Ein Winter am Meer - Julie Klassen - E-Book + Hörbuch
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Ein Winter am Meer E-Book und Hörbuch

Julie Klassen

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Beschreibung

Der Herzog von Kent und seine Familie verbringen den Winter in Sidmouth und ein Teil der Dienerschaft wird im Gästehaus der Summers-Schwestern untergebracht. Das sorgt für unerwartete romantische Gefühle und bringt gut gehütete Geheimnisse ans Licht. Emily Summers träumt noch immer davon, Autorin zu werden. Als ein ortsansässiger Verleger verspricht, ihre Arbeit in Betracht zu ziehen, sieht sie ihre Chance. Die Bedingung: Sie muss einen Reiseführer über Sidmouth schreiben. Emily stimmt zu und beginnt mit Hilfe des gut aussehenden Privatsekretärs des Herzogs von Kent, die Gegend zu erforschen. Doch dann taucht ein überraschender Besucher aus ihrer Vergangenheit in Sea View auf, und Emily ist hin- und hergerissen zwischen längst vergessen geglaubten Gefühlen und ihren neu aufkeimenden Zukunftsträumen.

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Zeit:13 Std. 52 min

Sprecher:Sabine Schmitt
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JULIE KLASSEN

Ein Winter am Meer

Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Naumann

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,

die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,

die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher

Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

ISBN 978-3-7751-7653-8 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6250-0 (lieferbare Buchausgabe)

© der deutschen Ausgabe 2025 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title A Winter by the Sea

Copyright © 2023 by Julie Klassen

Originally published in English by Bethany House Publishers, a division of Baker

Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A. All rights reserved.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus

in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Übersetzung: Susanne Naumann

Lektorat: Cordula Orth

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart

Satz und E-Book-Erstellung: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für Nigel Hyman und das Team sowie die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sidmouth-Museums, die mich bei den Recherchen für die Bände dieser Reihe so großzügig unterstützt haben.

Ich nehme noch Meerbäder, ungeachtet der Unbilden des Wetters mit Frost und Schnee – was ich, ehrlich gesagt, äußerst tapfer finde.

Eliza de Feuillide (Jane Austens Cousine)

Sie sollten sich einen guten Sekretär halten, der Ihre Berichte schreibt, falls Sie sich dieser Aufgabe nicht unbedingt befähigt fühlen. Derselbe Gentleman könnte Ihnen auch hin und wieder aus der Patsche helfen.

Francis Grose,

Rat an die Offiziere des britischen Heeres

Tun Sie mit der Feder, was in anderen Zeiten mit dem Schwert getan wurde.

Thomas Jefferson,

Brief an Thomas Paine

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Nachwort der Verfasserin

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

JULIE KLASSEN arbeitete sechzehn Jahre lang als Lektorin für Belletristik. Mittlerweile hat sie zahlreiche Romane aus der Zeit von Jane Austen geschrieben, von denen drei den begehrten »Christy Award« gewannen. Abgesehen vom Schreiben, liebt Klassen das Reisen und Wandern. Um für diesen Roman zu recherchieren, ist sie selbst nach Sidmouth in Devonshire gereist. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in Minnesota, USA.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

Ein Wiedersehen in der Pension am Meer

Der Herzog von Kent und seine Familie verbringen den Winter in Sidmouth und ein Teil der Dienerschaft wird im Gästehaus der Summers-Schwestern untergebracht. Das sorgt für unerwartete romantische Gefühle und bringt gut gehütete Geheimnisse ans Licht. Eine der Schwestern, Emily, träumt davon, Autorin zu werden. Als ein ortsansässiger Verleger verspricht, ihre Arbeit in Betracht zu ziehen, sieht sie ihre Chance. Die Bedingung: Sie muss einen Reiseführer über Sidmouth schreiben. Emily stimmt zu und beginnt mit der Hilfe des gut aussehenden Privatsekretärs des Herzogs von Kent die Gegend zu erforschen. Doch dann taucht ein überraschender Besucher aus ihrer Vergangenheit in Sea View auf, und Emily ist hin- und hergerissen zwischen längst vergessen geglaubten Gefühlen und ihren neu aufkeimenden Zukunftsträumen.

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Kapitel 1

Viele, die Rapiere tragen, haben Angst vor Gänsekielen.

William Shakespeare, Hamlet

Oktober 1819

Wenn ein Federkiel tatsächlich mächtiger war als ein Rapier, wie Shakespeare behauptete, dann musste eine Feder doch wohl auch mächtiger sein als eine Nadel.

Emily Summers sann über diesen Satz nach. Sie saß im Salon und schrieb Tagebuch. Ihre Mutter und ihre Schwestern beschäftigen sich bei Tee und vertrautem Geplauder mit Näharbeiten. Sogar Viola, ihre Zwillingsschwester, die erst kürzlich geheiratet hatte, war mit ihrem Nähkörbchen aus Westmount herübergekommen, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Lediglich die älteste Schwester, Claire, fehlte.

Emily hingegen hegte schon von jeher eine tiefe Abneigung gegen das Nähen und versuchte diese Beschäftigung nach Möglichkeit zu vermeiden, abgesehen von dem reichlich unbeholfenen Versuch, ein Mustertuch mit verschiedenen Nähstichen herzustellen – ein Versuch, der freilich schon Jahre zurücklag. Allenfalls ihre jüngste Schwester, die sechzehnjährige Georgiana, war noch ungeschickter im Umgang mit der Nadel als sie. Heute Nachmittag saß sie über ein Stück Stoff gebeugt, das ihr Mustertuch werden sollte. Ihre Mutter verlangte von jedem der Mädchen eine solche Arbeit, denn ihrer Ansicht nach sollten alle jungen Damen zumindest die Grundbegriffe des Nähens beherrschen.

Emily blickte auf Georgies Gebilde, das aussah wie ein Vogelnest aus verheddertem Garn. Sie bezweifelte, dass die pädagogischen Bemühungen ihrer Mutter sich in diesem Fall als fruchtbar erweisen würden. Emilys eigenes Exemplar war damals nicht viel besser ausgefallen. Mama hatte ihr Werk dann auch nicht eingerahmt, so wie die Arbeiten ihrer anderen Schwestern. Violas und Sarahs Nähmuster hingen jetzt in Mutters Zimmer. Wo Claires Werk gelandet war, wusste sie nicht.

Trotz des angeregten Geplauders um sie herum und des warmen Tees in ihrem Innern spürte Emily einen kalten Knoten der Leere in ihrer Brust. Etwas oder jemand fehlte – genauer gesagt: Zwei Personen fehlten.

Sie hielt inne und versuchte, das Gefühl zu analysieren. Lange Zeit hatte sie sich drei Dinge im Leben gewünscht: wieder mit ihrer ältesten Schwester zusammen zu sein, nach May Hill zurückzukehren und Charles Parker zu heiraten und Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen. Doch die Hoffnung, dass auch nur einer dieser Wünsche je wahr würde, war gering. Claire lebte nach einem missglückten Versuch, mit einem Mann durchzubrennen, im Exil in Schottland und Charles, der Nachbarssohn, den Emily liebte, seit sie denken konnte, hatte ihr das Herz gebrochen, als er angesichts eines Skandals, der ihrer Familie drohte, jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte.

Der letzte Wunsch aber schien der unerfüllbarste zu sein.

Seufzend fabrizierte Emily ein paar weitere Zeilen des Romans, den sie zu schreiben versuchte, doch sie kamen ihr so wirr und ungeordnet vor wie Georgianas Nähversuche.

Schließlich gab sie auf, stellte die Schreibfeder zurück in den Federhalter, legte das Heft beiseite und griff zu einem Buch. Sie hatte ein neues Werk von Mr Wallis angefangen, das erst kürzlich erschienen war; es hieß Scenery on the Southern Coast of Devonshire; Comprising Picturesque Views, at or near the Fashionable Watering Places: Sidmouth, Budleigh Salterton, Exmouth, Dawlish, Teignmouth, and Torquay. Dass ein Autor einen so langen Titel wählen konnte, war ihr unbegreiflich.

Emily kannte nicht alle der aufgeführten Städte, doch die Beschreibungen weckten ihr Interesse und sie hoffte, sie eines Tages besuchen zu können.

Beim Gedanken an Reisen begegnete sie dem Blick ihrer Schwester und ihr fiel etwas ein. »Machst du Fortschritte dabei, den Major von einer Hochzeitsreise zu überzeugen?«

Viola hob gleichmütig die Schultern und konzentrierte sich weiter auf das neue Hemd, das sie für ihren Mann nähte. »Jack reist nun einmal nicht gern. Jedenfalls im Moment noch nicht. Nach Indien und zurück zu segeln, hat ihm gereicht.« Sie wandte sich an ihre ältere Schwester. »Könntest du mir bitte die Schere geben?«

Sarah hielt in ihrer Stickarbeit inne und reichte ihr die Schere.

Viola schnitt einen Faden ab, dann blickte sie auf das Buch in Emilys Schoß. »Wie ist Mr Wallis’ neues Buch?«

»Interessant. Aber es wäre noch besser, wenn jemand Korrektur gelesen hätte. Mir sind mehrere Wiederholungen aufgefallen und auch ein paar fehlende Wörter.«

Viola nickte. »Ich weiß, dass ich das schon mehrmals gesagt habe, aber du solltest ihm wirklich einmal vorschlagen, seine Texte zu redigieren.«

»Ich glaube kaum, dass er meine Einmischung zu schätzen wüsste«, entgegnete Emily. »Nicht jeder bewundert meine Fähigkeit, die Fehler anderer zu entdecken.« Dabei zwinkerte sie Viola zu, denn die hatte früher häufig ihre Kritik zu spüren bekommen. Zum Glück hatte sich die Beziehung der beiden Zwillingsschwestern im letzten Jahr sehr verbessert.

»Wenn er deine Fähigkeiten kennenlernt, ist er bestimmt auch bereit, deinen Roman zu veröffentlichen – vorausgesetzt, er wird jemals fertig.«

Emily sah ihre Schwester fragend an. »Warum liegt dir so viel daran, dass ich eine Arbeit finde? Man kann mich doch wohl kaum als faul bezeichnen, oder?«

Georgiana meldete sich zu Wort. »Weil das nur gerecht ist. Schließlich hast du mit der Anzeige, die du ohne ihr Wissen aufgegeben hast, eine Arbeit für Viola gefunden.«

»Und das hat ein sehr glückliches Ende genommen, wie du zugeben musst«, verteidigte sich Emily.

Ihre Zwillingsschwester blickte von ihrer Näharbeit auf. Ihre Wangen waren plötzlich rosig angehaucht. Das Strahlen in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Das hat es wirklich.«

Viola war mit einer Hasenscharte zur Welt gekommen. Die Gaumenspalte konnte zwar nach mehreren Operationen geschlossen werden, doch eine vertikale Narbe vom unteren Rand der Nase bis zum Mund und eine leicht verkürzte Oberlippe waren ihr geblieben, wenn auch beides kaum auffiel. Dennoch hatte Viola, abgesehen von ihrer engsten Familie, die Öffentlichkeit stets gemieden und völlig abgeschieden gelebt. Nur widerwillig hatte sie nach der Anzeige, die ihre Schwester aufgegeben hatte, angefangen, Kranken und Invaliden vorzulesen. Durch diese Tätigkeit hatte sie ihren späteren Ehemann kennengelernt und darüber hinaus eine liebe Freundin gewonnen, eine Bewohnerin des Armenhauses. Seither hatte ihr Leben sich ganz entschieden zum Besseren gewendet.

Ob Emilys Leben eine ebensolche Wendung nehmen konnte, wenn sie eine Arbeit annahm?

»Ich kann gerne mit ihm reden, wenn du möchtest«, sagte Viola jetzt. »Um mich zu revanchieren.«

»Nein, danke. Ich kann selbst mit Mr Wallis reden …, wenn ich das will. Ich weiß aber wirklich nicht, wie ich die Zeit zum Korrekturlesen finden soll bei den vielen Aufgaben, die ich im Haus habe.«

Ihre Mutter, die neben ihnen saß, seufzte bei dem Versuch, einen Faden neu einzufädeln, und sah ihre Töchter über ihre Halbbrille hinweg an. »Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt dafür. Es ist Herbst und sehr viel ruhiger geworden. Manche Leute überwintern zwar hier, doch es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir in den kälteren Monaten, insbesondere über Weihnachten, sehr viel zu tun haben werden.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Emily und widmete sich wieder ihrem Buch.

Ein paar Minuten vergingen in einträchtigem Schweigen. Dann klopfte es an der Vordertür. Dankbar für die Unterbrechung warf Georgiana ihre Näharbeit beiseite und lief aus dem Zimmer, um zu öffnen, obwohl das Hausmädchen Jessie diese Aufgabe übernommen hätte, wenn sie Gelegenheit dazu gehabt hätte.

Einen Augenblick später wirbelte eine Freundin und ehemalige Zofe der Familie herein, dicht gefolgt von Georgiana.

»Neuigkeiten, meine Damen!«, verkündete Fran Stirling. »Ich konnte kaum abwarten, es euch zu erzählen. Ihr werdet es nie erraten! Ihr bekommt königliche Nachbarn!«

»Königliche Nachbarn? Außer Viola, meinst du?«, neckte Emily sie.

»In der Tat, noch königlicher, falls du dir das überhaupt vorstellen kannst.«

Mama straffte sich. »Doch nicht der Prinzregent – er hat doch den Brighton Pavillon!«

»Nein.« Fran musste lächeln, aber ihre Augen blitzten. »Einer seiner Brüder. Der Herzog von Kent mit seiner Frau und ihrer kleinen Tochter. Ganz zu schweigen von ihrem riesigen Gefolge von Dienern.«

»Wo werden sie wohnen?«, fragte Sarah und klopfte auf den Stuhl neben sich. Fran setzte sich zu ihr.

»In Woolbrook Cottage.«

»Nein!«, rief Viola aus. »Das ist ja direkt gegenüber von unserem Haus!«

Fran nickte mit leuchtenden Augen. »General Bayes hat es ihnen für den ganzen Winter vermietet, aber das soll eigentlich ein Geheimnis sein.«

»Wie hast du davon erfahren?«, fragte Sarah, nicht wirklich überrascht, denn Miss Stirling schien praktisch jeden in der Stadt zu kennen und erfuhr sämtliche Neuigkeiten immer lange vor ihnen.

»Der General hat Mr Farrant beauftragt, ein paar Reparaturen durchzuführen, bevor die Königlichen Hoheiten eintreffen.«

»Ah.« Sarah lächelte. »Wie gut, dass du Mr Farrant so gut kennst.«

Mama schüttelte nachdenklich den Kopf. »Und wir dachten, es wird ein ruhiger Winter.«

Am nächsten Tag – Sarah und Emily räumten gerade das Esszimmer auf – ertönte ein dreifaches scharfes Klopfen an der Vordertür.

Sarah und ihre Schwester wechselten einen Blick und gingen in den Salon, um den unangekündigten Besucher zu empfangen. Kurz darauf kamen Mama und Georgiana hinzu und dann führte Jessie auch schon zwei hochgewachsene Fremde ins Zimmer.

Mit verängstigtem Blick stammelte das junge Dienstmädchen: »Captain … irgendwas und … oh, ich habe es vergessen.« Damit drehte sie sich um und floh aus dem Zimmer.

Der ältere der beiden, er musste Mitte dreißig sein, blickte ihr stirnrunzelnd nach. »Ist sie geistesschwach?«

Sarah errötete vor Verlegenheit und Ärger, doch sie zwang sich zu einer ruhigen Antwort: »Überhaupt nicht. Nur leicht einzuschüchtern.«

»Ah.« Der ältere Mann schien ihre Antwort als Kompliment zu nehmen, seine breiten Schultern schienen sich noch ein bisschen mehr zu straffen. Er trug Zivilkleidung, besaß jedoch das Auftreten eines Militärs. Sein Ausdruck war ernst und streng.

Jetzt sah er seinen Begleiter an. Dieser war fast ebenso groß wie er, aber wesentlich jünger.

Der jüngere Mann leistete dem stummen Befehl Folge und vollendete die Vorstellung mit ruhiger, redegewandter Stimme. »Das ist Captain John Conroy, der Stallmeister des Herzogs von Kent und Strathearn. Und ich bin James Thomson, Privatsekretär.«

Die beiden Männer verbeugten sich.

Mama nickte, Emily knickste. Sie konnte den Blick nicht von dem gut aussehenden jungen Mann abwenden. Etwas verspätet sprang auch Georgiana auf und folgte Emilys Beispiel, allerdings mit bedeutend weniger Anmut.

Sarah verschränkte die Hände, um ihr nervöses Zittern zu verbergen. »Ich bin Miss Sarah Summers. Das ist meine Mutter, Mrs Summers, und dies sind meine Schwestern. Wie können wir Ihnen helfen, meine Herren?«

Der Captain antwortete mit einem knappen Nicken: »Die Gesundheit der Herzogin von Kent verlangt nach dem Aufenthalt in einem milderen Klima. Seine Königliche Hoheit und ich haben Sidmouth als idealen Ort für den Winter ausgewählt.«

Georgie platzte heraus: »Das wissen wir bereits.«

Der Mann sah sie misstrauisch an. »Wer hat es Ihnen erzählt? Diese Angelegenheit ist in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt.«

»Ich … äh, unsere …«

Sarah drückte Georgies Hand, um sie am Weiterreden zu hindern; sie wollte nicht, dass Miss Stirling Ärger bekam.

»Es ist doch nur natürlich, dass eine so gute Nachricht rasch die Runde in der Stadt macht«, fügte der Sekretär beschwichtigend hinzu. »General Bayes oder vielleicht auch der Makler oder die Händler, die wir kontaktiert haben, könnten es weitererzählt haben.«

»Genau«, sagte Sarah. »Es ist schließlich ein sehr aufregendes Ereignis.«

Mama fügte hinzu: »Und eine Ehre für uns alle.«

Der Captain schnaubte, dann fuhr er fort: »Ihre Königlichen Hoheiten werden in Woolbrook Cottage wohnen, mit so vielen Bediensteten, wie im Haus untergebracht werden können – es können also leider nicht alle mitkommen. Der Herzog pflegt mit einem großen Gefolge von Dienstboten, Beratern und dergleichen mehr zu reisen. Deshalb haben wir für einen Teil der Dienerschaft, das gehobene Personal, zusätzlich ein Haus in der Fortfield Terrace gemietet; es werden jedoch noch weitere Unterbringungsmöglichkeiten benötigt. Wir haben erfahren, dass Sie hier eine Art Pension führen.«

»Ja«, erklärte Mama. »Wir ziehen allerdings die Bezeichnung ›Gästehaus‹ vor.«

Das ignorierte er. »Wie viele Räume haben Sie zu vermieten?«

Alle sahen Sarah an.

»Wir haben sechs Gästezimmer«, sagte sie. »Sieben, wenn wir ein kleines angrenzendes Zimmer dazurechnen. Drei Zimmer sind im Moment belegt, doch bis auf eines sind ab Ende des Monats alle verfügbar.«

Zu ihren momentanen Gästen zählten ein Mr und eine Mrs Johnson, die ein gemeinsames Zimmer bewohnten. Ihre Zwillingssöhne schliefen in dem angrenzenden Zimmer. Die Familie wollte bis Oktober bleiben. Ihr zweiter Gast war Mr Hornbeam, der, soweit Sarah wusste, nicht vorhatte, in nächster Zeit abzureisen.

»Ab wann bräuchten Sie die Zimmer denn?«, fragte sie die Herren.

»Nicht vor Dezember.«

»Möchten Sie sie sehen?«

Captain Conroy winkte ab. »Nicht nötig. Für die niedere Dienerschaft werden sie sicherlich ausreichend sein. Das Entscheidende ist die Nähe zu Woolbrook. Ich gehe davon aus, dass wir drei oder vier Zimmer brauchen.«

»Zu welchem Datum genau?«

»Das steht noch nicht fest. Mr Thomson wird Ihnen schreiben und die entsprechenden Einzelheiten nennen, sobald alles entschieden ist.«

Sarah zögerte. Sie sollten vier Zimmer in Reserve halten, ohne das genaue Ankunftsdatum zu wissen? Sie wollte schon ablehnen und sagen, dass sie unter diesen Umständen keine Zimmer reservieren konnten, doch angesichts von Captain Conroys grimmigem Auftreten traute sie sich nicht.

Außerdem hatte Mama recht: In letzter Zeit war es recht ruhig gewesen, sie hatten nur wenige Gäste gehabt. Die Aussicht, drei oder vier Zimmer für den ganzen Winter vermieten zu können, war ein Glücksfall, den zu ignorieren sie sich nicht leisten konnten.

»Sehr gut«, antwortete sie deshalb. »Wir warten auf Ihre Instruktionen.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2

John Wallis, der Besitzer der Marinebuchhandlung,ließ keine Gelegenheit aus, sein Etablissementmit dem Zusatz »königlich« zu schmücken.

Nigel Hyman, Sidmouth’s Royal Connections

Violas Ermahnung noch im Ohr, machte Emily sich auf den Weg zur Marinebuchhandlung, um mit Mr Wallis, dem hoch angesehenen ortsansässigen Verleger und Buchhändler, zu sprechen.

Der zarte, bebrillte Witwer in den Vierzigern hatte ein schmales, intelligentes Gesicht. Die alleinstehenden Frauen des Ortes schienen allgemein eine große Vorliebe für seine Leihbücherei zu haben, doch Emily war nie aufgefallen, dass er ein romantisches Interesse an einer von ihnen gezeigt hätte. Seine Aufmerksamkeit galt allein seinen beiden Söhnen und seinen vielfältigen verlegerischen Projekten.

Die anderen Frauen liebten seine Anekdoten über die prominenten Besucher von Sidmouth, doch Emily war sehr viel stärker an den Autoren interessiert, die er im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. In den zwölf Monaten, die die Summerses jetzt in Sidmouth lebten, hatten Emily und Mr Wallis viele Gespräche über Bücher und Schriftsteller geführt. Bestimmt war ihm aufgefallen, wie belesen sie war. Hatte Viola recht? Wäre er vielleicht einverstanden, dass sie seine künftigen Werke redigierte und auch die Druckfahnen Korrektur las? Wenn ja, wäre es natürlich ein Glücksfall für sie, ein wenig eigenes Geld damit verdienen zu können, dass sie alles lernte, was es über das Verlagsgeschäft zu lernen gab.

Jetzt stand sie vor der Buchhandlung und trat nach kurzem Zögern ein. Beim Klingeln der Ladenglocke stieg gewöhnlich freudige Erwartung in ihr auf, doch nicht diesmal. Sie war viel zu nervös.

Sie ließ den Blick suchend über die Regale voller Spiele, Karten und Zeitschriften hinweg zum Schreibtisch schweifen, entdeckte jedoch weder Mr Wallis noch seinen Angestellten. Nur der ältere seiner beiden halbwüchsigen Söhne war da; er saß auf einem Stuhl und ließ müßig die Beine baumeln.

Vielleicht war Mr Wallis nur kurz hinaufgegangen und würde jeden Augenblick zurückkommen.

Sie ging zu dem Jungen und sagte: »Guten Tag. Ist dein Vater zu sprechen?«

»Nein, Miss. Er ist zum York Hotel gegangen, um sich dort mit irgendjemand zu treffen. Ich soll hierbleiben und auf die Kasse aufpassen.«

»Ich verstehe. Kommt er bald zurück?«

»Keine Ahnung.«

»Nun gut. Dann bleib weiter so gut bei deiner Aufgabe.«

Sie lächelte dem Jungen zu und verließ den Laden. Mit wem Mr Wallis sich wohl treffen mochte? Vielleicht ein weiterer berühmter Schriftsteller? Der Gedanke animierte sie.

Sie ging die Promenade entlang in Richtung Osten, auf das am Meer gelegene große Hotel zu. Nicht weit davon befand sich die andere Bücherei von Sidmouth, in der Emily noch nie gewesen war. Der finanzielle Rahmen ihrer Familie gestattete es nicht, zugleich Mitglied in zwei Leihbüchereien zu sein.

Als sie die Eingangshalle des Hotels betrat, war niemand zu sehen, doch sie hörte Stimmen und ging ihrem Klang nach zu einer offenen Tür gegenüber der Rezeption. Der Raum, in den sie führte, schien ein privater Salon zu sein. Sie sah eine Tapete in zartem Blau und Creme, schöne Polstermöbel und eine hohe Standuhr. Mitten im Zimmer stand Mr Wallis, er unterhielt sich mit drei anderen Männern. Auf einem Tisch vor ihnen lagen zwei große Drucke.

Im Gegensatz zu Mr Wallis’ eher kleiner Gestalt und gelehrtem Habitus waren die anderen Gentlemen außergewöhnlich groß, hielten sich sehr gerade und wirkten ausgesprochen männlich. Die beiden Größeren kannte sie von ihrem Besuch in Sea View: Es waren der imposante Captain Conroy und der gut aussehende Privatsekretär des Herzogs. Sie betrachtete den dritten Mann, der die ungeteilte Aufmerksamkeit der drei anderen Anwesenden besaß. Es war ein älterer Mann, der ihr vage bekannt vorkam: untersetzte Gestalt, Glatze und L-förmige Koteletten. Das war kein berühmter Schriftsteller – es war Prinz Edward selbst, der Herzog von Kent.

Sie hatte Zeichnungen des früheren Militärs in den Zeitungen gesehen – allerdings meist wenig schmeichelhafte Karikaturen.

Mr Wallis sagte gerade: »Eure Königliche Hoheit, gestatten Sie mir, Ihnen diesen Stich einer der meistbewunderten Ansichten von Sidmouth zu schenken, die ich bei dem bekannten Künstler Hubert Cornish in Auftrag gegeben habe.«

Der Prinz gab seiner aufrichtigen Billigung Ausdruck und entgegnete liebenswürdig: »Es wird mir eine große Freude sein, ihn Ihrer Königlichen Hoheit zu zeigen.«

Sie setzten ihr Gespräch noch ein paar Minuten fort, dann war das Treffen beendet. Captain Conroy wandte sich als Erster zur Tür. Emily trat rasch zurück, doch da ruhten seine schwarzen Augen bereits mit deutlicher Missbilligung auf ihr, um sich gleich wieder wegzuwenden.

Die Besucher verließen den Salon und gingen durch die Eingangshalle zum Ausgang. Dabei blickte der Privatsekretär des Herzogs sich noch einmal nach ihr um und nickte ihr kurz zu.

Mr Wallis kam als Letzter heraus, er wirkte zugleich euphorisch und völlig erschöpft.

Als er sie sah, blieb er stehen. »Ah, Miss Summers.«

»Eine erhabene Gesellschaft, in der ich Sie vorfinde«, sagte sie.

»Wissen Sie, wer das war?«

»Ich glaube, ja.«

»Ich sollte nichts sagen. Noch nicht.«

Sie gestand: »Wenn es die königlichen Gäste betrifft, die Sidmouth besuchen wollen – das weiß ich bereits. Zumindest teilweise.«

»Wirklich?« Er blinzelte sie hinter seinen rechteckigen Brillengläsern an. »Und wie sind Sie an diese Information gekommen?«

»Ein Teil seiner Dienerschaft wird in Sea View logieren.«

»Ah, ich verstehe.«

Sie deutete auf den jetzt leeren Salon. »Und wie ist es Ihnen gelungen, dieses Treffen zustande zu bringen?«

Er trat näher und sagte mit leiser, hörbar erregter Stimme: »Ich bin froh, dass Sie wissen, wer dieser Mann war, ich würde nämlich platzen, wenn ich es niemandem erzähle. Als General Baynes mir im Vertrauen mitteilte, dass eine bestimmte Persönlichkeit Sidmouth besuchen wolle, um sich hier niederzulassen, war ich so kühn, an Seine Königliche Hoheit zu schreiben und ihn einzuladen, mich hier zu treffen, weil ich ihm ein Geschenk machen wollte, einen Stich der Gesamtansicht von Sidmouth. Doch als sein Sekretär dann antwortete, dass er das Geschenk tatsächlich annehmen wolle, war niemand überraschter als ich.«

»Gut gemacht!«, lobte Emily und entschied, dass dies auf keinen Fall der richtige Zeitpunkt war, die Fehler zu erwähnen, die sie in seiner letzten Veröffentlichung gefunden hatte.

Stattdessen verließ sie an seiner Seite das Hotel. Draußen auf der Promenade fiel Emily ein Mann am Strand auf, der lediglich mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet war. Sie konnte gerade noch einen Ausruf der Empörung unterdrücken.

Jetzt nahm er einen langen, geblümten Bademantel, der auf einem großen Stein lag, steckte die Arme in die Ärmel und zog die samtbesetzten Aufschläge zurecht.

Dann schlenderte er auf sie zu, mit offenem Bademantel, lose hängendem Gürtel und nackter Brust.

Mr Wallis drehte sich um, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, und runzelte die Stirn. »Laffe«, murmelte er.

Dunkles, lockiges Haar fiel dem Mann tief in die Stirn. Lange, exakt geschnittene Koteletten umrahmten ein Gesicht, das nicht besonders gut aussehend, sondern eher interessant war, mit der gebogenen Nase, die beinahe südländisch anmutete.

Als er näher kam, bedachte er ihren Begleiter mit einem süffisanten Lächeln. »Ah. Wallis. Sie hätten sich mir anschließen sollen. Nichts ist so erfrischend wie ein stärkendes Bad im Meer. Das kalte Wasser entzieht der Haut praktisch das ganze Blut und treibt es dann wieder zurück an die Oberfläche.« Er klopfte sich mit der Faust auf die Brust. »Jetzt glüht mein Körper förmlich vor Wärme und Lebenskraft. Wohingegen Sie …« Sein Blick glitt bedeutungsvoll über Wallis’ spindeldürre Gestalt, doch er ließ den Satz unbeendet.

Dann neigte er, offensichtlich ohne jedes Bewusstsein für seinen spärlich bekleideten Zustand, seinen Kopf in Richtung Emily und ging mit einem höflichen »Miss« an ihnen vorüber.

Sie drehte sich um und sah ihm bis ans Ende der Promenade nach.

»Wer ist das?«, fragte sie beunruhigt.

Wieder runzelte Mr Wallis die Stirn. »Mein Rivale.«

Als Emily wenige Minuten später nach Sea View zurückkehrte, drang ihr aus dem Salon Mr Gwilts Singsang entgegen. Wahrscheinlich unterhielt er wieder einmal die Zwillinge von Mr und Mrs Johnson.

Jedes Mal, wenn Emily die beiden zehnjährigen Jungen sah, wurde sie an ihre eigene Zwillingsschwester erinnert, doch die beiden Jungen sahen sich sehr viel ähnlicher, als es bei ihr und Viola je der Fall gewesen war. Ihre Schwester hatte rotbraune Haare und haselnussbraune Augen, Emilys Haare und Augen waren dunkelbraun. Viola war außerdem kleiner, nahm aber dennoch einen großen Raum in Emilys Herzen ein. Sie vermisste Viola jeden einzelnen Tag, jetzt, da sie verheiratet war und bei ihrem Mann lebte. Zum Glück war Westmount nicht weit entfernt und die beiden besuchten einander häufig.

Mr Gwilt war im vergangenen Sommer selbst Gast in Sea View gewesen und danach als Teilzeitbuchhalter und Faktotum bei ihnen geblieben, als Hilfe für den allmählich gebrechlich werdenden Diener Lowen.

Mr Gwilt, ein Witwer um die Fünfzig, ein kleiner Waliser von äußerst liebenswürdigem Charakter, war stets zu allen Menschen freundlich. Doch er besaß eine Eigenheit. Er war in Begleitung nach Sea View gekommen, einer Begleitung, die allgemein Verwunderung hervorgerufen hatte: mit einem Papagei, der tot in seinem Käfig saß, sich aber dank der Expertise eines Freundes, der sich mit Tierpräparation auskannte, in einem lebensechten Zustand befand. Darüber hinaus hatte Mr Gwilt die beunruhigende Eigenschaft, über und mit seinem gefiederten Freund zu sprechen, als sei er noch am Leben.

Emily, die dem neuen Gast zunächst mit Misstrauen begegnet war, hatte ihn jedoch bald ins Herz geschlossen, insbesondere, nachdem sie erfahren hatte, dass er lange Zeit seine Frau gepflegt hatte, die ihr Gedächtnis und ihre Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Während dieser Jahre stiller Isolation hatte er, um seine Einsamkeit zu lindern, begonnen, mit Parry zu sprechen, eine Marotte, die er auch nach dem Tod des Papageis beibehalten hatte.

Diese seine Angewohnheit hatte allerdings in den letzten Monaten, nachdem Mr Gwilt seinen Platz in Sea View gefunden hatte und nun zu ihren Bediensteten, ja eigentlich zur Familie gehörte, nachgelassen. Er erwähnte Parry zwar noch immer relativ häufig, gestand inzwischen jedoch ein, dass der Vogel nicht mehr lebte.

Nachdem Mr Gwilt vom Gast zum Diener geworden war, hatte Sarah darauf bestanden, dass er den Papagei auf seinem Zimmer ließ – sie hatte Mr Gwilt im Erdgeschoss zwischen Lowen und der Köchin einquartiert.

Doch als Mrs Johnson ihr erzählte, wie sehr ihre Söhne die Geschichten von Parrys Abenteuern liebten, mit denen Mr Gwilt die beiden an Regentagen unterhielt, hatte Sarah eine Ausnahme gemacht. Solange die Johnsons mit ihren beiden Jungen zu Gast in ihrem Haus waren – und nur dann –, durfte Mr Gwilt den Papagei mit in den Salon bringen.

Emily blieb in der offenen Tür stehen und lauschte. Der Papagei saß in seinem Käfig auf dem Beistelltischchen, Mr Gwilt in dem Lehnsessel daneben. Die Jungen knieten vor dem Käfig und starrten voller Bewunderung auf die farbenfrohe Kreatur.

»Als junger Vogel sehnte Parry sich danach, mehr von der Welt zu sehen«, erzählte Mr Gwilt. »Er wollte berühmt werden. Deshalb verließ er seine Heimatinsel und flog fort, auf der Suche nach seinem Schicksal. Parry flog und flog, doch so weit er auch kam, er konnte kein Land finden. Schließlich war er erschöpft und musste nach Hause zurückkehren.

Dann, eines Tages, ging ein Schiff in der Bucht vor Anker. Die Seeleute ruderten in kleinen Booten zur Insel, um frische Früchte und Wasser zu besorgen. Der Anführer dieser Männer lockte Parry mit einer Mango zu sich, fing ihn ein und sperrte ihn in einen Käfig. Parry war ganz sicher, dass es mit ihm aus war. Er würde verschwinden und die Welt würde sich nicht mehr an ihn erinnern.«

Emily hörte interessiert zu, bis Mr Johnson erschien und den Jungen sagte, dass es Zeit sei, sich zum Dinner umzukleiden. Die beiden stöhnten zwar, doch Mr Gwilt versicherte ihnen, dass er ein anderes Mal weitererzählen würde.

Er und Emily sahen dem Trio nach, dann fragte Emily: »Haben Sie je daran gedacht, Parrys Abenteuer aufzuschreiben? Nach der Reaktion der Johnson-Zwillinge zu urteilen, könnte es ein wundervolles Kinderbuch werden.«

»Nein, mein Mädchen. Ich erzähle die Geschichten einfach, solange ich kann. Ich könnte sie nicht aufschreiben. Ich bin ein Mann der Zahlen, nicht der Buchstaben.«

»Ich könnte Ihnen helfen.«

»Aber, aber. Sie haben doch so schon genug zu tun.«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich würde es gern tun. Und Ihnen würde es bestimmt auch gefallen.«

»Wir könnten es ja einmal versuchen, wenn ich nicht anderswo gebraucht werde.«

»Ausgezeichnet!«, meinte Emily. Es war ihr heute nicht gelungen, mit ihren eigenen Ambitionen voranzukommen, doch der Gedanke, einem anderen helfen zu können, belebte sie.

Sie begannen noch am selben Abend.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 3

Oh, dass Glück so schnell verweht!Ein so süßer Genuss.Wie ein Kussso rasch vergeht!

Ben Jonson, »The Kiss«

Einige Wochen später saß Emily allein in ihrem Schlafzimmer, das sie mit Sarah teilte, und versuchte, eine weitere Szene ihres Romans zu Papier zu bringen.

Nach einer Weile hielt sie inne und las die letzte Zeile, die sie geschrieben hatte, noch einmal durch. Angewidert stöhnte sie auf und kratzte sie heraus. Sie hatte versucht, eine romantische Szene zwischen dem Helden und der Heldin und ihren ersten Kuss zu beschreiben, doch sie fühlte sich nicht im Geringsten qualifiziert dafür. Wie sollte sie Erfahrungen und Gefühle beschreiben, die ihr fremd waren?

Charles Parker hätte sie einmal beinahe geküsst – zumindest hatte sie geglaubt, dass er kurz davor war, doch dann waren sie unterbrochen worden. Emily scheute sich davor, sich im Detail an diese Situation zu erinnern, weil es bestimmt sehr schmerzlich wäre, denn kurz darauf hatte er jeden Kontakt zu ihr abgebrochen.

Stattdessen zog sie, in der Hoffnung auf Inspiration, ein ganz bestimmtes Notizbuch hervor, in dem sie romantische Zeilen aus Romanen und Gedichten gesammelt hatte.

Sie blätterte ein paar Seiten durch und las einen Vers des Dichters Ben Jonson.

So süß, so schmelzend, so weich, so berauschend …

Ach, lieber will ich den Odem verlieren,

nichts würd’ ich vermissen,

würd’ ich sterben beim Küssen.

Süß, schmelzend und weich berauschend – das klang gut. Aber küssend sterben? Das schien ihr doch ein wenig übertrieben.

Emily seufzte und klappte das Büchlein zu.

Vielleicht sollte sie in der Leihbücherei vorbeischauen und einen neuen Liebesroman oder einen Gedichtband aussuchen, zu Forschungszwecken. Sie las leidenschaftlich gern und leider fiel ihr das Lesen sehr viel leichter und war sehr viel angenehmer als die mühsame Arbeit des Schreibens.

Also ging Emily auch an diesem Nachmittag wieder die Promenade entlang zur Buchhandlung von Mr Wallis. Vor ihr traten gerade zwei Frauen aus dem Laden auf die von einer Markise beschattete Veranda, wo sie stehen blieben, um sich noch ein wenig zu unterhalten.

»Er hatte heute seltsame Laune.«

»Ja – er war längst nicht so liebenswürdig wie sonst.«

»Und dabei habe ich extra meinen neuen Hut getragen.« Die Frau schnaubte. »Na ja. Ach – Sie kommen doch zu meiner kleinen Feier heute Abend, nicht wahr? Ich habe eine Wahrsagerin eingeladen, ein fürchterliches altes Weib. Es wird bestimmt sehr unterhaltsam.«

Für Emily klang diese Aussicht eher nach einer Schreckensvision als nach Unterhaltung, doch als die Frauen weitergingen, gewann die Sorge um Mr Wallis die Oberhand über alle anderen Gedanken. War etwas Schlimmes geschehen, dass er in so seltsamer Laune war? Oder ging es ihm gesundheitlich nicht gut?

Als sie die Tür der Buchhandlung aufstieß, erblickte sie ihn sofort. Er kauerte in sich zusammengesunken auf einem Stuhl hinter seinem Schreibtisch.

»Guten Tag, Mr Wallis.«

Trotz seiner sonst so untadeligen Manieren hatte sich der Besitzer der Buchhandlung zum ersten Mal in Anwesenheit einer Dame nicht erhoben. Die hellen Augen hinter seiner Brille wirkten seltsam verschleiert.

Er blinzelte zu ihr auf. »Ah. Miss Summers. Sie werden nie erraten, was passiert ist.«

»Doch hoffentlich nichts Schlimmes?«

»Ganz im Gegenteil. Es ist fast zu schön, um es auszusprechen.«

»Dann erzählen Sie es mir!«

Er beugte sich nach vorn, über den Schreibtisch, und begann: »Erinnern Sie sich, wie Seine Königliche Hoheit, der Herzog von Kent, letzten Monat auf der Suche nach einem passenden Anwesen in die Stadt kam? Und wie ich ihm das Panorama von Sidmouth geschenkt habe?«

Sie nickte. »Natürlich.«

»Ich habe soeben einen Brief erhalten. Aus dem Kensington Palace! Ich habe die ungeheure Ehre, zum ›Buchhändler Ihrer Königlichen Hoheiten‹ ernannt worden zu sein. Meine liebe Miss Summers …« Seine Stimme bebte. »Ich war noch nie so stolz in meinem Leben.« Sein verklärter Blick ging an ihr vorbei. »Sie wissen doch, was das bedeutet, oder? Prinz Edward hat mein Geschäft unter seine königliche Schirmherrschaft gestellt. Es kann sich nun rechtmäßig als Königliche Marinebuchhandlung bezeichnen. Ist das nicht ganz unglaublich?«

»Oh Mr Wallis! Ich freue mich so für Sie!«

Er nickte, dann schärfte sich mit einem Mal sein verschwommener Blick.

»Wollen wir doch mal sehen, wie der junge Schnösel das übertreffen will.«

Kurz darauf verließ Emily Wallis’ Buchhandlung, ein frisch ausgeliehenes Buch unter dem Arm.

In Gedanken verloren übersah sie den Mann, der auf sie zukam, und bemerkte ihn erst, als er beinahe vor ihr stand. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück, dabei entglitt ihr das Buch und fiel zu Boden.

Vor ihr stand der Mann, den sie zuletzt mit nichts außer einem Handtuch und einem Bademantel bekleidet gesehen hatte. Der »Schnösel« höchstpersönlich – Mr Wallis’ jüngerer, extravaganter Konkurrent.

Jetzt trug er die untadelige Kleidung eines Gentlemans, wenn auch farbenprächtiger als die meisten – einen burgunderfarbenen Gehrock über einer geblümten Weste.

»Gestatten Sie.« Er bückte sich und hob das Buch auf. Dabei las er den Titel auf dem Buchrücken. »Eine ausgezeichnete Wahl. Ich bewundere Ihren Geschmack für Poesie.« Er sah zu der Tür hinüber, durch die sie gerade gekommen war, dann wanderte sein Blick zurück zu ihr. »Wenn auch nicht die Wahl Ihrer Buchhandlung.«

Sie sah ihn mit offenem Mund an. Seltsamerweise war sie befangen, ja verlegen.

»Andererseits …« Einer seiner Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Wenn Sie Ihre Bücher so behandeln, sollte ich vielleicht erleichtert sein, dass Sie Wallis’ Laden frequentieren und nicht meinen.«

Sie schluckte schuldbewusst. »Ich … ich passe normalerweise besser auf.«

Seine blaugrünen Augen funkelten – ganz offensichtlich neckte er sie nur. »Das freut mich zu hören.«

Dann verbeugte er sich. »Guten Tag, Miss Summers.«

Damit drehte er sich um und ging.

Sie sah ihm nach. Er lief die Promenade hinunter und tippte sich jedes Mal an den Hut, wenn er an einer Dame vorbeikam. Emily nahm an, dass sie ihn auf jeden Fall auch früher schon gesehen hatte, zumindest von Weitem, doch sie war ganz sicher, dass sie einander nie vorgestellt worden waren. Mr Wallis jedenfalls hatte sich nicht dazu herabgelassen.

Woher wusste er also ihren Namen?

Sarah saß an ihrem Nähtischchen im Salon und stickte Blümchen auf ein Nadelkissen. Das Tischchen besaß verschiedene Fächer für die Nähutensilien. In dem seidenen Beutel darunter befanden sich Stoffreste.

Während sie stickte, musste sie unwillkürlich an Callum Henshall denken. Der musikalische Schotte und seine Stieftochter waren im letzten Frühjahr ihre ersten Gäste gewesen. Als sie abreisten, hatte er ihr ein kleines Andenken hinterlassen – und ein Herz, zerrissen zwischen Pflicht und Sehnsucht.

Sarah legte ihre Stickarbeit beiseite. Sie zog eines der Fächer des Nähtischchens auf und entnahm ihm vorsichtig eine dornige Distel – mit stacheliger Knolle und getrocknetem Blütenstand, das Symbol Schottlands. Mr Henshalls gut aussehendes Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Sie dachte an die warme Bewunderung, gemischt mit leichter Trauer, mit der er sie angesehen hatte. Einen Augenblick wurde sie ganz still und blickte wehmütig und gedankenverloren auf ihre Erinnerungen.

Dann betrat Georgiana das Zimmer, einen Brief in der Hand. »Effie hat wieder geschrieben. Erinnerst du dich an Effie?«

Sarah blickte erschrocken auf. Sie spürte, wie sie rot wurde, als sei sie bei etwas Unrechtem erwischt worden. Zum Glück konnte ihre kleine Schwester nicht ihre Gedanken lesen.

Verstohlen schob sie die Distel wieder in das Fach und antwortete: »Natürlich erinnere ich mich an Effie.«

Georgiana hatte während des Aufenthalts ihrer Gäste Freundschaft mit dem jungen Mädchen geschlossen und Sarah hatte beide, Effie und ihren Vater, Mr Henshall, lieb gewonnen. Tatsächlich dachte sie wesentlich häufiger an den freundlichen, attraktiven Witwer, als sie sollte.

»Sie hat dich erwähnt«, sagte Georgie und warf den Brief auf das Tischchen.

Dann wandte sie sich zum Gehen. Sarah sah, dass sie Mütze, Jacke und Halbstiefel trug, offenbar wollte sie ausgehen.

»Wo willst du denn hin?«

»Zum Cricket auf Fort Field.«

»Wer spielt sonst noch?«

Georgiana zuckte die Achseln. »Dieser Lehrling, Billy Hook, wird da sein. Und hoffentlich noch ein paar andere Jungen.«

»Mädchen auch?«

Erneutes Schulterzucken. »Hannah hat versprochen zu kommen. Ich glaube aber kaum, dass sie auch spielen wird. Sie kommt meistens nur, um die Jungen anzugaffen.«

»Nun gut, wenn deine Freundin auch dabei ist – dann wünsche ich dir viel Spaß!«

In ihrer Anfangszeit in Sidmouth hatte Mama darauf bestanden, dass ihre Töchter einander auf Spaziergängen und bei Besorgungen in den Ostteil der Stadt begleiteten. Inzwischen lebten sie jedoch schon fast ein Jahr hier und diese Regeln waren gelockert worden. Die Summerses vertrauten ihren Mitbürgern und fühlten sich sicher in der Gegend. Außerdem war das Spielfeld nur eine kurze Wegstrecke von Sea View entfernt.

Als Georgie fort war, überflog Sarah Effies Brief mit seinem typisch mädchenhaften Geplapper, bis sie an die Stelle kam, die sie betraf.

»Bitte grüße Sarah von mir und sag ihr, dass ich mindestens einmal im Monat an sie denke. Sie wird wissen, was ich meine!«

Sarah musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie dem Mädchen einige Gegebenheiten im Leben einer Frau erklärt hatte, doch dieses Lächeln verging ihr rasch, als sie merkte, dass das die einzige Nachricht war, die ihr galt.

In den früheren Briefen hatte Effie in der Regel auch Grüße von ihrem Stiefvater ausgerichtet, doch diesmal nicht. Vielleicht hatte Mr Henshall sie vergessen. Oder er hatte eine andere Frau kennengelernt. Und warum auch nicht? Schließlich hatte sie seine Avancen und sogar seine Bitte, ihr selbst schreiben zu dürfen, abgelehnt.

So ist es auch am besten, sagte sie sich.

Doch ihr Herz war anderer Ansicht.

Das Dinner an diesem Abend war eine erfrischend zwanglose Angelegenheit, dachte Sarah, als sie ihren Blick über die Tafel schweifen ließ. Mr und Mrs Johnson und ihre Söhne waren abgereist, der einzige Gast zurzeit war Simon Hornbeam.

Mr Hornbeam wohnte nun schon mehrere Monate bei ihnen. Er war ein liebenswürdiger Herr von zweiundsechzig Jahren, der so etwas wie ein Familienmitglied geworden war, fast wie ein gütiger Großvater. Er war als Gast geblieben – offenbar war er finanziell bessergestellt als Mr Gwilt –, nachdem sein erwachsener Sohn ihm nicht nach Sidmouth gefolgt war. Zudem hatte er hier eine frühere Freundin wiedergetroffen, eine Miss Reed, was wahrscheinlich mit der Grund war, warum er so lange blieb.

Als sie anfingen zu essen, fragte Emily: »Warum der Herzog von Kent wohl nach Sidmouth kommt … zumal in dieser Jahreszeit? Woolbrook Cottage kann doch bestimmt nicht mit dem Kensington Palace mithalten.«

Sarah meinte: »Der Captain hat doch gesagt, die Gesundheit der Herzogin erfordere ein milderes Klima.«

»Das mag der offizielle Grund sein«, sagte Mr Hornbeam. »Aber bestimmt nicht der einzige.«

Alle sahen ihn an. Der ältere Mann war Beamter im Unterhaus gewesen, bis sein Augenlicht nachließ. Er hatte noch immer viele Bekannte im Parlament und wusste stets sehr viel mehr als die anderen über die Regierung und die königliche Familie.

Als wüsste er, dass er beobachtet wurde, ließ er nachdenklich den Kopf sinken und rückte seine dunkle Brille zurecht. »Es ist wohl kaum ein so großes Geheimnis, dass ich es nicht ansprechen darf. Im Gegenteil, in politischen Kreisen ist durchaus bekannt, dass Prinz Edward Schulden hat. Was mich betrifft, so glaube ich, dass er ein kluger Kopf und sehr belesen ist, jedoch schon sehr lange über seine Verhältnisse lebt. Ein Londoner Ausschuss, zu dem auch sein Rechnungsprüfer gehört, hat ihm empfohlen, sich ein wenig einzuschränken. Er kommt in erster Linie hierher, um Kosten zu sparen.«

»Ah so«, meinte ihre Mutter. »Wir sind also nicht die Einzigen, die sich aus finanzieller Rücksicht einschränken müssen.«

»Keineswegs. Sie sind in guter Gesellschaft. In sehr erlauchter Gesellschaft sogar.«

»Ich weiß, dass ich das eigentlich wissen müsste«, sagte Emily, »aber wo steht er eigentlich in der Reihe der Thronfolger?«

»An vierter«, antwortete Mr Hornbeam. »Aber er galt lange Zeit als der stärkste und gesündeste seiner Brüder. Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass er eines Tages König werden könnte, und in diesem Fall wäre seine kleine Tochter die Nächste in der Reihenfolge.«

»Was ist mit seinen älteren Brüdern?«

Ihr Gast schüttelte den Kopf. »Keine legitimen Erben. Seit dem Tod der Tochter des Prinzregenten haben die anderen Söhne des Königs geradezu darin gewetteifert, einen legitimen Erben zu zeugen, um sich die Nachfolge zu sichern. Prinz Edward ist es als Erstem gelungen. Es besteht noch die Möglichkeit, dass sein älterer Bruder, der Herzog von Clarence, eine Familie gründet, aber wenn nicht, könnte unsere neue kleine Nachbarin durchaus die nächste Königin von England werden.«

»Du lieber Himmel«, hauchte Sarah. »Da sollten wir uns aber von unserer besten Seite zeigen, wenn sie kommen.«

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Kapitel 4

Die Entourage des Herzogs erreichte Woolbrook Cottage am Heiligabend. Bei ihrer Ankunft war es bitterkalt.

Deirdre Murphy, Die junge Viktoria

Dezember 1819

Da die Gäste aus dem Gefolge des Herzogs nun jeden Tag in Sea View erwartet wurden, hatten die Summerses beschlossen, ihre eigene Weihnachtsfeier dieses Jahr sehr schlicht zu halten.

Ihre finanzielle Lage war nach wie vor angespannt, deshalb beschränkten sie sich auf handgearbeitete Geschenke – Dinge, die die Geberinnen selbst nähen oder basteln konnten. Damit waren Emily und Georgiana ganz entschieden im Nachteil.

Emily beschloss, für jedes Familienmitglied ein Gedicht zu verfassen und auf eine Karte zu schreiben. Zu diesem Zweck holte sie endlich wieder einmal ihre lange nicht benutzten Aquarellfarben heraus.

Georgiana hatte noch keine Ahnung, was sie anfertigen konnte.

Sarah meinte: »Du brauchst nichts zu machen, Georgie. Geschenke sind eigentlich überhaupt nicht nötig.«

»Ich kann doch nicht als Einzige nichts schenken!«

»Dir wird schon etwas einfallen«, tröstete Mama sie. »Irgendetwas Kleines.«

Am sechsten Dezember feierten sie den Nikolaustag und tauschten danach ihre bescheidenen Geschenke aus: bestickte Nadelkissen, Taschentücher, Duftmischungen, die Sarah aus getrockneten Blütenblättern hergestellt hatte, und Emilys scherzhafte Gedichte mit Zeilen wie Für Sarah, unsere sichere Bank. Sie arbeitet schwer, ihr gebührt unser Dank …

Als alle Geschenke überreicht waren, erhob sich Mama und sagte: »Ich danke euch allen.«

»Moment, ich habe auch noch etwas für euch!« Georgie sprang auf und reichte Blätter im Quadratformat mit handgemalter Umrandung herum, auf denen groß das Wort Gutschein geschrieben stand.

»Ich habe für jeden von euch einen Gutschein geschrieben. Den könnt ihr bei mir gegen eine Dienstleistung einlösen.«

»Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Sarah.

Mama las ihren Gutschein und blickte lächelnd auf. »›Gilt für einen langen Spaziergang, gefolgt von einer Fußmassage‹. Perfekt.«

Sarah las als Nächste vor. »›Hilfe beim Sieben von Mehl, Reiben von Zucker und Küchesaubermachen nach dem Backen‹.« Sie nickte. »Das Angebot nehme ich dankend an.«

»Meins ist das Beste«, sagte Emily und schwenkte ihren Gutschein. »›Gilt für einmal Toilette reinigen‹.« Sie wandte sich an ihre Zwillingsschwester. »Und was hast du, Vi?«

»Sie verspricht, Mrs Denby eine Stunde lang vorzulesen.«

Emily schnaubte in gespielter Empörung. »Das ist ein Privileg, keine Dienstleistung!«

Georgie kicherte. »Glaubst du, das weiß ich nicht?«

Viola sah ihre jüngste Schwester liebevoll an. »Trotzdem macht mich nichts glücklicher, als wenn du Zeit mit Mrs Denby verbringst. Vielen Dank, Georgiana.«

Am nächsten Tag – Emily half Jessie gerade dabei, den Frühstückstisch abzuräumen – fiel ihr die Halskette auf, die das Dienstmädchen trug. Es handelte sich um ein kleines Holzkreuz an einer schlichten Kette. Das Kreuz war sehr kunstvoll geschnitzt und glänzend poliert. Emily konnte sich denken, welcher gut aussehende Fischer es hergestellt hatte, denn sie hatte oft gesehen, dass Tom Cordey nach einem langen Arbeitstag in seiner Freizeit noch an einer Schnitzarbeit saß. Und sie hatte auch gesehen, wie Jenny errötete und lächelte, wenn der junge Mann in der Nähe war.

»Der Anhänger ist neu, oder?«, fragte Emily. »Ein Geschenk von Tom?«

»Ja, Miss.« Jessie errötete und senkte den Kopf.

»Er ist sehr hübsch.«

»Das finde ich auch.«

Schnee gab es nur selten in Sidmouth, doch dieses Jahr fiel er in dicken, dichten Flocken und verwandelte die Strandpromenade in einen knirschenden weißen Traumpfad, rahmte die Schaufenster der Geschäfte, überzog die Bäume mit einer Zuckerglasur und legte ein weißes Tuch über sämtliche Grabsteine im Kirchhof. Sogar die Hänge des Peak Hill und des Salcombe Hill waren weiß bestäubt.

Der Vater und der Bruder des Majors waren über die Feiertage nach Westmount gekommen, deshalb luden die Huttons die Summerses am Heiligabend zu einem frühen Dinner ein. So holten die Damen ihre wärmsten Mäntel aus dem Schrank und wanderten hinaus in die schneebedeckte Landschaft, um den Abend mit ihren Verwandten zu verbringen. Der Freund des Majors, Mr Sagar, nahm ebenfalls am Dinner teil.

Später, bei der Rückkehr nach Sea View, trafen sie Mr Gwilt und Lowen beim Dekorieren der Haustür mit Kiefernzweigen, Stechpalmen und Efeu an.

Sarah strahlte. »Was für eine wunderhübsche Überraschung!«

Die anderen pflichteten ihr bei und lobten die Männer sehr.

»Es war Gwilts Idee«, sagte Lowen und nickte dem jüngeren Mann zu.

Mr Gwilt legte dem Älteren eine Hand auf die gebeugte Schulter. »Und ohne Sie hätte ich es nicht geschafft.« Er drehte sich um und fügte hinzu: »Wir wollten alles schön machen für unsere wichtigen Besucher, nicht wahr?«

»Jawohl, das wollten wir.«

In diesem Augenblick lenkte das Geräusch klappernder Hufe und das Klingeln von Pferdegeschirr ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Kutschen, die die Glen Lane heraufgefahren kamen. Die Lampen an den Seiten der Gefährte brannten hell.

Emily hauchte: »Gerade rechtzeitig.«

Sie und die anderen eilten ins Haus, wo es wärmer war. Sie gingen in die Bibliothek und traten an die Fenster, von wo aus sie beobachteten, wie die Kavalkade vorüberfuhr: zwei Reisekutschen, eine größere Kutsche und ein Phaeton, die allesamt von einer bunt zusammengestellten Schar von Pferden gezogen wurden.

»Wie schrecklich, in einer so kalten Nacht mitten in einem Schneesturm reisen zu müssen«, sagte Sarah.

Emily nickte. »Und dazu noch an Weihnachten.«

»Seht nur! In der einen Kutsche ist ein Vogelkäfig!«, rief Georgie. »Das arme Ding darin muss doch fast erfroren sein!«

»Und könnt ihr die Herzogin sehen?«, fragte Emily und verbog sich fast den Hals beim Hinausschauen.

Mama kniff die Augen zusammen. »Schwer zu sagen.«

»Wir haben keine Zeit, hier herumzustehen und zu gaffen«, mahnte Sarah. »Unsere neuen Gäste können jede Minute eintreffen. Schnell, zieht eure Mäntel aus. Oje – ich muss auch noch den Fußboden im Gang wischen, wir haben so viel Schmutz mit hereingebracht!«

»Ich kümmere mich darum, Miss Sarah«, beruhigte Mr Gwilt sie. »Machen Sie sich nur in Ruhe fertig.«

»Ja, meine Liebe, du musst nach deinem Haar schauen«, meinte Mama. »Der Wind hat die Haarnadeln gelöst.«

»Warum bin ich bloß so nervös?«, fragte Georgie.

»Das bin ich auch«, meinte Emily. Sie legte ihren Muff beiseite und zog ihren Mantel aus.

»Beeilt euch«, drängte Sarah, »wir können nicht alle herumflattern wie aufgescheuchte Hühner, wenn sie kommen. Los! Los!«

Alle liefen auseinander, räumten ihre Sachen fort, machten sich frisch und bereiteten sich auf ihre Gäste vor.

Als kurz darauf der Türklopfer der Vordertür erklang, wollte Emily loslaufen, um zu öffnen, doch Sarah packte sie am Arm und flüsterte: »Lass Jessie gehen. Wir wollen doch wenigstens so tun, als ob wir vornehm sind.«

Georgiana grinste. »Dann sollte ich mich wohl lieber davonstehlen.«

»Es ist auf jeden Fall besser, wenn wir nicht alle gleichzeitig über sie herfallen«, sagte Mama. »Ich warte im Salon. Ruft mich, wenn ich euch helfen kann.«

Emily folgte Sarah in die zum Büro umfunktionierte Bibliothek und stellte sich neben den Schreibtisch. Sarah selbst saß am Schreibtisch, vor ihr lag das Meldebuch.

Jessie führte drei Männer herein. Auf ihren Hutkrempen und Schultern lag Schnee.

Der erste war Mr Thomson, der Privatsekretär, der Captain Conroy bei seinem ersten Besuch in Sea View begleitet hatte.

Er sah aus, wie Emily ihn in Erinnerung hatte: hochgewachsen, dunkelhaarig und dunkeläugig, mit einer schmalen, aristokratischen Nase und schlanker, athletischer Gestalt. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig. Momentan hätte er dringend eine Rasur gebraucht, die Bartstoppeln ließen sein helles Gesicht dunkel erscheinen und machten ihn älter, als er war.

»Mr Thomson, wie schön, Sie wiederzusehen«, sagte Sarah.

Er verbeugte sich. »Miss Summers.« Dann drehte er sich zu Emily und nickte ihr zu. Sein Blick ruhte einen Moment auf ihr, bevor er sich abrupt wieder abwandte.

Sarah schob ihm das Meldebuch hin.

Er stellte seine Reisetasche und einen langen, schmalen Koffer ab und trug sich mit einer eleganten Handschrift als James Thomson, Esq. ein.

»Wir geben Ihnen ein Zimmer mit Meerblick.« Sie händigte ihm den Schlüssel für das Ahorn-Zimmer aus; bevor sie das Haus in ein Gästehaus verwandelt hatten, war dies Emilys Zimmer gewesen.

»Meerblick klingt ausgezeichnet, danke.«

»Wenn Sie bitte kurz warten, während ich die anderen Schlüssel ausgebe, dann erkläre ich Ihnen noch, wie wir es mit den Mahlzeiten und den anderen Dingen halten.«

»Natürlich.« Er trat zur Seite.

Emily mischte sich ein: »Schon gut, Sarah, Mr Thomson braucht nicht zu warten. Ich kann ihm sein Zimmer zeigen und alles erklären. Ich habe deine Rede so oft gehört, dass ich sie auswendig kann.« Sie schenkte den Männern ein gewinnendes Lächeln und sah ihre Schwester fragend an.

Sarah erwiderte ihr Lächeln leicht gezwungen. »Sehr schön, Emily.«

Diese ignorierte die Verärgerung ihrer Schwester. Sie warf dem hochgewachsenen, attraktiven jungen Mann einen auffordernden Blick zu, griff nach einem Leuchter und deutete auf die Tür. »Wollen wir?«

»Ja, gerne.«

Durch seinen Tonfall leicht verunsichert, warf sie ihm einen erneuten Blick zu, doch sein Gesichtsausdruck war ernst und unergründlich.

Mr Gwilt erbot sich, die Tasche des Mannes zu tragen.

»Danke.« Mr Thomson reichte ihm mit einem höflichen Nicken sein Gepäck.

Emily ging voran nach oben. »Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt in Sidmouth genießen. Natürlich ist der Ort kaum mit London zu vergleichen. Wie langen waren Sie dort?«

»Etwa acht Monate. Davor waren wir in Deutschland, wo der Herzog vor seiner Rückkehr nach England gelebt hat.«

»Deutschland. Sehr interessant.«

»Ja, Bayern ist sehr schön.«

»Sprechen Sie Deutsch?«

»Ich kann mich verständlich machen.«

»Sehr beeindruckend.«

Oben an der Treppe wandte sie sich nach links. Als sie vor dem ersten Zimmer stehen blieb, verspürte sie einen leichten Stich in der Brust. Hier hatte Mr Stanley während seines Aufenthalts gewohnt. Der junge Mann hatte den Eindruck erweckt, als verehre er sie, doch später hatte sie erfahren, dass er verlobt war und eine andere heiraten würde. Sie schob die Erinnerung an ihn fort, öffnete die Tür und betrat den Raum vor Mr Thomson.

Das Zimmer besaß große Fenster aufs Meer hinaus und – sehr praktisch und bequem – ein Ankleidezimmer.

Er sah sich um. »Sehr hübsch.«

Dann wollte er Mr Gwilt, der seine Tasche getragen hatte, eine Münze geben.

Mr Gwilt zögerte und sah Emily fragend an. An bestimmte Gepflogenheiten musste er sich erst noch gewöhnen.

Sie nickte ermutigend. Er nahm die Münze entgegen.

»Vielen Dank, Sir.« Damit verließ er das Zimmer, um den anderen Gästen zu helfen.

Emily zögerte. »Darf ich Sie etwas fragen? Was genau tut ein Privatsekretär?«

»Diktate aufnehmen, Briefe beantworten, Korrespondenz führen. Darüber hinaus habe ich Einblick in die Wohltätigkeitsprojekte des Herzogs und beantworte die vielen Bitten um Unterstützung durch Seine Königliche Hoheit. Dieser Teil interessiert mich eigentlich am meisten.«

»Das klingt interessant«, sagte Emily und dachte, dass Viola ihn wahrscheinlich sehr interessant finden würde.

Sie fuhr fort: »Hoffentlich bedauern Sie es nicht, in Sea View untergebracht zu sein. Sie hätten es sicher vorgezogen, in Woolbrook oder mit dem anderen Personal in Fortfield Terrace zu wohnen.«

»Überhaupt nicht«, antwortete er. »Im Gegenteil, es war mein Wunsch, hier zu wohnen.«

»Wirklich? Warum?«

Er sah sie an, wandte den Blick aber sogleich wieder ab. »Ich hatte meine Gründe.«

Sie überlegte, was das wohl für Gründe sein mochten, und ermahnte sich, sich nicht etwa geschmeichelt zu fühlen. Schon zu oft hatte sie sich von schmeichelnden Worten täuschen lassen.

Der Impuls, mit einem attraktiven Mann zu flirten, war ihr nicht abhandengekommen, dachte sie, doch sie unterdrückte ihn. Diesmal würde sie vorsichtiger sein. Sie hatte keinerlei Verlangen, abermals verletzt zu werden.

Im Büro hieß Sarah den nächsten, ebenfalls dunkelhaarigen Mann lächelnd willkommen. Er hatte eine breite Nase, olivfarbene Haut und haselnussbraune Augen und war ein wenig älter als Mr Thomson, vielleicht Anfang dreißig.

Er stellte sich als Antoine Bernardi vor, Hilfskoch und Konditor, und trug sich mit schwungvoller Unterschrift in das Meldebuch ein.

Sarah war fasziniert von seiner Berufsbezeichnung. Sie war ein wenig unsicher, wie ihre Mutter es aufnehmen würde, dass ein Koch in Sea View wohnte, und beschloss, ihn als den Konditor des Herzogs vorzustellen, das klang etwas eindrucksvoller.

»Möchten Sie auch ein Zimmer mit Meerblick?«, fragte sie.

»Ein Zimmer neben der Küche wäre mir angenehmer.«

Sie sah überrascht auf. »Mr Bernardi, Sie sind unser Gast. Wir erwarten von Ihnen nicht, dass Sie uns in der Küche helfen.«

Er zuckte die Achseln. »Die Macht der Gewohnheit.«

Meinte er damit, dass er daran gewöhnt war, in der Nähe der Küche zu schlafen, oder dass die Mithilfe in der Küche eine Gewohnheit war, die er auch während seines Aufenthalts in Sea View beibehalten wollte? Bestimmt musste er doch jeden Morgen sehr früh gehen, um dem Chefkoch in Woolbrook zu assistieren, und auch während der Mahlzeiten dort anwesend sein. Zumindest hoffte Sarah das. Sie beschloss, die Aussage unkommentiert zu lassen, und gab dem Mann den Schlüssel zum Weiden-Zimmer.

Er trat beiseite. Hinter ihm erschien ein dritter Mann, der einen fast einen Meter langen Holzkasten mit Eisenbeschlägen trug. Er war verschlossen und mit einem Schloss gesichert. Außer dieser Truhe hatte er noch einen Koffer und eine kleinere Reisetasche. Aus seiner gebückten Haltung und den Halsmuskeln, die sich über seiner Krawatte anspannten, schloss sie, dass das Ganze sehr schwer sein musste.

»Oh!«, rief Sara aus, »stellen Sie das doch ab! Es sieht furchtbar schwer aus!«

»Das ist es auch.« Er setzte seine Last mit einem hörbaren Klirren auf den Schreibtisch und stieß die Luft aus.

Dieser dritte Mann hatte rotes Haar und kritzelte seine Unterschrift in flüchtiger Eile hin.

Sarah versuchte sie zu entziffern. »Mr … Deering?«

»During. Selwyn During.«

»Ah. Willkommen, Mr During.«

Er fragte drängend: »Haben die Zimmer denn auch alle stabile Schlösser? Bitte geben Sie mir ein Zimmer mit einem wirklich sicheren Schloss!«

Sarah blinzelte überrascht, doch sie beeilte sich, ihn zu beruhigen. »Alle unsere Gästezimmer sind mit neuen Schlössern ausgestattet.« Nach kurzem Zögern entschloss sie sich dagegen, ihm das Zimmer mit dem kleinen Nebenzimmer zu geben, da die Tür zwischen den beiden Zimmern nur den üblichen Riegel besaß.

»Gibt es noch irgendwelche Wünsche, die ich berücksichtigen sollte? Meerblick oder Blick auf den Ort oder ein ruhiges Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses?«

»Ich würde ein ruhiges Zimmer vorziehen, ein wenig abgelegen von den anderen«, antwortete er. »Und ohne Zugang von einem der Fenster im Erdgeschoss.«

Mr Bernardi, so sah sie, verdrehte die Augen bei dieser Bitte.

»Sehr gern. Das Eichen-Zimmer oben auf der Rückseite des Hauses. Es ist eines unserer größten.« Sie wollte dem Mann den Schlüssel aushändigen, sah jedoch, dass er keineswegs noch mehr tragen konnte.

Nachdem sie die Mahlzeiten und Ruhestunden besprochen hatte, stand sie auf und führte die Männer zu ihren Zimmern.

Mr Gwilt wartete in der Halle. Er blickte auf Mr Durings Last und bot in seinem liebenswerten Waliser Akzent an: »Darf ich das für Sie tragen, Sir? Sieht ganz schön schwer aus.«

During zögerte und sah ihn misstrauisch an. »Wer sind Sie?«

»Robert Gwilt, Sir.«

»Mr Gwilt hilft uns im Haus«, erklärte Sarah, überrascht von seinem Misstrauen. War es nicht üblich in Gasthäusern und Hotels, dass man den Gästen mit ihrem Gepäck half? Was befand sich wohl in der Truhe?

Mr During straffte seine schmalen Schultern und drückte die schmächtige Brust heraus. »Ah. Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, guter Mann, aber die Sicherheit dieser Truhe obliegt meiner ganz persönlichen Verantwortung.«

»Mir dürfen Sie helfen«, meinte Mr Bernardi und reichte Mr Gwilt mit einem freundlichen Lächeln seine Reisetasche.

»Mit Vergnügen, Sir.« Mr Gwilt nahm die Tasche, dann streckte er seine freie Hand nach dem großen Seesack in der anderen Hand des Kochs aus. »Das auch?«

»Nein, danke.« Bernardi hob den Rucksack, aus dem ein langer hölzerner Stößel und mehrere andere Gerätschaften herausschauten, an. »Die Requisiten meines Berufs trage ich lieber selbst.«

»Sehr gern, Sir.«

»Gut. Hier entlang bitte, Gentlemen.« Sarah ging voraus, die lange Treppenflucht hinauf, die in das Stockwerk mit den Schlafzimmern führte.

Oben an der Treppe wandte sie sich nach links. Ein Stückchen weiter befand sich das Wasserklosett, dann gingen sie an Mr Thomsons Zimmer vorbei.

Vor dem nächsten Zimmer blieb sie stehen und beherrschte sich gerade noch, nicht mit der Hand über die Tür zu streichen. Dies war Mr Henshalls Schlafzimmer gewesen und sie konnte nicht daran vorbeigehen, ohne an ihn zu denken. In Erinnerung an ihn hatten sie das Zimmer nach der in Schottland weit verbreiteten Waldkiefer benannt.

Sie führte Mr Bernardi ins Weiden-Zimmer, ein Eckzimmer, von dem aus man nur einen eingeschränkten Blick aufs Meer hatte, das jedoch näher an der Hintertreppe lag, falls er den Wunsch, in der Nähe der Küche zu wohnen, tatsächlich ernst gemeint hatte.

Zum Schluss zeigte sie Mr During das Zimmer ganz hinten auf dem Flur, gegenüber vom Wäscheschrank und der Hintertreppe. Es war das Zimmer ihres Vaters gewesen und lag tatsächlich etwas zurückgesetzt von den anderen.

Sie öffnete die Tür und trat vor ihm ein. »Passt Ihnen das?«

Er sah sich um und stellte die Truhe krachend auf eine Kommode. Sarah zuckte innerlich zusammen; bestimmt hatte er die polierte Holzoberfläche zerkratzt.

Er drehte sich zur Tür. »Verzeihen Sie. Darf ich …?«

Sie gab ihm den Schlüssel und trat beiseite, damit er das Schloss prüfen konnte. Schließlich nickte er, ohne sie anzusehen. »Ja, das genügt. Wer außer mir besitzt einen Schlüssel zu diesem Zimmer?«

»Wir haben einen Zweitschlüssel, damit wir ins Zimmer können, um es zu reinigen, wenn der Gast abwesend ist.«

»Und wo wird dieser Schlüssel aufbewahrt?«

»In einer Schublade des Schreibtischs im Büro.«

»Hmm … ich werde darüber nachdenken.«

Sarah sah ihn etwas beunruhigt an. »Nun – lassen Sie es mich wissen, wenn Sie noch etwas brauchen.«

Er nickte, doch sein Ausdruck blieb ernst. Er war sicher höchstens dreißig, doch er wirkte älter, düster, beinahe verstört. Ob er sich wohl jemals über irgendetwas freute?

Sie hatte kaum das Zimmer verlassen, da hörte sie auch schon, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Überrascht sah sie zur Tür, doch dann ging sie weiter.

Mr Bernardi stand auf dem Flur, an den Türrahmen gelehnt, mit verschränkten Armen.

»Machen Sie sich keine Gedanken wegen During. Er hat eine etwas übertriebene Auffassung von seiner Wichtigkeit.«

»Warum? Welche Aufgabe hat er denn im Haushalt des Herzogs und der Herzogin?«

»Tafelschmücker und Verwahrer des Tafelsilbers.«

Sarah sah ihn leicht fassungslos an. »Das war die Truhe mit dem königlichen Tafelsilber? Soll das heißen, der Ärmste schleppt Gedecke für fünfzig Personen mit sich herum?«

Bernardi schüttelte den Kopf. »Woolbrook ist vollständig ausgestattet. Diese Truhe enthält Gegenstände zeremonieller Natur: silberne Kerzenleuchter und Auszeichnungen aus der Militärzeit des Herzogs. Solche Sachen.«

Sarah betrachtete nachdenklich die verschlossene Tür. »Er nimmt seine Verantwortung sehr ernst.«

Bernardi zuckte die Achseln. »Vermutlich. Aber er ist ein unerträglicher Langweiler.«

Sarah war neugierig, beschloss jedoch, sich nicht auf Tratsch über ihre Gäste einzulassen. »Wenn Sie sonst nichts mehr benötigen, sehen wir uns also morgen früh. Ach, und da morgen Weihnachten ist – wir gehen alle in die Kirche, falls Sie uns begleiten wollen.«

»Nein, danke«, lehnte er freimütig ab.

»Oh. Nun gut. Wie Sie wollen.«

Sarah ging weiter. Ihr war ein wenig unwohl, wenn sie an ihre neuen Gäste dachte. Warum hatten sie immer vor allem männliche Gäste? Sie überlegte, ob die Männer wohl verheiratet waren, schob die Frage dann jedoch energisch fort und sagte sich, dass das absolut keine Rolle spiele.

Am nächsten Morgen gingen Mama, Sarah und ihre Schwester zusammen in die Kirche. Mr Hornbeam begleitete sie. Viola und der Major waren schon dort, zusammen mit dem Bruder des Majors und seinem Vater. Auch Mrs Denby aus dem Armenhaus war gekommen, sie saß unter einer warmen Kniedecke in ihrem Rollstuhl, den der großzügige Major Hutton ihr geschenkt hatte.