Eine Handvoll Asche - Abir Mukherjee - E-Book

Eine Handvoll Asche E-Book

Abir Mukherjee

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Beschreibung

Kalkutta 1921. Der Besuch einer Opiumhöhle nimmt für den britischen Ermittler Sam Wyndham ein unerwartetes Ende, als er im Rausch von einer Razzia überrascht wird und nun unerkannt vor seinen eigenen Leuten fliehen muss. Noch benommen vom süßlichen Rauch will er über das Dach des Hauses flüchten - und stößt auf eine Leiche. Mit zwei Stichen niedergestreckt, die Augen gewaltsam entfernt. Doch Wyndham hat keine Zeit, den Schauplatz genauer zu untersuchen. In letzter Sekunde bringt er sich selbst in Sicherheit.

Aber der grausame Fund ist erst der Auftakt einer Reihe blutiger Ritualmorde, die das politisch immer unruhiger werdende Kalkutta in Angst und Schrecken versetzen.

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Seitenzahl: 500

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DAS BUCH

Dezember 1921. Seit dem Großen Krieg und seiner Zeit im Militärlazarett hat Captain Sam Wyndham mit einer schweren Opium-Abhängigkeit zu kämpfen, die er vor seinen Vorgesetzten bei der Polizei von Kalkutta geheim halten muss. Als Sam bei einer seiner nächtlichen Touren in die Halbwelt der Stadt in eine Razzia gerät, muss er sich verstecken – und stößt unversehens auf die grausam zugerichtete Leiche eines Chinesen. Mit knapper Not gelingt Sam die Flucht. Dass die Sache damit noch lange nicht durchgestanden ist, wird ihm erst klar, als er auf eine Verbindung zwischen der nächtlichen Leiche und seinem neusten Fall als Ermittler stößt. Während die indische Unabhängigkeitsbewegung an Fahrt gewinnt und die Stadt langsam im Chaos versinkt, muss Sam alles daransetzen, die Fäden zu entwirren und seinen Kopf über Wasser zu halten.

DER AUTOR

Abir Mukherjee ist Brite mit indischen Wurzeln: Seine Eltern wanderten in den Sechzigerjahren nach England aus. Sein Debütroman Ein angesehener Mann schaffte auf Anhieb den Sprung auf die britischen Bestsellerlisten und wurde mit dem Dagger Award für den besten historischen Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. Mukherjee lebt mit seiner Familie in London.

LIEFERBARE TITEL

Ein angesehener Mann

Ein notwendiges Übel

ABIR MUKHERJEE

EINE

HANDVOLL

ASCHE

KRIMINALROMAN

Aus dem Englischen übersetzt

und mit einem Glossar versehen

von Jens Plassmann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Smoke and Ashes erschien 2018

bei Harvill Secker, an imprint of Vintage.

Vintage i spart of Penguin Random House group of companies.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2019

Copyright © 2018 by Abir Mukherjee

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock

(Kamenetskiy Konstantin, MriMan, Miguel Cabezon,

21MARCH, Lena Serditova)

Foto Innenklappe: Science History Images/Alamy Stock Foto

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-24516-0V002

www.heyne.de

Forget not, that thou art born as a sacrifice upon

the altar of the Motherland

Swami Vivekananda

Für Mum,

hoffentlich entschädigt es dafür,

dass ich es nicht zum Arzt gebracht habe

1

21. Dezember 1921

In einem Bestattungsinstitut auf eine Leiche zu stoßen ist nicht ungewöhnlich. Dass sie kurz zuvor noch aus eigener Kraft durch die Tür marschiert ist, dagegen schon. Ein zweifellos faszinierendes Rätsel, bloß fehlte mir die Zeit, mich damit zu beschäftigen, da ich gerade um mein Leben rannte.

Ein Schuss krachte. Die Kugel zischte an mir vorbei und traf nichts Heikleres als die auf dem Dach aufgehängte Wäsche. Meine Verfolger – allesamt Kollegen der Imperial Police Force – feuerten einfach blindlings in die Nacht. Damit war natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass sie mit dem nächsten Versuch einen Glückstreffer landeten, und auch wenn ich mich nicht vor dem Tod fürchtete, sollte die Inschrift auf meinem Grabstein nicht unbedingt lauten: »Beim Versuch zu fliehen in den Rücken geschossen.«

Also rannte ich, benebelt vom Opium, über die Dächer des schlafenden Chinesenviertels, rutschte auf losen Tonziegeln aus, die polternd hinunterfielen und am Boden zerschellten, und kletterte von einem Dach aufs nächste, bevor ich schließlich unter dem Vorsprung einer niedrigen Mauer, die zwei Häuser voneinander trennte, eine schmale Öffnung entdeckte, in die ich mich zwängte.

Die Polizisten kamen immer näher. Während ich darum bemüht war, meine Atmung so schnell wie möglich zu beruhigen, bellten sich die Stimmen über mir kurze Meldungen zu, die in der Dunkelheit verhallten. Allem Anschein nach hatten sie sich aufgeteilt und suchten jetzt in einem gewissen Abstand voneinander. Das war gut. Es bedeutete, dass sie ebenso ziellos im Dunkeln herumtappten wie ich. Einstweilen bestanden meine besten Fluchtchancen darin, mucksmäuschenstill in diesem Versteck auszuharren.

Würde man mich schnappen, hätte das einige ziemlich unangenehme Fragen zur Folge, deren Beantwortung ich gerne vermeiden wollte. Etwa die, was ich mitten in der Nacht, nach Opium stinkend und mit fremdem Blut verschmiert überhaupt in Tangra zu suchen habe. Und dann war da noch die Sache mit dem sichelförmigen Messer in meiner Hand. Auch dieses Detail würde nicht einfach zu erklären sein.

Meine Haut roch nach Schweiß und Blut, und ich begann zu zittern. Kalkutta war kalt im Dezember, zumindest im Verhältnis zu den sonst hier herrschenden Temperaturen.

Fetzen von Wortwechseln drangen an mein Ohr. Das Jagdfieber meiner Verfolger schien sich in Grenzen zu halten. Wer konnte es ihnen verdenken? Die Wahrscheinlichkeit, über mich zu stolpern, war in etwa so groß wie die, vom Rand des Daches zu taumeln. Und in Anbetracht der Ereignisse der letzten Monate war es um ihre Moral vermutlich nicht zum Besten bestellt. Warum also einem vagen Schatten über die Dächer hinterherhetzen und dabei riskieren, sich das Genick zu brechen, wenn einem sowieso keiner für die Arbeit dankte? Ich beschwor sie stumm, endlich aufzugeben und abzudrehen, aber noch ließen sie nicht locker. Mit ihren Gewehrkolben und Lathis erklopften sie sich weiter den Weg durch die Dunkelheit wie Blinde, die eine Straße überquerten.

Eine bestimmte Folge von Kolbenschlägen wurde plötzlich lauter. Beharrlich schwoll ihr gleichförmiger Rhythmus an. Ich ging meine Optionen durch – beziehungsweise hätte es getan, wären mir welche eingefallen. Weglaufen kam nicht in Frage. Der Mann war bewaffnet und schien inzwischen so nahe, dass er mich selbst im Dunkeln ohne große Probleme treffen würde. Sich ihm entgegenzustellen ergab ebenso wenig Sinn. Ich hatte zwar das Messer, aber damit konnte ich ja schlecht auf einen meiner Kollegen losgehen, mal ganz abgesehen davon, dass bei drei weiteren Beamten in unmittelbarer Nähe die Chancen einer erfolgreichen Flucht schneller sanken als ein Tonkrug im Hugli.

Das Klopfen erreichte die dünne Mörtelschicht über meinem Kopf, und sofort ließ der Hohlraum es voller und tiefer klingen. Der Mann stand jetzt offenbar direkt über mir auf dem Mauervorsprung. Auch er hatte den veränderten Ton bemerkt und war abrupt stehen geblieben. Er tastete die Kante mit seinem Gewehrkolben ab, dann sprang er zu mir herunter. Ich schloss die Augen vor dem, was nun unausweichlich folgen musste, doch dann hörte ich eine Stimme einen Befehl bellen. Eine Stimme, die ich kannte.

»Also gut, Leute, das reicht. Kehrt, marsch.«

Die Stiefelspitzen wandten sich in Richtung des Kommandierenden und verharrten so ein paar endlose Sekunden lang, bis ihr Besitzer zu guter Letzt zurück auf die Mauerkante kletterte. Sobald sie verschwunden waren, atmete ich aus und fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Meine Finger klebten noch immer vor Blut.

Die Stimmen entfernten sich, und über den Dächern kehrte wieder Stille ein. Einige Minuten später waren unten auf der Straße Ausrufe in Englisch, Bengalisch und Chinesisch zu hören, gefolgt von anspringenden Lastwagenmotoren. Ich rührte mich nicht von der Stelle, lag einfach nur zitternd in meinem engen Versteck und versuchte, aus der ganzen Sache irgendwie schlau zu werden.

Begonnen hatte die Nacht eigentlich ganz normal. Wobei »normal« hier zugegebenermaßen ein relativer Begriff war. Zumindest hatte sich die Nacht in nichts unterschieden von all den anderen Nächten, in denen ich eine der unzähligen Opiumhöhlen in Chinatown aufgesucht hatte. Von meiner Wohnung in der Premchand Boral Street war ich auf einem von vielen bereits erprobten Umwegen nach Tangra im Süden der Stadt gelangt. Dort hatte ich eine Adresse gewählt, bei der mein letzter Besuch, wie ich mich zu erinnern meinte, wenigstens einen Monat zurücklag. Die Räume befanden sich im Kellergeschoss einer maroden Häuserzeile, und der nasskalte Treppenschacht, der zu ihnen hinabführte, begann auf der Rückseite eines Bestattungsinstituts, aus dem es nach Formaldehyd und Tod stank. Es war eine meiner Lieblingsadressen, nicht etwa wegen der Qualität des Opiums – das war nicht besser als anderswo in der Stadt, mit anderen Worten: ein Teil Opium auf drei Teilen weiß Gott was –, sondern wegen der schaurig-morbiden Stimmung, die dem Ort anhaftete. Kalkuttas Opium raucht man eben am besten mit einem halben Dutzend Leichen ein Stockwerk über dem eigenen Kopf.

Ich war irgendwann nach Mitternacht angekommen, und der Türsteher hatte bei meinem Anblick ziemlich überrascht gewirkt. Verständlicherweise, obwohl er sich bestimmt nicht über mein Zittern wunderte – dafür hatte er schon zu viele Kunden mit ähnlichen Symptomen erlebt. Überrascht hatte ihn vielmehr meine Hautfarbe. Früher wäre ein Engländer mitten im nächtlichen Tangra nichts Außergewöhnliches gewesen, aber in den vergangenen zwölf Monaten hatte sich viel geändert. Durch die ausgedünnten Personalreihen war die Polizeipräsenz außerhalb der makellos gepflegten Straßen von White Town mittlerweile so schwach, dass man Sahibs nach Einbruch der Dunkelheit in Kalkutta nur noch selten begegnete. Zum Glück jedoch wogen in dieser Gegend der Stadt ökonomische Argumente weiterhin schwerer als Fragen der Rasse und Politik, weshalb mir der Fächer aus Rupienscheinen in meiner Hand auch ohne große Umstände Zutritt zum Keller verschaffte.

Der erste Zug an der ersten Pfeife war eine Erlösung. Als würde der Höhepunkt eines Fiebers überwunden. Bei der zweiten Pfeife hörte das Zittern auf, und bei der dritten beruhigten sich alle Nerven. Ich bestellte eine vierte. Waren die ersten drei rein medizinische Notwendigkeiten gewesen, galt die nächste allein dem Vergnügen. Sie würde mich auf den Weg ins Nirboˉn führen, wie die Bengalen Nirwana nannten. Mein Kopf ruhte auf der Stütze aus weißem Porzellan, während sich ein samtiger Schleier um meine Sinne legte. Das war der Augenblick, in dem der Ärger losbrach.

Zuerst Geräusche aus tausend Meilen Entfernung, abgehackt und unverständlich. Sie wurden immer lauter, bohrten sich durch den Nebel in meinem Kopf. Ich versuchte, mich davor zu schützen, indem ich fest die Augenlider zusammenpresste, bis plötzlich eins der Mädchen, die das O drehten und die Pfeifen zubereiteten, mich wie eine Stoffpuppe schüttelte.

»Sahib! Sie müssen jetzt gehen!«

Ich öffnete die Augen, und langsam nahm ihr stark gepudertes Gesicht Konturen an.

»Sie müssen gehen, Sahib. Polizeirazzia!«

Ihre Lippen waren blutrot gefärbt, und ein paar Sekunden lang schenkte ich diesem Anblick mehr Beachtung als dem, was sie sagte. Erst als ganz in der Nähe Möbelstücke umgeworfen wurden und Porzellan auf hartem Boden zerschellte, riss mich das aus meinem Bann. Ein Übriges tat die mächtige Ohrfeige, die sie mir verpasste.

»Sahib!«

Sie schlug erneut zu, und ich schüttelte mich wach.

»Polizei, Polizei, Sahib!«

Endlich kamen die Worte an. Ich rappelte mich auf, doch meine Beine waren so wacklig wie die eines frischgeborenen Kälbchens. Die junge Frau packte meinen Arm und zog mich fort von dem sich nähernden Lärm zu einem dunklen Durchgang auf der anderen Seite des Raums.

An der Türschwelle hielt sie inne und deutete mit ihrer freien Hand voraus. »Da lang, Sahib. An Ende sind Stufen. Hoch zu Rückseite.«

Ich sah sie an. Sie war noch kaum dem Kindesalter entwachsen. »Wie heißt du?«, fragte ich.

»Keine Zeit, Sahib«, sagte sie und wandte sich von mir ab. »Schnell gehen!«

Ich folgte ihren Anweisungen und stolperte in die Dunkelheit. Hinter mir konnte ich hören, wie sie versuchte, einen weiteren Kunden aus der Bewusstlosigkeit zu reißen. Blind ertastete ich mir einen Weg an den glitschig feuchten Wänden entlang. Der Steinboden war rutschig, und in der Luft hing der durchdringende Ammoniakgestank von altem Urin. In der Ferne schimmerte schwach irgendein bläuliches Licht über einer schmalen, durchhängenden Holztreppe. Ich hielt darauf zu, während mein Hirn weiter Karussell fuhr. In meinem Rücken hallten Stimmen durch den Gang. Befehle auf Englisch. Dann das Kreischen einer Frau.

Ich drehte mich nicht um.

Stattdessen taumelte ich weiter bis zur Treppe und sah hinauf. Der Ausgang war mit einer Falltür verschlossen. Zwischen Klappe und Dielenbrettern fielen dünne Lichtstrahlen nach unten. Ich schleppte mich die Stufen hoch, drückte gegen die Luke und fluchte, weil sich das Ding nicht bewegen wollte. Panische Angst erfasste mich, und das Zittern wurde noch heftiger. Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen und betrachtete die Klappe genauer. Ein Schloss schien nicht vorhanden, zumindest nicht auf der Innenseite. Ich holte tief Luft, drückte erneut und stemmte zur Verstärkung meine Schulter dagegen. Die Luke öffnete sich ein paar Zentimeter, fiel aber sofort wieder mit einem dumpfen Knall zu. Irgendetwas lag oben auf der Tür. Irgendetwas Schweres. Hinter mir wurden die Stimmen lauter. Ich nahm all meine verbliebene Kraft zusammen und warf mich ein weiteres Mal gegen die Klappe. Diesmal flog sie abrupt auf. Mein eigener Schwung schleuderte mich in einen zerfallenen Raum, durch dessen halb eingestürzte Decke das Mondlicht strömte. Ich landete hart auf dem Boden, inmitten irgendeiner Pfütze. Rasch raffte ich mich wieder auf, schloss die Luke und wollte sie mit dem beschweren, was auf ihr gelegen hatte. Merkwürdigerweise konnte ich nichts in der Nähe entdecken. Nichts außer einer Leiche.

Ich starrte sie an – weder entsetzt noch schockiert, denn Morphin stumpft die Sinne ab, und die Dosis, die durch meine Blutbahnen floss, hätte gereicht, um einen Elefantenbullen zu betäuben. Es handelte sich um einen Mann – oder das, was von ihm übrig war. Den Wangenknochen nach zu urteilen ein Chinese. Vom Rest seines Gesichts war nicht mehr viel zu erkennen. Die Augen lagen ausgestochen auf dem Boden neben ihm, und auf der linken Seite zog sich eine alte Narbe vom Haaransatz hinab bis zum Kiefer. Und dann war da natürlich noch das Messer, das in seiner Brust steckte.

An einer Wand waren Holzkisten aufgestapelt, wie man sie zum Transport von Tee benutzte. Ihre Metallbolzen glänzten im Mondlicht. Ich stolperte zum nächstgelegenen Stapel, um die oberste herunterzukippen. Was auch immer darin steckte, es wog Zentner. Dennoch gelang es mir, die Kiste Zentimeter für Zentimeter zu bewegen, bis sie genügend Überhang bekam und die Erdanziehungskraft den Rest besorgte. Sie schlug mit einem gewaltigen Knall auf, und an einer Seite entstand ein Riss im Holz, doch zum Glück brach sie nicht auseinander. Ich stemmte die Füße gegen die Wand und drückte die Kiste langsam über die Luke. Anschließend ließ ich mich neben sie auf den Boden sinken, da ich hoffte, ein wenig Zeit gewonnen zu haben. Erneut musterte ich den Toten. Er lag auf dem Rücken, und das Messer ragte aus seiner Brust wie der Hebel an einem einarmigen Banditen. Dass der Mann nicht mehr lebte, war von Vorteil. Nicht für ihn, aber für mich. Dann hörte ich, wie er flach und flatternd atmete, und fluchte. Je länger ich mich um ihn kümmerte, desto mehr schwanden meine Chancen zu entkommen. Angesichts des enormen Blutverlusts war er wohl sowieso nicht mehr zu retten, und ich konnte nicht viel für ihn tun, zumal die Ordnungshüter der Stadt gerade den ganzen Laden auf den Kopf stellten. Es drängte mich nicht sonderlich danach, ihnen erklären zu müssen, was genau ich hier zu suchen hatte, von oben bis unten mit dem Blut eines tödlich verletzten Chinesen beschmiert. Außerdem regelten Chinesen solche Dinge üblicherweise unter sich. Was sie sich gegenseitig antaten, ging mich nichts an.

Andererseits …

Ich holte tief Luft, krabbelte zu ihm und begann sein Hemd aufzuknöpfen, wobei ich sorgsam darauf achtete, das Messer nicht zu bewegen. Dann nahm ich mein Taschentuch und wischte ihm das Blut von der Brust. Soweit ich sehen konnte, gab es zwei Einstichstellen. Die eine, in der das Messer steckte, und eine zweite, fast identische auf der rechten Brustseite. Allerdings konnte es noch weitere geben. In meiner Verfassung und bei den herrschenden Lichtverhältnissen hätte ihm ein Arm fehlen können, ohne dass ich es bemerkte.

Mit einem Mal regte sich der Mann.

»Wer hat das getan?«, fragte ich.

Er wandte den Kopf in meine Richtung und wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein blutiges Gurgeln zustande.

»Der Stich hat Ihre Lunge getroffen«, erklärte ich. »Nicht bewegen.«

Die Warnung war begründet. Er hätte sie beherzigen sollen. Stattdessen griff er nach dem Messer und zog es heraus, bevor ich ihn daran hindern konnte. Das Messer fiel auf den Boden. Ich nahm das Taschentuch, presste es auf die Wunde und versuchte, die nur noch schwach einsetzende Blutung zu stillen, obwohl mir die Sinnlosigkeit dieser Bemühung sofort klar war. Wenn man so oft wie ich dabei gewesen ist, wie aus Menschen der letzte Rest Leben weicht, dann entwickelt man ein Gespür dafür. Tatsächlich war der Mann wenige Sekunden später tot. Ich beugte mich vor, hielt das Ohr an seinen Mund und horchte nach einem Atemzug, aber da kam nichts.

Hinter mir versuchte jemand, die Falltür aufzustemmen. Instinktiv schnappte ich mir das Messer und wirbelte herum. Auf der Treppe unter mir waren Stimmen zu hören. Zumindest zwei der Verfolger drückten gegen die Klappe, aber die Kiste erfüllte ihren Zweck und bewegte sich nur minimal. Dass die Männer deshalb aufgeben würden, bezweifelte ich jedoch.

Ich sah mich nach einem Fluchtweg um. Es gab zwei Türen. Ich stürmte durch eine davon und gelangte in einen Hof, der an drei Seiten von den Häuserwänden zwei- und dreigeschossiger Gebäude eingefasst war. Die vierte Seite bestand aus einer gut zwei Meter hohen, oben mit Glasscherben gespickten Mauer, in deren Mitte ich eine Tür entdeckte. Da ich annahm, dass sie zu einer Seitengasse führte, wollte ich schon darauf zulaufen, hielt aber unvermittelt inne. Dies war eine Polizeirazzia. Bestimmt standen auf der anderen Seite ein halbes Dutzend bewaffnete Polizisten, die nur darauf warteten, jeden zu ergreifen, der sich auf diesem Weg aus dem Staub machte. Daher entschied ich mich lieber für die Steintreppe, die an einer der Häuserwände zum Dach hinaufführte.

Irgendein Polizist musste mich jedoch von einem Fenster aus bemerkt haben, denn wenig später flog eine Dachterrassentür auf und jemand forderte mich lautstark auf, gefälligst stehen zu bleiben. Ich war dieser Bitte nicht gefolgt und hatte es stattdessen vorgezogen zu türmen … Und so lag ich jetzt zitternd in meinem winzigen Versteck und freute mich darüber, in dieser Nacht wenigstens eine richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Meine Gedanken kehrten zu dem toten Chinesen und der Razzia selbst zurück. Nüchtern betrachtet hätte es überhaupt keine geben dürfen. Die Einsatzsituation war derzeit viel zu angespannt. Indische Polizeikräfte quittierten in Massen den Dienst. Die Stadt stand kurz davor, ins Chaos zu stürzen. Der Polizei fehlten schlichtweg die Leute, um sich mit Nebensächlichkeiten wie Razzien in Opiumhöhlen zu beschäftigen.

Und es war auch keine geplant gewesen. Das wusste ich genau, weil ich es mir zur Angewohnheit gemacht hatte, an Tagen, an denen ich einen Abstecher nach Chinatown in Erwägung zog, immer erst in der für Drogenrazzien zuständigen Vice Division vorbeizuschauen. Ich hatte mich sogar mit dem Leiter der Abteilung angefreundet, einem Mann namens Callaghan. Seine Stimme war es gewesen, die eben die Männer zurückbeordert hatte.

Im Verlauf unserer Bekanntschaft hatte ich ihm so manchen Drink spendiert, um stets darüber informiert zu sein, wann er und seine Männer einen abendlichen Ausflug planten. Wenn eine Razzia anstand, war er in der Regel zu beschäftigt für ein kleines Schwätzchen, und in den Fluren herrschte angespannte Betriebsamkeit. Als ich heute dort vorbeigeschaut hatte, war alles im Tiefschlaf und Callaghan selbst nur allzu froh über meine Störung gewesen.

Dennoch hockte ich jetzt hier und versteckte mich vor einem kompletten Einsatztrupp seiner Leute.

2

Ich wartete.

Zwanzig Minuten, die sich länger anfühlten. Ich bewegte mich nicht, bis alle Stimmen und Geräusche verstummt waren. Nach und nach lichtete sich auch der Nebel in meinem Kopf. Schließlich kroch ich aus meinem Versteck und richtete mich langsam auf. Die Leiche noch einmal näher zu untersuchen kam nicht in Frage. Callaghan mochte samt seinem Trupp abgezogen sein, doch bestimmt hatte er Leute zurückgelassen, die sämtliche Zugänge bewachten. Wahrscheinlich ein paar bedauernswerte Constables von der örtlichen Polizei-Thana. Ich beneidete sie nicht um den Job. Schon so einigen indischen Streifenpolizisten war im nächtlichen Tangra die Kehle aufgeschlitzt worden.

Nein, meine dringlichste Aufgabe bestand darin, das Messer loszuwerden. Mir war noch immer schleierhaft, warum ich es überhaupt aufgehoben hatte. Dem Drang, Beweismittel zu sichern, war die Aktion ganz sicher nicht geschuldet. Zwar befanden sich womöglich die Fingerabdrücke des Täters darauf, aber meine inzwischen auch. Vielleicht hatte es etwas mit der seltsamen Form der Waffe zu tun. Die Klinge war gut fünfundzwanzig Zentimeter lang und eher angewinkelt als sichelförmig. Das Messer ähnelte denen, die Gurkha-Soldaten im Krieg getragen hatten, bloß dass der Griff in schwarzes Leder gefasst und mit einem kleinen silbernen Drachen verziert war.

Das Intelligenteste wäre gewesen, das Ding in den Hugli zu werfen. Leider lag der Fluss ein paar Kilometer entfernt, und blutverschmiert, wie ich war, würde ich in meinem jetzigen Aufzug nicht weit kommen. Ich brauchte andere Kleidung. Ich ließ meinen Blick über die angrenzenden Dächer streifen, bis ich entdeckte, wonach ich suchte. Wenige Minuten später hatte ich die Strecke so geräuschlos wie möglich bewältigt und durchwühlte die auf der Leine hängenden Wäschestücke wie eine Hausfrau, die bei Chukerbutty’s Fine Clothing Emporium im Bow Bazar das aktuelle Angebot prüft. Hindus gingen rituelle Reinigungen über alles, und das betraf nicht nur den Körper, sondern auch die Kleidung. Mit dieser Dauerbeschäftigung schienen sie auch die anderen nicht-weißen Bevölkerungsgruppen angesteckt zu haben, sodass halb Black Town zu jeder Tages- und Nachtzeit unter einem Meer an trocknender Wäsche verschwand. Ich zog mein Hemd aus und wickelte es vorsichtig um das Messer. Das Hemd, das ich von der Leine nahm, war alt, verwaschen und eine Nummer zu klein. Ich knöpfte es zu, so gut es ging, und krempelte die Ärmel hoch. Um das Ensemble zu komplettieren, stahl ich noch eins der großen Umhängetücher, die die Einheimischen Chador nennen, und schlang es mir wie eine alte Frau um Kopf und Schultern. Ich lief weiter über die Dächer, bis ich eine Stelle fand, die niedrig genug war, und sprang hinunter auf die Straße. Ein kurzer Abstecher nach Norden brachte mich zum Circular Canal, wo ich das Bündel aus Messer und blutverschmiertem Hemd mit einem Stein beschwerte und ins schwarze Wasser hinabließ, wie ein Hindugläubiger, der den Göttern ein Opfer darbringt. Anschließend hielt ich mich Richtung Westen, wusch mir unterwegs an einer Handpumpe Gesicht und Hände und erreichte nach einem halbstündigen Fußmarsch die Tonga-Station am Bahnhof von Sealdah, an der die ganze Nacht Kutschen warteten.

Den gesamten Weg über beschäftigte mich die Frage, warum diese Razzia durchgeführt worden war. Die Antwort darauf musste ich unbedingt herausfinden. Es konnte doch unmöglich Zufall sein, dass der Mord ausgerechnet mit der ersten Razzia zusammenfiel, die Callaghans Vice Division seit Monaten in einer Opiumhöhle durchführte, und das auch noch genau zu dem Zeitpunkt, da ich dort anwesend war.

Die Uhr am College Square zeigte Viertel nach drei, und wenig später war ich zurück in der Premchand Boral Street. Für meine Verhältnisse war das früh. Gewöhnlich kam ich von meinen Besuchen in Tangra nicht vor vier Uhr morgens nach Hause. Wäre da nicht der Tote gewesen, den ich einfach dort liegen gelassen hatte, ich hätte über dieses absurd anmutende Detail lachen müssen.

Ich schleppte mich die Stufen zu meiner Wohnung hoch und schloss vorsichtig auf. Die Wohnung lag im Dunkeln. Trotzdem musste ich mich ganz leise verhalten. Ich teilte mir die Wohnung mit einem jüngeren Kollegen, Surrender-not Banerjee, und der hatte einen leichten Schlaf. In Wirklichkeit hieß er gar nicht Surrender-not, sondern Surendranath, was anscheinend so viel wie »König der Götter« hieß. Aber wie bei so vielen Königen, die ich noch aus den Zeiten meines Geschichtsunterrichts kannte, war ich mit der korrekten Aussprache überfordert. Da es den meisten britischen Kollegen im Lal Bazar ähnlich ging, hatte ihn vor Jahren einer seiner Vorgesetzten einfach in Surrender-not umgetauft. Und dieser Name war haften geblieben, auch wenn der Mann, der ihn damals erfunden hatte, längst nicht mehr lebte.

Natürlich wusste Surrender-not von meiner Opiumsucht. Wir hatten zwar nie darüber gesprochen, aber der Junge war schließlich nicht blöd. Zu Anfang hatte er seine Bedenken noch in vage allgemeine Fragen über meinen Gesundheitszustand verpackt und dazu stets diesen enttäuschten Gesichtsausdruck aufgesetzt, mit dem einen auch die eigene Mutter angesehen hatte, wenn man mal wieder von einer Rauferei nach Hause kam. Geändert hatte das naturgemäß nichts, und mittlerweile war er die Nachfragen leid geworden. Nur diesen Blick fing ich mir noch von Zeit zu Zeit ein.

Größere Sorgen bereitete mir im Moment daher unser Hausdiener Sandesh. Er schlief ebenfalls in der Wohnung, normalerweise auf einer Matte unter dem Esstisch. Eigentlich sollte er in der Küche schlafen, aber die sei, wie er erklärt hatte, zu groß; bei derart hohen Zimmerdecken könne er einfach nicht schlafen. Ihn aufzuwecken wäre gewöhnlich kein Grund zur Besorgnis gewesen, denn selbst wenn es ihn überhaupt interessierte, wohin ich nachts so häufig verschwand, hätte es ihm das Verständnis seiner Stellung niemals gestattet, darüber eine eigene Meinung zu äußern. Hätte er jetzt allerdings erlebt, wie ich mich im Aufzug einer spanischen Fischverkäuferin in die Wohnung schlich, wäre womöglich sogar seine gigantische Gleichgültigkeit an ihre Grenzen gestoßen.

Ich lief auf Zehenspitzen in mein Zimmer und verriegelte sofort die Tür hinter mir. Durch das offene Fenster strömte das Licht des Halbmonds und legte sich wie ein fahler Schleier über die Einrichtung. Die Dunkelheit fühlte sich an wie ein Schutz, und so verzichtete ich darauf, die Lampe anzumachen. Ich warf den Chador ab, zog ein zerknülltes Päckchen Capstans sowie eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche, zündete mir mit zitternden Fingern eine Zigarette an und nahm einen langen, tiefen Zug.

In der Ecke stand meine Almirah, ein großer Holzschrank, wie er in den meisten Schlafzimmern Kalkuttas zu finden war. Auch mit dem Ankleidespiegel in einer der beiden Türen war das Möbelstück nichts Besonderes, sah man einmal von dem verschließbaren Stahlfach ab, das ein Viertel seines Innenraums einnahm. In ihm lagerten die wenigen wertvollen Habseligkeiten, die ich besaß, zusammen mit einer größeren Anzahl eher fragwürdiger Dinge. Ich legte die Zigarette in den alten Zinnaschenbecher auf meinem Schreibtisch, streifte mir das geborgte Hemd über den Kopf und verstaute es gemeinsam mit dem Chador im Stahlfach, das ich wieder sorgsam verschloss. Die Kleidungsstücke mussten verbrannt werden, aber einstweilen waren sie dort am besten aufgehoben. Alle belastenden Spuren waren damit verwischt. Ich ließ mich aufs Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Händen, während auf dem Schreibtisch die Zigarette zu Asche verglühte.

3

22. Dezember 1921

Die Tasse Tee auf dem Nachttisch war eiskalt. Vermutlich hatte Sandesh, wie es seine Gewohnheit war, sie dort bereits vor Stunden hingestellt. Ich befreite mich aus dem Moskitonetz, nahm die Tasse und schüttete das Zeug aus dem Fenster. Mit Befriedigung hörte ich das Platschen, mit dem der Inhalt im gepflasterten Hof aufschlug.

In Bezug auf weihnachtliche Festtagsstimmung stellte das für mich bereits einen Höhepunkt dar. Weihnachten in Kalkutta war schon eine seltsame Sache. Die Inder mochten zwar frieren, aber für jeden, der im echten britischen Winter aufgewachsen war, waren die Temperaturen nie und nimmer der Jahreszeit angemessen, und obwohl die Sternsinger in den örtlichen Kirchen mit ständigen Hosiannas und Hallelujas ihr Bestes taten, alle an das freudige Ereignis der Ankunft unseres Herrn und Erlösers zu erinnern, war Weihnachten unter Palmen statt unter Fichten oder Tannen einfach nicht das Gleiche.

Mal abgesehen von Weihnachten kam ich mit der Stadt aber immer besser zurecht. Vielleicht hing es mit der Tatsache zusammen, dass ich in ähnlichem Maße beschädigt und nur eingeschränkt funktionstüchtig war wie Kalkutta – diese Stadt, die man mitten in einem stinkigen bengalischen Sumpf errichtet hatte und die bevölkert war von gesellschaftlichen Außenseitern, die sich darum bemühten, trotz ihrer Chancenlosigkeit zu überleben.

Bis ich mich gewaschen, angezogen und an den Frühstückstisch gesetzt hatte, war Surrender-not längst verschwunden. Ein Frühaufsteher war er schon immer gewesen, aber in letzter Zeit hatte ich den Eindruck gewonnen, dass er sich besonders früh auf den Weg machte, nur um nicht mit mir reden zu müssen. Sandesh trat ein und servierte mir stumm mein Frühstück und die heutige Ausgabe des Englishman. Den Fettflecken auf der Titelseite nach zu urteilen, hatte Surrender-not sie bereits gelesen. Ich legte die Zeitung zur Seite und begann, in meinem lauwarmen und großzügig mit grünen Chilistückchen bestreuten Omelette zu stochern. Nach Essen war mir in letzter Zeit selten zumute – und noch viel weniger nach Nachrichten, die von den Spielchen des Herrn Gandhi beherrscht wurden. Das Land glich einem Pulverfass, seit der Mahatma, wie seine Gefolgsleute ihn zu nennen pflegten, vor Monaten alle Inder aufgefordert hatte, das Land mit einer Flut von gewaltfreien Aktionen der Nichtkooperation zu überziehen. Wenn sie das taten – so sein Versprechen –, würde er noch vor Jahresende für die Unabhängigkeit sorgen.

Da die Inder von Mystizismus nie genug bekommen können, genügte ihnen der Anblick dieses Mannes in seinem schlichten Dhoti, um der Aufforderung Folge zu leisten. Millionen von ihnen – nicht nur die Salonrevolutionäre aus Bombay, Kalkutta und Delhi, sondern auch die einfachen Menschen, die Bauern, Tagelöhner und Fabrikarbeiter aus Tausenden über das ganze Land verstreuten Städten und Dörfern –, sie alle folgten seinen Aufrufen, britische Waren zu boykottieren, Arbeitsstellen bei staatlichen Behörden zu kündigen und generell für Störungen zu sorgen, wo es nur ging. Das musste man dem kleinen Kerl lassen: Er hatte die Kongresspartei von einer Quasselbude für Anwälte in eine richtige Volksbewegung verwandelt. Die Massen miteinzubeziehen – das war der geniale Schachzug des Mahatmas gewesen. Er hatte ihnen versichert, dass es allein auf sie ankam, und dafür verehrten sie ihn.

Kalkuttas Bengalen, die von jeher mit Feuereifer dabei waren, wenn es darum ging, den Briten eins auszuwischen, hatten sich mit Freuden zur treibenden Kraft der Bewegung aufgeschwungen – obwohl es so schrecklich viel Bewegung eigentlich gar nicht gab, da die bevorzugte Taktik des Mahatmas darin bestand, seine Anhänger anzuweisen, sich hinzusetzen und nicht von der Stelle zu rühren. Als Protestform war dieses Verhalten geradezu maßgeschneidert für den bengalischen Wesenszug, am liebsten mit kleinstmöglichem Eigenaufwand größtmögliche Unannehmlichkeiten zu verursachen. Der Hang zum Streiken lag ihnen so sehr im Blut, dass die Ansicht, manche würden nur deshalb zur Arbeit erscheinen, um sofort in Streik treten zu können, keineswegs jeder Grundlage entbehrte.

Vor nicht allzu langer Zeit war Kalkutta noch Hauptstadt von Britisch-Indien gewesen. Sollten wir jedoch gehofft haben, die Verlagerung des Machtzentrums nach Delhi würde die Fähigkeiten der angestammten Bevölkerung mindern, für Ärger zu sorgen, dann war dies ein gewaltiger Irrtum gewesen. Die Menschen hier waren dem Aufruf des Mahatmas mit gewohnter Begeisterung gefolgt. Junge Leute verließen Universitäten und Schulen, Staatsbedienstete kündigten reihenweise, und vor Regierungsbehörden zogen Mahnwachen auf. Am besorgniserregendsten aber war die hohe Zahl an Polizisten, die ihren Dienst quittierten. Es hatte ganz harmlos begonnen. Vereinzelt hatten indische Polizisten unmittelbar nach Gandhis Aufruf ihre Marke aus politischem Prinzip abgegeben. Doch dann kamen die Massenverhaftungen, kam die Einkerkerung von Demonstranten, und mit dem zunehmenden öffentlichen und familiären Druck nahm der Aderlass kontinuierlich zu.

In den Städten war die Situation immer schlimmer geworden. Eigentlich hätte man zwar erwarten können, dass sich die Sicherheitslage eher verbesserte, da so viel Nachdruck auf den friedlichen Charakter der Proteste gelegt wurde, aber der Mahatma hatte Kräfte freigesetzt, die er nicht kontrollieren konnte. So manchem, den seine Worte in glühende Begeisterung versetzten, schien der Sinn nicht ganz so unbeirrbar nach Gewaltfreiheit zu stehen wie ihm. Im Laufe der vergangenen Monate waren die Auseinandersetzungen daher hitziger geworden, und sporadisch hatte es Übergriffe gegeben auf Weiße, Anglo-Inder, Christen, Parsen, Chinesen und so ziemlich jeden, der in Verdacht geriet, von der Idee eines unabhängigen Indien nicht ausreichend verzückt zu sein. Und der Imperial Police Force mangelte es schlicht an Leuten, um wirklich allen Schutz zu gewähren, selbst wenn wir das gewollt hätten. Genau darin lag nämlich unser schmutziges Geheimnis: Denen da oben kamen die Übergriffe in Wahrheit eher zupass. Alles, was Gandhis Aura eines Heiligen beschädigen konnte, wurde als hilfreich betrachtet, und Übergriffe durch seine Anhänger lieferten den perfekten Vorwand für hartes Durchgreifen.

Auf dem Papier mochte dieser Plan sogar sinnvoll gewirkt haben, und der Vizekönig samt seiner Beraterclique in Delhi schienen ihn zu billigen, doch die hätten ja auch genauso gut in London oder auf dem Mond hocken können, so weit entrückt waren sie der Wirklichkeit auf der Straße. Bei dieser angespannten Stimmung und den schon jetzt zum Bersten gefüllten Gefängnissen war hartes Durchgreifen in Kalkutta sicherlich kein sehr kluger Gedanke.

Wie es hieß, hatte der Vizekönig, der noch nie durch allzu viel Rückgrat aufgefallen war, ursprünglich zu Kompromissen geneigt, doch ein paar stramm formulierte Telegramme aus Downing Street und zweifellos auch ein paar stramm eingeschenkte Gläser Gin mussten seiner Entschlossenheit so viel Auftrieb geschenkt haben, dass er den Forderungen der Inder am Ende kein Stückchen entgegenkam. Inzwischen blieben nur noch zehn Tage, bis Gandhis Jahresfrist ablief, und da selbst unter seinen leidenschaftlichsten Unterstützern die Disziplin schwand, hegte man höheren Orts die Hoffnung, dass die ganze gewaltfreie Bewegung in sich zusammenbrach, wenn man nur noch vierzehn Tage dem Sturm trotzte – und dass damit zugleich auch die Glaubwürdigkeit des Mahatmas dauerhaft zerstört sein würde.

Doch dann traf plötzlich eine neue Meldung ein: Die Regierung Ihrer königlichen Majestät hatte in ihrer unendlichen Weisheit beschlossen, dass sich der Zusammenhalt des Empire am nachdrücklichsten stärken ließ, wenn Seine Königliche Hoheit Prinz Edward, der Prince of Wales, einen Monat lang das Land bereiste. Die elektrisierende Wirkung dieser Nachricht hatte sich tatsächlich sofort gezeigt, allerdings weniger bei den königstreuen britischen Bürgern der Stadt als bei den Bengalen. Die Kongressführer riefen umgehend zu einem vollständigen Boykott des Besuchs auf, und die Proteste, die sich bereits abgeschwächt hatten, flammten abrupt und mit Macht wieder auf.

Vor ein paar Wochen nun war der Prinz in Bombay eingetroffen und dort von einer Blaskapelle und handfesten Ausschreitungen empfangen worden. Kalkutta hingegen hatte auf seinen bevorstehenden Besuch bislang nur in unerschütterlich friedfertiger Form reagiert, was in manchen Stadtvierteln dennoch eine fast panische Angst auslöste, denn diese Ruhe war nicht von den wackeren Ordnungshütern der Imperial Police Force durchgesetzt worden oder gar von der Armee, sondern von einem ganz neuen Machtfaktor: den ganz in Kaki gehüllten Mitgliedern von Gandhis Congress Volunteer Force. Diese gewissenhaften, idealistischen jungen Männer sollten im Auftrag des Mahatmas sicherstellen, dass der gewaltfreie Protest seinem Namen weiterhin gerecht wurde und nicht in Gewalt umschlug. Trotzdem lief es auch mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich sah, wie sie in der Art einer Bürgermiliz den Strom der demonstrierenden Menschen lenkten. Irgendwie entpuppte sich 1921 mehr und mehr als ausgezeichneter Jahrgang für uniformierte Haufen. In Italien schwoll die Zahl von Mussolinis Schwarzhemden bedrohlich an, während deren braun gekleidete Gesinnungsbrüder in Deutschland langsam ebenfalls zur Plage wurden. Unsere Congress Volunteers mochten zwar ihre Gewaltfreiheit beteuern, aber ich misstraute jeder zivilen Organisation, die es für nötig hielt, ihre Mitglieder in quasimilitärische Uniformen zu stecken. Nicht einmal die Pfadfinder bildeten da für mich eine Ausnahme.

Die Volunteers waren vom Kongress dazu verpflichtet worden, Gandhis Aufruf zum Generalstreik Nachdruck zu verleihen. Zum Zeichen des Protests gegen den Prinzenbesuch sollten Geschäfte, Firmen und Ämter überall lahmgelegt werden. Im Gegenzug hatte der Vizekönig uns den Befehl gegeben, jeden zu verhaften, der das reibungslose Funktionieren der staatlichen Verwaltung zu behindern suchte. Jedem war klar, dass ein Showdown bevorstand, und in der Polizeizentrale am Lal Bazar arbeitete man bereits an Notfallplänen, sollte es zum Schlimmsten kommen.

Währenddessen drehte der Prinz vergnügt seine Runden durchs Land. Sein Besuch in Kalkutta sollte in drei Tagen stattfinden – sinnigerweise am ersten Weihnachtstag.

Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätten wir Herrn Gandhi unmöglich machen können.

Sandesh trat ein und stellte eine frische Tasse Tee auf den Tisch. Ich nahm sie und verdrängte alle politischen Grübeleien. Prompt kehrten meine Gedanken zu den Ereignissen der vergangenen Nacht zurück. Bei meiner Flucht hatte ich viel Glück gehabt, und letztlich verdankte ich sie mehr der raschen Auffassungsgabe einer jungen Chinesin als dem eigenen Geschick. Die Sache kam mir noch immer wie ein Traum vor, und manche meiner Erinnerungen waren womöglich wirklich nichts anderes als vom Opium angeregte Erfindungen meines Unterbewusstseins. Pipe Dreams nannte man so etwas. Aber die Leiche hatte real existiert. In diesem Punkt war ich mir absolut sicher.

Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Toten um den Fußsoldaten einer Opiumgang. Diese Banden stritten sich seit ewigen Zeiten um die Vorherrschaft in Chinatown. Am ehesten kamen Green Gang oder Red Gang in Frage, die zwei bedeutendsten Spieler im chinesischen Opiumhandel. Beide operierten von Shanghai aus, und Kalkutta war als Tor, durch das Opium weiterverschickt wurde, wertvoll genug, um dafür Blut zu vergießen. In der Vergangenheit war es uns gelungen, ein Ausufern dieser Revierkämpfe zu verhindern. Aber jetzt, da die Zahl unserer Einsatzkräfte so geschrumpft war, mussten wir anderen Dingen Vorrang einräumen, und die Gangs hatten rasch die Gunst der Stunde erkannt und bekriegten einander, um das entstandene Machtvakuum zu füllen.

Die Identität des Toten zu klären wäre eigentlich Aufgabe meiner Abteilung gewesen – zumindest theoretisch. Dem Gesetz nach waren wir nämlich verpflichtet, jeden Mord zu untersuchen, der innerhalb unseres Zuständigkeitsgebiets verübt wurde. Die Praxis sah jedoch anders aus. Sofern das Opfer nicht weiß oder – Gott behüte! – ein hochgestellter Inder war, fand meist nur eine oberflächliche erste Untersuchung statt, bei der ein paar Formulare ausgefüllt wurden, bevor man den Fall an irgendeine kleine Polizeiwache vor Ort übertrug und vergaß.

Dennoch fragte ich mich, auf wessen Schreibtisch diese Angelegenheit wohl landen würde. Da ich im Augenblick nicht gerade in Arbeit ertrank, bestand durchaus die Chance, dass die Wahl zufällig oder gezielt auf mich fiel. Wenn nicht, würde ich alles daransetzen, mich über sämtliche Ergebnisse der Untersuchung auf dem Laufenden zu halten. Wohlgemerkt nicht, weil ich Angst hatte, selbst ins Visier der Ermittler zu geraten – sobald die Kleidung verbrannt war, konnte mich nichts mehr mit dem Tatort in Verbindung bringen –, sondern weil irgendwas an der Sache nicht stimmte.

Ich trank meinen Tee aus und machte mich auf den Weg. Draußen stürmte Kalkutta sofort mit der üblichen Wucht auf alle Sinne ein. Es war eine überwältigende Mischung aus strahlend bunten Farben, durchdringenden Gerüchen und der Kakofonie von Alltagsgeräuschen einer Stadt, in der sich eine Million Einwohner auf einem Gebiet drängten, das schon für ein Zehntel davon zu klein gewesen wäre.

Um halb elf hatte ich es an meinen Schreibtisch im Lal Bazar geschafft. Meine Pünktlichkeit war in letzter Zeit nicht unbedingt vorbildlich, aber noch war es nicht so schlimm, dass die Kollegen angefangen hätten, Bemerkungen darüber zu machen. Zumindest taten sie es nicht in meiner Gegenwart. Schon wahr, Surrender-not hatte ein paar kryptische Anspielungen fallen lassen über Dinge, die ihm zu Ohren gekommen waren, aber ich hatte nicht ganz begriffen, was er damit sagen wollte. Wenn es darum ging, Informationen preiszugeben, äußerte er sich häufig in etwa so verständlich wie das Orakel von Delphi. Abgesehen davon kümmerte mich auch nicht, was meine Kollegen von mir hielten. Es gab nur einen einzigen Mann, dessen Ansichten von Bedeutung waren, und der Nachricht auf meinem Schreibtisch zufolge schien genau der mich sprechen zu wollen. Dringend.

Ich gönnte mir noch ein paar Sekunden, um zur Ruhe zu kommen, dann verließ ich mein Büro wieder, gabelte unterwegs Surrender-not auf und stieg mit ihm gemeinsam hinauf in den obersten Stock zum Büro von Lord Taggart, dem Commissioner der Polizei von Bengalen.

»C. R. Das. Was wissen Sie über ihn?«

Die Frage traf mich überraschend. Ich saß Lord Taggart an dessen Schreibtisch gegenüber. Surrender-not hatte auf dem Stuhl neben mir Platz genommen.

»Sir?«

Der Commissioner schüttelte den Kopf. Er sah müde aus. Alle Polizisten Kalkuttas sahen derzeit so aus.

»Ach, kommen Sie, Sam. Den Namen müssen Sie doch kennen. Oder haben Sie das gesamte letzte Jahr verschlafen?«

Natürlich kannte ich den Namen. Jeder in Indien kannte ihn.

»Gandhis Chefaufwiegler für Bengalen«, erklärte ich. »Sein Bild ist fast täglich in der Zeitung.«

Die Antwort vermochte den Commissioner nicht zu besänftigen.

»Und das ist alles, ja? Die Gesamtheit Ihres Wissen über meinen aktuell ärgsten Quälgeist?«

»Ich neige dazu, meine Nase aus politischen Dingen herauszuhalten, Sir. Sollten Sie jedoch den Verdacht hegen, Mr. Das hätte jemanden umgebracht, werde ich mich selbstverständlich genauer mit ihm beschäftigen.«

Taggart musterte mich misstrauisch. Da unsere Zusammenarbeit bis in die Kriegsjahre zurückreichte, gestattete er mir ein klein wenig mehr Freiraum als den meisten anderen, aber seine Toleranz hatte Grenzen. Für diesmal ließ er mir die Bemerkung durchgehen und wandte sich an Surrender-not. »Vielleicht kann Sergeant Banerjee Ihnen ja aus der Patsche helfen.«

Surrender-not machte den Eindruck, als würde es ihm schwerfallen, ruhig auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Er konnte dem Drang, mit seinem Wissen zu prahlen, oft nur mit viel Selbstbeherrschung widerstehen, und es hätte mich nicht gewundert, wenn seine Hand in diesem Moment wie die eines übereifrigen Schülers in die Höhe geschnellt wäre. »Chitta-Ranjan Das«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Anwalt am High Court, gilt allgemein als einer der brillantesten Rechtsgelehrten des Landes. Unterstützer der Home-Rule-Bewegung. Größere Bekanntheit errang er vor etwa fünfzehn Jahren mit der Verteidigung des Dichters Aurobindo Ghosh im Prozess um den Bombenanschlag von Alipore, als sich kein anderer Anwalt bereitfand, den Fall zu übernehmen. Mr. Das erreichte einen Freispruch. Sein Name sprach sich herum, und schon bald war er einer der erfolgreichsten Anwälte Kalkuttas. Wie der Captain bereits erwähnte, ist er inzwischen Gandhis rechte Hand in Bengalen und verantwortlich für die Organisation der Nichtkooperationsbewegung und der Congress Volunteers in der gesamten Provinz. Das Volk liebt ihn. Ähnlich wie beim Mahatma hat es Das einen Ehrentitel verliehen. Die Menschen nennen ihn Deshbandhu, was ›Freund der Nation‹ bedeutet.«

»Stimmt«, bemerkte Lord Taggart bitter. »Tja, ein Freund von uns ist er jedenfalls nicht. Und seine verfluchten Volunteers genauso wenig.«

Surrender-not ließ mich schlecht aussehen. Ich machte ihn mit einem vielsagenden Seitenblick darauf aufmerksam, erntete als Reaktion aber nur ein Achselzucken.

Taggart drehte sich mir zu. »Wie Sie wissen, Sam, erwarten wir am Sonntag Seine Königliche Hoheit, den Prince of Wales, und sowohl Delhi als auch London legen größten Wert darauf, dass sein Besuch in unserem hübschen Städtchen ein formidabler Erfolg wird.«

Der Prinz hatte etwas von einem amerikanischen Filmstar. Vielleicht beruhte die Ausstrahlung auf seinem Charme, vielleicht auf diesem natürlichen Selbstvertrauen, das die angeborene Bestimmung, dereinst über ein Sechstel des Erdballs zu herrschen, so mit sich brachte, oder vielleicht waren es lediglich die hervorragend geschnittenen, überaus teuren Anzüge, die er trug. Was auch immer die Ursache sein mochte, überall auf der Welt strömten jedenfalls die Massen zusammen, um sich in der Glorie dieses Mannes zu aalen. Die britische Regierung war nur allzu gern bereit, diese Wirkung zu ihrem Vorteil zu nutzen, und schickte ihn zu Goodwilltouren in alle Ecken des Empires.

Kalkutta war allerdings nicht Kapstadt, und ich fragte mich, ob den Schreibtischstrategen in London und Delhi wirklich klar war, welch immense Aufgabe es für den Prinzen sein würde, hier irgendetwas Positives zu bewirken. Wer Ruhe und Beschaulichkeit suchte, für den war das Ziel Kalkutta ungefähr so lohnend wie die zweite Schlacht an der Marne. Ich war ihm sogar schon einmal begegnet, dem Prinzen Edward Albert Sachsen-Coburg Windsor oder wie immer sein vollständiger Name lautete. 1916 war das gewesen, an der Front. Damals wie heute hatten sie ihn auf eine Rundreise zur Anhebung der Moral geschickt, obwohl mir stets schleierhaft blieb, wie der Handschlag eines Prinzen, der nie am eigenen Leib den Horror eines Krieges erleben würde, die Moral von Männern aufbessern sollte, deren Leben täglich aus kaum etwas anderem bestand, als auf die eine Maschinengewehrkugel zu warten, die ihren Namen trug. Er muss seinerzeit selbst noch ein blutjunger Bursche gewesen sein. Ich erinnere mich noch an die glatten Gesichtszüge und die Uniform, die an ihm eine Nummer zu groß wirkte. An Mut fehlte es ihm allerdings nicht. Gerüchten zufolge hatte er sich 1915 freiwillig für den Fronteinsatz gemeldet, war jedoch von König und Regierung umgehend wieder zurückgepfiffen worden.

»Aus diesem Anlass hat der Vizekönig beschlossen, die Congress Volunteers zur verbotenen Organisation zu erklären«, fuhr Taggart fort. »Und das gerade noch rechtzeitig. Das Verbot wird morgen in Kraft treten. An diesem Punkt kommen Sie ins Spiel, Sam. Ich möchte, dass Sie persönlich zu Das gehen und ihn davon in Kenntnis setzen. Sagen Sie ihm, er soll die Vorwarnung als gut gemeinte Geste betrachten. Was den Prinzen betrifft, so hoffe ich nur, dass er keine große Lust hat, mehr Zeit als unbedingt nötig in unsrer schönen Stadt zu vertrödeln. Angeblich soll er Inder ja eher abstoßend finden und bloß so schnell wie möglich nach London und in die Arme seiner Geliebten zurückwollen. Trotzdem dürfen wir auf keinen Fall zulassen, dass es zu irgendwelchen Aktionen oder Mätzchen kommt, die peinlich für Seine Königliche Hoheit oder die Regierung Ihrer Majestät sind.«

»Plant Das Ihrer Meinung nach denn irgendwelche Mätzchen?«, fragte ich.

Taggart nahm einen silbernen Füllfederhalter und trommelte damit auf die Tischplatte. »Da bin ich mir absolut sicher. Sie müssen herausfinden, was genau er vorhat, und ihn dann dazu bringen, es zu unterlassen.«

»Notfalls können wir ihn doch einfach verhaften«, wagte ich zu bemerken. Es schien die naheliegendste Lösung. Immer vorausgesetzt, wir hatten irgendwo in einer Zelle noch Platz für ihn.

Taggart schüttelte den Kopf. »Dazu möchte er uns doch gerade verleiten. Wenn wir ihn wegen Aufwiegelung verhaften, machen wir einen Märtyrer aus ihm, und sofort unterstützen noch zehntausend Menschen mehr seine Sache. Außerdem erwarten wir neben der englischen die gesamte internationale Presse in der Stadt, um über den Besuch zu berichten. Der Vizekönig möchte daher, dass wir unbedingt jede nachteilig aussehende Reaktion vermeiden. Ein Generalstreik ist das eine – mit Bildern von menschenleeren Straßen kann ich leben –, aber wütende Bengalen, die in Massen gegen die Verhaftung ihres beliebtesten Landsmannes protestieren, das hat eine ganz andere Dimension.«

»Ich verstehe noch immer nicht genau, was Sie von uns erwarten, Sir«, sagte ich. »Handelt es sich hier nicht um eine Angelegenheit, die wie maßgeschneidert ist für Section H? Oder haben unsere Freunde vom militärischen Geheimdienst ihre Versuche eingestellt, politischen Aufruhr jedweder Art zu zerschlagen?«

»Dass sie aufgegeben haben, bezweifle ich stark, Sam«, antwortete er. »Es dürfte eher so sein, dass sie gerade nicht so genau wissen, wie sie vorgehen sollen. Mit ein paar hundert bombenwerfenden Terroristen fertig zu werden, damit kennen sie sich aus. Weit weniger bewandert sind sie im Umgang mit einer landesweiten Massenbewegung, angeführt von einem Heiligen, dessen Strategie darin besteht, sie anzulächeln und dann seine Anhänger aufzufordern, sich hinzusetzen, den Verkehr zu blockieren und so zu tun, als würden sie beten. Und ehrlich gesagt, erstaunt mich diese Ratlosigkeit kein bisschen. Was soll man denn da groß machen? Miese Tricks sind das.« Er legte den Füller auf den Schreibtisch. »Nein«, fuhr er fort, »ich denke, um diese Nuss zu knacken, benötigen wir mehr als den Vorschlaghammer, den Section H so trefflich zu schwingen versteht. Deshalb habe ich ja auch Sie rufen lassen, Sam. Sie haben in London für die Special Branch gearbeitet und Gruppen irischer Unabhängigkeitskämpfer infiltriert.«

»Lang, lang ist’s her«, sagte ich. »Das war noch vor dem Krieg. Und einen Iren quer durch London zu verfolgen, ist wohl kaum das Gleiche, wie in Kalkutta auf einen Inder angesetzt zu werden. Um hier irgendwas zu infiltrieren, fehlt mir schon die richtige Hautfarbe, es sei denn, wir sprechen über die Bar des Bengal Club. Wie soll ich überhaupt an Das rankommen?«

»Tun Sie doch nicht so begriffsstutzig, Sam«, erwiderte Taggart seufzend. »Natürlich verlange ich nicht von Ihnen, sich in den Kreis seiner Vertrauten einzuschleichen. Ich möchte bloß, dass Sie zu ihm hingehen, ihm die Entscheidung des Vizekönigs mitteilen und ihn warnen. Anschließend melden Sie sich dann wieder bei mir und berichten mir, wie Sie den Kerl einschätzen. Sie haben mit solchen Typen doch schon zu tun gehabt. Sie wissen, wie die denken. Verschaffen Sie sich ein Gefühl dafür, was er vorhat.«

»Und warum sollte er überhaupt mit mir sprechen?«, fragte ich.

»Aus einem einfachen Grund«, erklärte Taggart und lächelte. »Meines Wissens ist der werte Mr. Das ein enger Freund der Familie von unserem Sergeant Banerjee hier.«

4

»Den Punkt haben Sie aber schön für sich behalten«, sagte ich und nahm hinter meinem Schreibtisch Platz.

Auf der anderen Seite rutschte Surrender-not auf seinem Stuhl hin und her.

»Da hatten wir die letzten zwölf Monate über so viel Ärger – Streiks, Kündigungen, Übergriffe –, und Sie hielten es nicht für nötig zu erwähnen, dass der Verantwortliche für all diese Dinge ein Busenfreund von Ihnen ist?«

Der Sergeant senkte den Blick. »Ich hege große Zweifel, dass er mich als Busenfreund betrachtet«, antwortete er. »Mein Vater ist eng mit ihm befreundet. Ich selbst bin Onkel Das schon seit Jahren nicht mehr begegnet.«

»Onkel Das?«, stichelte ich. Früher hätte ich geglaubt, dass Onkel tatsächlich ein Verwandtschaftsverhältnis bezeichnet, aber im Zusammensein mit Indern begriff man schnell, dass bei ihnen nahezu jeder enge Bekannte gleich Onkel, Tante, Großväterchen oder großer Bruder genannt wurde. Jeder war ein Kakū, eine Masi oder ein Dada, ganz so, als bildeten diese dreihundert Millionen in Wahrheit eine einzige unzufriedene Großfamilie.

»Na, wenn er Ihr Onkel ist, sollten wir die ganze Angelegenheit ja vor der Mittagspause erledigt haben.«

»Sie wissen genau, dass er nicht mein richtiger Onkel ist«, erklärte Surrender-not. »Und selbst wenn er es wäre, würde uns das auch nicht viel helfen. Nicht bei dem Ruf, den ich derzeit in der Familie genieße.«

Da hatte er recht. Der Junge hatte wirklich mehr als genug Opfer gebracht, nur um weiter den Beruf ausüben zu können, der ihm am besten gefiel. Er hatte sich mit Freunden und Verwandten überworfen und mit ständigen Gewissensbissen zu kämpfen, und auch wenn ich darüber nicht unbedingt Buch führte, so dürfte er seine Eltern seit dem vorletzten Kali Puja, dem Fest zu Ehren der Göttin Kali vor über einem Jahr, nicht mehr getroffen haben.

Ich hätte mich entschuldigen sollen, tat es aber nicht – wie gewöhnlich. Ihn konnte das kaum überraschen. Es gab so vieles, für das ich mich bei ihm hätte entschuldigen müssen, dass es auf eine Sache mehr oder weniger auch nicht mehr ankam.

»Mein Vater und er lernten sich zu Beginn ihrer Juristenlaufbahn am Lincoln’s Inn kennen«, fuhr er fort. »Mit nur einem Jahr Abstand erlangten sie beide an dieser Anwaltskammer ihre Zulassung. Als ich klein war, kamen er und seine Familie uns häufig besuchen, meist um die Uhrzeiten der Pujas herum.« Er lachte bitter auf. »Wenn ich so darüber nachdenke, wird er in letzter Zeit wahrscheinlich häufiger in meinem Elternhaus gewesen sein als ich.«

»Was können Sie mir denn noch über ihn erzählen?«

»Was möchten Sie wissen?«

»Mit wem wir es zu tun bekommen. Was für eine Art Mensch ist er?«

»Die Art, die Ihnen verhasst ist – ein Bengale, der sich mit Gesetzen auskennt.«

»Verhasst sind die mir nicht«, widersprach ich. »Zumindest nicht alle. Ich bevorzuge bloß den Umgang mit Menschen, die den Job, den wir machen, ein wenig zu schätzen wissen.«

Er lächelte hämisch. »Von der Art dürfte es allerdings nicht mehr viele im Land geben, Sir.«

»Haben Sie auch irgendwas Nützliches beizutragen?«, wollte ich wissen.

»Ja, Sir, auf jeden Fall«, antwortete er. »Er ist der Spross einer bekannten bengalischen Familie und einer der wohlhabendsten Juristen in ganz Kalkutta. War er wenigstens früher.«

»Warum war?«

»Nach seiner ersten Begegnung mit Gandhi hat er alles der Unabhängigkeitsbewegung gespendet. Selbst sein Haus. Das ist ein glühender Anhänger von der Idee der Gewaltfreiheit. Er zählte zu den Ersten, die einen Boykott westlicher Kleidung propagierten. Was nicht der Ironie entbehrt, da er selbst für seine maßgeschneiderten Anzüge aus Paris bekannt war, bevor er sie alle verbrannte und nur noch in Indien hergestellte traditionelle Kleidung trug.«

Allem Anschein nach ein echter Fanatiker.

»Sonst noch was?«, bohrte ich nach.

»Er hat eine Frau und drei Kinder.«

Ich hatte das deutliche Gefühl, dass Surrender-not noch mehr wusste. »Sind Sie auch der Meinung, dass er etwas plant?«

»Würden Sie das nicht an seiner Stelle?«

»Besorgen Sie mir seine Akte«, sagte ich.

»Ja, Sir.« Er nickte, stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Und finden Sie heraus, wo er sich aufhält«, rief ich ihm nach. »Wir werden dem Deshbandhu heute Nachmittag mal einen Besuch abstatten.«

Ein paar Minuten später, als ich mir sicher war, dass Surrender-not in sicherer Entfernung an seinem Schreibtisch hockte, verließ ich das Büro zu einem Ausflug in ganz eigener Sache.

Auf der anderen Seite des Hofs schloss sich ein Nebengebäude an, in dessen erster Etage die Vice Division untergebracht war. Ich stieg hinauf und stieß auf eine ziemlich verschlafen wirkende Abteilung. Am Morgen nach einer Razzia hätte in dem Raum ein Betrieb wie auf dem Londoner Waterloo-Bahnhof zur besten Rushhour herrschen müssen. Stattdessen war gar nichts los. Zwei Sekretärinnen unterhielten sich leise in einer Ecke, und ein paar Nachwuchspolizisten standen sich die Füße in den Bauch, während über ihnen die Ventilatorenblätter auf halber Kraft quietschend ihre Runden drehten. Ich war mittlerweile ein so vertrauter Besucher, dass mir niemand groß Beachtung schenkte, als ich den Raum durchquerte, an dem abgetrennten Büro am anderen Ende klopfte und den Kopf durch die Tür steckte.

Inspector Callaghan studierte gerade mit gezücktem Stift irgendwelche Akten. Er besaß eine stämmige Statur, einen ernsten Gesichtsausdruck, dichtes rotes Haar, trug eine Brille und hatte diesen typisch blassen Teint der Iren, die beim kleinsten Sonnenstrahl sofort hummerfarben anliefen. Da er darüber hinaus eine Todesangst vor fremdartigem Essen hatte, war es wahrhaftig ein Rätsel, warum er sich überhaupt entschlossen hatte, Großbritannien zu verlassen, und warum seine Wahl gerade auf Kalkutta gefallen war. Wie dem auch sei, der Mann war ein angenehmer Zeitgenosse, und ich mochte ihn. Was zu Beginn nur der Versuch gewesen war, sich sein Vertrauen zu erschmeicheln, hatte sich zu einer Art Freundschaft entwickelt, und es wäre wirklich eine Schande gewesen, hätte ausgerechnet einer seiner Männer mich gestern erschossen, denn das hätte er sich womöglich ewig zum Vorwurf gemacht.

Er sah auf. »Ach, Sie sind’s, Wyndham.« Er legte den Stift aus der Hand. »Was bringt Sie zu mir?«

»Lust auf Mittagessen?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie wissen doch, dass ich mittags nichts esse.«

Das stimmte. Er hatte mir schon früher erzählt, dass mittags zu essen seine gesamte Verdauung verrückt spielen ließ. Verantwortlich dafür machte er ein hartnäckiges Magengeschwür. Zwar hatte kein Arzt es jemals finden können, doch diese Tatsache festigte nur noch seine Überzeugung, dass es da sein musste, und während sämtliche Medikamente sich bislang als wirkungslos erwiesen hatten, linderten ein paar Gläser Guinness die Symptome für gewöhnlich spürbar.

»Und in flüssiger Form?«

Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist noch nicht mal zwölf.«

Ich trat ins Büro und setzte mich ihm gegenüber in den Stuhl. »Ist eben ein anstrengender Tag heute.«

Er musterte mich über den Rand seiner Brille hinweg. »Ja, richtig gut sehen Sie wirklich nicht aus.«

»Also, wollen wir?«, drängte ich weiter.

»Kann leider nicht«, sagte er entschuldigend, griff wieder nach dem Stift und klopfte damit auf die vor ihm liegende Akte. »Zu viel Arbeit.«

Ich tat, als würde ich ihm das nicht abkaufen. »Ach was. Sie sitzen doch hier seit Monaten nur herum und drehen Däumchen. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, wann Sie das letzte Mal eine Razzia durchgeführt haben. Juni, hab ich recht?«

Der Anflug eines Lächelns breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Vergangene Nacht, wenn Sie’s genau wissen wollen. Sogar eine richtig große. Unten in Tangra.«

»Tatsächlich?«, sagte ich. »Die Nummer haben Sie aber schön geheim gehalten.«

»Aus einem einfachen Grund«, erklärte er in vertraulichem Tonfall. »Ich habe es selbst erst eine Stunde vorher erfahren. Alles ganz furchtbar geheim. Befehl von Lord Taggart persönlich, der damit anscheinend einer Bitte von Section H nachkam.«

»Section H? Worauf hatten die es denn abgesehen?«

Callaghans Blick wanderte zur offenen Tür. »Machen Sie die doch mal zu«, sagte er leise.

Ich beugte mich nach hinten und ließ die Tür ins Schloss fallen.

»Offenbar haben sie den Tipp erhalten, dass irgendein Oberboss der Green Gang aus Shanghai, ein Mann namens Fen Wang, in der Stadt ist und sich an diesem Abend in Tangra aufhalten soll.«

»Und, hat er?«

Callaghan zuckte mit den Achseln. »Na ja, wenn er da war, ist er jedenfalls rechtzeitig vor unserer Ankunft getürmt.«

»Keinerlei Festnahmen?«

»Nur der übliche Abschaum – ein paar Chinesen von hier und ein Belgier, der blöd genug war, sich da rumzutreiben. Wir haben die Namen an Dawson von Section H weitergegeben, aber der hat sofort angeordnet, sie wieder laufen zu lassen. Offenbar waren sie nur an Fen Wang interessiert.«

Callaghan klang gelangweilt. Kein Wort über die Leiche eines Mannes, der kurz zuvor ermordet worden war. So etwas würde er doch wohl nicht unerwähnt lassen?

»Gar nichts, was fürs CID in Frage käme?«, erkundigte ich mich.

Er starrte mich ungläubig an. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Wyndham?«

»Doch, ja«, antwortete ich vorsichtig.

»Sind Sie etwa auf der Suche nach Arbeit? Freiwillig Ihre Dienste anzubieten sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Bestimmt kein Fieber?«

»Wollte nur behilflich sein«, erklärte ich. »Im Moment schwimme ich gerade so ein bisschen.«

»Ja, hab schon davon gehört«, sagte er und seufzte. »Tja, mein Guter, leider habe ich nichts für Sie. Letzte Nacht war eine Pleite.«

»Also schön«, sagte ich, stand auf und ging zur Tür.

»Und, Wyndham«, rief er mir nach. »Das mit dem Drink holen wir demnächst nach, in Ordnung?«

Ich verließ sein Büro, ging zum Treppenhaus und stieg langsam die Stufen hinab. Unten lehnte ich mich gegen die Wand, zündete mir eine Zigarette an und versuchte, mir einen Reim auf das zu machen, was Callaghan mir eben erzählt hatte. Die Razzia der vergangenen Nacht war also von Section H angeordnet worden, die wiederum auf den Tipp zu einem chinesischen Gangster reagiert hatte? Die Aufgabe von Section H bestand doch eigentlich darin, indische Revoluzzer im Auge zu behalten. Seit wann kümmerten sie sich um chinesische Drogenhändler? Und wenn dieser Fen Wang wirklich so wichtig war, warum überließen sie die Razzia der Polizei, statt sie selbst durchzuführen? Natürlich hatte Gandhis Aufruf, jegliche Posten im Staatsdienst zu quittieren, auch beim Militär dafür gesorgt, dass die Zahl der indischen Soldaten, die sich unerlaubt von der Truppe entfernten, ein Rekordhoch erreichte. Dennoch konnten ihre Verluste nicht höher ausgefallen sein als die der Polizei.

Der Anlass für die Razzia war allerdings nur ein Teilaspekt des Rätsels. Schließlich blieb da noch die Frage, was mit der Leiche des ermordeten Mannes geschehen war. Warum hatte Callaghan ihn mit keinem Wort erwähnt? Hatten seine Leute ihn womöglich schlicht übersehen? Die Opiumhöhle und das darüberliegende Gebäude bildeten ein Wirrwarr an Kämmerchen, Nischen und versteckten Ecken. Hatte sein Trupp den Laden nicht gründlich genug durchsucht? Da sie nach einer ganz bestimmten Person Ausschau hielten und auch meine Verfolgung mit großem Eifer betrieben hatten, erschien mir das eher unwahrscheinlich.

War es nicht eher denkbar, dass jemand die Leiche in der kurzen Zeit zwischen meinem Verschwinden und dem Eintreffen der Polizei aus dem Raum geschafft hatte? In diesem Fall blieb die Frage: Wer? Und wohin?

Das ganze Drumherum wollte einfach keinen richtigen Sinn ergeben, bis mir plötzlich eine weit verstörendere Erklärung einfiel. Vielleicht hatte es ja nie eine Leiche gegeben? Ich war mächtig angeschlagen gewesen vom O. Hatte ich mir die Sache etwa nur eingebildet? Halluzinationen im Opiumrausch waren beileibe keine Seltenheit. Deshalb gab es ja auch diesen Begriff dafür: Pipe Dreams.

Aber ich hatte die Mordwaffe doch in meiner Hand gehalten. Das Blut des Toten hatte an meinem Hemd und an meinen Händen geklebt. Unvorteilhafterweise ruhten Messer und Hemd inzwischen auf dem Grund des Circular Canal, und meine Hände waren längst wieder sauber. Sicher verschlossen in meiner Almirah lagen natürlich noch das geborgte Hemd und der Chador, aber die bewiesen gar nichts. Letzten Endes besaß ich keinerlei handfesten Beweis, dass überhaupt etwas geschehen war.

Ich zog lange an meiner Zigarette und bemühte mich, den Gedanken wieder aus meinem Kopf zu vertreiben. Der Mann war da gewesen, sagte ich mir. Die naheliegendste Erklärung lautete, dass Callaghan mich anlog. Seine Männer hatten die Leiche entdeckt, bei der es sich vermutlich um Fen Wang handelte, und Section H hatte ihn angewiesen, Stillschweigen zu bewahren. So musste es sein. Alles andere war reine Paranoia.

Auf meinem Schreibtisch wartete bereits eine dicke Akte auf mich. Auf dem Schildchen stand C. R. Das, und obenauf lag einen Notiz von Surrender-not. Er hatte herausbekommen, wo Das zu finden war. Der Deshbandhu hatte an diesem Nachmittag offenbar einen Termin am High Court.

5

Surrender-not und ich saßen auf der Rückbank eines Dienst- Wolseleys, ohne uns unserem Ziel zu nähern. Der Wagen stand zwar auf der Spur Richtung Strand Road, doch die letzten zehn Minuten hatten wir uns nicht von der Stelle bewegt. In der Ferne strahlte die helle Turmspitze des High Court in der Nachmittagssonne.

»Und Sie sind sicher, dass er da drin ist?«, fragte ich.

»Wenn er das nicht wäre, würden wir hier nicht feststecken«, antwortete Surrender-not.