Ein notwendiges Übel - Abir Mukherjee - E-Book

Ein notwendiges Übel E-Book

Abir Mukherjee

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Beschreibung

Kalkutta, 1920: Ein Jahr nach seiner Ankunft in Britisch-Indien wird der ehemalige Scotland-Yard-Ermittler Sam Wyndham mit einer heiklen Mission betraut. Der Thronfolger von Sambalpur wurde ermordet. Die Kolonialregierung hat ein hohes Interesse an der Ergreifung des Täters, verfügt in dem unabhängigen Fürstenstaat jedoch über keinerlei polizeiliche Befugnisse. Sam und sein indischer Sergeant Surrender-not Banerjee reisen als verdeckte Ermittler ins Reich des Maharadschas, das für seinen unsagbaren Reichtum, die prunkvollen Tempel, und die jährliche Großwildjagd bekannt ist ...

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DAS BUCH

1920: Ein Jahr nach seiner Ankunft in Kalkutta hat sich der ehemalige Scotland-Yard-Ermittler Sam Wyndham zumindest an das Klima in Britisch-Indien gewöhnt. Mit der Ergreifung des Terroristen Sen hat er zudem der Kolonialregierung einen großen Gefallen getan. Doch die indische Unabhängigkeitsbewegung ist weiterhin auf dem Vormarsch.

Bei einem Treffen mit Würdenträgern der unabhängigen Fürstenstaaten kommt es zur diplomatischen Katastrophe: Im Beisein der Ermittler wird der Sohn des Maharadscha von Sambalpur ermordet. Wyndham und der indische Sergeant Surrender-not Banerjee erhalten den Auftrag, verdeckt zu ermitteln. Sie reisen nach Sambalpur, wo der sagenhaft reiche Maharadscha im Palast der Sonne residiert. Ohne polizeiliche Befugnisse müssen sie einen Mörder finden, der sich irgendwo im undurchschaubaren Machtgefüge des Fürstenstaats versteckt hält.

DER AUTOR

Abir Mukherjee ist Brite mit indischen Wurzeln: Seine Eltern wanderten in den Sechzigerjahren nach England aus. Sein Debütroman Ein angesehener Mann schaffte auf Anhieb den Sprung auf die britischen Bestsellerlisten und wurde mit dem Dagger Award für den besten historischen Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. Mukherjee lebt mit seiner Familie in London.

LIEFERBARE TITEL

Ein angesehener Mann

ABIR MUKHERJEE

EIN

NOTWENDIGES

ÜBEL

Kriminalroman

Aus dem Englischen übersetzt

und mit einem Glossar versehen

von Jens Plassmann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe A Necessary Evil erschien 2017

bei Harvill Secker, an imprint of Vintage.

Vintage is part of the Penguin Random House group of companies.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2018

Copyright © 2017 by Abir Mukherjee

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von Motiven von © shutterstock

(Kamenetskiy Konstantin, Noppasin, Sean Hsu)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22009-9V001

www.heyne.de

In liebevollem Gedenken an meinen Schwiegervater

Manharlal Devjeebhai Mistry,

Bapu

Für Sonal,

für alles

You can’t make an omelette without breaking heads.

1

Freitag, 18. Juni 1920

Einen Mann mit einem Diamanten im Bart sieht man nicht alle Tage. Aber ich schätze, wenn einem Prinzen an Ohren, Fingern und Kleidung der Platz ausgeht, dann ist der Kinnbart nicht die schlechteste Alternative.

Um Punkt zwölf hatten sich die schweren Mahagonitüren des Government House geöffnet, und sie alle kamen herausgeschwebt. Eine Menagerie von Maharadschas, Nizams, Nawabs und anderen Würdenträgern. Jeder der zwanzig gehüllt in Seide, behangen mit Gold, wertvollen Edelsteinen und genügend Perlen, um ein ganzes Schwadron verwitweter Gräfinnen vor Scham im Erdboden versinken zu lassen. Einer oder zwei von ihnen behaupteten, von der Sonne oder dem Mond abzustammen, andere begnügten sich mit einer der etwa hundert Hindu-Gottheiten. Der Einfachheit halber packten wir sie alle in eine Schublade und nannten sie schlicht die Fürsten.

Diese zwanzig hier kamen aus den Fürstenstaaten, die Kalkutta am nächsten lagen. Über Indien verteilt gab es mehr als fünfhundert. Gemeinsam herrschten sie über zwei Fünftel des Landes. Zumindest redeten sie selbst sich das ein, und wir bestärkten sie nur zu gerne in diesem Glauben, vorausgesetzt, sie sangen alle brav »Rule, Britannia« und schworen dem King Emperor ihre Treue.

Wie die Götter wandelten sie in einer streng nach Rang geordneten Prozession mit dem Vizekönig an der Spitze in die glühende Hitze hinaus, wo sie sofort den Schatten von einem Dutzend seidener Sonnenschirme ansteuerten. Seitlich davon, hinter einer undurchdringlichen roten Reihe Turban tragender Soldaten der vizeköniglichen Leibwache drängelten sich Fürstenberater, Verwaltungsbeamte und Hofschranzen aller Art. Und hinter denen standen Surrender-not und ich.

Unvermittelt krachten vom gegenüberliegenden Rasen die Salutschüsse der Kanonen, und ein Schwarm Krähen stieg kreischend aus den Palmen auf. Ich zählte die Donnerschläge. Insgesamt einunddreißig, eine Ehre, die allein dem Vizekönig vorbehalten war – kein einheimischer Fürst verdiente mehr als einundzwanzig. Damit wurde unmissverständlich klargestellt, dass dieser eine britische Verwaltungsbeamte hierzulande noch über jedem Inder stand, selbst über denen, die von der Sonne abstammten.

Wie die Kanonenschüsse war auch die Versammlung, an der die Fürsten gerade teilgenommen hatten, reines Theater. Die richtige Arbeit würde später von ihren Ministern und den Vertretern des Indian Civil Service erledigt. Für die Regierung Britisch-Indiens zählte vor allem, dass die Fürsten hier, auf diesem Rasen, für ein Gruppenfoto zusammenkamen.

Lord Chelmsford, der Vizekönig, schlurfte in vollem Festtagsornat vorneweg. Wirklich wohlzufühlen schien er sich nie in dieser Prunkuniform, die ihn aussehen ließ wie einen Portier vor dem Claridge’s. Für einen Mann, der in seinem Auftreten gewöhnlich eher an einen unterernährten Totengräber erinnerte, hatte er sich zwar ganz passabel herausgeputzt, aber neben den Fürsten wirkte er dennoch farblos wie eine Taube inmitten einer Wiese voll Rad schlagender Pfauen.

»Welcher ist unsrer?«

»Der da drüben«, erwiderte Surrender-not und nickte in Richtung eines großen Mannes mit fein geschnittenen Zügen, der einen pinkfarbenen Seidenturban trug. Der Prinz, den wir sprechen wollten, hatte an dritter Stelle die Treppe betreten und stand an erster Stelle in der Thronfolge eines Fürstenstaats, der im hintersten Orissa verborgen lag, also irgendwo südwestlich von Bengalen. Seine Durchlaucht Prinz Adhir Singh Sai von Sambalpur hatte um unsere Anwesenheit gebeten – oder vielmehr um die Anwesenheit von Surrender-not. Die beiden waren als Schüler gemeinsam auf das Harrows in London gegangen. Ich selbst war nur hier, weil ich die Anweisung dazu erhalten hatte. Der Befehl kam direkt von Lord Taggart, dem Commissioner der Polizei, der behauptete, dies geschehe auf ausdrücklichen, höchstpersönlichen Wunsch des Vizekönigs.

»Diese Gespräche sind von enormer Bedeutung für die Regierung Britisch-Indiens«, hatte er betont. »Und ihr Erfolg hängt entscheidend von der Einwilligung Sambalpurs ab.«

Dass Sambalpur für irgendwas von entscheidender Bedeutung sein konnte, fiel schwer zu glauben. Auf der Landkarte war es jedenfalls unter dem fetten R von ORISSA kaum auszumachen. Dafür brauchte man schon eine Lupe und ein gewisses Maß an Geduld, und besonders an Letzterem schien es mir derzeit zu mangeln. Der Flecken war jedenfalls winzig, nicht größer als die Isle of Wight und ähnlich mager bevölkert. Und trotzdem stand ich jetzt hier und sollte dem Geplauder zwischen diesem Prinz und Surrender-not lauschen, bloß weil die indische Regierung dies für eine Angelegenheit von staatstragender Bedeutung hielt.

Die Fürsten und Prinzen gruppierten sich für das offizielle Foto dem Protokoll gemäß um den Vizekönig. Die wichtigsten sollten auf vergoldeten Stühlen Platz nehmen, die weniger wichtigen dahinter auf einer Bank stehen. Prinz Adhir saß zur Rechten des Vizekönigs. Während die Stühle ein letztes Mal zurechtgerückt wurden, machten die Fürsten steif und verlegen Small Talk. Ein paar versuchten sich zu verdrücken, wurden aber von genervt aussehenden Beamten rasch wieder eingefangen und auf ihre Positionen dirigiert. Schließlich bat der Fotograf um Aufmerksamkeit. Pflichtbewusst stellten die Fürsten ihre Gespräche ein und drehten sich der Kamera zu. Das Blitzlichtpulver explodierte, die Szene war für die Ewigkeit festgehalten, und endlich konnten alle ihrer Wege ziehen.

Ein Zeichen des Wiedererkennens huschte über das Gesicht von Prinz Adhir, als er Surrender-not entdeckte. Er befreite sich aus der Unterhaltung mit einem wohlbeleibten Maharadscha, über dessen Schultern ein Tigerfell lag und der mit dem Gesamtbestand eines mittelgroßen Banktresors behangen war, und kam zu uns herüber. Für einen Inder war er außergewöhnlich groß und hellhäutig, und er bewegte sich mit der Haltung eines Kavallerieoffiziers oder Polospielers. Im Vergleich zu den Fürsten um ihn herum war er eher schlicht gekleidet. Seine hellblaue Seidenkurta besaß diamantenbesetzte Knöpfe und wurde an der Taille von einer goldenen Schärpe gehalten. Dazu trug er weiße Seidenhosen und auf Hochglanz polierte schwarze Oxford-Brogues. Seinen Turban zierte eine Brosche, auf der Smaragde prangten, und ein Saphir von der Größe eines Gänseeis.

Den Angaben Lord Taggarts zufolge war der Vater des Prinzen, der Maharadscha, der fünftreichste Inder. Und wie jeder wusste, war der reichste Mann Indiens gleichzeitig auch der reichste Mensch der Welt.

Der Prinz näherte sich mit einem strahlenden Lächeln. »Bunty Banerjee!«, rief er und breitete die Arme aus. »Wie lange ist das her?«

Bunty – mit diesem Namen hatte ich noch nie jemanden Surrender-not anreden hören, und immerhin lebte ich mit ihm seit einem Jahr unter einem Dach. Dass er diesen Spitznamen bislang geheim gehalten hatte, konnte ich ihm allerdings nicht verdenken. Wäre bei mir in der Schule jemand auf die Idee gekommen, Bunty würde am besten zu mir passen, hätte ich diese Tatsache wohl auch nicht an die große Glocke gehängt. Natürlich lautete sein richtiger Name ebenso wenig Surrender-not. Den hatte ihm ein Kollege bei seinem Eintritt in die Imperial Police Force verpasst. Seine Eltern hatten ihm den Namen Surendranath gegeben, was so viel hieß wie König der Götter. Und obwohl ich mir bei der korrekten Aussprache in Bengali große Mühe gab, bekam ich es nie ganz richtig hin.

Schuld an diesem Unvermögen trug ich jedoch nicht, wie er mir versicherte. Die englische Sprache verfüge einfach nicht über die richtigen Konsonanten, erklärte er mir. So fehle zum Beispiel das weiche »d«. Seiner Meinung nach mangelte es der englischen Sprache überhaupt an so einigem.

»Es ist mir eine Ehre, Sie wiederzusehen, Eure Durchlaucht«, erwiderte Surrender-not mit einer leichten Verbeugung.

Der Prinz machte diese leicht gequälte Miene, wie sie die Aristokraten gerne aufsetzen, wenn sie so tun, als würden sie lieber wie Normalsterbliche behandelt. »Komm schon, Bunty, ich denke, auf Förmlichkeiten können wir verzichten. Und wen haben wir hier?« Bei dieser Frage streckte er mir eine reich beringte Hand entgegen.

»Darf ich dir Captain Wyndham vorstellen?«, sagte Banerjee. »Ehemals Scotland Yard.«

»Wyndham?«, wiederholte der Prinz. »Etwa der, der im vergangenen Jahr diesen Terroristen Sen erwischt hat? Der Vizekönig hält gewiss große Stücke auf Sie.«

Sen war ein indischer Revolutionär, den die Behörden vier Jahre lang ohne Erfolg gejagt hatten. Ich hatte ihn im Zusammenhang mit dem Mord an einem hohen britischen Verwaltungsbeamten festgenommen und wäre dafür fast zum Helden des britischen Empire erklärt worden. Die Wahrheit war erheblich komplizierter, aber ich hatte weder Zeit noch Lust, die Geschichte zu korrigieren. Und was noch wichtiger war, mir fehlte dazu die Befugnis durch den Vizekönig, der die ganze Angelegenheit unter die Verschlussvorschriften des Official Secrets Act von 1911 gestellt hatte. Also schüttelte ich nur lächelnd die Hand des Prinzen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Eure Durchlaucht.«

»Ach, nennen Sie mich doch bitte Adi«, bemerkte er leutselig. »Das tun alle meine Freunde.« Er hielt einen Moment nachdenklich inne. »Eigentlich bin ich über Ihre Anwesenheit sogar hocherfreut. Es gibt da nämlich eine nicht ganz undelikate Geschichte, die ich mit Bunty besprechen möchte, und die Meinung eines Mannes von Ihrem Sachverstand könnte sich als höchst nützlich erweisen. Geradezu ideal also, dieses Zusammentreffen.« Sein Gesicht strahlte. »Gewiss eine göttliche Fügung.«

Ich hätte ihm erzählen können, dass der Vizekönig an dieser Fügung deutlich größeren Anteil hatte als irgendein Gott, aber so groß war der Unterschied zwischen den beiden in Britisch-Indien ja nicht. Dass der Prinz schon von sich aus mit mir reden wollte, ersparte mir zumindest, neugierig lauschend dabeizustehen wie eine indische Mutter in der Hochzeitsnacht ihres Sohnes.

»Gerne zu Diensten, Eure Durchlaucht.«

Mit einem Fingerschnippen rief er einen Herrn herbei, der in der Nähe stand.

Der kahlköpfige Brillenträger wirkte nervös wie ein Bibliothekar, der sich in ein gefährliches Stadtviertel verirrt hat. Ungeachtet seiner eleganten Kleidung fehlte ihm das großspurige Auftreten eines Fürsten, ganz abgesehen von dessen Juwelenbehang.

»Leider dürfte dies nicht der angemessene Ort für ein solches Gespräch sein«, erklärte der Prinz, als der Mann eilig zu ihnen trat. »Aber vielleicht wären Sie und Bunty so freundlich, mich zurück ins Grand zu begleiten, wo sich die Angelegenheit in angenehmerem Rahmen bereden lässt.«

Wie eine Frage klang das nicht. Vermutlich verpackte der Prinz seine Anweisungen häufig in diese Form. Der Glatzkopf verbeugte sich tief vor ihm.

»Ah, schön«, sagte der Prinz nun deutlich lustloser. »Captain Wyndham, Bunty, ich möchte Ihnen gerne Harish Chandra Davé vorstellen, den Diwan von Sambalpur.«

Diwan bedeutete Premierminister und wurde von den Indern ausgesprochen wie das gleichnamige Sofa.

»Eure Durchlaucht«, sagte der Diwan und grinste unterwürfig, während er sich wieder aufrichtete. Er schwitzte. Das taten wir alle, mit Ausnahme des Prinzen, wie es schien. Der Diwan warf einen raschen Seitenblick auf Banerjee und mich, griff dann in seine Tasche, brachte ein rotes Baumwolltaschentuch zum Vorschein und betupfte damit seine glänzende Stirn.

»Wenn ich kurz um ein Wort unter vier Augen bitten dürfte, ich …«

»Sollte es um meine Entscheidung gehen, Davé, die ist unumstößlich, fürchte ich«, sagte der Prinz gereizt.

Der Diwan schüttelte betreten den Kopf. »Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Eure Durchlaucht, ich hege größte Zweifel, dass dies im Sinne von Seiner Durchlaucht Ihrem Herrn Vater ist.«

Der Prinz seufzte. »Und ich hege größte Zweifel, dass meinen Vater die ganze Sache überhaupt interessiert. Vor allem aber ist mein Vater nicht anwesend. Und sofern es weder ihm noch dem Vizekönig in der Zwischenzeit eingefallen sein sollte, dich zum Yuvraj zu erheben, würde ich vorschlagen, dass du meinen Wünschen entsprichst und deine Arbeit erledigst.«

Der Diwan tupfte sich erneut die Stirn und machte eine tiefe Verbeugung, bevor er wie ein getretener Hund zurückwich.

»Elender Bürokrat«, brummte der Prinz und fügte, zu Surrender-not gewandt, hinzu: »Der Kerl ist ein Gujarati, Bunty, stell dir das mal vor. Und glaubt, intelligenter als alle anderen zu sein.«

»Das Dumme ist«, antwortete der Sergeant, »dass viele von ihnen es tatsächlich sind.«

Der Prinz reagierte mit einem schiefen Grinsen. »Im Hinblick auf die Gespräche hier und sein eigenes Bestes hoffe ich jedenfalls, dass er sich an meine Anweisungen hält.«

Den wenigen Häppchen zufolge, die ich bei Lord Taggart aufgeschnappt hatte, befassten sich diese Gespräche mit der Einrichtung von etwas, das sich DieFürstenkammer nannte. Auch wenn das Ganze mehr nach dem Titel einer Oper von Gilbert und Sullivan klang, die Fürstenkammer war der neueste fein ausgeklügelte Plan der Regierung Ihrer Majestät, um die immer lauter werdenden Forderungen der einheimischen Home-Rule-Bewegung nach Selbstverwaltung zu besänftigen. Angepriesen wurde diese Kammer als indische Variante eines House of Lords, als machtvolle indische Stimme in allen Fragen des Landes, und sämtliche Fürsten waren nachdrücklich darum ersucht worden, dieser illustren Runde beizutreten.

Mir erschien die Begründung ein wenig widersinnig, denn die Gruppe, die in Indien am abgehobensten von der Stimmung in der einfachen Bevölkerung lebte, waren gerade diese rund fünfhundert fetten, inkompetenten Fürsten. Sofern in diesem Land überhaupt jemand auf unserer Seite stand, dann sie.

»Dürfte ich fragen, welche Position Sie in dieser Frage vertreten?«, wollte ich wissen.

Der Prinz lachte kühl. »Reine Augenwischerei, das ganze dämliche Konstrukt. Es wird eine einzige Quasselbude sein, und das Volk wird die Absicht sofort durchschauen.«

»Die Kammer wird Ihrer Meinung nach also nicht eingerichtet?«

»Von wegen, ganz im Gegenteil«, erwiderte er lächelnd. »Ich rechne mit breiter Zustimmung und schätze, dass sie schon im nächsten Jahr ihre Arbeit aufnimmt. Natürlich werden sich die ganz Großen wie Hyderabad und Gwalior nicht daran beteiligen. Aber die anderen, die Kleinen – Cooch Behar, die kleinen Rajputenstaaten und die im äußersten Norden –, die werden quasi darum betteln, mitmachen zu dürfen. Solange es ihrer persönlichen Stellung nutzt, tun die alles. Eins muss man euch Briten immerhin lassen: Ihr versteht euch wirklich darauf, unsere Eitelkeiten zu bedienen. Ich meine, wir haben euch dieses Land überlassen – und wofür? Ein paar schöne Worte, schillernde Titel und einige Brosamen von eurem Tisch, über die wir uns streiten wie kahlköpfige Männer über einen Kamm.«

»Was ist mit den anderen Fürstenstaaten im Osten?«, fragte Surrender-not. »Soweit ich weiß, neigen die doch dazu, der Haltung Sambalpurs zu folgen.«

»Das stimmt«, antwortete der Prinz. »Und womöglich werden sie das im vorliegenden Fall auch wieder tun, aber nur, weil sie finanziell von uns abhängen. Hätten sie die Wahl, wären sie vermutlich alle für den Eintritt.«

Auf der anderen Seite des Parks legte die Militärkapelle los. Die vertrauten Klänge von »God Save the King« drangen über den Rasen, und Fürsten wie Normalsterbliche erhoben sich und wandten sich der Musik zu. Viele begannen zu singen. Der Prinz gehörte nicht dazu. Auf einmal wirkte der Fürstensohn nicht mehr so gelassen und unbeschwert.

»Zeit, den Rückzug anzutreten, würde ich sagen«, erklärte er. »Allem Anschein nach hebt der Vizekönig dazu an, eine seiner berühmten Reden zu schwingen, und ich für meinen Teil habe nicht die Absicht, an diesem herrlichen Tag noch weitere Zeit damit zu verschwenden, ihm zuzuhören … Es sei denn, Sie legen Wert darauf?«

Ich hatte keinerlei Einwände. Der Vizekönig besaß das Charisma eines feuchten Putzlappens. Anfang des Jahres war es mir bereits bei der Abschlussfeier des neuen Polizistenjahrgangs vergönnt gewesen, einer seiner Reden in voller Länge beizuwohnen. Ich verspürte kein großes Verlangen, diese Erfahrung zu wiederholen.

»Also alle einverstanden«, sagte der Prinz. »Wir hören uns das Lied zu Ende an und ziehen dann fröhlich unserer Wege.«

Die letzten Töne der Hymne verklangen, und die Gäste nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf, während der Vizekönig das Podium ansteuerte, das mitten auf dem Rasen errichtet worden war.

»Jetzt wird’s Zeit«, erklärte der Prinz. »Machen wir uns davon, bevor es zu spät ist.« Er wandte sich um und ging den Weg zurück in Richtung des Gebäudes. Surrender-not blieb an seiner Seite, ich bildete die Nachhut. Diverse Beamte drehten konsterniert ihre Köpfe in unsere Richtung, da doch der Vizekönig gerade seine Ansprache begann, aber der Prinz schenkte ihnen etwa so viel Beachtung wie ein Elefant einer Horde Schakale.

Der Mann schien mit dem Gängelabyrinth des Government House bestens vertraut zu sein, und nachdem uns zahllose dicht gedrängte Reihen dienstbeflissener Turbanträger durch zahllose Flügeltüren hatten passieren lassen, verließen wir den Amtssitz diesmal über den roten Teppich, der am Haupteingang über die Treppe nach draußen führte.

Dort wurde das prinzliche Gefolge vom vorzeitigen Aufbruch ihres Herrn kalt erwischt. Hektische Betriebsamkeit entstand, als eine hünenhafte Gestalt in scharlachroter Kurta und schwarzen Hosen einer Gruppe Lakaien energisch Befehle zubellte. Seiner Uniform, seinem Gebaren und den Phonwerten nach, die aus seiner Kehle drangen, hätte der Mann leicht mit einem Colonel der Schottischen Garde verwechselt werden können. Sofern er keinen Turban getragen hätte, versteht sich.

»Da bist du ja, Shekar«, rief der Prinz.

»Eure Durchlaucht«, antwortete der Mann und salutierte zackig.

Der Prinz wandte sich an uns: »Colonel Shekar Arora, mein Aide-de-camp.«

Von seiner Statur her ähnelte der Mann der Nordwand des Kangchendzönga, und genauso eisig wirkte auch sein Gesichtsausdruck. Die bronzefarbene Haut war wettergegerbt, und seine Augen leuchteten in einem erstaunlichen Graugrün. Beides sprach für einen Mann der Berge, für jemanden, der zumindest ein wenig afghanisches Blut in den Adern hatte. Am eindrucksvollsten war allerdings sein Bart, den er im Stil alter indischer Kämpfer kurz geschoren trug, was den gewachsten und nach oben gezwirbelten Schnurrbart besonders hervorhob.

»Das Automobil wurde gerufen, Eure Durchlaucht«, sagte er in knappem Ton. »Es wird jeden Moment eintreffen.«

»Schön.« Der Prinz nickte. »Ich hab einen höllischen Durst. Je schneller wir zurück im Grand sind, desto besser.«

Unmittelbar vor uns hielt ein offener silberfarbener Rolls-Royce. Ein livrierter Diener stürmte herbei und öffnete die Tür. Sekundenlang herrschte Unschlüssigkeit. Einschließlich des Fahrers waren wir nun zu fünft und damit einer zu viel. Unter gewöhnlichen Umständen hätten wir zu dritt im Fond Platz gefunden, und zwei hätten vorne sitzen können. Aber der Prinz zählte offenbar nicht zu den Menschen, die häufig mit gewöhnlichen Umständen zu tun haben, und natürlich wollte ein derart unziemliches Zusammenquetschen zu einem solchen Wagen auch nicht passen.

Der Prinz selbst schlug eine Lösung vor. »Warum fährst du nicht einfach, Shekar?« Noch so eine als Frage formulierte Anweisung.

Der massige ADC schlug die Hacken zusammen und marschierte um den Wagen herum zum Fahrersitz.

»Du kannst hier hinten bei mir Platz nehmen, Bunty«, sagte der Prinz, während er es sich auf der roten Lederrückbank bequem machte. »Und der Captain kann vorne bei Shekar sitzen.«

Surrender-not und ich waren seinen Wünschen kaum nachgekommen, da fuhr der Rolls-Royce bereits an und rollte zwischen makellos gepflegten Rasenflächen und Palmenreihen die lange, mit Kies bestreute Zufahrt hinunter.

Das Grand Hotel lag nur wenige Minuten vom Osttor der Residenz entfernt, aber aus Sicherheitsgründen war derzeit lediglich das Nordtor geöffnet. Das Automobil rauschte hindurch und bremste fast sofort abrupt ab. Die Straßen Richtung Osten waren gesperrt. Also wendete der ADC und fuhr über den Government Place in die Esplanade West.

Ich drehte mich auf meinem Sitz, um Banerjee und den Prinzen besser sehen zu können. Vorne zu sitzen war ich nicht gewohnt. Der Prinz schien meine Gedanken lesen zu können.

»Hierarchien sind schon sonderbar, nicht wahr, Captain?«, sagte er lächelnd.

»Inwiefern, Eure Durchlaucht?«

»Nun, nehmen Sie uns drei«, antwortete er. »Ein Prinz, ein Police Inspector und ein Sergeant. Auf den ersten Blick scheint unsere jeweilige Stellung in der allgemeinen Hackordnung klar. Aber am Ende liegen die Dinge selten so einfach.« Er deutete auf die Tore des Bengal Club, der links von uns gerade auftauchte. »Ich mag ein Prinz sein, aber meine Hautfarbe macht es mir unmöglich, einen Fuß in diese illustre Einrichtung zu setzen, und dasselbe gilt für Bunty hier. Sie hingegen, ein Brite, hätten da keinerlei Probleme. Ihnen stehen in Kalkutta alle Türen offen. Und schon hat sich die Hierarchie zwischen uns irgendwie verschoben, habe ich nicht recht?«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich.

»Aber es geht noch weiter«, fuhr er fort. »Unser Freund Bunty ist ein Brahmane. Als Mitglied der Priesterkaste steht er sogar noch über einem Prinzen, ganz zu schweigen von einem kastenlosen britischen Polizeibeamten.« Der Prinz lächelte. »Noch einmal hat sich die Hierarchie also gedreht, und wer könnte sich anmaßen zu entscheiden, welcher der drei Blickwinkel der richtige ist?«

»Ein Prinz, ein Priester und ein Polizeibeamter fahren in einem Rolls-Royce am Bengal Club vorbei …«, sagte ich. »Klingt wie der Anfang eines nicht sonderlich amüsanten Witzes.«

»Im Gegenteil«, widersprach der Prinz. »Wenn man so darüber nachdenkt, ist das eigentlich höchst amüsant.«

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Wir folgten einem Weg, der genau in die dem Hotel entgegengesetzte Richtung führte. Ich hatte keine Idee, wie gut der ADC sich in den Straßen Kalkuttas auskannte, aber dem ersten Eindruck nach etwa so gut wie ich mich auf den Boulevards von Timbuktu.

»Wissen Sie, wohin Sie fahren?«, fragte ich.

Der ADC warf mir einen Blick zu, der den Ganges hätte gefrieren lassen können. »Das tue ich«, sagte er. »Unglücklicherweise sind die Straßen zur Chowringhee wegen einer religiösen Prozession gesperrt. Daher sind wir gezwungen, eine alternative Strecke durch den Maidan zu nehmen.«

Diesen Umweg zu nehmen kam mir zwar merkwürdig vor, doch es war ein schöner Tag, und es gab schlechtere Arten, ihn zu verbringen, als mit einer Spazierfahrt im Rolls-Royce durch den Park.

Auf der Rückbank fragte Surrender-not gerade: »Worüber wolltest du denn nun sprechen, Adi?«

Ich drehte mich um und konnte noch sehen, wie die Miene des Prinzen sich verfinsterte.

»Ich habe ein paar Briefe erhalten«, sagte er und spielte dabei mit dem glitzernden Kragenknopf seiner Seidenkurta. »Wahrscheinlich ist es gar nichts, aber als ich von deinem Bruder hörte, dass du jetzt Detective Sergeant bist, dachte ich, vielleicht sollte ich deinen Rat einholen.«

»Was für Briefe?«

»Um ehrlich zu sein, misst der Begriff Briefe ihnen bereits eine Bedeutung zu, die sie kaum verdienen. Es handelt sich eher um kurze Warnungen.«

»Und wann haben Sie die bekommen?«, fragte ich.

»Letzte Woche, noch in Sambalpur. Ein paar Tage bevor wir nach Kalkutta aufbrachen.«

»Haben Sie die Schreiben dabei?«

»Ja, in meiner Suite«, sagte der Prinz. »Ich zeige sie Ihnen gleich. Warum sind wir überhaupt nicht längst da?« Verärgert wandte er sich an seinen ADC. »Was ist los, Shekar?«

»Umleitungen, Eure Durchlaucht«, erwiderte der Fahrer.

»Diese Briefe«, fragte ich, »weiß sonst noch jemand davon?«

Der Prinz deutete auf Arora. »Nur Shekar.«

»Und wie haben Sie die Schreiben erhalten? Ich vermute mal, dass man nicht einfach so einen Brief an den Prinzen von Sambalpur, c/o Palast des Fürsten, adressiert, oder?«

»Das ist das Seltsame daran«, antwortete der Prinz. »Beide wurden in meinem Zimmer deponiert. Der erste unter den Kopfkissen in meinem Bett, der zweite in der Tasche eines Anzugs. Und in beiden stand dasselbe …«

Der Wagen bremste ab, da wir jetzt scharf nach links auf die Chowringhee abbiegen mussten. Plötzlich sprang uns wie aus dem Nichts ein Mann in den Weg. Er trug das safrangelbe Gewand eines Hindupriesters. Alles ging so schnell, dass er kaum mehr als ein verschwommener Farbfleck war. Der Wagen kam zitternd zum Stehen, und der Fußgänger schien unter die Vorderachse geraten zu sein.

»Haben wir ihn angefahren?«, fragte der Prinz und erhob sich von seinem Platz. Fluchend schwang der ADC seine Tür auf und sprang hinaus. Er lief nach vorn, und ich sah, wie er sich über den am Boden liegenden Mann beugte. Im nächsten Moment war ein dumpfer Knall zu hören, das ekelhafte Geräusch von einem schweren Gegenstand, der auf Fleisch und Knochen trifft, und der ADC sackte zusammen.

»Mein Gott!«, rief der Prinz. Da er stand, hatte er einen besseren Blick auf die Situation. Ich stieß die Tür auf, aber bevor ich mich bewegen konnte, war der Mann in Safrangelb schon aufgesprungen.

Unter schmutzigen, verfilzten Haaren leuchteten wild dreinblickende Augen. Sein Bart war ungepflegt, und über seine Stirn liefen verschmierte vertikale Streifen, die an Asche erinnerten. In seiner Hand glänzte etwas Metallisches, und mein Innerstes gefror zu Eis.

»Runter!«, schrie ich dem Prinzen zu und tastete dabei nach dem Knopf meines Holsters. Der Prinz aber blieb hypnotisiert wie das Kaninchen vor der Schlange stehen. Der Angreifer hob seinen Revolver und schoss. Der erste Schuss durchschlug die Windschutzscheibe, die mit berstendem Knall zersplitterte. Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Surrender-not verzweifelt nach dem Prinzen griff, um ihn nach unten zu ziehen.

Doch alles zu spät.

Beim Krachen der nächsten beiden Schüsse wusste ich, dass sie ihr Ziel finden würden. Beide trafen den Prinzen mitten in die Brust. Ein paar Sekunden lang stand er nur da, als wäre er tatsächlich gottgleich und die Kugeln hätten seinem Körper nichts anhaben können. Dann jedoch durchweichten dunkelrote Flecken den Seidenstoff seiner Kurta, und er sank in sich zusammen wie ein Pappbecher im Monsun.

2

Mein erster Gedanke war, mich um den Prinzen zu kümmern, aber solange der Attentäter noch Kugeln in seinem Revolver hatte, war dafür keine Zeit.

Ich rollte mich von meinem Sitz auf die Straße, gerade als er ein viertes Mal abdrückte. Wo die Kugel landete, konnte ich nicht sagen, nur dass es offensichtlich nicht in mir war. Ich hechtete zurück in den Rolls, kurz bevor der Angreifer erneut feuerte. Die Kugel traf das Türblech genau in Höhe meines Kopfes. Ich hatte schon Kugeln durch Metallplatten wie durch Seidenpapier schlagen sehen, daher kam es einem Wunder gleich, dass diese hier die Tür nicht durchdrang. Später erst erfuhr ich, dass der Wagen des Prinzen mit einer massiven Silberschicht verkleidet war. Eine Investition, die sich definitiv gelohnt hatte.

In Erwartung eines sechsten Schusses wechselte ich meine Position, vernahm jedoch nur das herrliche Klicken einer leeren Waffe. Das ließ auf einen Revolver mit nur fünf Kammern schließen oder auf einen Attentäter mit nur fünf Kugeln. Ersteres war selten, Letzteres gänzlich beispiellos. Ich jedenfalls hatte noch nie einen professionellen Killer getroffen, der ausgerechnet an Munition sparte. Wie auch immer, ich versuchte mein Glück, riss den Webley aus dem Holster, stand auf, feuerte und schoss daneben. Holzsplitter spritzten vom Stamm eines Baumes. Der Angreifer rannte bereits davon.

Im Fond kniete Surrender-not über dem Prinzen und bemühte sich, den Blutfluss aus der Brust des Mann mit seinem Hemd zu stillen. Vor der Kühlerhaube erhob sich Colonel Arora schwankend vom Boden und hielt eine Hand gegen den blutigen Schädel gepresst. Er hatte Glück gehabt. Offenbar war der Schlag von seinem Turban abgemildert worden. Ohne diesen Schutz wäre er sicherlich nicht so schnell wieder auf die Beine gekommen – oder auch gar nicht mehr.

»Bringen Sie den Prinzen ins Krankenhaus!«, rief ich ihm zu, und sprintete dem Angreifer hinterher. Der Mann hatte einen Vorsprung von etwa fünfundzwanzig Metern und war bereits auf der anderen Seite der Chowringhee.

Er hatte den Ort des Anschlags geschickt gewählt. Die Chowringhee war eine merkwürdige Straße. Der gegenüberliegende Bürgersteig zählte mit all seinen Boutiquen, Hotels und Arkadengängen zu den belebtesten Flaniermeilen der Stadt. Wohingegen diese Straßenseite, die keinen Sonnenschutz bot und nur an die offenen Parkflächen des Maidan grenzte, gewöhnlich weitgehend verwaist blieb. Die einzigen Menschen auf dieser Seite waren denn auch ein paar Kulis, und die gehörten nicht zu den Leuten, die beim Knall von Revolverschüssen sofort zu Hilfe eilten.

Ich rannte dem Schützen hinterher und entkam nur mit knapper Not mehreren Wagen, als ich die vierspurige Straße überquerte.

Wäre sein Gewand nicht so leuchtend orange gewesen, hätte ich ihn in der Menschenmenge vor den geweißten Mauern des Indischen Museums gewiss aus den Augen verloren. Mitten ins Gedränge zu feuern war allerdings viel zu gefährlich. Vor so vielen Menschen auf einen Mann zu schießen, der wie ein Hindugeistlicher aussah, wäre zudem Wahnsinn gewesen. Auch ohne einen religiösen Aufstand anzuzetteln, hatte ich schon genug Probleme.

Der Schütze tauchte in das Gassengewirr ab, das sich im Osten an die Chowringhee anschloss. Er war gut in Form, jedenfalls deutlich besser als ich, und der Abstand zwischen uns wurde – wenn überhaupt – eher größer. Ich erreichte die Ecke, an der er abgebogen war, rang nach Atem und schrie ihm hinterher, sofort stehen zu bleiben.

Echte Hoffnung verband ich damit natürlich nicht, immerhin geschieht es nicht oft, dass ein Killer, der über einen Revolver und reichlich Vorsprung verfügt, den Anstand besitzt, einer derartigen Aufforderung Folge zu leisten. Doch zu meiner Überraschung tat der Mann genau das. Er blieb stehen, wirbelte herum, hob seine Waffe und feuerte. Offenbar hatte er beim Laufen nachgeladen. Höchst eindrucksvoll.

Ich warf mich auf den Boden und hörte die Kugel in die Wand neben mir klatschen, wo sie Ziegelsplitter und Putz aufspritzen ließ. Ich kämpfte mich wieder hoch und erwiderte das Feuer, schoss aber erneut nur ein Luftloch.

Der Mann wandte sich ab und floh tiefer in die engen Gassen. Als er an einer Ecke nach links bog, riss der Blickkontakt ab. Ich rannte weiter. Irgendwo vor mir herrschte dröhnender Lärm. Die Stimmen unzähliger Menschen, dazu das rhythmische Schlagen von Trommeln. Ich erreichte das Ende des Gässchens, schnellte um die Ecke auf die Dharmatollah Street und bremste abrupt ab. Die breite Durchgangsstraße war vollgestopft mit Menschen, ausnahmslos Inder. Der Krach war ohrenbetäubend. Stimmen sangen im Takt der Trommelschläge. An der Spitze des Zuges rollte träge ein riesiges hölzernes Ungetüm, das drei Stockwerke hoch aufragte und einem Hindutempel ähnelte. Eine Unmenge Männer zog das gigantische Ding an dreißig Meter langen Seilen mühsam Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Ich hielt verzweifelt nach dem Attentäter Ausschau, aber vergeblich. Das Gedränge war viel zu dicht, und viel zu viele Menschen hier trugen safrangelbe Gewänder. Der Mann war verschwunden.

3

»Und wie zum Teufel soll ich das jetzt dem Vizekönig erklären?«, brüllte Lord Taggart und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Der Thronfolger eines souveränen Fürstenstaats wird am helllichten Tag über den Haufen geschossen, und das in Gegenwart von zweien meiner Officers, denen es nicht nur misslingt, den Anschlag zu verhindern, sondern die den Mörder auch noch ungeschoren davonkommen lassen!« Die Ader an seiner linken Schläfe sah aus, als würde sie jeden Moment platzen. »Wenn die Situation nicht so heikel wäre, würde ich Sie beide auf der Stelle vom Dienst suspendieren.«

Surrender-not und ich saßen im großzügig geschnittenen Büro des Commissioners im dritten Stock der Polizeizentrale in der Lal Bazar. Ich erwiderte Taggarts Blick, während Surrender-not sich mehr auf die eigenen Schuhe konzentrierte. Die schwüle Luft im Raum wurde zunehmend drückender, was nicht zuletzt an dem gewaltigen Anschiss lag, den der Commissioner uns verpasste.

Es geschah nicht häufig, dass Taggart so die Beherrschung verlor, doch ich konnte es ihm nicht verdenken. Surrender-not und ich arbeiteten inzwischen seit über einem Jahr zusammen, und in diesem Fall hatten wir uns nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, so viel war sicher. Und während Surrender-not in diesem Augenblick wahrscheinlich noch unter Schock stand, weil er den Tod seines Freundes mit ansehen musste, litt ich an etwas, das den Vorboten einer Grippe ähnelte, das in Wahrheit jedoch, wie ich nur zu genau wusste, ganz andere Ursachen hatte.

Nachdem ich den Killer aus den Augen verloren hatte, war ich zum Maidan zurückgekehrt. Der Rolls war verschwunden und hatte nichts hinterlassen als ein paar Bremsspuren und Glasscherben auf der Fahrbahn. Ansonsten fehlte jedes Anzeichen dafür, dass hier ein Anschlag verübt worden war. Ich untersuchte dennoch den Grasstreifen am Straßenrand und fand zwei Patronenhülsen. Ich steckte sie ein und nahm mir anschließend ein Taxi zum Medical College Hospital in der College Street. Das Krankenhaus lag am nächsten zum Tatort und bot die beste medizinische Versorgung in dieser Stadt. Surrender-not hatte den Prinzen mit Sicherheit dorthin gebracht.

Bei meiner Ankunft war bereits alles vorbei. Die Ärzte hatten sich verzweifelt bemüht, ihn zu stabilisieren, doch im Grunde war der Prinz schon in dem Moment, als ihn die Kugeln trafen, so gut wie tot gewesen. Surrender-not und mir blieb nichts anderes übrig, als ins Lal Bazar zurückzukehren und den Commissioner zu informieren.

»Erzählen Sie mir noch einmal, wie Sie ihn verloren haben.«

»Ich habe ihn von der Chowringhee über eine Reihe von Seitengassen bis zur Dharmatollah verfolgt«, antwortete ich. »Wegen der vielen Passanten konnte ich nicht direkt auf ihn schießen. Erst in den Gassen habe ich dann ein oder zwei Schuss auf ihn abgefeuert.«

»Und ihn verfehlt?«

Es war eine sonderbare Nachfrage, da er die Antwort bereits kannte.

»Ja, Sir.«

Taggart starrte mich ungläubig an. »Herrgott noch mal, Wyndham!«, explodierte er. »Sie haben vier Jahre in der Armee gedient. Da wird man Ihnen doch wohl beigebracht haben, geradeaus zu schießen.«

Ich hätte darauf verweisen können, dass ich die Hälfte dieser Zeit beim militärischen Geheimdienst verbracht hatte, wo ich ihm selbst direkt unterstellt gewesen war. Die restliche Zeit hatte ich überwiegend in Schützengräben gehockt und mich nach Kräften bemüht, den deutschen Granaten zu entgehen, die zu den unberechenbarsten Zeiten einschlugen. In Wahrheit dürften meine Kugeln daher in den knapp vier Jahren kaum jemanden getroffen haben.

Taggart gewann wieder ein wenig die Fassung. »Und was geschah dann?«

»Ich bin weiter Richtung Dharmatollah Street gelaufen«, antwortete ich. »Dort hab ich ihn in einer religiösen Prozession verloren. Tausende Menschen zerrten irgendein gigantisches Holzding durch die Straßen.«

»Den Juggernaut, Sir«, warf Surrender-not ein.

»Den was?«, fragte Taggart.

»Die Prozession, in die Captain Wyndham geraten ist, Sir. Das ist das Rath Yatra, bei dem jedes Jahr der Wagen des Hindugotts Jagannath von Tausenden Gläubigen durch die Straßen der Stadt gezogen wird. Irgendwie müssen die Briten den Namen der Gottheit fälschlicherweise auf dessen Wagen bezogen haben, und aus Jagannath wurde das englische juggernaut.«

»Wie hat er denn ausgesehen?«, wollte Taggart wissen.

Surrender-not sah ihn verwirrt an. »Gott Jagannath?«

»Der Schütze, Sergeant, nicht die Gottheit.«

»Schlank, mittelgroß, dunkle Haut«, sagte ich. »Mit Bart und langen verfilzten Haaren, die offenbar seit Wochen nicht gewaschen worden sind. Und er hatte ein paar sonderbare Zeichen auf der Stirn. Zwei Balken aus weißer Asche, die zur Nasenwurzel führten und eine schmalere rote Linie einfassten.«

»Sagt Ihnen das was, Sergeant?«, fragte Taggart.

Waren landestypische Eigenheiten zu klären, so hatte der Commissioner, genau wie ich, schon lange erkannt, dass man am besten gleich bei einem Inder Auskunft einholte.

»Diese Zeichen haben eine religiöse Bedeutung«, antwortete Surrender-not. »Priester tragen so etwas häufig.«

»Glauben Sie, der Attentäter könnte etwas mit der religiösen Prozession zu tun haben?«, fragte Taggart.

»Nicht auszuschließen, Sir«, sagte Surrender-not. »Es mag nicht bloß ein günstiger Zufall gewesen sein, dass er direkt zu den Menschenmassen auf der Dharmatollah rannte.«

»Er trug safrangelbe Kleidung«, fügte ich hinzu. »Unter den Teilnehmern waren unzählige, die diese Farbe trugen.«

»Demnach könnte es sich also um einen religiösen Anschlag handeln«, erklärte Taggart. Er schien fast erleichtert. »Bei Gott, zu hoffen wär’s. Alles besser als ein politischer Hintergrund.«

»Andererseits könnte die Kleidung auch nur als Tarnung gedient haben«, gab ich zu bedenken.

»Und warum sollte ein religiöser Extremist den Prinzen von Sambalpur töten wollen?«, fragte Surrender-not. »Auf mich hat er in der Zeit, in der ich ihn kannte, nie einen besonders gläubigen Eindruck gemacht.«

»Genau das müssen Sie und der Captain herausfinden«, sagte Taggart. »Religiöse Motive als Ansatz sollten wir zumindest nicht vorschnell verwerfen. Der Vizekönig wäre zweifellos erfreut über die Nachricht, dass es sich um einen religiösen Anschlag handelt und nichts mit seinen heiß geliebten Gesprächen zu tun hat. Immerhin werden fast ein Dutzend anderer Fürstenstaaten dem Beispiel Sambalpurs folgen, und der Vizekönig hofft, eine solche Beitrittswelle könnte sogar einige der widerspenstigeren unter den mittelgroßen Staaten zu einer Unterschrift bewegen.« Er nahm seine Brille ab, putzte sie mit dem Taschentuch und setzte sie vorsichtig wieder auf. »Und in der Zwischenzeit werden Sie beide gefälligst den Schützen schnappen. Ich erwarte rasche Ergebnisse. Wir dürfen auf keinen Fall all diesen Maharadschas und Nabobs einen Vorwand liefern, vorzeitig abzureisen, weil wir angeblich ihre Sicherheit nicht gewährleisten können.« Taggart erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Das dürfte so weit alles sein, Gentlemen.«

»Eine Sache sollten Sie noch wissen, Sir«, sagte ich.

Ein Anflug von Resignation huschte über sein Gesicht.

»Und was wäre das, Sam?«

»Der Prinz hat Briefe erhalten, die offenbar seine Besorgnis erregten. Aus diesem Grund wollte er heute auch Sergeant Banerjee sprechen.«

Taggarts Schulter sackten herab. »Haben Sie diese Briefe gesehen?«

»Nein, Sir. Allerdings hat der Prinz uns darüber informiert, dass sie sich in seiner Suite im Grand Hotel befinden.«

»Tja, dann wären Sie vielleicht besser mal da hingegangen und hätten sie sichergestellt, oder nicht?«

»Das war mein Plan, sobald ich Sie über den Ermittlungsstand in Kenntnis gesetzt habe, Sir.«

»Und was planen Sie sonst noch so, Captain?«, fragte er in knappem Ton.

»Ich würde gerne den ADC des Prinzen befragen und auch den Diwan von Sambalpur, einen Mann namens Davé. Es machte den Eindruck, als bestünden gewisse Spannungen zwischen ihm und dem Prinzen. Und ich möchte eine Phantomzeichnung des Attentäters anfertigen lassen. Wir können sie noch in die morgige Ausgabe aller englischen und indischen Zeitungen der Stadt bekommen. Sollte er sich noch in Kalkutta aufhalten, kann uns vielleicht jemand sagen, wo er zu finden ist.«

Taggart zögerte kurz, dann wies er zur Tür.

»Also schön«, sagte er. »Worauf warten Sie noch?«

Auf Taggarts Stockwerk lag am anderen Flurende ein Zimmer, von dem behauptet wurde, dass es den besten Ausblick über den Süden der Stadt bot. Eigentlich hätte es einem leitenden Beamten zugestanden, aber wegen seines guten Lichteinfalls war hier der hauseigene Porträtzeichner untergebracht, ein kleiner, schmächtiger Schotte namens Wilson, der gar keinen Polizeirang bekleidete.

Ich klopfte und bemerkte bei meinem Eintreten als Erstes ein großes Panoramafenster und die mit Bleistiftzeichnungen tapezierten Wände. Bei den Bildern handelte es sich überwiegend um Kopf-Schulter-Porträts von Männern, in der Mehrzahl Indern. Mitten im Raum saß Wilson an einem schräg geneigten Tisch. Der Kerl war ein alter Nörgler mit dem angriffslustigen Temperament eines Terriers und ausgeprägten Leidenschaften für Bier und die Bibel, wobei er Letzterer nur sonntags frönte, Ersterer dagegen an allen anderen Abenden der Woche.

Tatsächlich hatte ihn das Zusammenspiel der beiden Neigungen überhaupt erst nach Kalkutta gebracht, und nach einer oder drei Runden verriet er spendablen Mitzechern auch bereitwillig seine Lebensgeschichte. In jungen Jahren war sein ganzer Ehrgeiz darauf ausgerichtet gewesen, sich im Bon Accord in Glasgow von einem Thekenende zum anderen durchzutrinken, was ihm nie wirklich gelang, ohne im Krankenhaus zu landen. Im Krankenhaus hatte er dann zu Gott gefunden, und Gott, der meiner Meinung nach damit allenfalls einen Witz machen wollte, hatte ihm geraten, als Missionar nach Kalkutta zu gehen, eine Aufgabe, für die er von seinem Naturell her gänzlich ungeeignet war, da sich missionarischer Ethos erfahrungsgemäß nur schwer mit einem Hang zu Raufereien in Übereinstimmung bringen lässt. Am Ende trennte er sich von seinen Ordensbrüdern und kam irgendwie dazu, für die bengalische Polizei Phantombilder zu zeichnen.

»Mit Ihnen haben wir hier oben aber nur selten das Vergnügen, Captain Wyndham«, sagte er grinsend und stand auf. »Und der stets treu ergebene Sergeant Banerjee dazu! Was für eine Freude. Sind Sie gekommen, um die Aussicht zu bewundern?«

»Eigentlich sind wir hier auf der Suche nach einem brauchbaren Zeichner«, sagte ich. »Wüssten Sie da jemanden?«

»Ach, wie lustig. Also, was wollen Sie?«

»Wir brauchen eine Phantomzeichnung. Von einem Einheimischen. Und wir brauchen sie dringend.«

»Da habt ihr aber Glück, Jungs«, sagte er. »Einheimische sind meine Spezialität. Was hat der Mann denn verbrochen, wenn man fragen darf?«

»Einen Prinz erschossen«, sagte Surrender-not.

»Ernste Sache.« Er nickte wissend. »Und wo steckt Ihr Augenzeuge?«

»Stehen vor Ihnen«, sagte ich.

Er hob eine Augenbraue und brach in Lachen aus. »Sie beide? Sie waren vor Ort, als der Blaublütler umgepustet wurde?«

Ich nickte.

»Und den Schützen haben Sie entwischen lassen? Gütiger Himmel, Wyndham, ein bisschen sehr schlampig, meinen Sie nicht? Wie hat denn der alte Taggart darauf reagiert?«

»Wohlabgewogen.«

»Na klar, da bin ich mir sicher. Der wird Ihnen bestimmt ein paar wohlabgewogene Dinge an den Kopf geworfen haben. Kann fluchen wie ein Hafenarbeiter, der Kerl, wenn er in Fahrt gerät.«

»Ach, und woher wissen Sie das?«, fragte ich.

»Sein Büro liegt doch am anderen Ende des Flurs, Mann. Ich kann ihn hören! Herrgott, was sind Sie denn für ein Kriminalist? Bin überrascht, dass er Sie beide nicht direkt dazu verdonnert hat, künftig bei den Verkehrsjungs die Lizenzen der Rikscha-Wallahs zu kontrollieren. Egal, kommen wir zur Beschreibung des Kerls. Ich hab schließlich noch anderes zu tun, auch wenn ich der Einzige im Raum sein dürfte, der das von sich behaupten kann.«

Ich fing an, den Mann zu beschreiben. Seinen Bart, die Asche auf der Stirn. Es dauerte nicht lange, und Wilson brummte kopfschüttelnd: »Von einem Priester übertölpelt, was? Gelungene Vorstellung, Gentlemen. Das hätt’ ich zu gern mit eigenen Augen gesehen.«

»Der Mann war bewaffnet«, warf Surrender-not zu meiner Ehrenrettung ein.

»Ja, genau wie Ihr Chef hier«, erwiderte er und richtete seinen kohleverschmierten Zeigefinger auf mich.

Zwischen seinen ständigen Kommentaren zeichnete Wilson konzentriert und passte Haare und Augen des Gesuchten unseren Änderungswünschen an. Endlich war ich mit dem Resultat zufrieden.

»Gar nicht schlecht«, sagte ich.

»Stimmt«, nickte er. »Ich werde das an die Zeitungen weitergeben.«

»Bitte an alle englischen und alle bengalischen«, sagte ich. »Und überpüfen Sie, ob auch irgendwelche aus Orissa hier erscheinen.«

Wilson schwoll sichtlich der Kamm. »Ich bin als Zeichner angestellt, schon vergessen? Für Ermittlungsarbeiten werden Sie zwei komische Vögel bezahlt. Also finden Sie das über die Zeitungen aus Orissa mal schön selber raus. Währenddessen werde ich das hier an die üblichen Abnehmer weitergeben.«

»Haben Sie vielen Dank«, sagte ich und wandte mich zum Gehen.

»Viel Glück, Wyndham«, rief er uns hinterher. »Und Sergeant Banerjee, Sie sollten sich von Leuten wie dem Captain hier wirklich lieber fernhalten. Es wäre doch eine Schande, wenn jemand wie Sie sein Talent am Ende bei der Kontrolle von Ochsenkarren vergeuden würde.«

Surrender-not saß schweigend im Fond des Polizeiwagens, mit dem wir die kurze Strecke von Lal Bazar zum Grand Hotel bewältigten, und zog dabei ein Gesicht so lang wie die Bar im Bengal Club. Auch ich war nicht unbedingt in Plauderstimmung. Einen tödlichen Anschlag nicht verhindert zu haben ist einem unbeschwerten Gedankenaustausch naturgemäß eher abträglich.

»Wie gut kannten Sie den Prinzen überhaupt?«, fragte ich schließlich.

»Recht gut, so weit«, antwortete Surrender-not. »In Harrow war er im selben Jahrgang wie mein Bruder, also ein paar Jahre älter. Ich bin ihm dann später in Cambridge wiederbegegnet.«

»Waren Sie eng befreundet?«

»Das nicht gerade, obwohl auf so einer Schule natürlich alle indischen Jungs in gewissem Maße untereinander Kontakt suchen. In der Gruppe ist es sicherer … und ähnliche Überlegungen. Auch wenn Adi ein Prinz war, die britischen Mitschüler sahen in ihm bloß einen weiteren Darkie. Ich fürchte, die Zeit damals hat ihn tief geprägt.«

»Na, bei Ihnen scheinen diese Erfahrungen dagegen keine Narben hinterlassen zu haben.«

»Ich war für das Cricketteam als Bowler ganz gut zu gebrauchen«, erklärte er nachdenklich. »Und wenn man dazu in der Lage ist, gegen Eton einen anständigen Off-Cutter zu werfen, dann neigen die Mitschüler schon mal dazu, es mit der Hautfarbe nicht so genau zu nehmen.«

»Irgendeine Idee, warum jemand den Wunsch haben sollte, ihn umzubringen?«

Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Leider nicht, Sir.«

Der Wagen unterquerte die Kolonaden vor dem Grand Hotel und hielt im Hof neben dem Haupteingang. Rasch eilte ein Portier mit Turban herüber und öffnete die Tür.

Über einen von Zwergpalmen gesäumten Zugang betraten wir die funkelnde Marmorlobby, in der es schwach nach Frangipani und Möbelpolitur roch. Am anderen Ende des makellos sauberen Fußbodens stand ein Empfangstresen aus Mahagoni, der von einem schnurrbärtigen Inder im Cutaway besetzt war. Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis und fragte nach dem Zimmer des Prinzen.

»Die Sambalpur Suite, Sir. Dritter Stock.«

»Welche Zimmernummer?«

»Es gibt keine Zimmernummer, Sir«, antwortete er. »Es handelt sich um eine Suite, Sir. Die Sambalpur Suite. Sie ist dauerhaft vom Staat Sambalpur belegt.«

Die hochnäsig gereckte Kopfhaltung machte es unmöglich, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber mir war auch so klar, dass er mich für einen Volltrottel hielt. Es ist stets höchst verdrießlich, von einem Einheimischen derart herablassend behandelt zu werden, aber ich verkniff mir jeden Protest, dankte ihm nur und reichte ihm einen Zehn-Rupien-Schein. Mit dem Personal der führenden Hotels auf gutem Fuß zu stehen zahlt sich immer aus. Man weiß nie, ob nicht eines Tages einer von ihnen mit einer nützlichen Information dienen kann.

Während ich mit Surrender-not im Schlepptau die Treppe ansteuerte, überlegte ich, wie viel es wohl kosten mochte, eine Suite im Grand dauerhaft anzumieten.

Ein Diener in gold- und smaragdfarbener Livree öffnete die Tür.

»Captain Wyndham und Sergeant Banerjee möchten gerne zu Premierminister Davé«, sagte ich.

Der Diener nickte und führte uns in einen Salon am Ende eines langen Flurs.

Die Sambalpur Suite war überwiegend in Blattgold und weißem Marmor gehalten, der in Kalkutta so verbreitet schien wie roter Backstein in London, und sie war sogar noch größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Orientalische Kunstwerke und Wandteppiche schmückten die Räume, und das Ganze strahlte eine Eleganz aus, die man in Hotelzimmern nur selten findet, zumindest nicht in den Hotels, in denen ich bislang verkehrt hatte.

Etwa ein halbes Dutzend Türen gingen vom Flur ab, was vermuten ließ, dass die Sambalpur Suite erheblich geräumiger war als meine Wohnung. Wahrscheinlich lag auch die Miete ein wenig höher.

Nachdem er uns bis zum Eingang des Salons gebracht hatte, machte der Diener kehrt und ging den Diwan suchen. Surrender-not nahm auf einem vergoldeten Sofa Platz, dessen Bezug mit goldenen Seidenstickereien verziert war. Es war irgend so eins von diesen französischen Dingern, Louis XIV. oder was weiß ich, die man lieber von Weitem bewunderte, als sich daraufzusetzen. Ich ging hinüber zum Fenster und genoss die Aussicht über den Maidan bis zum dahinterliegenden Fluss. Ein paar Hundert Meter weiter in südwestlicher Richtung konnte ich den Straßenabschnitt, an dem der Prinz zu Tode gekommen war, bestens überblicken. Die Mayo Road war noch gesperrt, die Stelle weiträumig mit Seilen abgetrennt und von einigen indischen Constables bewacht. Andere Beamte krabbelten auf dem Boden herum und suchten den Tatort auf meine Anordnung hin zentimetergenau ab, auch wenn ich bezweifelte, dass über die beiden von mir bereits sichergestellten Patronenhülsen hinaus noch viel zu finden sein würde. Ich war zwar kein Experte, hatte aber in meinem Leben schon die ein oder andere Patronenhülse gesehen, und diese Sorte Munition war mir noch nie begegnet. Sie schien alt zu sein. Wahrscheinlich aus den Vorkriegsjahren. Womöglich nicht einmal zwanzigstes Jahrhundert.

Surrender-not saß hinter mir auf dem Sofa und schwieg. Richtig gesprächig war er eigentlich nie. Das gehörte zu den Dingen, die ich an ihm mochte. Dennoch gab es verschiedene Arten des Schweigens, und wenn man jemanden gut genug kennt, lernt man, die Unterschiede zwischen diesen Arten auszumachen. Er war noch immer sehr jung, und obwohl er bereits selbst Menschen getötet hatte, darunter auch welche, die andernfalls mir das Licht ausgeblasen hätten, war es doch eine völlig neue traumatische Erfahrung für ihn, zu erleben, wie ein Freund direkt vor seinen Augen erschossen wurde, und hilflos zusehen zu müssen, wie der Lebenssaft langsam davonrann und versiegte.

Ich für meinen Teil hatte diese Erfahrung schon viel zu oft gemacht und spürte infolgedessen gar nichts.

»Alles in Ordnung, Sergeant?«, fragte ich.

»Sir?«

»Möchten Sie eine Zigarette?«

»Nein, danke, Sir.«

Vom Flur her waren die erregten Stimmen zweier Menschen zu hören. Sie wurden immer lauter und brachen dann abrupt ab. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und der Diwan trat in den Raum. Sein Gesicht war aschfahl. Surrender-not stand auf und wandte sich ihm zu.

»Gentlemen«, sagte der Diwan. »Sie werden entschuldigen, wenn wir die üblichen Höflichkeitsfloskeln übergehen. Wie Sie sich denken können, waren die Ereignisse des heutigen Tages für uns alle enorm … erschütternd. Ich wäre für Ihr vollstes Entgegenkommen dankbar, was die Rückführung der sterblichen Überreste von Ihrer Durchlaucht Prinz Adhir betrifft.«

Surrender-not und ich tauschten Blicke aus.

»Ich fürchte, in diesem Punkt werden wir Ihnen nicht viel helfen können«, sagte ich. »Allerdings bin ich mir sicher, dass der Leichnam des Prinzen so bald wie möglich freigegeben wird.«

Diese Antwort schien dem Diwan nicht sonderlich zu gefallen, brachte aber immerhin ein wenig Farbe in seine Wangen zurück. »Seiner Durchlaucht dem Maharadscha wurde die tragische Nachricht überbracht, und seine Anweisung lautet, dass die sterblichen Überreste seines Sohnes unverzüglich zurück nach Sambalpur zu überführen sind. Es wird keine Autopsie durchgeführt, jede weitere Schändung seines Leichnams ist unbedingt zu verhindern. Diese Forderungen sind bereits an den Vizekönig weitergeleitet worden und verstehen sich als nicht verhandelbar.«

Verglichen mit dem Lakai, der uns im Government House vorgestellt worden war, wirkte er wie ein anderer Mensch. Irgendwann zwischen Vormittag und Nachmittag musste er Zeit gefunden haben, sich ein Rückgrat zu besorgen.

»Selbstverständlich legt Seine Durchlaucht höchsten Wert darauf, dass der oder die an diesem abscheulichen Verbrechen beteiligten Täter mit größter Dringlichkeit festgenommen und ihrer Bestrafung zugeführt werden, und im Interesse guter anglo-sambalpurischer Beziehungen erwarten wir, kontinuierlich und umfassend über den Fortschritt Ihrer Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten zu werden«, fuhr er fort. »Das entsprechende schriftliche Ersuchen ist bereits an den Vizekönig abgegangen und wird zweifellos in Kürze an Ihre Vorgesetzten weitergeleitet.«

»Im Hinblick auf die Ermittlungen«, unterbrach ich seinen Sermon, »gäbe es da ein paar Punkte, bei denen wir für Ihre Mithilfe dankbar wären.«

Der Diwan führte uns zum Sofa und nahm selbst auf einem Sessel daneben Platz. »Bitte, was möchten Sie wissen?«, fragte er.

»Ihre Meinungsverschiedenheit mit dem Prinzen heute Mittag. Worum ging es dabei?«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht und verflüchtigte sich sofort wieder. »Ich hatte keine Meinungsverschiedenheit mit dem Yuvraj.«

Ich stutzte. »Dem Yuvraj?«

»Auf Hindi der Begriff für Prinz, Sir«, half Surrender-not aus. »Rein formell war er der Yuvraj Adhir Singh Sai von Sambalpur.«

»Bei allem Respekt, Premierminister«, versuchte ich es noch einmal, »aber sowohl der Sergeant als auch ich waren Zeuge der Auseinandersetzung. Zu irgendeinem Aspekt der Verhandlungen mit dem Vizekönig vertraten Sie offenkundig unterschiedliche Positionen.«

»Er war der Yuvraj«, erklärte der Diwan seufzend. »Ich bin bloß ein Funktionsträger, dessen Aufgabe darin besteht, die Wünsche der fürstlichen Herrscherfamilie in Gesetze zu gießen.«

»Aber in Ihrer Stellung als Premierminister fungieren Sie doch gewiss auch als Berater der Herrscherfamilie, oder? Und es schien, dass Ihre Empfehlung nicht mit den Ansichten des Prinzen übereinstimmte.«

Er lächelte bemüht. »Der Yuvraj war ein junger Mann, Captain. Und junge Menschen sind häufig dickköpfig, besonders ein junger Prinz. Er wollte nicht, dass Sambalpur dem Ersuchen des Vizekönigs entspricht und seinen Beitritt zur Fürstenkammer erklärt.«

»Und Sie waren in diesem Punkt anderer Ansicht?«

»Wenn dem Alter ein Segen innewohnt, dann der, dass es uns eine gewisse Weisheit schenkt«, hob er erneut an. »Sambalpur ist ein kleiner Staat, der das Glück hat, von den Göttern mit einigen Naturschätzen bedacht worden zu sein, weshalb er zwangsläufig immer wieder den begehrlichen Blicken anderer ausgesetzt ist. Vergessen wir niemals unsere Geschichte. Sogar Ihre East India Company hat mehr als einmal den Versuch unternommen, unseren Fürstenstaat zu annektieren. Ein Staat wie Sambalpur braucht Freunde und eine Stimme am Tisch der Großen. Ein Sitz in der Fürstenkammer würde uns eine solche Stimme verschaffen.«

»Und wie wird es in dieser Frage nun weitergehen?«

Der Diwan grübelte eine Weile über der Antwort. »Angesichts der Umstände werden wir uns sicherlich vorübergehend von den Gesprächen zurückziehen. Später, nach einer angemessenen Trauerzeit, werde ich die Angelegenheit erneut mit dem Maharadscha und …«, er zögerte kaum merklich, »seinen anderen Beratern erörtern.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wer den Yuvraj umgebracht haben könnte?«

»Die habe ich allerdings«, antwortete er. »Diese radikalen Linken, die mit der Kongresspartei unter einer Decke stecken und überall für Ärger sorgen. Die würden doch alles dafür tun, die Herrschaft der fürstlichen Familie über Sambalpur zu untergraben. Der Leiter unserer Miliz wurde bereits angewiesen, die führenden Köpfe zu verhaften.«

»Hat der Prinz Ihnen gegenüber etwas von den Briefen erwähnt, die er kürzlich erhalten hat?«

Der Diwan hob erstaunt die Brauen. »Was für Briefe?«

»Das wissen wir nicht«, erklärte Surrender-not. »Aber sie schienen ihn zu beunruhigen.«

»Mir gegenüber hat er nie irgendwelche Briefe erwähnt.«

»Colonel Arora gegenüber schon«, bemerkte ich.

»In diesem Fall sollten Sie besser den Colonel danach fragen«, sagte der Diwan und drückte einen Messingknopf an der Wand. Eine Klingel ertönte, und der Diener erschien.

»Arora sahib ko bulaane«, sagte der Diwan.

Der Diener nickte und verließ den Raum.

Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut, und der ADC stapfte herein. Er trug einen frischen Turban, unter dem seitlich am Kopf eine blau verfärbte Beule von der Größe einer Handgranate prangte. Sein eindrucksvolles Auftreten hatte ein wenig gelitten, so als hätte ihn die Ermordung seines Herrn einige Zentimeter schrumpfen lassen.

»Sir«, sagte er.

»Was macht der Kopf?«, fragte ich.

Er führte eine mächtige Pranke an sein Gesicht. »Die Ärzte glauben nicht, dass etwas am Schädelknochen gebrochen ist«, erklärte er bedächtig.

»Das ist doch zumindest erfreulich«, sagte Surrender-not.

Der Sikh starrte ihn finster an, bekam sich aber rasch wieder in den Griff. »Wie kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?«

»Wir müssten Ihnen im Zusammenhang mit dem Anschlag ein paar Fragen stellen«, sagte ich und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu uns zu setzen.

Offensichtlich zog es der Colonel jedoch vor, stehen zu bleiben. »Sie waren doch da«, erwiderte er. »Sie haben gesehen, was ich getan habe.«

»Trotzdem. Wir brauchen Ihre Version des Hergangs.«

»Fürs Protokoll«, ergänzte Surrender-not erklärend und zog Notizblock und Stift aus seiner Brusttasche.

»Was möchten Sie wissen?«

»Fangen wir doch ganz von vorne an«, sagte ich. »Warum wählten Sie bei unserer Abfahrt vom Government House diese ganz spezielle Route zurück zum Hotel? Die kürzeste Verbindung war das wohl kaum.«

Der ADC dachte einen Moment nach und befeuchtete sich die Lippen, bevor er antwortete. »Die Straßen für den kürzesten Weg waren wegen dem Rath Yatra geschlossen. Das haben Sie doch selbst gesehen.«

»Aber warum fuhren Sie ausgerechnet durch den Maidan?«

»Die Strecke kenne ich am besten. Der Yuvraj und ich haben sie schon viele Male genommen. Ihm gefiel es, durch den Park zu fahren.«

»Und was passierte, als Sie am Ende der Mayo Road ankamen und in die Chowringhee biegen wollten? Wann genau haben Sie den Attentäter bemerkt?«

Die Haltung des Colonels wurde angespannter. »Ich habe ihn erst bemerkt, als er direkt vor dem Wagen auf die Straße sprang. Er muss sich hinter einem der Bäume versteckt haben. Selbstverständlich habe ich so rasch gebremst, wie ich konnte. Ich hatte nicht den Eindruck, dass der Wagen den Kerl erwischt hat, aber da er gestürzt war und liegen blieb, nahm ich an, er wäre verletzt. Inzwischen ärgere ich mich natürlich, dass ich nicht einfach Gas gegeben und das Schwein über den Haufen gefahren habe.«

»Was geschah dann?«

»Wie Sie selbst beobachten konnten, bin ich aus dem Wagen gestiegen, um nachzuschauen, ob er tatsächlich verletzt ist. Er lag bäuchlings unter dem Kühler. Ich beugte mich hinunter, um zu sehen, ob alles okay ist. In diesem Moment wirbelte er herum und schlug zu. Danach erinnere ich mich erst wieder an das Knallen der Schüsse.«

»Wissen Sie, womit er Sie getroffen hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Es muss auf jeden Fall etwas sehr Massives gewesen sein.«

»Am Tatort konnten wir keinen passenden Gegenstand sicherstellen«, erklärte ich.

Der Colonel blitzte mich zornig an. »Vermutlich hat er ihn mitgenommen.«

»Haben Sie den Angreifer erkannt?«

»Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen«, knurrte er. »Aber jetzt werde ich dieses Gesicht nie wieder vergessen, darauf können Sie sich verlassen. Es wird mir noch dereinst auf dem Scheiterhaufen vor Augen stehen.«

Sein Kopf war bei diesen Worten rot angelaufen. Ich empfand ein gewisses Mitgefühl für ihn. Was geschehen war, bedeutete eine Schande, die er für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen würde und vielleicht sogar bis in sein nächstes hinein.

»Hören Sie, Arora, der Captain hat eben ein paar Briefe erwähnt, die der Yuvraj kürzlich erhalten haben will«, mischte der Diwan sich ein. »Wissen Sie irgendetwas darüber?«

»Wie bitte?« Er starrte den Diwan verständnislos an. Wahrscheinlich war er in seinem Kopf noch immer bei den Ereignissen von heute Mittag.

»Die Nachrichten, von denen er im Wagen gesprochen hat«, kam ich ihm zu Hilfe.

»Ja. Die hat er mir gezeigt.«

»Haben Sie sie noch?«

Er schüttelte den Kopf. »Seine Durchlaucht nahm sie wieder an sich.«

»Was genau stand denn darin?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich konnte sie nicht lesen. Sie waren in Oriya geschrieben. Weder der Yuvraj noch ich sprechen Oriya. Am Hof tun das nur noch wenige. Alle täglichen Geschäfte werden auf Englisch oder manchmal auch auf Hindi geregelt, nie auf Oriya.«

»Aber es ist doch die Sprache, die in dieser Gegend ansonsten gesprochen wird, oder?«, fragte Surrender-not.

»Ja«, antwortete er. »Allerdings nicht im Palast.«

»Hat der Prinz Sie nicht gebeten, die Schreiben übersetzen zu lassen?«, fragte ich.

Der Colonel schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht, und ich hatte sie auch vollkommen vergessen, bis er sie heute im Wagen plötzlich wieder erwähnte.«

»Irgendjemand muss ihm offenbar eine Übersetzung besorgt haben«, sagte ich.

»Das stimmt«, pflichtete der ADC bei. »Aber ich war es nicht.«

»Könnte es jemand aus dem Palast gewesen sein?«, fragte ich.

Er lächelte schwach und warf einen kurzen Seitenblick auf den Diwan, bevor er sich wieder zu mir wandte. »Diskretion zählt zu den Eigenschaften, die bei Hof eher Mangelware sind.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wer dem Yuvraj den Tod wünschen würde?«, fragte ich.

Der ADC strich sich über den ordentlich getrimmten Bart. »Ich möchte da ungern Spekulationen anstellen. Für eine solche Frage dürfte der Diwan der geeignetere Ansprechpartner sein.«

»Mr. Davé hat uns seine Ansichten dazu bereits mitgeteilt«, sagte ich. »Jetzt frage ich Sie.«

»Mir fällt da niemand ein.«

»Sie werden ebenfalls umgehend nach Sambalpur zurückkehren, nehme ich mal an?«

Der Sikh sah zum Fenster hinaus und nickte bedächtig. »So lautet mein Befehl.« Er fixierte mich wieder. »Ich werde mich dafür verantworten müssen, in meinen Pflichten dem Yuvraj gegenüber versagt zu haben.«

»Captain Wyndham, Sie werden sicherlich verstehen, dass wir beide uns um dringliche Angelegenheiten kümmern müssen«, unterbrach der Diwan. »Wenn es also weiter nichts gibt …«

»Ich würde gern die Zimmer des Prinzen sehen, wenn dies möglich ist.«

Der Diwan bedachte mich mit einem Blick, als hätte ich den Verstand verloren. »Vollkommen ausgeschlossen«, erklärte er bestimmt.

Es geschieht nicht oft, dass ein Inder sich anmaßt, die Bitte eines britischen Polizeibeamten kurzerhand abzulehnen, und mir fehlte für solche Spielchen im Moment wirklich die Zeit. »Wenn es Ihnen lieber ist, Mr. Davé, kann ich auch in einer Stunde mit zwei offiziellen Anordnungen zurückkommen«, sagte ich. »Einem Durchsuchungsbefehl, der es mir erlaubt, diese ganze Suite auf den Kopf zu stellen, und einem Haftbefehl wegen Behinderung der Ermittlungen, der auf Sie ausgestellt ist.«

Der Diwan senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Sie können gerne Ihr Glück versuchen, Captain«, erwiderte er in ruhigem Ton. »Im ersten Fall werden Sie feststellen, dass diese Suite, rechtlich betrachtet, Staatsgebiet von Sambalpur ist. Und was meine Verhaftung anbelangt, so würde ich Ihnen empfehlen, erst mit dem Vizekönig zu sprechen, bevor Sie Dinge tun, die Ihrer Karriere ein vorzeitiges und höchst bedauerliches Ende bereiten dürften.«

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