Das Geheimnis der Apothekerin - Julie Klassen - E-Book

Das Geheimnis der Apothekerin E-Book

Julie Klassen

4,6

Beschreibung

In der Apotheke ihres Vaters ist Lilly Haswell glücklich, ist ihr doch jedes Kraut und jede Medizin vertraut. Dort kann sie die Dorfbewohner vergessen, die seit der Flucht ihrer Mutter keine Ruhe geben. Als sie nach London eingeladen wird, glaubt sie, nun endlich ihr Glück finden zu können. Doch als ihr Vater krank wird, entscheidet sie sich, die Apotheke zu übernehmen - wohl wissend, dass sie damit ihre gesamte Zukunft aufs Spiel setzt. Denn Frauen ist die Heilkunst versagt ...

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ISBN 978-3-7751-7107-6 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5079-8 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

Alle beschriebenen medizinischen Anwendungen und Methoden in diesem Buch entsprechen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand des 18. Jahrhunderts. Über die Wirksamkeit oder Gefährlichkeit der einzelnen Methoden und Arzneien kann dieses Buch keine Aussage treffen. Von einer Nachahmung wird ausdrücklich abgeraten.

2. Auflage 2012

© der deutschen Ausgabe 2010SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Apothecary's DaughterCopyright © 2009 by Julie KlassenOriginally published in English by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.Cover images used by permission of Bethany House Publishers.All rights reserved.

Übersetzung: SuNSiDe, Susanne Naumann und Sieglinde DenzelUmschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.chTitelbild: Mike Habermann Photography, Inc.Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Zur Erinnerung an meinen stets vergnügten,voller Ideen steckenden, hart arbeitenden VaterOktober 1937 – August 2008

HIRTENTÄSCHELDas Hirtentäschel ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Richtigkeit einer Beobachtung, die man immer wieder machen kann: Die Vorsehung hat es offenbar so eingerichtet, dass die nützlichsten Dinge zugleich die allergewöhnlichsten sind – und das scheint für uns ein Grund zu sein, sie zu missachten.

Prolog

Ich erinnere mich noch bis in jede Einzelheit daran, obwohl es schon viele Jahre her ist. Ich vergesse nämlich nie etwas.

Es war im Jahr 1810. Damals war ich fünfzehn. Ich stand auf der elegant geschwungenen Honeystreet Bridge, wie so oft, wenn ich gerade nicht im Geschäft meines Vaters gebraucht wurde, und beobachtete die bunten Boote, die vorüberfuhren – dort ein leuchtend blauer Frachtkahn, hier ein blauweißes Kanalboot. Genau genommen spähte ich nach etwas aus. Ich bemühte mich angestrengt, einen Blick auf das Gesicht jedes einzelnen Menschen auf jedem einzelnen Boot, das den erst kürzlich fertiggestellten K- und A-Kanal befuhr, zu erhaschen. Gelegentlich sah man auf einem solchen Boot auch Frauen, aber nur sehr selten. In der Regel arbeiteten nur Männer als Lotsen, Steuermänner oder Kaufleute auf dem Kanal, aber hin und wieder lebte auch eine ganze Familie auf einem Schiff, denn die Frauen und Kinder waren billigere Arbeitskräfte als eine reguläre Mannschaft.

Vor zwei Monaten hatte meine Mutter eines dieser Kanalboote bestiegen und war seither verschwunden – so tuschelten jedenfalls die Dorfbewohner, wenn sie glaubten, dass ich sie nicht hören konnte. Damals hoffte ich noch, dass sie zurückkommen würde, wie sie verschwand, und uns sagte, dass ihr Verschwinden nur ein Streich gewesen sei, ein Abenteuer, ein Versehen – was auch immer. Wie viele Stunden hatte ich hier schon gestanden? Wie viele Boote hatte ich unter der Brücke hindurchfahren sehen, Boote mit Namen wie Britannia, Strahlender Stern oder Standhaftigkeit? Beim Anblick eines jeden fragte ich mich, woher es wohl kam und wohin es fahren mochte. Welche Fracht führte es mit sich? Gewürze von den Westindischen Inseln vielleicht oder Tee aus China? Kohle aus den Midlands oder Holz aus Norwegen? Wie oft träumte ich davon, mein Bündel zu schnüren, Bedsley Priors Lebewohl zu sagen und in die unbekannte, lockende Ferne aufzubrechen!

Das gelbweiße Kanalboot, das sich an jenem Tag näherte, beobachtete ich jedoch aus einem völlig anderen Grund. Als es angelegt hatte, stieg unbeholfen ein schlaksiger Junge mit einem Seesack über der Schulter aus. Mein Vater, der am Ufer stand, streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen und genau in diesem Augenblick beugte sich der Junge vornüber und übergab sich.

Ich stöhnte. Das war kein guter Beginn. Vaters Schuhe waren höchstwahrscheinlich verdorben.

Dann seufzte ich tief auf. Ich wusste genau, dass ich jetzt eigentlich zu den beiden hätte hinuntergehen sollen. Vater hatte mich offenbar noch nicht gesehen, sonst hätte er mich längst gerufen, wie sonst auch. Jetzt, als Mutter fort und außer mir nur noch mein Bruder da war, dessen Geistesgaben nicht sehr weit reichten, hatte ich im Haushalt und auch im Geschäft viele Pflichten übernehmen müssen.

Nein, ich würde jetzt nicht hinuntergehen. Ich wollte lieber abwarten und den jungen Mr Baylor später begrüßen, wenn er sich wieder ein bisschen gefangen hatte. Dann konnte ich ihm Ingwertee kochen und einen alten Lappen für Vaters Schuhe heraussuchen. Eigentlich wollte ich aber nur noch ein bisschen auf der Brücke stehen bleiben.

Einige Minuten später näherte sich von Westen her ein blaurotes Kanalboot. Vielleicht kam es aus Bristol und war auf dem Weg zur Themse, auf der es dann weiter nach London fahren würde, das etwa hundertzwanzig Kilometer östlich lag. Ein Mann ging den Treidelpfad entlang und führte ein Pferd, das ein Boot zog. Auf dem Vorderdeck saß eine einzelne Person. Ganz hinten, hinter der Kabine, waren zwei Matrosen auf dem Achterdeck beschäftigt.

Als das Boot näher kam, sah ich, dass die Gestalt auf dem Vorderdeck eine Frau war. Sie hielt den Kopf gesenkt, wie ins Gebet versunken. Vielleicht las sie auch. Eine große Haube verbarg ihr Gesicht vor der Sonne – und vor mir. Mein Herz machte einen Sprung. Irgendetwas an der Haltung der Frau und der Neigung ihres Kopfes kam mir vertraut vor. Mutter hat immer so gern gelesen.

Ich beugte mich weit über das breite Brückengeländer. Mein Herz klopfte wie rasend. Das Boot kam langsam näher. Ich sah, dass der Mann, der das Pferd führte, braun gebrannt und breitschultrig war. Hatte meine Mutter uns für diesen Mann verlassen? Auf dem schmalen Uferstreifen unter der Brücke entschwand er kurzfristig meinem Blick. Dann tauchte der Schiffsbug in den Schatten des Brückenbogens ein. In diesem Augenblick blickte einer der beiden Männer auf dem Schiff zu mir herauf, aber ich nahm ihn kaum wahr. Stattdessen entzifferte ich den Namen des Bootes, der in schmucken Lettern auf die Seite gemalt war: Zigeunermädchen. Wiepassend, dachte ich. Das Gesicht der Frau konnte ich noch immer nicht erkennen.

Ich drehte mich um und lief auf die andere Seite der Brücke, von wo aus ich hoffte, einen besseren Blickwinkel zu haben, sodass ich sie im Vorbeifahren von der Seite sehen konnte.

Vielleicht ist ihr gar nicht bewusst, wo sie sich befindet, dachte ich. Sie wirkte völlig in ihr Buch vertieft. Sollte ich sie rufen?

Doch ich starrte sie nur weiter an. Ich hatte Angst, mich vor dieser Frau und vor den Männern, die in der nahegelegenen Sägemühle arbeiteten, lächerlich zu machen. Wenn ich doch nur einen einzigen Blick auf ihr Gesicht werfen könnte …

Ich blinzelte in dem Versuch, meinen Blick schärfer zu stellen. Da hörte ich ganz schwach eine Stimme. Jemand rief meinen Namen.

»Lilly!«

Das Boot fuhr weiter, den Kanal hinunter. Die Frau entschwand meinem Blick. Schau doch hoch, flehte ich im Stillen. Bitte, schau zu mir her!

Plötzlich schaute die Frau tatsächlich auf, aber sie sah nicht zu mir herüber, sondern zu dem Mann mit dem Pferd. Hinter mir hörte ich Schritte, die rasch näher kamen. Die Stimme klang drängend. Rief sie etwa nach mir?

»Lilly!«

»Hier bin ich!«, antwortete ich.

Als sie meine Stimme hörte, wandte die Frau sich um. Die Sonne schien sie zu blenden, denn sie legte eine Hand über die Augen. Als sie mich sah, zogen sich ihre Brauen verwirrt zusammen. Ich hob die Hand und winkte.

Langsam, zögernd hob die Frau ebenfalls eine Hand. Nicht einfach nur grüßend, sondern in einer Art feierlichem Gruß. Dabei sah ich endlich ihr Gesicht – es war das Gesicht einer Fremden, ein einfaches, freundliches Gesicht. In der Hand hielt sie kein Buch, sondern ein Kleidungsstück. Sie hatte genäht.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter und schüttelte mich. »Lilly?«

Noch ganz benommen löste ich meinen Blick von der langsam meinen Augen entschwindenden Gestalt und wandte mich um. Vor mir stand mein jüngerer Bruder Charlie. Er war völlig außer sich und atmete schwer. »Ich habe dich gerufen. Warum hast du mir nicht geantwortet?«

»Ich … ich dachte …« Ich blinzelte meine Vision fort und sah stattdessen seine geweiteten Augen, sein verängstigtes, tränenüberströmtes Gesicht. »Charlie, was ist denn los?«

»Es ist wegen Mary. Sie zittert so schrecklich. Vater schickt mich. Er braucht …« Er hielt inne, den Blick starr in die Luft, über mich gerichtet.

»Was braucht er?« Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich packte ihn an den Oberarmen, verzweifelt über seine mangelnde Fähigkeit, sich zu konzentrieren und zu erinnern.

Er stöhnte und biss sich auf die Unterlippe.

»Baldrian?«, schlug ich vor. »Ysop?«

Er schüttelte den Kopf. Die Augen hatte er zugekniffen in dem Versuch, sich zu konzentrieren.

»Moschussamen? Pfingstrose?«

»Pfingstrose!«, rief er. »Ja!«

Ich glaubte ihm nicht. »Aber die Pfingstrosentinktur steht doch im Regal. In dem Fläschchen mit der Aufschrift S: Poeniae.«

»Vater sagt, es ist leer!«

O Gott, nein.

»O Lilly! Sie zuckt so furchtbar. Muss sie sterben?«

»Nein!«, zischte ich, lief los und rief noch über die Schulter zurück: »Sag Vater, er soll Wasser aufsetzen!«

Ich kannte nur einen einzigen Ort, an dem ich Pfingstrosenwurzel bekommen konnte. Sie wuchsen in einem nahegelegenen Garten. Der Schweiß brach mir aus, nicht vor Anstrengung, sondern vor Angst. Angst um meine älteste Freundin. Angst um mich selbst. Angst, mit dem Betreten des Gartens das Gesetz zu brechen und seinen Zorn zu riskieren. Aber er war ja weit fort auf der Universität, oder nicht? Gott, lass ihn weit weg sein …

Ich rannte.

Ich war schon immer gern gerannt, durch das Tal oder auch die Kreidefelsen hinter Bedsley Priors hinauf. Doch diesmal machte es mir keine Freude. Diesmal rannte ich, weil ich keine andere Wahl hatte. Es würde viel zu lange dauern, nach Hause zurückzukehren und das kleine Ruderboot zu nehmen. Mrs Mimpurse hatte mich immer wieder ermahnt, nicht durch das Dorf zu rennen. Sie meinte, ich sei jetzt praktisch eine junge Dame und müsse mich auch wie eine solche benehmen. Doch ich wusste, dass unsere freundliche Nachbarin mich diesmal nicht ausschimpfen würde, weil ich rannte, denn Mary war ihre Tochter.

Ich lief die Sands Road hinauf und bog hastig nach rechts in die High Street ein. Dabei wäre ich beinahe mit einem Mann zusammengeprallt, der aus der Werkstatt des Stellmachers kam.

»Entschuldigung, Mr Hughes!«, rief ich, ohne meinen Lauf zu verlangsamen.

Ich sprintete über den Dorfanger, umrundete den Friedhof und lief am Hof von Owens vorbei zu Marlow House hinauf. Dort flitzte ich die Gartenmauer entlang und duckte mich tief, als ich zu dem geschlossenen Gartentor gelangte. Ich hatte schreckliche Angst, doch dann dachte ich an Mary, die sich vor Schmerzen krümmte, und stieß das Tor auf. Ein hohes Quietschen ließ mich zusammenzucken. Ich lief zum Gartenhäuschen, öffnete die Tür und griff nach dem erstbesten Spaten. Dann eilte ich zu dem Pfingstrosenbusch, dessen Blüten hochgebunden waren. Es waren die preisgekrönten Pfingstrosen der verstorbenen Lady Marlow. Ich schluckte, als mir bewusst wurde, dass ich keine Zeit hatte, rücksichtsvoll vorzugehen.

Als ich den Spaten in die Erde stieß, hörte ich den ersten zornigen Schrei. Ein Mann rief: »Aufhören!«, doch ich stieß den Spaten erneut in den Boden, diesmal noch tiefer. Dabei hörte ich rasche Schritte und Flüche auf der anderen Seite der Mauer – wahrscheinlich Mr Timms, der mürrische Gärtner der Marlows. Nur noch ein paar Sekunden und ich hatte die Wurzeln freigelegt. Ich stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht – zugegeben ein Fliegengewicht – auf den Spaten und grub wie eine Verrückte. Komm schon …

In dem Augenblick, in dem ich die Pflanze mit der Wurzel herauszog, tauchten der Kopf und die Schultern eines Mannes über der Gartenmauer auf. Es war nicht der mürrische Mr Timms. Es war viel schlimmer.

»Rühr dich nicht vom Fleck«, befahl der junge Mann. »Die gehören meiner Mutter.«

Ruhig bleiben … Ich hätte es ihm erklären können, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich wusste, dass Roderick Marlow jedes Frühjahr Pfingstrosen auf das Grab seiner Mutter legte. Und ich wusste auch, dass er unvorstellbar grausam sein konnte.

»Ich brauche eine …«, stammelte ich schließlich, »für eine Freundin.«

»Rühr dich nicht von der Stelle! Ich rufe den Konstabler.«

Ich hatte keine Zeit für Erklärungen und konnte auch nicht auf den Konstabler warten. Also sprintete ich durch den Garten zurück. Wieder hörte ich ihn fluchen. Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich, wie er über die Gartenmauer sprang. Dann hörte ich seine Schritte. Kiesel spritzten weg, als er mir mit Schritten, die doppelt so lang waren wie die meinen, nachsetzte. Ich hetzte durch das Gartentor und schlug es mit aller Kraft hinter mir zu. Ein zorniger Schmerzensschrei verfolgte mich über die ganze Wiese. Wieder blickte ich mich um; diesmal sah ich, dass ein Stallknecht einen Rappen aus dem Stall führte. Er war bereits gesattelt.

Nein!

Das Tor hinter mir öffnete sich quietschend. Roderick Marlow pfiff und rief: »Bring mir das Pferd, schnell!«

Sofort änderte ich meine Richtung. Ich wusste, dass er mich auf der Straße, auf der ich gekommen war, in wenigen Sekunden eingeholt hätte. Das durfte nicht sein. Also lief ich in den Wald. Äste zerkratzten meine Arme und Beine. Hinter mir hörte ich Pferdegetrappel, während ich mich durch das Unterholz zwängte. Auf der anderen Seite des Wäldchens überquerte ich ein schmales Weidestück. Plötzlich stand ich vor einem Schafzaun. Ich sprang hinüber, strauchelte, fing mich wieder, lief weiter. Pferd und Reiter hinter mir nahmen den Zaun ohne Verzögerung. Mir blieb nur noch ein einziger Ausweg. Vor mir befand sich die hohe Ligusterhecke des Friedhofs. Dahinter lag das Dorf. Mein Verfolger kam näher. Will er mich einfach umreiten?, fragte ich mich entsetzt. Wegen einer Pflanze, die Vater ihm mit Freuden bezahlen wird? Er würde es tun, daran hatte ich keinen Zweifel.

Ich lief die Hecke entlang. Da war es. Ich blieb abrupt stehen, mit dem Rücken zu der scheinbar undurchdringlichen Ligusterhecke. Roderick Marlow sprang vom Pferd und lief auf mich zu. Seine Augen funkelten vor Zorn. In der Hand hielt er die Reitpeitsche. Ich schluckte, zutiefst dankbar, dass mein langer Mantel den unteren Teil der Hecke verbarg. Warte noch, bis er ein bisschen weiter von seinem Pferd entfernt ist. Noch eine Sekunde …

Dann drehte ich mich mit einem Ruck um und tauchte in ein Loch in der Hecke, kaum groß genug für ein Kind. Der Hund des Pfarrers hatte es gegraben. Mein Herz drohte stehen zu bleiben, als ich spürte, wie Roderick Marlow versuchte, mich zu packen. Er bekam den Saum meines Kleides zu fassen, aber ich drückte mich durch das Loch hindurch und richtete mich auf der anderen Seite mühsam auf. Marlow fluchte laut und ich wusste, dass er nicht aufgeben würde. Wenn ihm doch nur das Pferd weglaufen würde, aber das würde ein so gut erzogenes Tier natürlich nicht tun. Aber wenigstens würde es ihn ein, zwei Sekunden kosten, wieder zu seinem Pferd zu laufen und aufzusteigen. Ich rannte über den Friedhof, durch das vordere Tor hinaus, die High Street hinunter. Vor mir tauchte schon unser Ladenschild auf, als ich plötzlich wieder Hufgetrappel hinter mir hörte. Wenn ich es nur noch schaffe, hineinzukommen und Vater die Wurzel zu geben, dann kann er mit mir machen, was er will. Lass mich nur rechtzeitig da sein, um Mary zu retten.

Ich riss die Tür auf und gab ihr einen Stoß, damit sie hinter mir zufiel. Aber Roderick Marlow hatte sie schon gepackt und stürmte nach mir hinein. Die Ladenglocke klingelte wie verrückt. Er packte meinen Arm, noch bevor ich meinem erschrockenen Vater die Wurzel geben konnte.

Roderick hob meine Hand mit der Pflanze hoch.

»Roderick Rupert Marlow!«, erklang plötzlich die gebieterische Stimme von Maude Mimpurse. »Leg das hin und lass das Mädchen los. Lillian Grace Haswell! Was habe ich dir gesagt über deine Angewohnheit, wie ein Straßenkind durchs Dorf zu stürmen?«

Roderick erstarrte und ich spürte erstaunt, wie er seinen Arm sinken ließ. Stimmt ja, dachte ich erleichtert. Unsere stämmige, dunkelhaarige Nachbarin war Marlows Kindermädchen gewesen. Ihre Autorität war geradezu legendär.

»Sie ist eine Vandalin und Diebin«, rief der erzürnte Marlow. »Sie ist in unseren Garten eingedrungen!«

»Sie sollte Pfingstrosenwurzeln für mich holen, Sir«, erklärte mein Vater. Sein Gesicht wirkte besorgt. »Es war ein Notfall. Miss Mary hat den schlimmsten epileptischen Anfall, den sie je hatte.«

Plötzlich nahm ich den gesamten Raum wahr. Ich fuhr herum. Durch die offenstehende Tür des Sprechzimmers sah ich meine Freundin still auf der Pritsche liegen. Tödlich still.

»Komme ich zu spät? Ist sie …?«

»Der Anfall ist vorüber«, sagte mein Vater. »Ich glaube, der Baldrian hat schließlich doch noch gewirkt.«

»Sie ist eingeschlafen, armes Lämmchen«, sagte Mrs Mimpurse. Ihre Stimme war wieder so sanft wie immer. »Sie war völlig erschöpft.«

Ich hielt die Pfingstrose hoch – Stängel und Wurzel. »Dann … habe ich die völlig vergeblich gestohlen?«

»Gestohlen? Du meine Güte«, sagte Mrs Mimpurse missfällig. »Wir sind doch Nachbarn, oder etwa nicht?«

»Ich werde Sie entschädigen, junger Herr«, bot Vater an und legte Roderick die Hand auf die Schulter. »Wir müssen auf jeden Fall neue Tinktur herstellen. Wenn Sie möchten, können wir aber auch versuchen, die Pflanze wieder einzusetzen.«

Roderick Marlow schüttelte Vaters Hand ab. »Nein. Halten Sie sich einfach nur von unserem Garten fern.« Er richtete seine brennenden Augen auf mich. Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Und lauf mir nicht mehr über den Weg.«

Ich sollte den Befehl fast drei Jahre lang befolgen.

Doch das war nicht annähernd lange genug.

Teil I

Das Haus eines Apothekers sollte ein Zimmer haben, von dem aus er durch ein kleines Fensterchen oder dergleichen diskret beobachten kann, ob seine Lehrlinge faulenzen oder ob sie fleißig bei der Arbeit sind …

C. J. S. Thompson, Mystery and Art of the Apothecary

Du bist mir entschwunden wie ein schöner Traum,vergeblich such ich dich.

George Linley, Komponist

1

MaiglöckchenErhöht die Leistungsfähigkeit des Gehirns, wirkt gegen Vergesslichkeitund hilft dem Gedächtnis wieder auf die Sprünge.

Culpeper's Complete Herbal

Lilly Haswell wusste, dass ihr ein langer Tag, eingesperrt in die vier Wände des Hauses, bevorstand. Sie war früh aufgestanden und atmete am Fenster die frische, herbe Luft eines Herbstmorgens in Wiltshire tief ein. Beim Herunterkommen nickte sie Mrs Fowler, die sich bereits am Herd zu schaffen machte, grüßend zu, verließ das Haus durch die Hintertür zum Garten und ging mit gemessenen Schritten durch das Dorf. Erst als sie um die Ecke des Pfarrhauses bog, beschleunigte sie ihr Tempo. Als sie den kleinen Hügel gegenüber von Bedsley Priors erreichte, machte sie sich fast im Laufschritt an den Aufstieg. Hin und wieder über eine Grasnarbe stolpernd, genoss sie das Prickeln in ihren Beinen und das Brennen in ihrer Lunge. Sie hielt erst inne, als sie den Gipfel erreicht hatte, den – zugegeben nur mäßig hohen – Grey's Hill. Als sie sich vornüberbeugte, um Atem zu schöpfen, fiel ihr das lange, rotbraune Haar über die Schultern. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, es ordentlich aufzustecken, obwohl sie wusste, dass sie das hätte tun sollen, vor allem jetzt, da sie nun doch schon achtzehn Jahre alt war.

Sie richtete sich wieder auf und genoss den Ausblick über Pewsey Vale mit seinen Kreidehügeln, den wenigen Bäumen und dem Abbild eines weißen Pferdes in der Ferne auf dem Kamm zwischen Milk Hill und Walker's. Sie hatte gehört, dass der Pfarrer von Alton Barnes häufig mit seinem Teleskop zum Adam's Grave, dem Hügelgrab oben auf dem Walker's Hill, stieg und von dort sogar die ferne Salisbury Cathedral sehen konnte. Lilly wünschte sich brennend, selbst einmal auf diesen Hügel steigen zu können, am liebsten an einem Sonntag nach dem Gottesdienst, wenn sie den ganzen Nachmittag für sich hatte. Sie hätte zu gern die Kirchturmspitze von Salisbury gesehen, ja sie würde fast alles darum geben, diesen Ort – und noch zahlreiche andere – mit eigenen Augen sehen zu können. Sie fragte sich, welche Anblicke und Freuden ihre Mutter wohl im Augenblick genießen mochte und wo sie wohl war. Sie war jetzt seit drei Jahren fort.

Lilly blickte auf das Dorf am Fuß des Hügels hinunter, mit seinem uralten Friedhof, den stillen Gassen und dem rechteckigen Dorfanger, auf dem lauter kleine Punkte zu sehen waren – weidende Schafe. Wie friedlich Bedsley Priors doch aussah! Und wie klein und unbedeutend.

Als ihre Mutter damals verschwand, war Lilly von einer Flut von Gefühlen überwältigt worden, einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Kummer und Schuldgefühlen. Sie war sich ganz sicher, dass sie, Lilly, irgendetwas gesagt oder getan haben musste, was ihre Mutter aus dem Haus getrieben hatte. Dennoch spürte sie zugleich ganz tief drinnen so etwas wie ein verbotenes Prickeln, eine Faszination, für die sie sich schämte. Sie schämte sich, aber trotzdem war irgendetwas anders geworden. Veränderung gebar Veränderung, das wusste sie, und inzwischen sehnte sie sich geradezu danach. Obwohl Lilly noch immer inständig darum betete, dass ihre Mutter zurückkehren möge, wusste sie doch genau, dass ihr Leben ohne diesen Einschnitt im alten Trott weitergegangen wäre. Sie wäre für immer gefangen gewesen, begraben in der Arbeit in einem unbedeutenden Geschäft in einem unbedeutenden Dorf. Und das, so wusste Lilly genau, wäre ihr niemals genug gewesen.

Sie seufzte tief auf und machte sich an den mühseligen, holprigen Abstieg, zurück zu den nie endenden Pflichten einer Apothekerstochter.

Vor dem Pfarrhaus verlangsamte sie ihren Schritt zu einem gemächlichen Schlendern und ging am Fleischerladen und am Krämer vorbei zum Kaffeehaus. Dort erspähte Mary sie durch das Fenster und bedeutete ihr, kurz zu warten. Lilly blieb stehen. Ihre Freundin kam an die Tür – ihre Freundin Mary, die seit fast einem ganzen Jahr keinen weiteren Anfall mehr gehabt hatte, wofür alle dankbar waren.

»Morgen, Lill.« Mary drückte ihr ein warmes, in Papier gewickeltes Päckchen in die Hand. »Das muss sein. Du musst doch was essen nach deinem langen … ähm … Spaziergang.« Mary lächelte wissend, ihre leuchtend blauen Augen unter den rotblonden Brauen strahlten.

Lilly nahm das Gebäck lächelnd entgegen. »Danke. Johannisbeere?«

»Was sonst? Jetzt lauf schon. Ich sehe dich später.«

Lilly knickste neckisch und ging über den Hof zum Laden ihres Vaters. Dabei fiel ihr auf, dass das Schild mit der Apothekerrose und der Aufschrift Charles Haswell, Apotheker schäbig aussah und dass die weiße Farbe an der Einfassung des vielfach geteilten Bogenfensters bereits abzublättern begann. Sie musste Vater sagen, dass das Holz einen neuen Anstrich brauchte.

Einen Augenblick lang stand sie einfach nur da und schaute durch das Ladenfenster, wie es ein Kunde tun mochte, während sie das süße Brötchen verspeiste, das Mary ihr gegeben hatte.

Drinnen, auf dem Fensterbrett, stand der große, kunstvoll gearbeitete Apothekermörser ihres Großvaters mit dem Haswell-Familienwappen, umgeben von farbigen Ballonflaschen mit fertig zubereiteten Arzneien. Sie trugen goldfarbene Aufschriften wie Royal English Drops, Gaskoins Pulver, Echte Venezianische Melasse und viele andere mehr.

Über drei Wände des Ladens zogen sich deckenhohe Regale, angefüllt mit langen Reihen blau-cremefarbener Gefäße aus Lambeth-Keramik. Auf jedem war in lateinischer Sprache sein Inhalt verzeichnet: C. ABSINTHII – Wermut, der zur Behandlung der Wassersucht eingesetzt wurde; O. VULPIN – Fuchsschwanz, destilliert in Quellwasser, gut für Brustbeschwerden.

Unter den Regalbrettern befanden sich zahllose Schubladenfächer für getrocknete Heilpflanzen, ihre Blätter, Samen oder Wurzeln.

Die vordere Theke war leergeräumt. Hier wurden Tabletten gepresst und Pillen gedreht. Auf der hinteren Theke befanden sich die Gerätschaften für die Herstellung von Arzneien und mehrere Nachschlagewerke, so zum Beispiel das Lewis's New Dispensatory und Culpeper'sComplete Herbal. Mörser und Stößel, Waagen, Fläschchen und Aderlassmesser, zusammen mit Auffangschalen für das Blut und Blutegeln, die in Gefäßen mit Wasser schwammen und ständig hungrig gehalten wurden, lagen und standen bereit.

Links neben der hinteren Theke führte eine Tür zur Labor-Küche, in der ihr Vater in Kupferröhren, die wie Schlangenhäute aussahen, Arzneien erhitzte und destillierte. Rechts davon lag die Tür zum Behandlungszimmer ihres Vaters, in dem er mit Patienten sprach oder sie zur Ader ließ.

Schon jetzt war der Laden voller Menschen. Es herrschte emsiger Betrieb. Vater hatte die Hand auf Arthur Owens Schulter gelegt und sprach in mahnendem Ton auf den alten Schweinezüchter ein. Ihr Bruder Charlie, drei Jahre jünger als sie, staubte die Regale ab. Francis Baylor, der siebzehnjährige Lehrling ihres Vaters, stand hinter der vorderen Theke und war mit Mörser und Stößel beschäftigt. Sie freute sich, die beiden Jungen so fleißig zu sehen, und drückte die Ladentür auf, wobei sie den vertrauten Klang der Ladenglocke kaum noch wahrnahm. Im Innern des Ladens wurde sie von dem gewohnten Stimmengewirr und den bekannten Düften begrüßt. Schätze aus fernen Ländern und nahen Tälern, getrocknet, zerstoßen oder destilliert, erfüllten die Luft mit einem intensiven, exotischen Aroma. Nur in Augenblicken wie diesem, wenn sie von den windumbrausten Hügeln herunterkam, nahm sie den komplexen, sich ständig ändernden Duft wirklich war.

An den Deckenbalken waren Bündel aus Mohn und Kamille, Salbei und Minze zum Trocknen aufgehängt. Dazwischen pendelte in leicht makabrer Pose mit weit aufgerissenem Rachen ein Alligator. Da ihm mehrere Zähne fehlten, wirkte er allerdings nur wenig bedrohlich.

Als sie drinnen war, sah Lilly, warum der Lehrling ihres Vaters einen so ungewöhnlichen Fleiß an den Tag legte. Er bediente die kokette Dorothea Robbins, deren Vater die Sägemühle und die Lastkahn-Werft in dem nahegelegenen Weiler Honeystreet gehörten.

»Die Arznei ist natürlich nicht für mich«, sagte Miss Robbins gerade. »Mir geht es nämlich blendend.«

Francis Baylor wiegte bewundernd den Kopf. »Das sehe ich.«

Das Mädchen kicherte und Lilly verdrehte die Augen. Francis blickte auf und hatte, als er ihren Gesichtsausdruck sah, immerhin den Anstand zu erröten. »Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen, Miss Robbins?«

»Natürlich.«

Der hoch aufgeschossene junge Mann kam um die Ladentheke herum und blieb bei Lilly stehen. Leise sagte er: »Vielleicht möchten Sie sich umziehen, Miss Lilly. Sie wollen doch sicher nicht, dass Mrs Mimpurse Sie mit schlammbespritztem Kleidersaum sieht.«

Sie sah an sich herunter. »Oh! Ich habe gar nicht gemerkt …«

Der Blick, den die hübsche Dorothea Robbins ihr zuwarf, sagte ihr, dass diese es sehr wohl bemerkt hatte. Das honigblonde Mädchen mit der adretten Haube musterte Lillys Kleid mit einem verächtlichen Lächeln.

Das laute Klirren zerbrechenden Porzellans ließ Lilly herumfahren. Charlie stand schreckerstarrt da, den Staubwedel in der Hand.

»Mist!« Er ging in die Hocke und fing an, die scharfen Scherben eines zerbrochenen Salbenkrugs aufzusammeln. »Nicht schon wieder!«

Lilly trat zu ihm. »Ist schon gut, Charlie. Es war einfach ein Missgeschick. Ich helfe dir. Pass auf, dass du dich nicht schneidest.«

Dorothea schlenderte an ihnen vorbei, ein Päckchen in der behandschuhten Hand und ein hochmütiges Lächeln auf den Lippen. Francis wäre in seiner Eile, ihr die Tür aufzuhalten, beinahe über Lilly und Charlie gestolpert.

Lilly schüttelte missbilligend den Kopf und brachte die Scherben durch die Hintertür in die Labor-Küche, wo Mrs Fowler gerade das Frühstücksgeschirr abwusch. Sie wollte schnell nach oben gehen, sich umziehen und ihr Haar hochstecken, doch kaum hatte sie die Scherben weggeworfen und sich die Hände abgewischt, hörte sie auch schon die Ladenglocke, die die Ankunft eines weiteren Kunden ankündigte.

»Guten Tag, Mrs Kilgrove«, hörte sie Francis sagen. »Willkommen bei Haswell.«

»Sie brauchen gar nicht so zu tun, als gehöre Ihnen der Laden, junger Mann«, rügte die Matrone. Mrs Kilgrove war bekannt für ihre scharfe Zunge und sie pflegte niemand zu verschonen – ausgenommen Charlie.

»Natürlich nicht, Ma'am. Ich bin einfach nur glücklich, dass ich in so einer angesehenen Apotheke in die Lehre gehen darf. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie? Ihnen würde ich um keinen Preis der Welt erzählen, was mir fehlt, und genauso wenig würde ich Ihnen auch nur ein einziges Lutschbonbon abkaufen. Wo ist Miss Haswell?«

Lilly seufzte. So viel zum Umziehen.

An diesem Nachmittag, während Francis mit dem Korkbohrer Flaschenstöpsel herstellte, langweilte Lilly sich fürchterlich. Sie putzte die Vordertheke und träumte dabei von einem vornehmen Reisenden – natürlich verletzt –, der auf der Suche nach Hilfe den Laden betrat und in Liebe zu ihr entbrannte. Sie war gerade an dem Punkt gelangt, da er sie bat, mit ihm durchzubrennen, als sie mit dem Putztuch an ein Keramikgefäß in Gestalt eines Bären stieß, das dicht an der Kante der Theke stand. Ihre Fantasiegestalten verflüchtigten sich. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum ihr Vater darauf bestand, dieses nutzlose Ding zu behalten.

»Haben wir kürzlich Bärenfett verkauft?«, fragte sie mit mäßigem Interesse.

Francis hielt in seiner Beschäftigung inne. »Ja, gestern. An mehrere Herren.«

»Würdest du es auch ausprobieren, wenn du es nötig hättest?«

Er zog eine Grimasse. »Ich brauche es wirklich nicht. Ich habe ja wohl genügend Haar.«

Mehr als genug, dachte Lilly und betrachtete seinen üppigen braunen Lockenschopf.

Ihr Vater kam herein, stellte sich vor seinen Lehrling und verschränkte die Arme. »Mr Baylor«, begann er in strengem Ton, »hatte ich Sie nicht gebeten, Nachschub an Pierquin's Diuretikum herzustellen?«

Lilly sah, wie der junge Mann blass wurde.

»Das stimmt, Sir. Es tut mir leid.«

»Sie erinnern sich doch sicher an die Anweisungen, die ich Ihnen erst letzte Woche gab?«

Lilly hielt den Atem an.

»Natürlich erinnere ich mich daran, Sir. Es war ja erst letzte Woche.« Verstohlen warf er Lilly einen Blick zu, der förmlich um Hilfe bettelte.

Mit dem Tuch in der Hand trat Lilly einen Schritt auf ihren Vater zu und sagte mit so viel Lässigkeit, wie sie aufbringen konnte: »Das ist einfach, es hat schließlich nur drei Inhaltsstoffe.«

»Jawohl, drei«, plapperte Francis nach. »Ganz einfach.«

Lilly spürte den Blick ihres Vaters auf sich ruhen, während sie begann, das Ladenfenster zu polieren. »Ich persönlich hasse es, Pierquin's zuzubereiten«, fuhr sie fort, die Augen fest auf ihren Lappen gerichtet. »Es ist« – sie wackelte dramatisch mit den Fingern in der Hoffnung, dass Francis hinsah – »tausend Mal schlimmer als alles andere.«

Francis griff das Stichwort auf. »Das ist ja nur zu verständlich, wenn man an die vielen – Tausendfüßler denkt.«

»Genau«, antwortete sie beiläufig. »Und deshalb bin ich doppelt froh, dass Vater dich und nicht mich gebeten hat, es herzustellen.«

Sie warf einen Blick über die Schulter. Als sie sah, dass ihr Vater ihr den Rücken zugewandt hatte und Francis anschaute, der an der Theke stand, hauchte sie an die Glasscheibe und schrieb das Wort Beere auf das beschlagene Fenster. »Ich habe es zuletzt im Juni gemacht.« Dann hob sie den kleinen Finger und tat so, als tränke sie geziert aus einer Tasse.

Francis, der sie heimlich, aber unverwandt beobachtete, sagte laut: »Pierquin's Diuretikum: mazerierte Tausendfüßler und in Tee aufgekochter Juniperus – Wacholderbeeren.«

»In Weißwein gekochte Wacholderbeeren, Mr Baylor«, zischte Charles Haswell zwischen zusammengepressten Zähnen. »Tee, also wirklich! Sie sollten mehr lernen, junger Mann, wenn Sie sich als mein Schüler auszeichnen möchten.« Er warf Lilly einen strengen Blick, bestehend aus zwei Teilen Verärgerung und einem Teil väterlichen Stolzes, zu. »Professor Lilly wird nicht immer da sein, um Sie zu retten.«

»Ganz recht, Sir. Es tut mir leid, Sir.«

Kopfschüttelnd verließ ihr Vater den Raum und nahm die Post mit, um sie in seinem Arbeitszimmer zu lesen und dann, so vermutete Lilly jedenfalls, ein Nickerchen zu halten.

Francis sah Lilly mit hängenden Schultern an. »Wie machst du das nur? Ich muss alles tausend Mal lesen, um es mir merken zu können. Dir fliegt immer alles zu.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich nehme an, es liegt mir im Blut.«

»Nein, es ist nicht nur das. Gibt es denn nichts, woran du dich nicht erinnern kannst?«

Sie ging zu dem alten Globus hinüber, der auf einem Gestell in der Ecke stand, doch statt mit dem Putztuch fuhr sie vorsichtig mit den Fingern darüber. »Doch. Es gibt sicher vieles, an das ich mich nicht erinnere.«

»Das glaube ich nicht. Schnell – Godfreys Magenmittel.«

»Francis. Das ist zu einfach. Du weißt doch, dass es so beliebt ist, dass wir es jede Woche zubereiten müssen – Sassafras, Anissamen, Kümmel, Opium, Zucker …«

»Stoughtons Magenbitter?«

Sie kreiste mit dem Finger die Karibischen Inseln ein. »Enzianwurzel, Orangenschale, Koschenillenpulver …«

»Auf welcher Seite in Culpeper's Herbal wird – sagen wir mal – der Safran beschrieben?«

»Ich weiß nicht …« Sie blickte auf. »Vielleicht auf Seite hundertvierundvierzig?«

»Und was kommt nach dem Safran?«

»Willst du meine Antwort denn nicht nachprüfen?«

Er schüttelte den Kopf und wartete.

Sie seufzte. »Na gut. Safrankrokus natürlich, dann Scorbutkraut in allen seinen Arten und Unterarten, dann Selbstheilung … das Buch ist schließlich größtenteils alphabetisch geordnet.«

Er starrte sie an und schüttelte den Kopf. »Du solltest hier der Lehrling sein, nicht ich.«

Sie ging zurück zur Theke und sagte: »Du weißt doch, dass Mädchen nicht Apotheker werden dürfen. Ich darf nur assistieren.«

»Ein Glück für mich, sonst wäre ich meine Stelle los.«

Sie warf das Staubtuch auf die hintere Theke. »Keine Sorge. Selbst wenn ich könnte, möchte ich hier nicht mein ganzes Leben lang arbeiten.«

Er sah aus, als seien ihm alle Felle weggeschwommen. »Aber Lilly, bei deinen Fähigkeiten …«

Sie fiel ihm ins Wort. »Du hast doch gehört, was Vater gesagt hat – sogar er weiß, dass ich nicht immer hier sein werde, um euch zu helfen.«

Zu ihrer großen Erleichterung erklang in diesem Moment die Ladenglocke und beendete das unangenehme Gespräch.

Nach fast einer ganzen Stunde – ihr Vater war noch immer nicht wieder aus seinem Arbeitszimmer gekommen – fing Lilly an, sich Sorgen zu machen. Seine Nachmittagsschläfchen dauerten eigentlich nie länger als eine halbe Stunde.

Sie klopfte leise an die Tür. Als keine Antwort erfolgte, öffnete sie die Tür. »Vater?«

Ihr Vater saß an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt.

»Vater, was ist mit dir? Stimmt etwas nicht?«

»Nein, es ist tatsächlich etwas passiert.«

Erschrocken trat Lilly in den kleinen Raum und schloss die Tür hinter sich. »Was ist los?«

Er hob den Kopf. »Ein Brief ist gekommen.«

Lilly sah den Briefbogen aus edlem Papier auf seinem Schreibtisch liegen.

»Das sehe ich.« Sie schluckte schwer. »Von … Mutter?«

Der Blick, den er ihr zuwarf, zeugte von Überraschung, Ungläubigkeit und Schmerz. »Nein.«

Sie biss sich auf die Lippen und wartete.

Er seufzte. »Er ist von Mr Jonathan und Ruth Elliott.«

»Elliott?« Sie kannte niemand dieses Namens.

»Deine Tante und dein Onkel Elliott. Der Bruder deiner Mutter.«

Sie hätte beinahe gefragt: Haben sie sie gesehen?, konnte die Frage jedoch gerade noch zurückhalten. Sie wollte diesen Blick in den Augen ihres Vaters nicht noch einmal sehen.

Stattdessen sagte sie: »Ich erinnere mich an keine Tante und keinen Onkel Elliott.«

»Wie solltest du auch? Du hast sie noch nie gesehen. Aber du wirst sie bald sehen. Sie nehmen den langen Weg von London auf sich, um uns zu besuchen. Schon diesen Freitag – ob ich will oder nicht.«

»Warum solltest du es nicht wollen? Sie gehören schließlich zu unserer Familie, oder nicht?«

Er wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. »Ich nehme an, das hängt von deiner Definition dieses Begriffs ab.«

»Kennst du sie? Bist du ihnen schon begegnet?«

»Ja, vor vielen Jahren.« Er runzelte die Stirn. »Es war keine schöne Begegnung.«

»Wissen sie …?« Es war nicht nötig, das schmerzliche Thema, das ihr Vater zu vermeiden pflegte, auszusprechen.

»Ja. Ich habe es ihnen bald danach geschrieben.«

»Was wollen sie?«

Die Augen ihres Vaters waren fast geschlossen. »Ich schaudere, wenn ich darüber nachdenke.«

Als sie sah, welche Sorgen er sich machte, legte sie ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Vielleicht wollen sie nur die alte Bekanntschaft erneuern.«

Er blickte zu ihr auf, seine blauen Augen glänzten im Licht der Spätnachmittagssonne, die durch das Fenster fiel. »Ich bewundere deine Zuversicht, Liebes. Aber ich möchte dich warnen. Denk an meine Worte, Lilly. Wir werden diesen Besuch noch jahrelang verfluchen.«

2

Als (Janes Bruder) Edward sechzehn war, adoptierten die Knights ihn und setzten ihn als Erben ein. Es war ungewöhnlich, dass wohlhabende Verwandte ein Kind aus einem ärmeren Zweig der Familie zu sich nahmen.

Jane Austen Gesellschaft Nordamerikas

Lilly beobachtete von einem Fenster aus dem oberen Stockwerk, wie eine Postkutsche, gezogen von zwei prächtig harmonierenden Kastanienbraunen, vor der Apotheke hielt. Als der Postillon vom Sitz kletterte und den Schlag öffnete, stieg ein großer, stattlicher Mann mit Hut und Paletot aus. Er wandte sich um und half einer eleganten Frau in pelzbesetztem Mantel und hochmodischem Hut beim Aussteigen. Lilly lief eilends die Treppe hinunter und spähte durchs Fenster der Labor-Küche, während ihr Vater die Tür öffnete.

»Elliott, Ruth«, sagte er. »Willkommen.«

Der Mann sah ihren Vater abschätzend an. »Haswell. Du siehst gut aus, muss ich sagen.«

»Ein Vorteil meines Berufs, nehme ich an. Kommt doch herein.« Er nahm ihnen die Mäntel ab und ließ sie eintreten.

Ruth Elliott sah zögernd um sich. »Hier wohnst du? In deiner Apotheke?«

»Ja, warum nicht – dahinter und darüber.«

»Ist das üblich in deinem Gewerbe?«, fragte sie.

»Ja. Ich glaube, es ist bei den meisten Berufen üblich. Aber bitte, kommt doch mit ins Wohnzimmer.«

Lilly reagierte auf ihr Stichwort und beeilte sich, vor den anderen die Treppe hinaufzulaufen. Sie rückte das Miniaturbild ihrer Mutter auf dem Tisch gerade und stand nervös hinter dem Sofa, als ihr Vater die Gäste hereinführte.

»So, da wären wir. Nehmt Platz – wo ihr möchtet. Ach, da bist du ja, meine Liebe. Darf ich euch meine Tochter Lilly vorstellen? Lilly, das sind deine Tante und dein Onkel Elliott.«

Lilly knickste. »Herzlich willkommen. Ich freue mich, euch kennenzulernen.«

»Lilly?«, wiederholte Ruth Elliott skeptisch und setzte sich in einen Armlehnstuhl.

»Ja«, antwortete Lilly, »das ist die Abkürzung für Lillian.«

»Ach ja, nach Mutter«, meinte Jonathan Elliott und setzte sich ebenfalls. »Das war deine Großmutter.«

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