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Winterzauber und Honigduft.
Hamburg im Winter: Die Ärztin Bea achtet darauf, niemanden an sich heranzulassen. Als eine alte Patientin verschwindet und nur ein Tagebuch zurücklässt, lernt sie deren Neffen Tom kennen, der die Imkerei seiner Tante übernommen hat, sich aber nur wenig um die schlafenden Bienenvölker kümmert. Dann entdeckt Bea im Tagebuch seiner Tante den Hinweis darauf, dass die Population von einer gefährlichen Krankheit bedroht ist. Jetzt muss schon ein Weihnachtswunder passieren, um sie zu retten. Doch Tom und Bea geben nicht auf, und bei dem gemeinsamen Kampf um die Bienen kommen die beiden sich näher ...
Warmherzig und humorvoll: Für die gemütlichen Abende am Kamin.
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Winterzauber und Honigduft.
Hamburg im Winter: Die Ärztin Bea achtet darauf, niemanden an sich heranzulassen. Als eine alte Patientin verschwindet und nur ein Tagebuch zurücklässt, lernt sie deren Neffen Tom kennen, der die Imkerei seiner Tante übernommen hat, sich aber nur wenig um die schlafenden Bienenvölker kümmert. Dann entdeckt Bea im Tagebuch seiner Tante den Hinweis darauf, dass die Population von einer gefährlichen Krankheit bedroht ist. Jetzt muss schon ein Weihnachtswunder passieren, um sie zu retten. Doch Tom und Bea geben nicht auf, und bei dem gemeinsamen Kampf um die Bienen kommen die beiden sich näher …
Warmherzig und humorvoll: Für die gemütlichen Abende am Kamin.
Über Julie Peters
Julie Peters, geboren 1979, arbeitete einige Jahre als Buchhändlerin und studierte ein paar Semester Geschichte. Anschließend widmete sie sich ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie im Westfälischen.
Im Aufbau Taschenbuch sind bereits die Romane »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg«, »Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen«, »Der kleine Weihnachtsbuchladen am Meer«, sowie bei Rütten & Loening »Ein Sommer im Alten Land« und »Ein Winter im Alten Land« von ihr erschienen.
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Julie Peters
Ein Winter im Alten Land
Roman
Inhaltsübersicht
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19. September
Kapitel 1
2. November
Kapitel 2
2. Februar
Kapitel 3
10. Februar
Kapitel 4
24. Februar
Kapitel 5
12. Juni
Kapitel 6
17. Juli
Kapitel 7
7. August
Kapitel 8
6. September
Kapitel 9
13. September
Kapitel 10
15. September
Kapitel 11
17. September
Kapitel 12
2. Oktober
Kapitel 13
4. November
Kapitel 14
23. November
Kapitel 15
24. Dezember
Kapitel 16
17. Januar
Kapitel 17
4. Mai
Kapitel 18
Epilog
Danksagung
Anhang
Impressum
Was dem Schwarm nicht nützt, das nützt auch der einzelnen Biene nicht.
MARC AUREL
Dieses Jahr haben wir spät begonnen, sie zu füttern. Bilde ich mir nur ein, dass sie etwas zorniger klangen, als ich die Beuten öffnete und den Zuckerteig einhängte?
Der Frühherbst liegt in der Luft. Süß, mit diesem unverwechselbaren, rosig gelben Licht am Morgen und zur Nacht. Wenn ich über die Felder zu meinen Bienen gehe, mich auf den alten Kinderschlitten hocke, der seit jeher mein Aussichtspunkt ist, merke ich, wie sie weniger emsig werden. Besonders an den kalten Tagen ist es recht ruhig um die Fluglöcher. Während ich den Tee aus meinem Thermosbecher trinke – mit ihrem Honig gesüßt, natürlich –, lausche ich ihrem Summen. Ich zähle sie nicht, wenn sie so ein und aus fliegen – zumindest nicht bewusst. Ich weiß aber, worauf ich zu achten habe, und wenn ich nach einer halben Stunde oder einer ganzen aufstehe, habe ich ein Gefühl dafür, ob ich etwas tun muss oder ob es ihnen gut geht.
Für jede Beute sind nun die ersten Kilo verfüttert. Eine zweite Fuhre bekommen sie im Oktober – dann müssten sie gut über den Winter kommen. Es dauert nicht mehr lange, bis die Winterbienen schlüpfen. Sie werden nicht Tag für Tag im Stock arbeiten und später in ihrem Leben ausfliegen und Nektar sammeln, ihnen ist nicht das kurze Leben ihrer Sommerschwestern beschieden; sie bereiten sich auf ein langes Leben vor, das sie monatelang aneinandergeschmiegt in ständiger, langsamer Bewegung in einer großen Traube in der Mitte des Stocks zubringen. Ihr ganzes Leben dient nurdem einen Zweck – die Bienenkönigin beschützen, sie durch den Winter bringen, bis sie beginnt, neue Eier zu legen. Sie werden die Brut aufziehen und dann in den ersten Frühlingstagen sterben. Der Bien aber wird fortbestehen, über den Winter hinaus, auch über den Tod einer Königin hinaus, auf den eine weitere folgen wird. Selbst wenn eine Königin ausschwärmt und sie einen Teil des Volks mitnimmt, wird der Bien fortbestehen – geschwächt, aber immer noch gewillt, zu überleben.
Bis die Thermoskanne leer ist, hat sich meine Unruhe wieder ein bisschen gelegt. Den Bienen geht es gut. Doch so ein Gefühl ersetzt nur nie den Blick in die Beuten, das habe ich von meinem Imkervater gelernt. Zu vieles bedroht ihren Frieden. Auch wenn derzeit überall Leute sich eine Beute in den Garten stellen, weil sie so dem Bienensterben entgegenwirken wollen – zu viele sind unkundig, versteigen sich in ihrer Fantasie-Imkerei. So wie Tom, der nur noch selten vorbeischaut.
Als ich heute nach meiner Stunde bei den Bienen aufstand, war da wieder dieses Schwindelgefühl. Es dauert nun immer länger, bis es vergeht.
Der Bien besteht weiterhin, selbst wenn die Königin stirbt.
Daran halte ich mich fest.
Für den Weg zurück zum Haus brauchte ich heute doppelt so lang.
»Das darf doch echt nicht wahr sein. Hey! Was ist denn Ihr Problem da vorne?«
Bea duldete keine Unpünktlichkeit. Umso mehr geriet sie an diesem Morgen ins Schwitzen, denn die Uhr in ihrem Auto sprang gerade auf 9:00 – und um Punkt neun Uhr begann jeden Morgen ihre Visite.
Nun war es natürlich ihre Visite, weshalb sie sich eigentlich entspannt zurücklehnen durfte. Ohne sie würde schon niemand damit anfangen. Trotzdem tippte ihr rechter Fuß nervös auf das Gaspedal, während vor ihr der Besitzer eines klapprigen roten Kastenwagens offenbar vergebens versuchte, dem Parkautomaten ein Ticket zu entlocken. Er hing halb aus dem Fenster und versuchte, das Ticket aus dem Schlitz zu angeln. Bea drückte ungeduldig auf die Hupe. Der Fahrer drehte sich zu ihr um – und ließ das soeben ergatterte Parkticket fallen, während vor ihm die Schranke hochging.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie völlig entnervt. Sie ließ das Fenster ihres Wagens herunter und rief ihm zu: »Nun machen Sie schon! Andere Leute haben heute noch was vor!«
Er machte eine etwas unflätige Geste in ihre Richtung – sein Glück, dass kein Mittelfinger involviert war, dann wäre sie ihm durch die Windschutzscheibe an die Gurgel gegangen. Während also der Mann (knapp vierzig, schätzte sie, also weder jung noch alt, in ihrem Alter eben) sich aus dem Anschnallgurt und dem Wagen schlängelte, das Ticket auflas, wieder einstieg, sich anschnallte und sein Wagen endlich durch die Schranke rollte, wählte sie eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.
»Stephanie? Ja, hier ist Bea. Es dauert noch fünf Minuten. Ich weiß, ich weiß. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.«
Von denen dieser hübsche Kerl vor ihr nur der Letzte war. Ihr entging nicht, dass sein entschuldigendes Lächeln durchaus entwaffnend war, und ebenso wenig, dass er nun wirklich zügig ins Parkhaus des Klinikums einfuhr. Sie brauchte keine zehn Sekunden, um die Schranke hinter sich zu bringen, und stellte ihren Wagen auf den reservierten Parkplatz.
In Gedanken war sie immer noch nicht ganz bei der Sache, als sie das Gebäude betrat, statt der Aufzüge das Treppenhaus ansteuerte und dabei fast mit ihrem Kollegen Dr. Carsten Holler zusammenstieß.
»Nanu, die Frau Dr. Heinemann. Heute so spät?« Er konnte sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen. Seitdem Bea Chefärztin der Onkologie war und ihn bei der Ausschreibung um die Stelle ausgebootet hatte – seine Version der Geschichte – und er weiter das in seinen Augen jämmerliche Dasein als Chef der Notaufnahme fristete, hatte sie das Gefühl, dass er ihr ständig auflauerte und versuchte, sie bei einem Fehler zu ertappen.
»Ach, ich habe auch noch ein Privatleben«, gab sie zurück und schob sich an ihm vorbei. Zwei Stufen auf einmal nehmend hetzte sie ins zweite Obergeschoss.
»Das wage ich zu bezweifeln!«, hörte sie ihn rufen. Aber dann knallte die Tür hinter ihr zu, sie betrat die stillen Gänge der Onkologie 1. Nur vor dem Schwesternzimmer versammelten sich gerade ihre Assistenzärztinnen und die Schwestern, die ihre Visite begleiteten. Bea schlüpfte aus dem Mantel, darunter trug sie bereits ein weißes Polohemd und die weiße Hose – ihre übliche Arbeitskluft. Sie verschwand kurz in ihrem Zimmer, kickte die Stiefel in die Ecke, zog die bequemen Crocs unter dem Tisch hervor und schlüpfte vorher noch in ein Paar Wollsocken. Ihr Geheimnis gegen kalte Füße. Mit dem Kittel in einer Hand, in der anderen den Becher Kaffee, den ihre Sekretärin jeden Morgen um zehn vor neun auf ihren Schreibtisch stellte, verließ sie das Zimmer keine halbe Minute später. Die Uhr über dem Schwesternzimmer zeigte drei nach neun.
»So, dann wollen wir mal«, sagte sie, gerade so, als wäre ihre Verspätung ganz normal. War sie vermutlich für die Kolleginnen auch, aber Bea war es schlicht unangenehm. »Wo geht’s los?«
»Zimmer 318.« Die junge Assistenzärztin, die vortrat, war erst seit einem halben Jahr auf ihrer Station, bisher hatte sie sich aber durch eine bemerkenswerte Arbeitsmoral hervorgetan. Hat bestimmt auch kein Privatleben.
Als ob!
Sie ärgerte sich über Carsten Hollers Bemerkung, denn es stimmte einfach nicht. Natürlich hatte sie ein Privatleben. Gut, im Moment war es ein bisschen eingeschränkt, allein schon aufgrund der Tatsache, dass die Wohnung, in die sie abends zurückkehrte, so still und leer war. Kein Bud Spencer, der ihr entgegenlief. Kein Stefan, der am Herd stand und etwas Köstliches kochte.
Aber das musste Carsten Holler ja nicht wissen. Das musste überhaupt niemand wissen, es ging nämlich niemanden etwas an. Sie war hier zum Arbeiten, nicht, um Freundschaften zu schließen.
Sie betrat vor allen anderen Zimmer 318. Einzelzimmer, was für ein Luxus in dieser Zeit. Das Bett stand am Fenster, und auf dem Bett thronte eine alte Dame. Jawohl, Dame, das musste sie wohl so sagen, denn sie war von den sorgfältig frisierten, grauen Haaren über die knallrot lackierten Fingernägel bis zu den grauen Plüschpuschen und dem dunkelroten Nicki-Hausanzug, der perfekt auf die Fingernägel abgestimmt war, eine präsente Erscheinung.
Vor allem war sie in diesem Moment nicht allein. Drei andere Frauen saßen vor ihrem Bett, und sie alle drehten sich zu Bea und ihren Kolleginnen um und musterten sie, als wären sie gerade zur mündlichen Abiturprüfung angetreten.
»Margarete Zeidler, 74 Jahre alt. Bei uns wegen einer chronisch lymphatischen Leukämie, die nun auf die Leber übergegangen ist. Bisheriger Therapieverlauf ist erfolgversprechend, mit einer baldigen Entlassung können wir wohl rechnen.« Dies entlockte den drei Besucherinnen, die sich wie Nornen um ihr Bett versammelt hatten, ein gefälliges Lächeln, eine griff sogar nach der Hand der Patientin.
»Siehst du, Grete, bald kommst du hier wieder raus.«
Die junge Ärztin ratterte noch ein paar Blutwerte herunter. Bea hörte sich alles an, dann wandte sie sich an die Patientin. »Haben Sie Fragen?«
»Nein.« Ihre Stimme war überraschend rauchig. »Ich werde ohnehin bald nicht mehr hier sein.«
Bea fragte, ob sie sie untersuchen dürfe. Die drei Nornen machten nur widerwillig Platz. Behutsam tastete Bea den Bauch ab. Für den morgigen Vormittag war ein CT angesetzt. Danach die Entscheidung über eine weitere Therapie und die baldige Entlassung. Vermutlich würde es auf eine ambulante Chemotherapie drüben in der Tagesklinik hinauslaufen.
Zufrieden nickte Bea. Hier war alles so, wie es sein sollte, die Assistenzärztin auf Zack, die Patientin informiert und – soweit es die Umstände zuließen – entspannt.
Und sie schien über ein gutes soziales Netz zu verfügen, wenn immerhin drei Freundinnen schon früh am Morgen bei ihr saßen. Auch das war gut. Freundinnen waren wichtig in Krisenzeiten, das sagte sie ihren Patientinnen immer wieder.
Auf dem Weg aus dem Zimmer war Bea in Gedanken bereits bei der nächsten Patientin, drehte sich halb um, damit die junge Kollegin ihr die nächste Akte aushändigte. Just in diesem Augenblick betrat ein Mann mit einem Tablett aus der Krankenhauscafeteria den Raum. Der Kaffee schwappte auf Beas Kittel und das Poloshirt.
»Shit!«, fluchte Bea, denn der Kaffee war zwar nicht kochend heiß, aber warm genug, dass sie sich erschreckte.
»Verdammt!«, fluchte ihr Gegenüber und schaffte es gerade so, das Tablett festzuhalten. Ihre Kolleginnen wichen zurück. Bea schaute hoch. Ein Mann, ihr Alter, vielleicht etwas älter, die dunklen Haare ziemlich wuschelig und etwas zu lang, der zimtfarbene Wollpullover und die Jeans ausgebeult und mindestens so alt wie die ausgetretenen Turnschuhe.
»Sie schon wieder!«, rief sie, fast ein bisschen zu laut.
»Ja bitte?«, fragte er.
Ausgerechnet der Mann stand vor ihr, der sich vorhin mit dem Parkticket so ungeschickt angestellt hatte und damit maßgeblich an ihrer Verspätung schuld war. Herrje.
Und dann lächelte er sie noch so freundlich an, seine Stimme klang ein bisschen rau. Wie Kakaosplitter, dunkel und ein bisschen herb.
»Müssen Sie denn überall nur im Weg stehen?«, murmelte Bea.
»Ich wüsste nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind«, erwiderte er. Sein Mundwinkel zuckte, als müsste er sich mühsam ein Grinsen verkneifen.
»Im Parkhaus«, erklärte sie, und als er sie verständnislos anblickte, fügte sie hinzu: »Ich habe gehupt.«
»Ach, Sie waren das.« Jetzt grinste er. »Ich hoffe, Sie haben nicht gehört, was ich gesagt habe.«
»Habe ich nicht. Vermutlich zum Glück?«
Er wiegte den Kopf. »Gut möglich. Es sei denn, Sie bekommen gerne Vogelnamen an den Kopf geworfen.«
Wie frech er war! Sie hätte gern etwas darauf erwidert, aber ihr fehlten die Worte. Sonst war sie schlagfertiger.
Sie schnaubte daher nur und schob sich an ihm vorbei. Dabei streifte ihr Arm seinen und sie hätte fast in der Bewegung verharrt, denn …
Dieser sanfte, süße Geruch. War das sein Shampoo oder trug er Aftershave? Nein, nichts an diesem Duft war künstlich, im Gegenteil – ganz natürlich und gerade so, als gehörte er zu ihm. Auf jeden Fall bekam sie weiche Knie davon, sie wäre gern einen winzigen Augenblick neben ihm stehen geblieben. Hätte verweilt. Sich für ihre ruppige Art entschuldigt, sie wusste doch, wie sie war, seit Monaten schon raunzte sie jeden an. Nicht, weil die Menschen sie störten, sondern … na ja. Weil sie mit sich selbst nicht klarkam. So, jetzt war’s heraus.
Stattdessen zwang sie sich, weiterzugehen, sie trat auf den Flur und ihre Kolleginnen folgten. Noch einmal blickte sie zurück, über die weißen Kittel und die Köpfe derer, die aus dem Zimmer strömten.
Er drehte sich halb um, lächelte sie an. Ein halbes Lächeln, immerhin, und sie zuckte entschuldigend die Schultern. Seine Augen waren dunkel, sie hätte nicht sagen können, ob sie grün oder braun waren, dunkel jedenfalls.
»Hier ist wie versprochen der Kaffee«, hörte sie ihn sagen. Er wendete sich zu den vier alten Frauen um, die Tür schlug zu und der Moment war vorbei.
»Wollen Sie sich umziehen, bevor wir weitermachen?« Doris Wetter, die Stationsschwester, machte einen Schritt auf Bea zu. Sie winkte ab; dafür war jetzt keine Zeit. Weiter ging es mit der Visite, Zimmer für Zimmer. Bea hörte sich an, was ihre Assistenzärztinnen vorbereitet hatten, sie untersuchte Patientinnen, hörte sich deren Klagen an, gab Anweisungen und ging weiter. Auf ihr bekleckertes Shirt angesprochen lächelte sie jedes Mal, auch wenn es immer gequälter wurde, denn die Zeit, die sie mit Erklärungen verschwendete, hätte sie auch zum Wechseln nutzen können. Meist blieb für die einzelne Patientin nicht mehr als ein paar Minuten Zeit. Denn danach hatte sie eine Reihe dringlicher Termine in ihrem Sprechzimmer, und nach dem Mittagessen war noch ein Tumorboard angesetzt.
Das hätte sie am liebsten geschwänzt.
Aber sie wusste, dass sie das unmöglich konnte.
Nun ja. Sie würde sich einfach vorher in der Kantine stärken und direkt im Anschluss an die Sitzung nach Hause fahren. Das konnte ihr wohl niemand verübeln, oder?
Denn sie hatte sehr wohl ein Privatleben. Oder galt es nicht, wenn man abends in eine leere Wohnung fuhr, sich etwas zu essen machte und dann vor dem Fernseher bei einem Glas Weißwein versumpfte?
Früher war das anders gewesen. Aber früher, das war vorbei, und auch Monate später tat es noch erstaunlich weh. Sie versuchte, den Schmerz runterzuschlucken, aber wie erfolgreich sie damit war, merkte sie selbst.
Gar nicht. Weil alles in dieser Klinik sie an das erinnerte, was mal gewesen war und nie wieder sein würde.
* * *
»Kannst du bei der Patientin in der 318 vorbeischauen? Sie wollte noch mal mit einer Ärztin reden.«
Bea blickte auf. Ihre Augen schmerzten. Seit Stunden starrte sie auf den Bildschirm und versuchte, all die unerledigten Dinge zu erledigen, die man immer mit dem Vorsatz vor sich herschob, sich in einer ruhigen Minute darum zu kümmern. Die – Überraschung! – nie kam, klar. Es gab immer was zu tun.
Bea seufzte.
»Hat das nicht Zeit bis zur Visite morgen früh?«
Ihre beste Freundin Lena – streng genommen ihre einzige Freundin – zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch – ich bin nur die Nachtschwester. Erschieß nicht den Boten, ja? Und mach nicht mehr so lange. Ich will dich in zehn Minuten nicht mehr hier sehen. Ich kontrolliere das!«
Lena verschwand, ihre Schritte quietschten auf dem Gang, die Tür schlug zu.
»Ich komme gleich«, sagte Bea leise in die Stille hinein.
Wenn Lena schon ihren Dienst angetreten hatte, war es auf jeden Fall später geworden, als sie ursprünglich geplant hatte. Nach der Nachmittagssitzung hatte sie sich entgegen ihres Vorsatzes, nach Hause zu fahren, in ihrem Büro verschanzt und offenbar darüber die Zeit vergessen.
Sie schaltete den Computer aus, wechselte das Schuhwerk und tauschte Kittel gegen Mantel. Auf dem Weg zum Fahrstuhl kam sie am Zimmer 318 vorbei und klopfte.
»Herein!«
Die Stimme von Frau Zeidler klang kräftig und klar. Bea trat ein.
»Sie hatten noch eine Frage, hat mir die Schwester ausgerichtet.«
»Ach, wie schön, dass Sie vorbeischauen.« Frau Zeidler hatte sich inzwischen für die Nacht fein gemacht. Sie trug einen glänzenden Pyjama mit dunkelblauen und hellgrauen Streifen, die silbernen Haare hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, der auf ihre Brust fiel. Das dezente Make-up war verschwunden, ihr Gesicht wirkte auch jetzt noch rosig und frisch. In ihrem Schoß ruhte eine dicke Kladde, ein Finger steckte zwischen den Seiten. »Aber Sie waren nicht den ganzen Tag hier, oder?«, erkundigte sie sich.
»Ich hatte viel zu tun«, sagte Bea etwas steif. Die Erinnerung an die stundenlange Sitzung am Nachmittag flammte kurz auf, und sie brauchte einen Moment, um die aufkommende Wut niederzuringen. Es gab so vieles, das sie wütend machte. Vor allem ihre eigene Unfähigkeit, die in ihren Augen letztlich die Schuld an all dem trug, was passiert war.
»Also, was kann ich für Sie tun?« Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett ihrer Patientin. Das hatte ihr Stefan beigebracht. Zuhören. Aktiv zuhören. In mancher Hinsicht war er der bessere Arzt. Zu oft fiel es ihr schwer, sich auf die Patientinnen einzulassen.
»Ja, ich frage mich … Ach, das muss Ihnen jetzt ganz dumm vorkommen, aber ich frage mich eben, wo die Krankenhausbibliothek ist.«
Bea erstarrte. Darum wollten Sie eine Ärztin sprechen?
Und bevor sie sich versah, hatte sie es ausgesprochen. Frau Zeidlers Lächeln schwand, sie blickte auf ihre Hände, die rastlos über die Bettdecke wanderten.
»Ich brauche unbedingt neue Lektüre. Aber das ist nur das eine«, fuhr sie fort.
Aha, dachte Bea. Sie entspannte sich etwas. Das hatte sie oft beobachtet. Patientinnen, die ihr erst eine Frage zu einem gänzlich anderen Thema stellten, bevor sie zum eigentlichen Punkt kamen.
»Die Bibliothek ist im dritten Stock, direkt, wenn Sie aus dem Fahrstuhl kommen, auf der linken Seite.«
»Danke.« Ihre Patientin lächelte. »Das andere, also … morgen das CT. Ich mache mir Sorgen, weil ich nicht weiß, ob das … ob ich das schaffe.«
»Ein CT des Abdomens ist absolut ungefährlich für Sie, Frau Zeidler. Sie können sich gern vorher ein Beruhigungsmittel geben lassen.«
»Aber das ist diese große Röhre. Und sie ist so laut, das kennt man ja.«
»Sie meinen ein MRT. Das ist tatsächlich eine große Röhre. Beim CT aber wird Ihr Körper nur durch einen Ring geschoben. Sie liegen auf einer Trage, nur Ihr Bauch ist dann in diesem Ring. Ihr Kopf nicht.«
»Oh, ach so.« Frau Zeidler blickte auf ihre Hände. »Das ist natürlich dann etwas anderes. Entschuldigen Sie bitte meine Dummheit. Diese ganze Krankheit … Ich war nie krank und irgendwie habe ich das Gefühl, mehr Fragen zu haben, als ich Antworten bekomme.«
»Sie können immer fragen«, sagte Bea beruhigend. »Dafür sind wir da. Haben Sie noch weitere Fragen?«
»Nein. Ach, damit haben Sie mir sehr geholfen. Vielen Dank.«
Bea stand auf. In diesem Moment spürte sie die Müdigkeit. Endlich. Vielleicht konnte sie heute Nacht besser schlafen.
»Aber Sie fahren jetzt nach Hause, oder? Muss ja ein langer Tag für Sie gewesen sein. Haben Sie jemanden, der für Sie sorgt?«
»Ja, ich fahre jetzt nach Hause.« Beas Lächeln gefror. Sie wollte auf die Frage nicht antworten, sie ging ihr zu nah.
»Um mich hat sich zuletzt mein Neffe Tom gekümmert. Er ist einer von den Guten. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Der junge Mann, der Sie heute früh mit Kaffee versorgt hat?«
Frau Zeidler strahlte. »Ich weiß, eigentlich soll kein Geschirr aus der Cafeteria auf die Zimmer gebracht werden. Und das mit Ihrem Poloshirt tut ihm und mir sehr leid. Sehen Sie’s mir nach, Ihr Kaffee hier auf der Station ist wirklich grauselig, darum habe ich ihn heute früh angerufen und gebeten, mir welchen mitzubringen. Ohne guten Kaffee kommt mein Blutdruck morgens nicht hoch.«
Darüber konnte Bea dann doch wieder lachen. »Ich weiß, was Sie meinen. Ändern kann ich’s leider nicht.«
»Aber Sie drücken weiterhin ein Auge zu?«
Bea legte einen Finger auf die Lippen. »Ich schweige wie ein Grab.«
»Na, hoffen wir, nicht wie mein Grab.«
»Darüber denken wir noch lange nicht nach.«
Sie verstand die Angst ihrer Patientin, hatte sie schon so oft bei anderen ähnlich erlebt. Aber Frau Zeidlers Prognose war gut. Das sagte sie ihr auch.
»Und nun schlafen Sie. Gute Nacht, Frau Zeidler.« Bea lächelte aufmunternd. »Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich an die Nachtschwester wenden. Morgen früh bin ich auch wieder hier.«
»Gute Nacht, Frau Doktor. Danke, dass Sie für mich da sind. Für mich und all die anderen Patientinnen.«
Diese Worte hatte Bea noch im Kopf, als sie im Fahrstuhl stand. Allein. Im ersten Stock stiegen zwei Schwestern ein, sie blieben vorne stehen und unterhielten sich kichernd. Als der Aufzug im Erdgeschoss hielt, schob Bea sich an ihnen vorbei. Ihr ging das alles nicht schnell genug.
Sie wollte einfach nur nach Hause. Zurück in die Einsamkeit, auch wenn die ihr genauso wenig Trost bot wie die Gesellschaft anderer.
Zum Auto laufen, durch die Kälte. Novembernebel hing zwischen den Bäumen, sie atmete die feuchte Luft ein. Sie schloss den Wagen auf, fuhr aus dem Parkhaus und lenkte ihn auf die Stadtautobahn. In zwanzig Minuten, so schätzte sie, würde sie die Wohnungstür aufschließen.
Ihr fiel erst spät ein, dass sie nichts im Kühlschrank hatte, hielt deshalb an einer Tankstelle, kaufte eine Tüte Chips und eine Flasche Wein. Tankte mehr aus Alibi-Gründen als wegen eines leeren Tanks.
Die Tür ihrer schicken Wohnung schlug hinter ihr zu. Stille. Keine tapsenden Pfoten, keine Stimme aus der Küche, die sie mit einem fröhlichen »Ich habe für uns gekocht!« begrüßte. Kein Licht, keine köstlichen Essensdüfte zogen in den Flur. Bea ließ sich auf das Sofa im Wohnzimmer plumpsen. Sie starrte auf die Stelle, wo bis vor wenigen Wochen noch ein zweites, identisches Sofa direkt gegenüber gestanden hatte. Darauf eine karierte Decke. Dort hatte Bud Spencer früher so gern gelegen.
»Geht es Bud Spencer gut?«, hätte sie Stefan gerne gefragt. Aber er war nicht mehr da. Jetzt war sie die Chefärztin, und jedes Mal, wenn sie in diesen langen Besprechungen saß und es um die Therapiepläne ihrer Patientinnen ging, vermisste sie ihn. Nicht, weil er der bessere Arzt war – denn das war er nicht. Sie waren immer ebenbürtig gewesen, und vielleicht hätte sie ihn irgendwann sogar überflügelt.
Nein, sie vermisste ihn, weil bei ihm die menschliche Komponente niemals zu kurz kam.
Zu viele Ärzte, das hatte er ihr immer wieder erklärt, waren so erpicht darauf, den Körper um jeden Preis zu heilen, dass sie die Seele vergaßen. Die Psyche, korrigierte sie ihn sanft. Nein, erwiderte er, schon die Seele. Das sei nämlich was anderes, zumindest wenn es um Krankheiten ginge. Ein gesunder Geist im gesunden Körper – so.
Wenn das so war – was war sie dann? Ein gesunder Körper ohne gesunden Geist?
Jedes Mal, wenn sie den Vorsitz im Tumorboard führte und die Kolleginnen ihre Fälle vortrugen, dachte sie an Stefan. Die Enttäuschung in seinem Blick, als er ging. »Du wolltest dich nie unterordnen«, sagte er betrübt.
»Wir sind uns zu ähnlich«, hatte sie geantwortet. Beide wollten die Besten auf ihrem Gebiet sein – und da sie auf demselben Gebiet arbeiteten, musste einer von ihnen schließlich gehen.
Stefan war an ein anderes Klinikum gewechselt. Größer. Prestigeträchtig. Das ihm die Forschung bezahlte, die er neben seiner Arbeit als Chefarzt betrieb. Sie hätte mitkommen können – er hatte darauf bestanden, dass für sie eine zusätzliche Stelle als Oberärztin geschaffen wurde. In dem Klinikum wollte man ihn so sehr, sie hätten ihm auch einen mit Goldfäden durchwirkten Teppich ausgerollt oder sogar Bea darin eingerollt, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte.
Stattdessen bewarb sie sich auf die vakante Chefarztstelle, die durch Stefans Weggang an ihrer Klinik frei wurde – und man gab ihr den Vorzug vor Carsten Holler. Weil sie die Arbeit von Stefan fortführen konnte.
Aber für ihn war dies ein Vertrauensbruch – der letzte in einer langen Reihe, wie sie erfahren musste, als er sie zur Rede stellte.
»Du hättest alles haben können«, hatte er zum Abschied gesagt, bevor er seine Wohnungsschlüssel auf den Küchentresen legte. »Wenn ich in zehn Jahren in Ruhestand gegangen wäre, hätte das alles dir gehören können, was wir uns gemeinsam aufgebaut hätten.«
Das war es eben.
Sie hätten es vielleicht gemeinsam aufgebaut. Dr. Stefan Heinemann, Dr. Bea Heinemann.
Aber sie wäre immer nur an zweiter Stelle genannt worden. Als sein Anhängsel. Als die Frau, die mit ihm aufstieg, nicht als die Ärztin, die aus eigener Kraft etwas schuf. Selbst wenn sie es gewollt hätte – es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, so weiterzumachen.
Deshalb konnte Stefan gar nicht weitermachen. Und die Trennung, die darauf folgte, war vermutlich der sauberste Schnitt, den zwei Ärzte vollziehen konnten. Alles wurde hälftig geteilt, und wenn sie nicht genau wussten, was wem gehörte, losten sie. Bea war sich ziemlich sicher, dass das Schachspiel im kleinen Arbeitszimmer auf dem Tisch Stefan gehörte – aber als er Anspruch darauf erhob, wollte sie es auch haben, und beim Losen gewann sie. Ein letzter Pyrrhussieg. Denn danach war alles verloren, was sie einst gewesen waren.
Am meisten schmerzte sie, dass Bud Spencer fort war. Niemand, der ihr die Füße wärmte. Der morgens nach dem Weckerklingeln verbotenerweise in ihr Bett hüpfte und im Herbst mit schlammigen Pfoten durch alle Räume flitzte, bevor sie ihn einfangen und in die Badewanne stecken konnte. Sie vermisste den Hund mehr als den Mann, mit dem sie immerhin schon ein paar Jahre vor dem Spaniel Tisch und Bett geteilt hatte. Und an Abenden wie dem heutigen wurde aus dem Vermissen ein nagender, blöder Schmerz, gegen den sie nicht anders ankam, als zum Telefonhörer zu greifen.
»Hey Kleines.«
Sie atmete tief durch. »Hi Stefan. Wie geht es euch?«
»Oh, bestens. Wir haben es uns gerade gemütlich gemacht. Wie geht’s dir? Alles gut bei dir?«
»Alles bestens. Nur ein bisschen still hier. Wie geht es Bud Spencer?«
»Er verspeist gerade einen dieser stinkenden Pansendinger, die du ihm bei deinem letzten Besuch geschenkt hast. Ich habe schon verstanden, du hasst mich, weil er bei mir ist. Aber ganz normale Kauknochen hätten es auch getan.«
Sie lachte zitternd aus. »Davon muss er aber immer so pupsen.«
»Ach ja, die Pupser. Okay, dann lieber Pansen.«
Sie schwiegen einen Moment, und sie hörte ihn durch die Leitung atmen.
»Kommst du am Wochenende und holst ihn?«
»Ja klar. Samstag um acht?«
Daran hielt sie sich fest – alle zwei Wochen holte sie Bud Spencer fürs Wochenende zu sich. Das waren die schönsten Tage im Monat. Als wäre der Hund ihr gemeinsames Kind, dessen Sorgerecht sie sich teilten.
»Samstag um acht«, bestätigte Stefan. »Möchtest du hier frühstücken?«
Das bot er jedes Mal an – gerade so, als würde sie irgendwann nachgeben und zum Frühstück bleiben.
»Danke, nein. Wir brechen dann sofort auf. Ich möchte mit ihm an die Ostsee.«
»Das wird ihm gefallen.«
Die Ostsee war ihr Seelenort, wo sie Kraft tanken konnte. Stundenlang am Strand entlanglaufen, mit dem Wind im Haar und den Wellen an ihrer Seite, während Bud Spencer durch die Gischt rannte, Stöckchen holte. Danach wärmten sie sich in einem Café auf. Sie genoss Tee und Torte, während der kleine braune Spaniel zu ihren Füßen auf seiner Decke schlief.
»Du bist hier jedenfalls immer willkommen. Auch Sonntag, wenn du ihn zurückbringst.«
»Ja«, sagte sie, ohne auf das Angebot einzugehen.
Sie verabschiedeten sich; es fiel ihr schwer, weil es danach wieder so still war, zugleich aber hatte sie ihm nichts mehr zu sagen.
Bea versuchte zu lesen, aber auch daran war ihr der Spaß vergangen. Sie war müde. Alles machte sie müde, nicht nur die Arbeit, auch das Leben dazwischen. Trotzdem blieb der Schlaf ein flüchtiger Gast in ihrem Bett, und als sie Stunden später aufgab und wieder aufstand, um sich einen Tee zu kochen, fielen ihr die Worte von Frau Zeidler wieder ein.
Danke, dass Sie für mich da sind. Für mich und die anderen Patientinnen.
Und wer ist für mich da?, dachte sie.
Die Winterruhe. Ich gönne sie meinen Bienen, diesen kleinen Völkchen. Die letzten Winterbienen sind nun geschlüpft, sie drängen sich mit all den anderen zusammen in der Mitte des Stocks. Noch einmal bin ich rumgegangen, habe eine Stockkontrolle gemacht. Alles ruhig, alles schläft.
Dabei schlafen sie nicht. Immer sind sie in Bewegung, sie sind ein großer Organismus, diese Tausende Bienen, die sich nur um eines kümmern: Dass es der Königin gut geht. Wenn die Königin gesund ist, dann wird auch der Bien es über den Winter schaffen. Vorausgesetzt, keine Schädlinge dringen ein und sie haben genug Nektar in den Waben eingelagert.
Beim heutigen Rundgang habe ich die Fluglöcher verkleinert. Bis zum Februar werden sie nun höchst selten ausfliegen, und wenn die Temperaturen steigen und sie wieder mehr hinauswollen, werde ich es schon merken. So ist das Risiko aber erst einmal geringer, dass sie direkt wieder von Mäusen oder anderen Schädlingen geräubert werden.
Es war ein gutes Honigjahr. Ich zähle die überschüssigen Wabenplatten, zähle die Eimer mit Honig, den ich in den kommenden Wochen säubern und abfüllen muss. Im Winter bleibt genug zu tun, weil es eines der guten Jahre war. Wenige Schädlinge, ein langer, sonniger Sommer. Ich will lieber dankbar dafür sein, mich nicht darüber aufregen, was nicht klappt in diesen Tagen.
Das Alleinsein lastet schwer auf mir. Ich bin 57, das ist kein Alter für eine Frau, das hat Carl jedenfalls immer behauptet, bis zuletzt. Ich habe ihm geantwortet, 62 sei ja auch kein Alter, dass man sterbenskrank wird, aber das hat er weggewischt, bis zum letzten Atemzug. »Noch bin ich nicht tot«, sagte er dann immer, und ich glaube, fast wären das seine letzten Worte gewesen, und wir hätten gelacht, bevor er dann wirklich gestorben wäre.
Aber er starb im Schlaf, das ist wohl eine Gnade; dieses Dämmern der letzten Tage, das Müde, das ihm anhaftete. Jetzt ist nichts mehr wie früher, es ist nur still, still, still.
Ich steh hier allein mit seinen Bienen. Meinen Bienen. Das muss ich mir immer wieder sagen, sie gehören mir, ich habe sie von ihm übernommen. Eines Tages werde ich sie an jemand anderes übergeben müssen, aber erst mal muss ich sie allein über den Winter bringen, das wird schwer genug.
»Wenn ich mal Pläne mache …«, murmelte Bea. Vier Tage später, nach einer überaus anstrengenden Woche, saß sie im Auto und starrte auf die rot leuchtenden Rücklichter der sich endlos vor ihr erstreckenden Reihe an Autos. Die Ampel ganz weit vorne sprang auf Grün, dann sofort wieder auf Rot, kaum dass drei Fahrzeuge über die Kreuzung kriechen konnten.
»Wir sitzen hier wohl fest, Bud Spencer.«
Ihr Hund saß auf seiner karierten Decke auf dem Beifahrersitz, gesichert durch sein entsprechendes Geschirr. Er kläffte und hechelte aufgeregt. Bud Spencer liebte Autofahrten. Alle Versuche, ihn im Laufe der Jahre in eine sichere Box im Kofferraum zu stecken, waren an ihren eigenen Nerven gescheitert – sie hielt sein jämmerliches Heulen einfach nicht länger als fünf Minuten aus. Nur vorne direkt neben ihr war er gut gelaunt.
»Müssen wir uns wohl in Geduld üben.« Sehnsüchtig blickte sie auf die Gegenfahrbahn, auf der die Fahrzeuge munter auf die Autobahn Richtung Ostsee auffuhren. Dort wäre sie jetzt auch gerne.
Und das hätte auch alles geklappt – wenn sie nicht einen entscheidenden Fehler gemacht hätte.
Sie war ans Telefon gegangen.
An einem Samstagmorgen.
Weil der Name ihrer Mutter aufblinkte.
Bei einer ihrer Schwestern hätte Bea den Anruf schlicht ignoriert, denn sie hatte mit keiner der drei ein so inniges Verhältnis, dass sie sich auch nur durch fünf Minuten Plauderei von ihrem Ziel abbringen ließ – und das hieß: ans Meer. Das Wetter war nämlich überraschend schön – kalt zwar, aber der Himmel blau und blank geputzt, die Sonne strahlte und brachte den Raureif an den Büschen und Bäumen am Straßenrand zum Glitzern.
»Du musst Alix helfen«, meldete sich ihre Mutter Claire ohne Umschweife. Direkt zur Sache, so kannte Bea sie sonst nicht. Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
»Guten Morgen, Maman. Schön, dass es dir gut geht.« Bea saß noch auf dem Sofa, ihre Hände um den Becher Kaffee geschlossen, den sie sich gerade aufgebrüht hatte. Dazu las sie ganz entspannt und – wie sie selbst zugeben musste – ziemlich altmodisch ihre Wochenendzeitung, die jeden Samstagmorgen in ihrem Briefkasten wartete.
»Du hast doch heute nichts vor, non?«
Wenn ihre Mutter aufgeregt war, kam die Französin in ihr immer wieder durch.
»Doch, zufällig schon.«
»Aha, was denn? Ich dachte, es ist dein freies Wochenende?«
Die Inquisition war nichts dagegen.
»Ich habe heute und morgen Bud Spencer.«
»Aber das macht doch nichts! Perfekt. Du kannst ihn einfach mitnehmen.«
Bea wehrte sich. Sie versuchte es zumindest, doch all ihre Argumente wurden von ihrer Mutter sofort entkräftet. Warum sie nicht selbst hinfahre, wenn Alix Hilfe brauchte? »Wir sind seit Monaten schon verabredet und fahren gerade zu unseren Freunden nach Regensburg. Gustav hat sich so darauf gefreut.« Nun gut. Aber was war mit ihren Schwestern Jette und Rosa? Konnte von denen keine helfen?
»Meinst du, ich hätte dich angerufen, wenn die beiden Zeit hätten?«
Touché.
»Aber nur heute! Morgen habe ich andere Pläne.«
»Danke, danke, meine Liebe. Ich wusste, auf dich kann ich mich verlassen. Du weißt doch, ich bin in Sorge um unsere Alix, sie soll sich schonen. Und jetzt ist Max das Wochenende nicht da, irgendein Keks-Notfall so kurz vor Weihnachten, er musste nach Nürnberg deswegen. Und euer Großcousin Hannes ist auch verschwunden, wer weiß wohin. Ich finde das unverantwortlich, jetzt ist sie mit Tante Barbara ganz allein auf dem Hof und hat noch den Hofladen an der Wange, aber auf mich hört ja keiner.«
Bea versuchte, sich ein Kichern zu verkneifen, weil Maman wieder mal ein Sprichwort etwas kreativ auslegte. Zugleich bemühte sie sich um Nachsicht. Ihre Mama war aufgeregt, verständlich. Immerhin hatten sich mit Alix’ Nachwuchs endlich Enkelkinder angekündigt, noch dazu im Doppelpack. In gewisser Weise dürfte Bea ihrer jüngeren Schwester auch dankbar sein, denn ihr blieb zumindest vorübergehend die Frage erspart, ob sie denn nie Kinder haben wollte. Wobei ihr seit ihrer Trennung von Stefan ohnehin der Mann fehlte, der nach Meinung ihrer Mutter dazugehörte, wenn man eine Familie gründen wollte.
Die Antwort lautete übrigens: Nein. Keine Kinder, bitte. Und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern, es brachte also nichts, die Frage alle halbe Jahre auf einem Familienfest wieder aufzutischen. Nach Stefan und Beas Trennung hatte Mama Claire ganz außer sich geschluchzt: »Aber jetzt wirst du nie Kinder bekommen!« Als ginge das nur im Rahmen einer Ehe. Bea hatte die Diskussion darüber dann doch lieber nicht geführt, sondern lediglich hilflos mit den Schultern gezuckt.
Offensichtlich war an diesem sonnigen Samstag Anfang November halb Hamburg auf dem Weg ins Alte Land. Als Bea eine halbe Stunde später ihren Wagen auf einen ausgewiesenen Parkplatz vom Apfelhof lenkte, auf dem Alix seit diesem Sommer wohnte, stapelten sich dort bereits die Autos mit Hamburger Kennzeichen. Sie musste ein paar Minuten warten, bis eine Lücke für sie frei wurde. Hinter ihr hupte schon jemand ungeduldig, dem hätte sie ja gern was erzählt. Ließ es aber, es hätte ohnehin keinen Zweck.
Hübsch war es auf dem Apfelhof. Es war ihr erster Besuch hier – die Eröffnung vor ein paar Wochen hatte sie ebenso ignoriert wie alle Einladungen, die Alix in der Familiengruppe ausgesprochen hatte, seit sie auf dem Hof wohnte.
Das Ständerwerk des Haupthauses war aus wunderschönem Buntmauerfachwerk. Gekrönt wurde dieses von den kunstvollen Giebelzierden, die strahlend weiß gestrichen waren. Bea stieg aus, Bud Spencer hatte es so eilig, dass er, kaum dass sie ihn aus dem Geschirr befreit hatte, über den Fahrersitz purzelte und draußen beinahe in einer Pfütze landete.
Sie näherte sich dem Haupthaus, nahm den Spaniel auf den Arm und drückte ihn kurz an sich. Schön, dachte sie. Bud Spencer zappelte, sie ließ ihn herunter, immer noch ganz vertieft in den Anblick des Hauses. Jedes Fach war anders gestaltet, dadurch wirkte die ganze Fassade gerade so, als erzählte sie dem Besucher eine Geschichte.
»Sie stehen im Weg.«
Sie trat beiseite. Bud Spencer blieb stumpf stehen und blickte zu dem Mann auf, der sich gerade zwischen ihnen durchschieben wollte, was allerdings von der Leine erfolgreich verhindert wurde.
»’tschuldigung.« Bea zog Bud Spencer zu sich heran und nahm ihn wieder auf den Arm. »Oh nein, Sie schon wieder!«
Ihr Gegenüber lachte. »Dasselbe könnte ich auch sagen.«
Vor ihr stand jener attraktive Kerl, der sie vor ein paar Tagen in Margarete Zeidlers Patientinnenzimmer mit Kaffee bekleckert hatte. Heute hielt er kein Tablett in den Händen, sondern drei übereinandergestapelte Kartons.
Bea spürte, wie sich ihre Wangen rosig verfärbten.
»Kommen Sie häufiger hierher?«, erkundigte er sich. Er ging neben ihr in Richtung Hofladen.
»Ist heute mein erster Besuch. Das hier gehört meiner Schwester.«
»Ah«, machte er.
Sie folgte ihm ins Gebäudeinnere und runzelte die Stirn. Sie hätte gern etwas Geistreiches gesagt, das die Tür zu einem Gespräch aufstieß, aber ihr war auf die Schnelle nichts eingefallen, und er beschleunigte seine Schritte bereits.