut vergessen.»
Beamte sichern den Wagen, in dem die Leiche des ermordeten Hanns Martin Schleyer gefunden wurde
Wir werden ihn finden, diese Hoffnung hegte ich während der gesamten Dauer der Entführung. Ob es den anderen Mitgliedern des Krisenstabs auch so ging? Ich kann es nicht sagen. Wir haben diese Frage nie diskutiert. Ebenso wenig wurde während der Wochen der Entführung überlegt, was wir machen würden, wenn wir Schleyer nicht finden. Im Rückblick kann man natürlich sagen: Hätte man solche Überlegungen nicht anstellen müssen? Es ist leicht gesagt. Aber wann wäre der richtige Zeitpunkt dafür gewesen? Nach einer Woche erfolgloser Fahndung? Nach zweien, nach dreien? Wer hätte mit Sicherheit sagen können, dass wir nicht gerade dann auf der richtigen Spur waren, den Entführten ausfindig zu machen? Wir waren ja einige Male wirklich überzeugt, sein Versteck aufgespürt zu haben. Die Fahndung war eine riesenhafte Operation, die sich über erhebliche Teile Deutschlands erstreckte, bis hin zu den ehemaligen Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg in der Eifel, die einer nach dem anderen durchsucht wurden.
Von der Ermordung Hanns Martin Schleyers erfuhr der neunzehnjährige Peter Jesse während seines Diensts in Hohenasperg, dem Justizvollzugskrankenhaus für stationär behandlungsbedürftige Gefangene in Baden-Württemberg, wo er seine Ausbildung zum Vollzugsdienstleiter machte. Während seiner Pause hörte er die Nachricht im Radio. Seit einigen Wochen gehörte Jesse neben seinem Dienst in Hohenasperg einer Sicherungsgruppe an, die zur Unterstützung der Vollzugsbeamten im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart im Ortsteil Stammheim gebildet worden war. Seit 1974 saßen dort die RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader in Haft.
1977 war der siebte Stock in Stammheim jedem ein Begriff: Für die Linke galt er – seit Jean-Paul Sartre dort im Dezember 1974 Andreas Baader besucht hatte sozusagen auch mit intellektuellem Siegel beglaubigt – als Folterkammer. In Interviews hatte der französische Philosoph nach dem Treffen gesagt, die RAF-Häftlinge würden in schallgedämmten Zellen mit Dauerbeleuchtung isoliert. Sie lebten allein, zu hören gäbe es für sie nichts außer den Schritten des Vollzugsbeamten, der ihnen das Essen brächte. Das wäre nicht «Folter wie bei den Nazis», jedoch eine «andere Folter, eine Folter, die psychische Störungen herbeiführen soll». Später kam heraus, dass Sartre fälschlicherweise die Besucherzelle im siebten Stock für Andreas Baaders Zelle gehalten hatte, die wiederum ein Fenster hatte, in der abends das Licht gelöscht werden konnte, die etwa zwanzig Quadratmeter groß war und die an einen Korridor grenzte, auf dem er sich acht Stunden am Tag mit den anderen RAF-Häftlingen aufhalten durfte.
Sartres Besuch war in die Zeit eines Hungerstreiks gefallen. Es war der 94. Tag, als er mit Baader zusammengetroffen war, der – so erzählte mein Kollege Horst Bubeck, der als verantwortlicher Vollzugsbeamter bei dem Besuch anwesend gewesen war – hochgradig nervös und fahrig gesprochen hatte: am wenigsten jedoch über die Haftbedingungen. Vielmehr hatte er stoisch eine Erklärung vorgelesen. Wenn Sartre Nachfragen stellte, las Baader den letzten Satz einfach noch einmal vor. Ein richtiges Gespräch hatte gar nicht stattgefunden.
Als Sartres Chauffeur vom Stuttgarter Flughafen nach Stammheim hatte sich Hans-Joachim Klein angeboten. Ein Jahr später gehörte er dem Kommando der «Revolutionären Zellen» an, das die OPEC-Konferenz in Wien überfiel, um auf den «Befreiungskampf der Palästinenser» hinzuweisen. Ein österreichischer Kriminalbeamter, ein libyscher OPEC-Delegierter sowie ein irakischer OPEC-Beamter wurden getötet und siebzig Menschen als Geiseln genommen. Kontakte zu den «Revolutionären Zellen» unterhielt Klein wohl schon 1974.
Der Besuch Sartres in Stammheim war ein seltsames Schauspiel. Gezielt hatte die RAF den französischen Philosophen für ihre Zwecke manipuliert. Dass er zu ihnen ins Gefängnis kam, war ein Zeichen der Solidarität. Und er tat anschließend genau das, was die Gruppe gewollt hatte: Er untermauerte mit seinen Äußerungen vor der Presse den Mythos der Isolation in Stammheim.
Jean-Paul Sartre am 4. Dezember 1974 auf dem Weg zum Stammheimer Untersuchungsgefängnis
Für meine Kollegen, die dauerhaft im siebten Stock arbeiteten und täglich mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller zu tun hatten, war es ein Ort ständiger Anfeindungen durch die Gefangenen, die – bis zu dem Tag, an dem Hanns Martin Schleyer entführt worden war – Haftbedingungen gehabt hatten, wie es sie zuvor in keiner deutschen Justizvollzugsanstalt gegeben hatte. Sie bezogen sechzehn Tageszeitungen, ihre Bibliothek umfasste mindestens dreihundert Bücher, die in der sogenannten «Bücherzelle» untergebracht waren. Daneben gab es eine Zelle für die Prozessakten – unzählige, dicke Leitzordner füllten hier die Regale. In der «Fresszelle» wurde das Essen gelagert, die «Extrakost», die es neben der üblichen Verpflegung der JVA gab. Zu den vielen Sonderregeln und Vergünstigungen, die für die RAF-Gefangenen galten, gehörte, dass sie zusätzlich zur üblichen Verpflegung Obst bestellen durften – auf Anordnung vom Arzt, begründet mit ihrem Gesundheitszustand, der nach den Hungerstreiks beeinträchtigt war. Bezahlt wurden die Lieferungen eines Stuttgarter Feinkostgeschäfts durch Spenden von Sympathisanten und Angehörigen der Gefangenen. Es gab Trauben aus Südafrika oder Israel. In dem Fall spielte es für die Gefangenen keine große Rolle, dass sie dem Staat Israel ja eigentlich Faschismus vorwarfen.
Andreas Baader, der gemeinsam mit Gudrun Ensslin den Ton in der RAF angab, hatte zeitweise zweimal pro Woche Massagetermine und in seiner Zelle mit der Nummer 719 gab es einen Plattenspieler, ein Radio und einen Fernseher. Vom Fenster aus blickte man über Felder und Straßen. An den Wänden hingen eine Landkarte und ein Poster von Che Guevara.
In dieser Zelle hatte Baader, wenige Stunden bevor ich die Nachricht von Schleyers Tod hörte, Suizid begangen. Ein Kopfschuss. Meine Kollegen fanden ihn während der morgendlichen Kontrolle der Zellen. Baader lag in einer Blutlache auf dem Boden vor dem Fenster – ein Jahr zuvor hatte sich Ulrike Meinhof an diesen Gitterstäben erdrosselt. Gudrun Ensslin hatte sich in der gegenüberliegenden Zelle mit dem Kabel ihrer Lautsprecherbox erhängt. Jan-Carl Raspe hatte noch gelebt, als er gefunden wurde, starb aber wenig später, ebenfalls infolge eines Kopfschusses.
Nach meiner Pause ging ich zurück zu meiner Dienststelle in der chirurgischen Abteilung von Hohenasperg. Ich war zur Wache auf dem Korridor vor einem schmalen, nüchternen Haftraum eingeteilt. Nur ein Bett stand darin, umgeben von Monitoren und Geräten, um Herz und Atmung der inhaftierten Patientin zu überwachen. Wegen ihrer akuten Suizidgefahr musste eine weibliche Vollzugsbeamtin neben dem Bett sitzen. Die Tür stand offen. Ich nickte meiner Kollegin kurz zu. Die Gefangene war blass und ausgezehrt, sie wirkte alt, obwohl sie das gar nicht war. Sie hatte Stichwunden in der Herzgegend, zugefügt mit einem Besteckmesser aus der Justizvollzugsanstalt. Die Wucht, mit der zugestoßen worden war, muss enorm gewesen sein, denn diese Messer sind vollkommen stumpf. Sobald sie ihr Bewusstsein zurückerlangt hatte, erzählte sie, nachts seien Männer in ihre Zelle eingedrungen und hätten versucht, sie zu ermorden. Mit Messern sei auf sie eingestochen worden.
Die Gefangene, um die ich mich in dieser Nacht kümmerte, war Irmgard Möller, die mit Baader, Ensslin und Raspe im siebten Stock inhaftiert gewesen war – und die als Einzige die Nacht vom 18. Oktober überlebt hatte.
Möller war nach dem Suizid von Ulrike Meinhof im Mai 1976 die Wunschkandidatin Gudrun Ensslins gewesen, die sich mit allem, was sie aufzubieten hatte – auch der Drohung, erneut in einen Hungerstreik zu treten – in die Frage eingemischt hatte, welches weibliche RAF-Mitglied im siebten Stock auf Meinhof nachfolgen sollte. Andere weibliche RAF-Häftlinge hatte sie entschieden abgelehnt. Ensslin hielt es wohl für gewiss, dass Irmgard Möller sich ihr und Andreas Baader unterordnen würde. Ähnlich wie Raspe es tat. So war die Hierarchie im siebten Stock. Der angedrohte Hungerstreik war das Mittel der Gefangenen, um ihren Willen durchzusetzen. Was ihnen viel zu oft gelang.
An der These, es habe sich um staatlichen Mord – und in ihrem Fall versuchten Mord – gehandelt, hielt Irmgard Möller eisern fest. Ähnlich wie nach dem Tod von Ulrike Meinhof behauptet wurde, diese sei vom Staat umgebracht worden.
Die Anwälte von Baader, Ensslin und Raspe äußern am 19. Oktober erhebliche Zweifel am Selbstmord ihrer Mandanten
Nach Ulrike Meinhofs Tod am 9. Mai 1976 war es in vielen Großstädten der Bundesrepublik zu Demonstrationen gekommen. Vielfach wurde der Selbstmord angezweifelt – und nicht nur von Sympathisanten der RAF. Aus der Studentenbewegung, die sich 1966 zu bilden begonnen hatte, waren drei Jahre später verschiedene Splittergruppen hervorgegangen. Das Spektrum reichte von Stadtteilarbeit und dem Versuch, durch die Arbeit in Fabriken Arbeiter zu politisieren, bis zu Demonstrationen und Aktionen gegen Immobilienspekulation. Mit dem «bewaffneten Kampf» wollte die Mehrzahl von ihnen nichts zu tun haben, fühlte sich aber mit den RAF-Mitgliedern verbunden. Johnny Klinke, der in den siebziger Jahren neben dem späteren Außenminister Joschka Fischer und dem EU-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit dem Protestmilieu in Frankfurt am Main angehörte, bei Opel arbeitete und junge Arbeiter für den revolutionären Kampf gewinnen wollte, erinnerte sich: «Viele haben geglaubt, sie wäre vom Staat umgebracht worden. Da war ein Solidaritätsgefühl. Ich habe Ulrike Meinhof auch als eine von uns gesehen, obwohl ich mit der RAF gar nichts zu tun hatte: Trotzdem hatte man das Gefühl, dass das eine von uns ist, die da umgebracht wurde.» Vom Staat, «der Repression», wie man damals gedacht habe, so Klinke. Meinhofs Tod wurde als Anschlag «auf die eigene politische Identität» wahrgenommen.
Entsprechend waren die Reaktionen: Trotz Verboten wurde am 10. Mai 1976 demonstriert. In der Innenstadt von Frankfurt am Main flogen erstmals nicht nur Steine und ähnliche Wurfgeschosse, sondern auch Molotowcocktails. Einer der Brandsätze wurde in einen Polizeiwagen geworfen. Von einer «lebenden Fackel» berichteten die Zeitungen am nächsten Tag und meinten damit den dreiundzwanzigjährigen Polizeiobermeister Jürgen Weber, der sich nicht gleich aus dem Fahrzeug hatte befreien können und, nachdem er herausgezogen worden war, mit schweren Verletzungen nur knapp überlebte. Und selbst in einer Rede, die Joschka Fischer als Reaktion auf dieses Ereignis, diese Gewaltentgleisung hielt, trat er noch für die «Solidarität mit den Genossen» ein. Allerdings rief er eben «die Genossen» vor den etwa zehntausend Zuhörern auf dem Frankfurter Römerberg auch dazu auf, die «Bomben wegzulegen» und «runterzukommen von ihrer bewaffneten Selbstisolation». Er erinnerte noch einmal an den Tod Ulrike Meinhofs: «Ulrike» sei «im Knast von der Reaktion in den Tod getrieben, ja im wahrsten Sinne des Wortes vernichtet» worden. Vor diesem Hintergrund war es für viele ein Jahr später vorstellbar, dass Baader, Ensslin und Raspe umgebracht worden waren.
Auch der damalige RAF-Anwalt und spätere Innenminister Otto Schily verbreitete diese Überlegung, obwohl jeder mit Sicherheit wusste, dass es nicht der Wahrheit entsprach, aber natürlich unter meinen Kollegen Angst schürte, als Folter- oder Mordgehilfe an den Pranger gestellt zu werden. Man muss sich die Anfeindungen damals vorstellen. Wer in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart arbeitete, war, ob er wollte oder nicht, Teil einer politischen Auseinandersetzung geworden. Es gab Phasen, zum Beispiel als der Prozess gegen die führenden Köpfe der RAF eröffnet wurde, da standen um das Gelände Schützenpanzer und Sicherheitsbeamte mit Maschinenpistolen, da patrouillierte berittene Polizei. Es herrschte Ausnahmezustand.
Auch andere wurden unfreiwillig und ungefragt Teil dieses Konflikts, so sehr, dass er das Leben maßgeblich bestimmte. Christiane Ensslin, die ältere Schwester von Gudrun Ensslin, erinnerte sich 2002 in einem Interview, wie sie, nachdem in Stammheim 1975 die Hungerstreiks begonnen hatten, regelmäßig Morddrohungen bekam. Wenn sie ihre Wohnung verließ, rief sie vorher Freunde an, die sie begleiteten, damit sie unversehrt ihrem Alltag nachgehen konnte. Am schlimmsten, so Ensslins Blick zurück, seien die Aufläufe vor dem Gefängnis in Stammheim gewesen. «Der Weg vom Taxi zum Eingang war furchtbar, man wurde beschimpft und angespuckt.» 1976 sah sie ihre Schwester während eines Besuchs zum letzten Mal. Wut oder Verzweiflung darüber, dass deren Lebensweg ihren eigenen beeinflusste, habe sie nie empfunden. «In dieser Zeit war das Persönliche politisch und das Politische persönlich. Sich für die revolutionären Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu engagieren, war damals selbstverständlich. Insofern habe ich Gudrun nie dafür verflucht, dass sie diesen Weg gegangen ist – mit all den Konsequenzen. Ich habe auch nie versucht, sie umzustimmen.» Die RAF sei eine Gruppe gewesen, die aus der zerfallenden Studentenbewegung hervorgegangen war, so Christiane Ensslin, ihren politischen Hintergrund könne man nicht leugnen. Aber: Als Befreiungskämpfer – und so habe die RAF sich verstanden – dürfe man keine Gefangenen machen und sie dann noch erschießen. «Menschen umzubringen und das mit politischen Zielen rechtfertigen zu wollen, ist für mich ausgeschlossen.»
Die Unzugänglichkeit der Terroristen erstaunt mich bis heute, vor allem aber ihre Radikalität. Gegenüber ihren Opfern. Aber auch gegenüber sich selbst, dem eigenen Körper. Sie hatte sich während der Hungerstreiks der vorherigen Jahre gezeigt und spiegelte sich nun in den Suiziden oder in Irmgard Möllers Fall dem versuchten Suizid wider.
In dem Buch «Der blinde Fleck», das 1987 erschien, veröffentlichte Christiane Ensslin einen Beitrag über ihre Zweifel daran, dass es sich beim Tod ihrer Schwester um Selbstmord gehandelt habe. Er beginnt mit dem Satz: «Alle Kreter lügen, sagte der Kreter.» Sie schrieb, dass sie nicht wisse, was in jener Nacht passiert sei. Die Zellen seien zuvor abgehört worden, aber von dieser Nacht gäbe es keine Aufzeichnungen.
Die RAF-Gefangenen hatten ein Informationssystem, «Zellenzirkulare», also Schriftstücke, über die sie sich gegenseitig informierten. Der BKA-Beamte Alfred Klaus interpretierte diese so, dass Gudrun Ensslin die Gruppe zum Selbstmord aufgerufen hätte. «Das ist die Interpretation eines BKA-Beamten», so ihre Schwester 2002 im Interview. «Aber ein eindeutiger Aufruf geht aus diesem Schreiben nicht hervor, man könnte das genauso gut anders interpretieren. Zumal die Sprache der Kassiber schwer zu entschlüsseln ist. Ich weiß heute, dass in Stammheim viel über Selbstmord diskutiert wurde. Ich glaube, so etwas geht jedem Gefangenen durch den Kopf und jedem Lebenslänglichen sowieso. Aber das ist noch kein tauglicher Beweis für tatsächliche Selbstmorde. Außerdem: Wenn Gudrun wirklich dazu aufgerufen hat und der Beamte das wusste, kann ich überhaupt nicht verstehen, wie es zum Selbstmord kommen konnte. Das waren immerhin Gefangene in Obhut des Staates. Hätte der Staat dann nicht auch darauf achten müssen, dass diese Menschen am Leben bleiben?»
Der Journalist und langjährige spätere «Spiegel»-Chefredakteur Stefan Aust erfährt am Morgen des 18. Oktober von den Toten in Stammheim. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der RAF, hat sie genau rekonstruiert und analysiert und zählt zu ihren besten Kennern.
Ich war auf dem Weg von Hamburg nach Verden an der Aller zu einem Gerichtstermin, da ich auf der Autobahn einem anderen Wagen – einem zivilen Polizeifahrzeug, wie sich herausstellte – zu dicht aufgefahren war, so der Vorwurf, und mich nun dafür verantworten sollte.
Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe begingen Selbstmord. Davon war ich vom ersten Moment an überzeugt. Aber es gibt eine zentrale Frage, die bis heute ungeklärt ist: Wurden die Gefangenen in Stammheim während der Entführung Hanns Martin Schleyers abgehört?
Ich habe mich damit in den letzten Jahren immer wieder intensiv beschäftigt. Es gibt viele überzeugende Indizien, die darauf hinweisen, dass es so gewesen sein muss. In den Zellen im siebten Stock war die dafür notwendige technische Ausstattung installiert worden. Das ist nachgewiesen. Man kann auch rekonstruieren, wie diese Technik funktioniert hat. Ob sie in der Nacht des 18. Oktober benutzt wurde oder nicht, kann ich nicht nachweisen. Doch Hinweise darauf gibt es. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Aufzeichnung der Todesnacht gibt, die vielleicht sogar noch existiert. Ein solches Dokument würde man nicht vernichten. Man stelle sich vor, dass dem Staat gegenüber irgendwann bewiesen werden kann, dass abgehört wurde – und dann stellt sich heraus, dass das oder die Bänder dieser Nacht vernichtet wurden. Es würde den Verdacht, ob die Gefangenen doch durch äußere Gewalt zu Tode kamen, enorm nähren. Vielleicht liegen die Bänder der Todesnacht irgendwo in irgendeinem Archiv und könnten im Notfall herausgezogen werden. Dann hätte man den unumstößlichen Beweis, wie sich Herr Baader von Frau Ensslin verabschiedet hat.
Davon auszugehen, dass abgehört wurde, ist auch deshalb so naheliegend, weil Gespräche zwischen den Gefangenen und ihren Anwälten in den Besucherzellen im siebten Stock während des Prozesses in Stammheim abgehört wurden. Das hat der Staat zugegeben. Der Entscheidung, dass die Besucherzellen abgehört werden, geht ein Schriftwechsel im Justizministerium Baden-Württembergs voraus, der mir vorliegt. Daraus lässt sich unzweifelhaft ableiten, dass die eigentliche Absicht nicht darin lag, die Gespräche zwischen den RAF-Mandanten und ihren Verteidigern abzuhören, sondern für einen Entführungsfall gerüstet zu sein und die technischen Voraussetzungen zu haben, um die Hafträume der Gefangenen überwachen zu können. Wenn es irgendeinen Grund gegeben hätte, diese in vielen Schritten mühsam entwickelte und installierte Technik einzusetzen, dann doch während der Schleyer-Entführung.
Viele Bruchstücke der RAF-Geschichte haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einem immer vollständigeren Bild zusammengesetzt. Auch dieses eine fehlende Teil könnte sich in das Bild einfügen.
Die Deutsche Presse-Agentur meldete am Morgen des 18. Oktober, gemäß der Information des baden-württembergischen Justizministeriums hätten sich die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Terroristen Gudrun Ensslin und Andreas Baader das Leben genommen. Die Meldung ging etwa gegen 9 Uhr morgens raus. Vier Stunden zuvor waren die «Landshut» mit den befreiten Geiseln und das Flugzeug mit Hans-Jürgen Wischnewski an Bord in Mogadischu gestartet. Jan-Carl Raspe lebte noch, als die dpa den Tod von Baader und Ensslin bekannt gab. Er starb vierzig Minuten später aufgrund seiner schweren Kopfverletzung. In Bonn kam das Bundeskabinett zu einer Sondersitzung zusammen. Anschließend trafen sich die Mitglieder des «Großen Politischen Beraterkreises».
Nach den Selbstmorden in Stammheim: Hans-Jochen Vogel unterrichtet Helmut Schmidt
Die Nachricht vom Tod der Gefangenen in Stammheim traf uns tief. Damit spitzte sich die Lage für Hanns Martin Schleyer weiter zu. Jeder Beamte des BKA und der Landespolizei, die ohnehin seit sechs Wochen unter enormem Druck arbeiteten, wusste: Jetzt geht es nur noch um Stunden. Der Zorn der Terroristen, ihr Ziel nicht erreicht zu haben, und der Hass auf den Staat, würden als Erstes Hanns Martin Schleyer treffen.
Ich habe Helmut Schmidt in dieser schwierigen Phase bewundert, ja, während der gesamten Dauer der Entführung. Er führte die Sitzungen der Beraterkreise mit großem Ernst, knallhart und ohne jede Emotion. In seinem Inneren wird es mit Sicherheit anders ausgesehen haben – wie in jedem von uns. Die Verantwortung, über das Leben eines anderen Menschen zu entscheiden, empfanden wir alle als ausgesprochen bedrückend. Jeder Einzelne war betroffen und tief bemüht, das Richtige zu tun. Aber Schmidts Entschlossenheit sorgte dafür, dass keiner sich je von seinen persönlichen Gefühlen leiten ließ, diese je erwähnte oder Unsicherheiten oder Zweifel an der gewählten Strategie durchdringen ließ. Wir hielten an der von ihm vorgegebenen Sachlichkeit fest.
Die «Bild»-Zeitung vom 19. Oktober 1977 stellt die entscheidende Frage: Und Schleyer?
Jan Philipp Reemtsma studierte im Herbst 1977 in Hamburg Germanistik und Philosophie. Er war vierundzwanzig Jahre alt. Im Alter von sechsundzwanzig Jahren trat Reemtsma dann sein Erbe an und verkaufte die Anteile an der H. F. & Ph.P. Reemtsma GmbH, die von seinem Vater auf ihn übertragen worden waren. 1984 gründete er das Hamburger Institut für Sozialforschung, dessen Vorstand er ist. Ebenfalls im Jahr 1984 gründete er die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und förderte zahlreiche Editionen, unter anderem von Jean Améry und Theodor W. Adorno. Neunzehn Jahre nach dem Deutschen Herbst und der Ermordung Hanns Martin Schleyers wurde Reemtsma Opfer einer Entführung. Es ging dabei um Geld – dreißig Millionen, damals noch Deutsche Mark. Dreiunddreißig Tage wurde Reemtsma von seinen Entführern angekettet gefangen gehalten. Unter dem Titel «Im Keller» schrieb er ein Buch über das Erlebte.
Nun weiß ich ja, wie es ist, sehr lange unter Todesdrohung zu leben. Ich bin der Meinung, dass es vollkommen richtig war, wie Helmut Schmidt im Krisenstab entschieden hat. Sich in einer solchen Situation keine Emotionen zu erlauben, ist womöglich der einzige Weg, diesen langen Zeitraum durchzustehen, wenn einmal beschlossen ist, dass es eben nur den einen Weg geben darf: die Gefangenen nicht auszutauschen.
Im Fall der Entführung, die ich durchleben musste, war es meine Frau, bei der die Entscheidung erzwungenermaßen lag: Stimmt sie den Forderungen der Entführer zu? Bleibt die Polizei involviert? Aufgrund eklatanter Fehler während der Fahndung entschied sie sich irgendwann dagegen. Diese Möglichkeit der Entscheidung hatten die Angehörigen Hanns Martin Schleyers nicht. Aber tatsächlich muss man in einer solch extremen Situation sehr kontrolliert sein, sonst entgleist man. Darüber haben meine Frau und ich nach meiner Freilassung gesprochen, uns beiden war es während der Entführung so ergangen. Ich hatte Sorge, die nötige Contenance – einmal aufgegeben – nicht mehr finden zu können. Schlimmer noch als die andauernde Todesangst war für mich das Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein, nicht zu wissen, wo ich mich befand. Ich hätte nicht einmal sagen können, in welche Himmelsrichtung die Entführer mit mir gefahren waren. Ich war einfach weg. Genauer: aus der Welt geschlagen worden. Niedergeschlagen, in ein Auto gezerrt, in einem Keller eingesperrt. Das Aus-der-Welt-Sein blieb während der dreiunddreißig Tage das beherrschende Gefühl.