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Alfred Hein, der als junger Soldat selbst in der Hölle von Verdun gekämpft hat, verarbeitet in diesem Buch, das laut Autor "kein Roman, aber auch kein trockener Bericht von Kriegsabenteuern" ist, die eigenen traumatischen Erfahrungen auf literarisch-künstlerische Weise. Dabei wählt er bewusst nicht die Ich-Perspektive – auch wenn in der zentralen Gestalt des Meldeläufers Lutz vom Kriege viele eigene Persönlichkeitszüge erkennbar sind –, um sich in der Überschau dem Phänomen Krieg und seiner zerstörerischen Gewalt zu nähern. Dabei entsteht ein packendes, noch heute überaus lesenswertes authentisches Dokument eines Mannes, der sich wie so viele Tausende als Kriegsfreiwilliger meldete und als entschiedener Gegner des Krieges mit seinen sinnlosen zerstörerischen Materialschlachten in die Heimat zurückkehrte. "Eine Kompanie Soldaten in der Hölle von Verdun" ist Heins erfolgreichstes Werk. 1929 erschienen, hatte die Auflage 1931 schon 52 000 erreicht und bereits 1930 erschien eine englische Übersetzung.-
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Seitenzahl: 506
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Alfred Hein
Saga
Alfred Hein: Eine Kompanie Soldaten. In der Hölle von Verdun. © 1929 Alfred Hein. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.
ISBN: 9788711463703
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.
Der Verlag hat erfolglos versucht, den Inhaber der Urheberrechte an dem Buch zu finden. Rechtsinhaber werden ausdrücklich dazu ermutigt, den Verlag zu kontaktieren.
Motto:
Die Haut ward hart wie Leder.
Verwachsen Helm und Haupt.
Liebe, die rote Feder,
hat Sturm des Kriegs geraubt.
Dies Buch ist kein Roman, aber auch kein trockener Bericht von Kriegsabenteuern. Es ist auf Grund von persönlichen Erlebnissen mit allerdings bewusstem künstlerischen Willen gestaltet. Als Kompagnie-Meldeläufer machte ich im April und Mai 1916 die Verdun-Offensive bei den Höhen „Toter Mann“ und „Höhe 304“ mit, und in der Charakterisierung seiner entscheidenden Gestalten, im inneren Wesenskern der Ereignisse beruht das Buch auf Lebenswahrheit. Der Rhythmus jenes grossen Totentanzes mit seinen Sturmangriffen und Trommelfeuern ist mir für alle Zeit im Blut geblieben, ich habe versucht, ihn auf meine Dichtung zu übertragen. Natürlich konnte ich nicht Sekunde auf Sekunde der schwersten Todesnot mit minutiöser Darstellung reihen, wie es in der Schilderung des tagelangen Trommelfeuers eigentlich geschehen müsste, um einen entfernten Begriff von der trostlosen Preisgabe des Leibes und der Seele an die Tobsucht der Granaten zu geben.
Das Buch ist absichtlich nicht in der Ich-Form geschrieben. Aus drei Gründen. Erstens wollte ich mich zu dem „damaligen Kriegsfreiwilligen Alfred Hein“ distanzieren, um mich selbst in dem wüsten Getriebe besser zu erkennen; zweitens soll es keinen „Helden“ dieses Buches geben, der Held ist die ganze Kompagnie, eine von den vielen tausend Kompagnien, die vorn gestanden. Drittens: Nicht nur, was der meine Person vertretende Meldeläufer Lutz vom Kriege denkt und fühlt, soll als das „allein Wahre“ angesehen werden, Wynfrith, von Tislar, Hirschfeld, Agathe, sie alle haben ebenso recht.
Denn auch dieses Buch will vor allem von dem heiligen Geist der Kameradschaft künden, der während des Krieges vorn geboren wurde und der immer bereit war, über alles Ichsüchtige hinweg die Hand zu reichen, um gemeinsam die Todesnot zu ertragen, die dort vorn alle gleich anfiel.
Als ich vor zwei Jahren das Buch vorzubereiten und im vergangenen Jahre niederzuschreiben begann, gab es noch keine Hausse in Kriegsbüchern. Ich glaubte, ich würde mit ihm gegen den Strom der literarischen Mode schwimmen. Es ist über Nacht anders gekommen. Ich will diesem Modestrom dankbar sein, wenn er auch meinem Kriegsbuch zur weiten Verbreitung verhilft, obwohl Mode und Fronterlebnis verdammt schlecht in Einklang zu bringen sind. Entscheidend für die Veröffentlichung ist aber der Gedanke, den tieferen Sinn des Krieges als den, der aus dem ehrgeizigen Wunsch der verantwortlichen Machthaber aller Völker entspringen sollte, aufzuzeigen: die Meisterung der Geschicke durch diesen harten, klar sehenden und um jeden Preis nichts als die menschliche Wahrheit suchenden Kameradengeist der Front. So wenig ich für die Entfesselung des Krieges verantwortlich sein möchte, so sehr bin ich von Stolz erfüllt, in den Gräben vor Verdun meine Seele fürs Leben geklärt und gefestigt zu haben.
In der Ueberzeugung, dass dieser schöne und starke Frontgeist über den ganzen lärmenden Konjunkturbetrieb, der schon wieder trotz des Krieges die Welt beherrscht, in Deutschland in dem Augenblick Herr werden wird, in dem sich alle Frontkameraden abermals zur gemeinsamen Bekämpfung des Niedrigen und Unlauteren zusammenfinden werden, sei das Buch auch kommenden Geschlechtern ein Beispiel.
Königsberg i. Pr., Herbst 1929.
Alfred Hein.
Vom Kanal bis zu den Vogesen, das war nicht die Erde mehr, die sie alle liebten und die sie alle irgendwo zärtlich Heimat nannten, das war ein herabgefallenes Riesenstück eines erlöschenden Sternes, der sich im letzten Aufruhr befand, dampfend an allen Enden Meteore sprühte, die den Tod brachten, und der, eine Wüste des Schreckens und der Pein, nicht mehr von dieser Welt sein konnte.
Verdun 1916. Explosion zweier aufeinandergehetzter Völker in zusammengebissenster Gewalt. Das Irrenhaus eines einander zerfleischenden Patriotismus war hier aufgetan. Deutsche? Franzosen? Tiere. Gehetzte Rehe, mutige Leoparden, geruhige Löwen, wilde Hyänen — Kriecher auf allen Vieren, und dennoch ein Menschenherz in der Brust, das wahnsinnig wurde, weil es zerbrochen war und trotzdem seltsam über der fernen, längst unwirklich gewordenen Heimat hing und schlug. Und dann und wann lächelte es in die Lippen empor.
Mit jedem Herzschlag fielen tausend Schüsse. Kanonen und Maschinengewehre. Mit jedem Herzschlag hörten immer wieder junge Herzen zu schlagen auf. Dahin. Auch du? Nun sei’s. Alles ist ...? Wir haben keine Gedanken mehr. Heimat .... Die Mutter ....? Immer war dieser Krieg. Sie wussten es nur nicht. Immer wird er sein. Mit ihm aber die Kameradschaft.
Als der Namenaufruf begann, wusste jeder sofort, worum es ging. Die Stimme des Feldwebels zitterte. Das Schikanöse in seiner Haltung und in seinen Zügen war fort. Alle baten ihm in dieser Stunde ab, auf ihn geflucht und schlecht über ihn gesprochen zu haben. Er trug also nur in den gewöhnlichen Tagen des Kommisses das dazu passende disziplinstarre Gesicht. Für manchen von der Kompagnie brach sogar etwas wie Zärtlichkeit aus seiner Stimme hervor, wenn er den Namen rief.
Der alte Hauptmann aber, der daneben stand, Schulrat in Zivil, mit einem guten weinseligen Gesicht, das von einem wuseligstruppigen Bart umhangen war, Koesel hiess er — Klösel nannten sie ihn, weil er klein und rundlich war, ja, der alte Hauptmann liess zwei Tränen in seinen Schifferbart rollen und sah die Jungens, die er einexerziert für den grossen Marsch in den Tod, starr und fassungslos an. Zu Weihnachten sollten sie schon hinaus, damals hatte er sie aber alle doch noch auf Urlaub zu Muttern schicken können — er liess sich lieber einen Rüffel geben, warum die Ausbildung so langsam vorwärts ging, aber was kam es auf ihn alten Knaben viel an? Die Front wird nicht gleich einstürzen, wenn seine Jungens fehlten. Die Front — — das war, was nie einstürzte. Lieb Vaterland, magst ruhig sein.
Er hörte die Namen, seit sieben Monaten so vertraut: Meyer, das war kein xbeliebiger Meyer, das war sein stud. med. Meyer, blass und schmal, Liebetanz, das war der kleine kiewige Unteroffizier, Moerse, ein Schlächter, aber ein gutes Luder, bisschen doof, Kalinchen, der lange Kalinchen, nie wird er seinen unförmigen Zinken vergessen, der immer aus Reih und Glied hervorragte, als sollte man daran sein Portepée hängen, Lindolf mit den Kinderaugen, wer hätte den Jungen im Frieden zum Militär zugelassen, nun soll er in den Schlamassel da hinaus, Groeber I, hinter dessen breiter Brust haben drei Lindolfs Platz, Groeber II, die beiden Brüder, müssen sich für ihr Gardemass besondere Unterstände bauen, dass mir die beiden bloss die Köpfe einziehen können im Graben — Wittke, Riemer, Pogoslawski, Maruhn, Töz, Stegen, Hirschfeld, der kleine, ungeschickte Jude, richtig — fällt ihm wieder eine Patronentasche ab, da er aufgerufen wird — aber siehe, der Feldwebel brüllt heute nicht: „Hirschfeld, aus welcher Menagerie haben sie dich losgelassen?!“ Er knurrt nur: „Festschnallen, Hirschfeld!“ Und das ist wie eine Mahnung: Schnall auch dein Herz fest, Junge! Schultz, Schulze, Schütz, Schützel — die vier Es-Ce-Has in seiner Kompagnie — immer wird der Hauptmann wissen, dass er diese vier Namen in dieser Reihenfolge in seiner Kompagnie hatte — ach, nun bekam er wieder irgendein Landsturmbataillon, mürrische alte Knaben da irgendwo in einem Gefangenenlager oder in der russischen Etappe.
Name um Name fiel. Und wessen Name fiel, der löste sich aus dem gewohnten Glied, trat vor und ging in die Baracke, in der er feldgraue Sachen empfing. Nagelneu. Wie wenn man, ein Kind noch, Geburtstag hätte und einen neuen Anzug bekäme. Geburtstag — — des Todes — vielleicht — — —. Da war die Blechnummer. 394 567. 394 568. 394 569. 394 570. 394 571.
Von manchen bleibt nicht einmal diese Nummer übrig.
Mit den Sachen auf dem Arm trat jeder noch einmal an.
Der Hauptmann sagte, da die Kompagnie sich versammelt hatte, die Erkennungsmarken hingen jedem um den Hals: „Es ist so weit, Jungens. Macht’s gut. Vergesst euren alten Hauptmann nicht, der gern mitkäme, wenn er da draussen mit seinen Gichtknochen nicht im Wege wäre. Feldwebel, Urlaub bis zum Wecken!“ Dann drehte er sich um und verschwand, der alte gute Hauptmann, der bei jedem strammen Exerzierdienst sagte, ehe die Stunde um war: „Es ist genug. Draussen ist alles ganz anders. Jungens, Augen auf, an sich selber glauben, fest zufassen, wenn ihr in Druck seid — na, ihr versteht! Also los — Gewehre zusammensetzen! Fussball ’raus!“
Das war Klösel beim Exerzieren.
Und den mussten sie hier lassen?
„Stillgestanden!“ kommandierte der Feldwebel. Aber er schnauzte nicht die an, die die Füsse nur schlapp zusammenzogen, nicht so: Ruckzuck! und die Wendung! er kommandierte weiter, auch nur mit halblauter Stimme: „Wegtreten!“
Die Kompagnie drehte sich um sich selbst — und ging auseinander.
Koesel aber besoff sich, wie es ein guter Hauptmann tut, der an seiner Kompagnie hing. Und nach Verdun — seine Jungens.
Die Oberleutnants Zecklien und Mucha sahen dem „Theater“ von fern zu.
„Dieser schlappe Betrieb bei Koesel. Ich habe ihn mal vierzehn Tage vertreten, den alten Herrn, ich sage Dir, hatten die Jungens ’nen Fussball mit zum Exerzieren. Wir sind doch keine Tommys,“ schnauzte Zecklien, ein hagerer, finsterer Oberlehrer, dem die Uniform so schlecht sass, wie er sich schneidig dünkte.
„Heda, Lindolf, Sie haben wohl das Grüssen verlernt! Woll’n wohl noch drei Tage in’n Kasten, ehe es rausgeht, was?“
Der kleine Lindolf war in Gedanken versunken an den Oberleutnants vorbeigegangen, er hatte sie wirklich nicht gesehen, nun stand er stramm, aber in sein gutes offenes Gesicht trat der ganze Hass gegen den Oberleutnant, der ihnen „die Hammelbeine geradezog“, als Klösel krank war.
„Sehen Sie mich nicht so unverschämt an, Sie Schlappsuse Sie! Weg! Marsch! Marsch! Los! Los! Laufen, laufen!!“ piepste Zecklien.
„Kanonenfutter,“ sagte Mucha. „Lass sie sein!“ Zecklien wollte schon wieder einen Trupp von Koesel - Leuten anpfeifen. „Lass sie sein, sie gehen bald alle!“
„Rübenschwein —“ knurrten die Muschkoten hinter Zecklien her. „Woll’n wir den Hund heut nacht verhau’n?“ — „Ach lass den Dreck — wir fahren noch einmal nach Berlin. Hier im Lager ist ja nichts los!“
Fast alle verliessen noch einmal das Döberitzer Lager. Die letzte Nacht, in Freiheit dressiert — Kinder, es war schon vier Uhr. Dies verfluchte Döberitz, da kann man für seinen Zaster jetzt noch eine Stunde nach Berlin gondeln. Aber die Nacht mussten sie sich um die Ohren schlagen. Nur nicht nachdenken.
Lutz Lindolf sann die ganze Fahrt lang nach Berlin: Jetzt, wo sie nach Hause gekommen ist, muss ich fort. Die Kameraden, die mit ihm im gleichen Abteil sassen, neckten ihn: „Lindolf, haste Angst?“ Lindolf sah sie an: „Vor der Front?“ Und er lächelte, — was ging ihn heute die Front an — die war weit — noch einen ganzen Tag, der Transport war erst für übermorgen angesetzt — ach, Adelheid — —
Wenn er die eine Nacht bei Adelheid verbringen dürfte! Mit seiner reinen feierlichen Jungenliebe. Sie anbetend. Wie gern stürbe er dann. Ja, diese Liebesnacht sollte ihn jäh in ihrer aufjubelnden Erfüllung zum Manne machen. Keiner dürfte die unermesslich grossen Gefühle, die mit jedem Schritt zu ihr wuchsen, belächeln. Er fasste in Gedanken zum Seitengewehr, wehe! einer sah in seiner Liebe zu Adelheid nicht die tiefste und schönste Liebe seit Anbeginn.
Jeder dritte Mensch, der ihm auf dem Weg zu Adelheid begegnete, trug Uniform. Dauernd musste er — Unteroffiziere, Offiziere schritten vorbei — die Hand an die Mütze werfen. Ein Mann in Zivil erregte Aufsehen, alle sahen ihm nach. Als wäre es ganz in der Ordnung, dass die Männer sich feldgrau kleideten zum Zeichen, dass sie alle nur noch das Handwerk des Todes kannten. Eine Frau mit zwei Kindern lief ihm nach, klopfte auf seine Schulter: „Adolf?“
Er wandte sich um.
„Entschuldigen Sie, ich dachte — Adolf wäre plötzlich zurück — Sie haben ganz die gleiche Figur —“
An einer Strassenecke war eine Feldküche vom Roten Kreuz aufgefahren und verteilte Suppenbrei an zerlumpte Kinder, abgehärmte Frauen und kopfwackelnde Greise.
Frauen steckten dort vor dem Fleischerladen erregt die Köpfe zusammen. „Die im Felde haben doch wenigstens zu fressen — schon wieder zehn Pfennig teurer — wenn das so weiter geht —“
Sie sahen Lutz feindselig an, als wäre er mitschuldig an der alltäglichen Not des ewigen Krieges.
Kinder kamen jetzt am Abend aus der Schule. Es gab zu wenig Lehrkräfte, da wurde morgens die eine, nachmittags die andere Klasse von den Lehrerinnen und den reklamierten Lehrern schlecht und recht unterrichtet.
„Voriges Jahr war noch oft siegfrei — dieses Jahr — —“
„Das letzte Mal: Verdun —“ sagte ein Junge. Werduun — sprach er den Schlachtennamen aus.
Da sollst du auch hin, nach Werduun — o Adelheid — —
Aus den Mietskasernen des Ostens holte sein zärtlicher Blick sich ihr Haus heraus — — jetzt sah er schon ihr Fenster — —
Krieg — Alltagsnot — die graue Strasse am Kottbuser Tor — alles überlichtete sich mit dem Schimmer seiner liebenden Seele —
Als er an ihrer Eltern Tür klingelte, da hatte er sich in den Traum so eingesponnen, dass er fest an seine Erfüllung glaubte. Für ihn war Berlin nicht die Stadt des letzten Bummels heute nacht, er liebte die lärmende Stadt, weil sie das Allerheiligste für ihn barg.
Adelheid sass am Klavier, als er ins Zimmer trat. Ihre Mutter rief: „Adelheid, der kleine Lindolf —“
Adelheid rasselte weiter ihren Schlager herunter, ohne sich umzudrehen. Der Junge will mir doch nicht den Abend verderben, dachte sie.
„Er ist in Feldgrau, Adelheid“, sagte die Mutter, aber Adelheid spielte weiter. Die Mutter lächelte ihn wie für die ungestüme Tochter um Verzeihung bittend an: „Schade, dass Sie nicht mehr nach Schlesien fahren können, Ihrer Mutter auf Wiedersehn zu sagen —“
Doch Lindolf starrte nur auf das Mädchen. Die trillerte und steppte ihren Cancan weiter. War das nun der Zauber dieser Abschiedsstunde —?
Endlich drehte sich Adelheid mit einem übermütigen Schubbs auf dem Drehsessel um, ein paar Mal rundherum, dass die Stirnlocken schütterten und ihre siebzehn Jahre aus den blitzenden braunen Augen in alle Zimmerecken wie hundert Falter verwirbelten:
„Aber, Lutzchen, deine Uniform ist doch viel zu gross! Du siehst gar nicht schick aus. Weisst du — kannst du dir nicht noch eine schneidige Extrauniform bauen lassen wie Dr. Matzka?“
„Adelheid, ich komme Abschied —“
„I was. Soviele Jungens gehen doch täglich raus. Weisst du, sentimental wollen wir nicht sein.“ Sie klingelte. „Ich lasse ’ne Flasche Sekt kommen, dann besaufen wir uns zu dritt.“
„Zu dritt?“
„Na, Dr. Matzka kommt heute abend.“
„Er kommt wohl öfters?“
„Ja, seit er Unterarzt ist, — siehste, Lutzchen, der versteht’s —“
„Ja, der versteht’s — und du verstehst ihn wohl auch besser als mich —?“
Adelheid ward die tragische Art des Jungen unbequem. Da lachte sie halt — sie wusste, dann ist er wie alle nicht mehr ganz sicher seiner selbst und nimmt den Abschied nicht so wichtig — der war ihr lästig in dieser Stunde, und heucheln konnte sie nicht!
„Wir wollen fidel sein wie als Kinder, Lutzchen! Ich geb dir gern einen Kuss —“ Sie drückte ihn in den Sessel und sprang auf seinen Schoss, legte die Arme um ihn und küsste ihn leichthin.
„Adelheid, nicht so —“
„Na, denn nicht —“ Mit kokett aufgesetzter beleidigter Miene (o wie ist alles aus billigen Romanen und Musikcafés angelernt und abgeguckt, dachte Lutz) sprang sie ans Klavier und spielte elegisch: Weh, dass wir scheiden müssen —
Das Mädchen fragte, was es sollte. „Sekt!!“ schrie Adelheid. „Sekt — der Lutz zieht hinaus in der scheenen, in der grauen, in der scheenen, in der neuen, in der scheenen, in der neuen grauen Felduniform —“ sang sie.
Das alte Mädchen, das den kleinen Lutz schon als Schuljungen kannte, als er in der stillen schlesischen Kleinstadt die kleine Adelheid anschwärmte, und manchen rosa und lila Brief ihm heimlich abnahm — Anna streichelte Lutz über den Aermel: „Wie ein richtiger Feldsoldat siehst aus, Lutz —“
„Na los — Sekt — wo ist der Sekt?“ schrie Adelheid. Und sie schlang ihre Arme um Lutzens Hals und tanzte mit ihm um den Tisch. „Und etwas zu essen, der Junge sieht ganz verhungert aus, klau eine Fleischkarte für Lutz, Anna!!“
„Adelheid, bist du gar nicht traurig —?
„Lutz, lass das. Sei vergnügt. Sei ein Mann.“
„Kann ich gehen?“
„Warum?“
„Sei nicht böse. Ich mag Matzka nicht.“
„Eifersüchtig?“
„Ich liebe dich, ich dachte —“ doch er konnte seine Träume nicht erzählen. Vielleicht war er wirklich ein sentimentaler und verweichlichter Kerl. Stellte seine Liebe auf den Altar. Adelheid wollte aber mit ihm durch Berlin bei Nacht tanzen! Amüsieren, das war ihr drittes Wort. Auch jetzt im Kriege. Wir Jungens sind zu ernst und zu alt geworden für unsere Mädels ... Immer hatte seine Liebe von Träumen und Sehnsüchten gelebt. Das Dasein ihrer jungen gesunden Schönheit in seiner Nähe genügte ihm. Ein Händedruck ward zum tagelang erschütternden Ereignis. Unvergesslich die wenigen übermütigen und flüchtigen Küsse Adelheids bei kleinen Ausflügen und Festen im Frieden. Heute, ja, heut aber hatte er gehofft, dass ihre Liebe in ihrem Tändeln jäh vom Ernst der Stunde überwältigt sich mit ganzer Leidenschaft hervorbrechend hingeben werde — Sinfonien des Himmels umrauschten den Traumgedanken schon — ganz leise, Geliebte, sei die heilige Feier! — ach, nun wollte sie ihn gerade forsch und kühl und weltgewandt vor sich sehen. Er machte sich hart. Auch dies für sie. Sie sollte ihn in gutem Andenken behalten. „Du hast recht, Adelheid —“ Die Stimme zitterte doch voll enttäuschter Wehmut. „Krieg ist Krieg. Na, also, auf frohes Wiedersehn! Ich kam bloss auf einen Sprung. Wir haben eine Abschiedskneipe von der Kompagnie“, log er. „Auf Wiedersehn —“
„So wenig bin ich dir wert, dass du nicht die Abschiedskneipe schiessen lässt —?“ erprobte nun Adelheid an ihm ihre angelernten Koketterien.
„Uebermorgen gehts an die Front, Adelheid. Wenn ich dir noch etwas wert bin, dann komme morgen ins Lager. Mein letzter Tag. Ich darf nicht mehr weg. Aber komme allein.“
Adelheid sah plötzlich, wie ernst und wie tief Lutz sie liebte. Warum geht er fort, Gott, es ist so schrecklich unbequem, über diese Dinge nachzudenken.
„Auf Wiedersehn morgen, Adelheid. Jetzt muss ich gehen. Ich werde die ganze Nacht an dich denken und dich morgen den ganzen Tag erwarten. Komm, wenigstens eine Stunde — auf der grossen Lagerstrasse triffst du mich —“
„Nanu!“ schnarrte es draussen ganz offiziersmässig.
„Das ist Matzka!“ sagte Adelheid verwirrt. „Nun geh! Ich komme morgen, wenn’s irgend sich machen lässt.“
Dr. Matzka, der Unterarzt, erschien in seiner schneidigen Extrauniform, degenschleppend und sporenklirrend einherschreitend. Die Sporen machte er sich immer auf der Treppe erst an, denn es war für ihn im Offiziersstellvertreterrang verboten, Sporen zu tragen. Doch Adelheid fühlte nicht, wie lächerlich dieser Unterarzt zu Pferde war. Sie träumte sich nur an seine Seite als junge Frau Stabsarzt.
Lutz war verschwunden, ehe Matzka ihm gönnerhaft die Hand drücken konnte. Matzka küsste Adelheid, die er als seine heimliche Braut betrachtete. Adelheid gab den Kuss unbefangen zurück und lachte: „Heute warst du nicht der erste, der mich umarmt.“
„Der kleine Lutz — wie kindisch —“
„Er geht ins Feld, verehrtester Drückeberger —“
„Sei nicht frech. Zieh dich um. Wir wollen doch noch ins Kino —“
Lutz wusste: Sie kommt morgen nicht. Und er hoffte doch: Sie kommt. Den ganzen letzten Tag in der Garnison lief er die Lagerstrasse auf und ab, sah viele Bräute und viele Mütter und Schwestern kommen und die beglückten Kameraden am Arm nehmen.
Er war gestern abend nicht in Berlin geblieben, sondern ins öde Döberitzer Barackenlager zurückgefahren. Nur ein paar alte missmutige Landsturmleute und drei oder vier jüngere Kameraden, die sich bereits in der Kantine so vollgesoffen hatten, dass sie nicht mehr den Weg zum Bahnhof fanden, hockten in seiner Baracke, in der sonst um diese späte Stunde das befreite Lachen und Plaudern des nach ewigem Exerzieren und Putzen genahten Feierabends erklang.
Er holte Adelheids Bild hervor, das sie noch als Schulmädel, von ihm selbst geknipst, darstellte, und das Bild gab ihm auf all seine bangen und zärtlichen Fragen die erlösende Antwort.
Mit Lächeln, ein Kindheitsgebet seit langem wieder einmal auf den Lippen, war er eingeschlafen.
Nun schritt er seit morgens die kilometerlange Lagerstrasse auf und ab. Hatte sein Mittagessen nur fix heruntergeschlungen, um wieder hinaus zu eilen und sie zu erwarten. Vielleicht kommt sie wenigstens nachmittags — vielleicht noch schnell mit dem Abendzug — — —
Adelheid aber machte mit Dr. Matzka eine Ruderpartie. Und Lutz blieb allein. Alles war ihm gleichgültig.
Das war die grösste Grausamkeit, die in diesem Kriege begangen wurde, dachte Lindolf. Was können dagegen die Greuel draussen sein?
Und er schrieb ein Berschen in sein Notizbuch:
Auf der Trommel liegt mein Herz,
Tambour, schlag drauf.
Morgen geht es todeswärts,
Heute hört schon die Liebe auf.
Tambour, schlag drauf.
In vier Tagen ist Ostern. Und Frühling wurde über Deutschland. Alles wollte so gerne leben. Doch selbst die Blumen am Waldrand standen im Schatten des Todes. Und das Jubilieren der Vögel klang ein wenig gezwungen wie das sich einen Augenblick nur betäubende Lachen der Menschen.
Soldaten fuhren an die Front. Mit gütiger Langsamkeit, aber unerbittlich vorwärts trottet der Zug durchs Gelände. Zum ersten Male kommt Lutz nach Westdeutschland, in wenigen Stunden wird er den Rhein sehen, der so oft seine Reisesehnsucht als Knabe gelockt hatte, dort fern in dem oberschlesischen Industriewinkel, wo er zu Hause war. Da lagen die bunten Städtchen Thüringens zu Füssen — alles aber, selbst die so treu geliebten Waldberge, die denen im schlesischen Land ganz ähnlich sahen, alles war gespensterhaft, und die Traurigkeit, die der Krieg über die Welt gebracht hatte, hing schwer an allen Zweigen, äugte müde aus den Fenstern — Deutschland war krank. Der Tod ging um.
Nichts regte sich in der Brust: O mein Vaterland! nichts von Verteidigungswillen, bloss ein wehmütiges Lächeln fiel aus dem Herzen: Wenn nur einmal noch im Frieden diese Landschaft mir vorüberglitte —
So fuhr Lindolf, der Feldgraue (welch tiefsinnig ödes, eintöniges Wort — —) durch Deutschland zur Front. Franken kam mit Marburg, der hangverwunschenen, hochgetürmten Stadt am stillen Fluss, und dann aus einem Wärterhaus winkte ein Mädchen, und er dachte an Adelheid, aber seltsam, er war nicht recht bei Sinnen, schien es, er dachte ganz gefühllos an sie. Vernebelte die Angst vor dem Tode alles? Er hatte nicht einmal Angst vor dem Tode. Er lebte wie eine Fliege an der Wand. So klebte er auf seinem Platz im Soldatenzug. Die drei anderen Kameraden im gleichen Abteil spielten Skat, ihn liess man träumen. Sie neckten ihn eine Weile, den Kleinen, das Muttersöhnchen — als er sie aber mit seinen grossen Augen tief ansah, schwiegen sie, und der rüde Pechtler, der zum vierten Male an die Front ging, schenkte ihm einen Apfel. „Nimm, du warst gestern ganz allein, von meiner Braut —“
Da nahm Lutz den Apfel und spürte, wie instinktiv zwischen ihnen jetzt das Echte und Einzigartige, das Fronterlebnis erwachte: die Kameradschaft.
Ja, aus Kameradschaft fuhr er an die Front. Warum sie den Heldentod auf dem Felde der Ehre sterben sollten, das wusste er nicht, patriotisch konnte man wohl zu Kaisers Geburtstag im Frieden sein. Aber je näher dem Schuss, umsomehr war nur die Tatsache, dass Menschen auf Menschen aus rätselhaften Ursachen, die die Vaterländer der Welt schufen, losgingen, das die Seele unbegreiflich Ergreifende.
„Will einer noch von euch siegreich Frankreich schlagen?“ fragte Lutz die Drei.
„Ich möchte nur eines“, sagte Pechtler wild, „die Hunde, die diesen Schlamassel angerührt haben, antreten lassen und in die Fresse hauen. Es will bloss keiner gewesen sein.“
„Nun sind wir drinne. Quatsch nicht so laut, es nützt ja doch nichts“, sagte Töz, der Dicke. „Wir fahren jetzt durch meine Heimat, aber ich seh nicht raus, weil ich dann doch vielleicht raus springe — los, spiel weiter —“
Wittke, der dritte Skatspieler, sah nur finster drein. Sein Bruder war in der vorigen Woche bei den 24ern vor Douaumont gefallen, berichtete ein Brief der Mutter. Er käme nach dem Osten, hatte er gestern, damit die Mutter nicht erneut erschrickt, nach Hause geschrieben, in die Etappe. Wittke spielte mit derbem Schlag seinen Trumpf aus. „Ist ja alles ganz egal!“
Lutz fühlte, wie er mit diesen fremden derben Gesellen zusammenwuchs und wie ihre rauhe Herzlichkeit ihn umfing. Diese seelische Tuchfühlung, die jetzt begann, sie schuf tief in ihm den Begriff: Volk. Einen namenlosen echten Klang, der mit goldenem Ring sie zusammenhielt, einem Ring, der in die trostlose Fahrt aus den Sternen fiel — — Wir Volk, fühlte Lindolf, wir verlassen uns nicht. Wir halten treu zusammen.
Das war die richtige Treue. Alle Dichter haben sie falsch besungen, was heisst hier: Mit Gott für König und Vaterland — das Volk marschiert, ihr Herren. Bereitet ihm den Weg zum wirklich grossen und reinen Sieg, zu einem andern Sieg als ihr denkt, sonst wird es über eure Marschallstäbe und Geldsäcke hinwegmarschieren.
Lutz fühlte, wie dieser Zug in die Zukunft fuhr. Nicht nur zur Front, auch hinan zu den Gestirnen.
Wenn Deutschland, die Nation, der Kaiser, die Regierung, der Generalstab — merkwürdig, wie hohl und fremd diese Begriffe klangen — wenn diese Kräfte alle wirklich der Freiheit des Volkes dienen wollen, dann wird trotz aller Uebermacht das Deutsche als das Reine und Selbstlose in der Welt siegen.
Wenn aber Deutschland, dieses amtliche und geldstolze Deutschland, anders will, dann wird das Volk zerbrechen an der Ziellosigkeit seines Kampfes.
Noch glaubte Lutz an die Uebermacht der guten Kräfte in der Führerschaft des Volkes, obwohl auch in seinem kleinen Lebenskreis als Feldgrauer ihm Ehrgeiz und Geldgier unter dem patriotischen Mäntelchen oft genug und immer öfter begegneten.
In Limburg an der Lahn gab es Mittagbrot. Graupen mit Rindfleisch, Schrapnällches, wie Szimkat, der Ostpreusse, sagte.
Da ragte auf sanftem Berg der stille Dom vor einsamer Waldeshöhe, und eine Stadt im Tal, schön wie Dehmels Gedicht:
Liegt eine Stadt im Tale,
Ein blasser Tag vergeht.
Es wird nicht lange dauern mehr,
Bis weder Mond noch Sterne,
Nur Nacht am Himmel steht.
Lutz schlich sich mit seinem Picknapf voll Graupen vom Bahngelände fort den Domberg hinauf. Eine Buche, die leise zu grünen begann, wartete auf ihn. Hier ist gut sein. Hier — immer — so — bleiben — — Wie Hiob am Wege — Spottet nur — Gott sendet den Frühling, der Sommer kommt — — nur hier bleiben dürfen — in Frieden — — —
Es wird nicht lange dauern mehr — — — nur Nacht am Himmel steht — — — begannen die Verse von neuem zu singen.
Wenn er jetzt landeinwärts ginge, bis etwas geschah, und statt morgen in der Hölle, vielleicht im Himmel sein, ein Mädchen treffen, das einen liebte und das einen verbarg — —
Doch da war die Kameradschaft, die Volkstreue, und heilig stand dies Gefühl in der Brust auf und liess ihn zurückgehen, sich einzureihen in das feldgraue Heer.
Langsam setzte er Schritt vor Schritt, den Domberg hinab. Die goldenen Kreuze der Türme funkelten in der Frühlingssonne. Noch sangen Lerchen. Noch glitt der Wind über die unverletzte Haut. Noch sahen die Augen vom Kampf unverwüstetes deutsches Land.
Grau zog der Strom dahin. Ein müder Regen darüber. Kein Mensch winkte aus den Mietskasernen. Zuviele Züge fahren hier täglich vorbei. Mürbe und matte Menschen irgendwie geschäftig auf den Strassen. Man war am Rhein.
Lutz rief die Kameraden ans Fenster, er wollte begeistert sein: „Der Rhein!! Der Rhein!“ Sie erhoben sich halb widerwillig vom permanenten Skat, sahen missmutig hinaus: „Nu, wenn schon, lass doch den Kanal da unten plätschern —“ sagte Töz. „Luzie, stör uns nicht beim Skat“, drohte er gutmütig, Lutz den Spitznamen anhängend, der ihm nun für den Rest der Fahrt verblieb. „Koch Kaffee mit Rum, Lucie“, lachte Wittke drein.
Und unter diesem Disput war der Rhein, den sie nicht haben sollen, der schöne, deutsche, an dem man nur leben wollte, vorbei. Lass doch den Kanal — —
Kanäle — — — Floss das ganze Leben nicht grau in grau durch solche Kanäle? Und aus den Zeitungen fiel ihm das Schlagwort von dem Kanalsystem der Schützengräben ein.
So fuhr Lutz über den Rhein, den Strom der Sehnsucht. „Es ist ja alles ganz egal“, sagte eben wieder Töz.
„Du — ich hau ab, ehe die Schweinerei losgeht —“ sagte Pechtler und grinste mit seinem pickligen Bierkutschergesicht.
„Ja wie, oller Genosse —?“ fragte Wittke.
„Wir wollen den kleinen Jungen nicht schamrot machen —“ Pechtler flüsterte Wittke grinsend ins Ohr, wie er sich in dem ersten besten französischen Quartier eine gewisse ansteckende Krankheit holen wollte. „Ich sage dir, da gibt es extra Weiber dafür —“ prahlte er laut.
„Was für Dreck“, dachte Lutz. „Hast du Angst?“ fragte er Pechtler.
„Was heisst Angst, ich schlag dich tot, wenn du willst, ich hab keine Angst. Von wegen Angst. Aber zum vierten Male — nee — da gehste auch nicht mehr so mutwillig los — du hast ja keine Ahnung, wie’s da zugeht, my boy! Weisste, so ’ne richtige Sache mit Hand und Fuss: so Licht aus! Messer raus! Haut ihm! — ja — aber dies Gehocke im Trommelfeuer, triffts, triffts nicht — na — spiel’n wir weiter — hör nicht zu, keusche Lucie.“ Lutz wurde traurig. Da machte sich dieser starke gesunde Mensch krank, ekelhaft krank, um nicht mehr nach vorn zu müssen.
„Halt die Fresse, Lucie, über meinen Trick!“ sagte Pechtler.
„Ich bin dein Kamerad!“ beteuerte Lutz.
„Bravo, Lindolf, hier sauf eins mit mir, ich dachte, du bist auch so ein Schleimbeutel, der noch die Kugel, die er in’n Bauch kriegt, auskotzt und „Es lebe der Kaiser!“ dabei schreit, na prost —“
Alle vier fingen an, ihre Rumration zu trinken. Die Nacht nahte. Man wollte schlafen. Wittke aber, der sonst so Schweigsame, war besoffen und sang in einem fort: Ja in Morslede, ja in Morslede, ja in Morslede, schmeckt der Wein so süss — —
Er gröhlte und plärrte die monotone Melodie, dass der „schwarze Spiess“, Vizefeldwebel Meinard mit der Negerphysiognomie, aus dem Nebenabteil kam und schnauzte: „Ich verbitte mir das!“
Wittke sah ihn von unten an, ohne aufzustehen oder gar stramme Haltung einzunehmen.
Pechtler lachte: „Wir fahren gerade an Metz vorbei, lassen Sie ihn doch da ein halbes Jahr auf Festung karren, Vize!“
„Hoho, dann ist der Dreck inzwischen zu Ende, nee, nee, Wittke kommt mit!“
„Schwefelbande!!“ Nun musste der Vizefeldwebel mitlachen. Der Kasernenhofton zog nicht mehr. Er war unecht geworden.
„Wir haben hier nur Kaiserprimeln, so eine Zigarette möchte ich auch rauchen,“ deutete Pechtler frech auf die türkische Zigarette Meinards. Was der Hamburger Bierkutscher unter Kaiserprimeln verstand, war wirklich ein pestmässiges Kraut.
Der „schwarze Spiess“ holte sein Zigarettenkästchen heraus, Pechtler nahm acht Stück, für jeden im Abteil zwei, verteilte sie mit hochnäsiger Grazie und winkte dann Meinard, wie wenn er Kompagniechef wäre: Sie können gehen.
Alles lachte. Auch der Vizefeldwebel sagte lachend: „Verfluchter Hund, na warte draussen —“
„Als wie icke, und nochmal draussen? Da können Sie eher — (Pechtler machte eine Weddinggeste) — Herr Feldwebel!!“
„Halt die Schnauze!“ schrie der Spiess.
„Na, gehen wir für heute schlafen —“
„Die Grenze —!“ rief Lutz.
„Lucie kriegt wieder hysterische Anfälle,“ höhnte Töz.
„Lass den Jungen, er fährt in den Krieg,“ hänselte Wittke dazu.
„Schlafen!!“ schrie Pechtler so energisch, dass der schwarze Spiess auch entschwand.
Als Lutz aufwachte, hate er schon im Halbschlaf gefühlt, dass der Zug seit Stunden hielt. Die Furcht, am Ziele zu sein, zwang ihn unterbewusst, solange wie möglich diesen Schlaf auszudehnen, obwohl er alles andere denn bequem lag — als den Dünnsten und Jüngsten hatten ihn die drei alten robusten Knaben ins Gepäcknetz verfrachtet, während sie Bänke und Gang einnahmen.
Lutz spürte durch die krampfhaft noch zugehaltenen Augen, wie der Morgen dämmerte. Eine merkwürdige Totenstille lag über dem stehenden Transportzug. Nur Schnarchtöne schwangen durch die stickige Luft.
Aber schliesslich liessen sich die Augen nicht mehr zuzwingen. Es ist ja doch egal, mit diesem ollen ehrlichen Soldatengefühl zog Lutz den Vorhang ein wenig beiseite: Sedan!
Zug neben Zug stand auf den Geleisen. Jetzt setzte sich der eigene Zug langsam in Bewegung, fuhr zurück, fuhr wieder vorwärts, man wurde umrangiert. Richtig, hier bog ja die Strecke nach Verdun ab — gen Südosten. — —
Das also war Sedan. Ein Rangierbahnhof. Mit preussischem Betrieb.
Was hätte er als Junge darum gegeben, in Sedan gewesen zu sein. Wie oft hatte er am 2. September Hurra geschrien, Gedichte aufgesagt: Nun lasset die Glocken von Turm zu Turm durchs Land frohlocken im Jubelsturm — —
Heut? Ein Knotenpunkt für Truppentransporte. Nur etwas wie Nationalstolz überkam Lutz jetzt: Wir Sieger im fremden Land! Nein, es war alte Landsknechtsfreude — der Stolz, zu dem stärkeren Volk zu gehören — — er wusste, irgendwie war dieser Geist schlecht und brutal und gross und gut zugleich. Wenn man nur genau wüsste, ob man sich wirklich nur verteidigte, den Feind fernhielt vom eigenen Land — dann geschähe ihm ja recht. — Aber dies Letzte, dies Entscheidende, blieb ewig verworren.
Der Transportzug zog jetzt so vorsichtig dahin, dass man zu Fuss nebenher laufen konnte. An die Front. Flieger surrten schon in der Luft. Aber noch waren es nur deutsche, die von der Morgenbeobachtung zurückkehrten. Das Schlachtfeld von Sedan, der Ardennerwald lagen im Frieden. Plötzlich war alle Bedrücktheit fort. Lutz stand auf der Weltbühne. Er spielte den Kriegssoldaten zwischen Sedan und Verdun. Das grosse Geschehen holte auch von seiner Seele den heldischen Tribut.
In Mouzon gab es Kaffee. Er trank Schluck für Schluck mit Andacht. Er brach das Brot sinnbildhaft. Er hörte die Lerche. Blumen pflückte er und nannte sie „Kinder blutgetränkter Erde“. Noch war’s still ringsum. Und wie mild, wie gütig Frankreichs Frühling! Dort drüben bestellten Feldgraue den Acker. Sie sangen heimatliche Lieder. Sie waren Bauern wieder. Wo aber mochten die Menschen sein, die dieses Land Heimat nannten? Vertrieben oder tot? Auch wir vertrieben, auch wir vielleicht tot?
Immer wieder vertreiben sich die Menschen aus ihrem Paradies, aus der Heimat. Wir sassen zu lange zu Haus.
Lutz sah sein Gewehr an, das schon scharf geladen war. Der Mann hatte Sehnsucht nach der Waffe.
Wir Jäger des Lebens. Wir Abenteurer.
„Na, Lucie —?“ fragte Wittke. „Träumst von Backobst mit Klössen, oller Usinger —?“
Lutz schüttelte nur mit dem Kopf und gab dem Kameraden die Hand. Klössen — — Klösel — — alter Hauptmann — war das erst vorgestern, da du sagtest: „Macht’s gut!“
Ich will es gut machen.
Die Welt soll sich gut machen.
Was aber ist das Gute?
Das Wahre.
Ja, das Wahre — — o zärtlicher Himmel über mir, wo?
Da lag, schön wie in einem Ritterspiel, die Bergfeste Dun an der Maas — hier assen sie zu Mittag. Aber als der Zug stillstand, ging ein Murmeln weiter, und es waren nicht mehr die Räder, die da leise und monoton murmelten, es kam von ferne her, und es sprach vom Tod.
Eine halbe Minute, und schweigend sahen sich alle an. Dann schwatzte man wieder. Und langsam ebbte auch das innere Zittern in den Stimmen ab, bis ein derber Witz explodierte und ein extra lautes Gelächter sich über das spukhafte Murmeln erhob.
Lutz träumte abseits vor sich hin, wie es seine Art war — Du schönes stolzes Frankreich! sann er in die heroische Maaslandschaft hinein. Und dann wanderten die Gedanken den Weg zur Stadt hinauf entlang und wieder hinab am Fluss dahin — ach, Adelheid, wenn du die wärest, die ich mir träume — du aber ahnst nicht, wie gross und schön und einsam-herrlich das Leben sein kann. —
Solch liebende Wanderung hier am sanften Strom, horch, Glocken fallen aus der Stadt, sie suchen Gott, für uns, für die Feinde — ich weiss es nicht, aber es ist schön, Tränen habe ich, siehst du, Adelheid, du aber trinkst Sekt mit deinem Unterarzt und ihr sagt vielleicht mitleidig: Der arme kleine Lindolf, wenn er fällt — ein braver Schiesssoldat in seiner Uniform. Sie war ihm viel zu gross, lacht Adelheid.
„Mal herhören!!“ sagte ein fremder Oberleutnant. „Ihr könnt jetzt in die Stadt gehen, bis fünf Uhr, dann fährt der Zug weiter.“
„Wohin?“ schrie einer.
Alles lachte die Antwort. Bis fünf — drei Stunden frei. „Viel boku! Bon fortzionös!“ schrie Töz. „Sind noch Weiber da?“ brüllte Pechtler dazwischen. Und dann zerstob alles in Trupps und Gruppen, die Maashöhe hinauf, wo die Stadt wartete, fast unversehrt, nur wenige Ruinen — doch von ferne murmelte es zu jedem Wort, zu jedem Schritt.
Die Estaminets waren von den sechshundert Soldaten des Transportzuges im Nu gefüllt.
Das Kauderwelschen begann.
„He, Madame, einen — (Nun kam die Schuapsgeste) zum bon choucher!“
„Oui, Oui!“
Die Kellnerin, dürr und ausgemergelt, wurde beim Bestellen und Servieren betastet, gezwickt und gedrückt, ein müdes Lächeln, das das Ekeln vor sich selbst und vor der Welt verlernt hat, war auf ihren Lippen erstarrt.
Einer gab ihr durch Gesten zu verstehn, dass sie verwelkt sei: Malheur! Malheur!
Alles lachte.
Sie aber wurde jetzt zornig und stiess mit letztem Feuer hervor: „C’est votre guerre!“
Dann trat sie zu Lindolf, der mit einem fremden Kameraden aus einer andern Ersatzkompagnie abseits von den Lärmenden sass, und sah ihn fragend an.
„Kaffee!“
Sie nickte lächelnd, eilte fort und brachte unter dem Schimpfen der lauten Bande Lutz und seinem Tischgenossen zuerst das Bestellte.
„Lucie macht Eroberungen!“ brüllte Wittke aus dem Haufen, der um den grössten Tisch in der Mitte sich lümmelte und räkelte.
Die Kellnerin sah die Johlenden giftig an. Sie schrie in ihrer Sprache: „Wenn alle so wären wie die beiden Knaben, gäbe es keinen Krieg, ihr Hunde!!“
Lindolf verstand ungefähr mit seinem Schulfranzösisch, was sie meinte, und sah sie zärtlich an.
Zwischen dem Tisch Lindolfs und dem grossen Tisch lagerte sich plötzlich etwas wie schlecht verhohlene Feindschaft. Das Weib machte parteiisch, weil es ganz den ureigenen Gefühlen folgend ungerecht Partei ergriff und Vorliebe zeigte.
Plötzlich aber wurde ans Fenster geklopft und mit einer schmutzigen Gebärde zeigte Pechtler, dass er etwas viel Feineres und Verlockenderes gefunden hätte.
Einer nach dem andern verschwand so schnell wie möglich, sein Glas hinunterkippend. Dann folgten sie Pechtler mit grossmächtigen Reden, die Begierde im Blick.
Sie vergassen noch einmal. Die gemeine Lust hielt ihre Sinne völlig befangen.
Lindolf und der fremde Kamerad und die welke Kellnerin sassen indes stumm zusammen. Die Minuten rannen. Und keiner wusste, warum sie unter solchen Rätseln und Qualen verrannen.
„Ick — nix mehr — schön!“ sagte wehmütig die Kellnerin.
„Oh — votre coeur est bon!“ sprach der fremde Kamerad.
Lutz streichelte die Kellnerin über die Wange. Er streichelte Frankreich. Und irgend etwas sprach ihn bei allem verstandesmässigen Widerlegen schuldig.
Er hatte mit dem Morden da vorn nichts zu tun.
Aber er konnte auch nicht feige sein.
„Komm, Kamerad. ’s ist Zeit! Adieu!“
„Adieu!“ Die Kellnerin wollte ihnen nachrufen: „Kämpfen Sie glücklich!“ aber das Gefühl: sie sind trotz allem Feinde, hiess sie schweigen. Dennoch war sie unzufrieden mit sich, dass sie schweigen musste. Was ging sie dieser fürchterliche Krieg an?
Als die Sechshundert wieder antraten, die meisten fluchend und missmutig, nun langsam und sich ekelnd aus dem Alkohol- und Geschlechtsrausch erwachend, da fanden sie statt des Zuges Trümmer vor. Ja, jeder hatte dumpfe Knalle gehört — also Bomben haben die Franzmänner schon auf ihren Zug geschmissen.
Nun standen sie da — das Gepäck war futsch. Die Offiziere eilten mit blassen, aufgeregten Gesichtern hin und her. Der Transportführer, ein Hauptmann, der nur den Ersatz heranbringen wollte, ohne viel Feuer zu verspüren, — auch so bekam er das Eiserne Kreuz — telephonierte aufgeregt mit einem Brigade-Adjutanten. Nach einer Weile kam er aus dem lädierten Bahnhofsgebäude heraus:
„Wir müssen sofort nach Mouzon marschieren! 14 Kilometer! Dort werden wir neue Sachen empfangen. An die Gewehre!“ Die Gewehrpyramiden standen unversehrt jenseits des Bahnhofs. „Ohne Tritt marsch!“
„Ob Tote sind? Verwundete?“ Ein paar waren freiwillig zur Bewachung des Zuges zurückgeblieben.
Nein. Keiner tot, keiner verwundet. Sie hatten alle, einschliesslich der Bahnhofsbesatzung, beim Herannahen der Flieger in einem bombensicheren Unterstand Deckung genommen.
Alle atmeten auf, weil keiner tot war. Denn wenn erst der Tod in die Reihen sich einzufressen beginnt, heute den, morgen den — auch das wird kommen.
Sie sangen. Auch die bei der Dirne waren, sangen hell und froh. Der Fliegerangriff hatte sie wieder von dem Dreck, den sie in ihre Seele geschüttet, gereinigt. Sie taten die Schweinerei mit einer Handbewegung ab.
In Mouzon wurden sie mit neuen Tornistern, Spaten, Handgranaten und Mänteln versehen und dann noch in der Nacht erneut in Marsch gesetzt, weil es kein Quartier hier für sie gab. Nach Brieulles. Zwanzig Kilometer.
Fluchend und schwitzend kamen sie gegen Morgen dort an. Stumm. Lauter murrte die Front hier. Die Kirche, in der sie untergebracht wurden, hatte zersprungene Fensterscheiben und ein durchlöchertes Dach. Aber sie sahen nicht die Bombenlöcher ringsum, sie gingen hinein, warfen sich in irgendeinen Winkel.
Als Lutz schon im Halbschlaf war, erkannte er von ungefähr plötzlich, dass er unter dem Taufkessel lag. Richtig, er hatte ja in die Steinmulde da über ihm seine Siebensachen hineingeschmissen. Er sah zur Seite. Da schaute ihn Maria aus dem Altarbild an und zu ihren Füssen kniend, mit dem Helm auf dem Haupte, Jeanne d’ Arc.
Der Name der Nationalheldin stand auch auf dem unteren Rand des Taufkessels, und beim Schein seiner Taschenlampe entzifferte Lutz, dass die heilige Johanna hier getauft worden ist.
Leben, Leben, was führst du für seltsame Wege. Die Jungfrau von Orleans, diese Schillerfigur, dieses dichterische Phantasiewesen, das sie immer für Lutz bisher war, hier wurde sie ihm erst lebendig. Er dachte an die erste Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ in seinem Leben, als Quartaner sah er sich sitzen in dem kleinen Theater — zu Hause — — ach, wie leicht, wie zauberleicht jene Zeiten — — nun schlief er unter dem Taufkessel der Jungfrau, und in dem heiligen Steinbecken, in dem die Jeaune d’ Arc eine Christin wurde, lag sein Tornister, lag sein Helm.
Neue Verwirrungen erfüllten Lutzens Seele. Er träumte, dass er die Johanna gefangen hatte und so lange misshandelte, bis sie aussah wie die Kellnerin von Dun.
Grosses Hallo! Befehle: „Sofort räumen die Kirche! Sachen nicht liegen lassen! Raus! Fliegerangriff!“
Schlaftrunken griff Lutz nach seinen Sachen, stolperte wie die andern sich puffend und drückend ins Freie.
Nur ein leises Surren war in der Luft zu hören. Plötzlich vier, fünf Knalle —
Alle warfen sich zu Boden.
Doch die Kirche stand. Irgendwo auf den Feldern qualmte es und glimmte.
Alles trottete wieder zurück.
„Das fängt ja gut an! Verfluchter Saustall hier!“
Kein Mensch empfand die Lästerung, die in diesen Worten lag, — gelegen hätte, wenn diese Kirche nicht völlig aussah und vor allem roch wie eine Kaserne.
Lindolf fand seinen Platz unter dem Taufkessel frei und schlief nun traumlos bis in den lichten Morgen hinein.
Die sechshundert Mann Ersatz wurden aufgeteilt. Lindolf kam zur zwölften Kompagnie des Reserve-Infanterieregiments 313 und wurde mit dreissig andern Kameraden nach Dannevoux, wo die Kompagnie lag, in Marsch gesetzt. Unteroffizier Liebetanz führte sie.
Als sie marschierten, sagte einer: „Heute ist Ostersonnabend.“
Töz, der sich auch in der Gruppe befand, meinte ein wenig beschämt: „Kinder, da haben wir ja gestern am Karfreitag diese Schweinerei aufgeführt. Es ist wirklich allerhand, dass uns dafür die Bomben nicht den Bauch aufgerissen haben.“
„Was heisst hier Bauch aufreissen? Wer soll uns denn den Bauch aufreissen?“ ein anderer.
„Gott — das ist so ein Fabrikat der Reichen und der Herrschsüchtigen als Leuteschreck für uns.“
„Gott lässt sich missbrauchen, weil er im tiefsten Grunde nicht missbraucht werden kann. Aber er ist da. Nicht für uns, für unsern Eigennutz. Aber in uns,“ sagte Lindolf. Und er spürte, wie aus dem Lerchenjubel, den fröhlichen Wolken, dem blauen Himmel und dem jungen Grün auf den Hügeln und an den Bäumen diese Gedanken hingen, die er aussprach, seltsam reif und weise für ihn selbst. Wenn ich zurückkäme aus dem Mord, ich würde wahrscheinlich zehn Jahre klüger und älter sein, dachte er.
„Ach du — das ist ja Quatsch. War er vielleicht auch in mir, als ich gestern bei dem Weib in Dun war, he?“
„Er lässt sich nicht zuschütten. Er kann nicht ersticken. Das Tiefste in euch bleibt unberührt. Ihr habt bloss Angst, in die Tiefe zu dringen. Alles erledigt ihr an der Oberfläche eurer Seelen. Und die Völker sprechen miteinander die Oberflächensprache und schreien: Hurra! Gott schreit nie Hurra, er schweigt sich in Schönheit aus —“
„Na, schweig dich mal auch in Schönheit aus, Lucie! Nix für ungut. Das verstehen wir nicht. Das heisst — weisst du — es ist so unbequem, darüber nachzudenken. Lieber will ich ein dreckiger Hund als ein so komplizierter, vertiefter Idiot sein. Nix für ungut, Kamerad! Los, singen wir!“
Und sie sangen: In der Heimat, in der Heimat — — —
Dies Lied ist Gott. Wie sie alle einfältig und rein aussehen, wie sie Natur werden, Kinder Gottes, dachte Lindolf. Und er wurde glücklich und sang und marschierte in den Frühlingsmorgen, noch lebensfroh, in Reih und Glied mit dreissig Kameraden.
Der Fesselballon der Division, diese dicke gelbe Himmelswurst, stand in Dannevoux und war ihr Richtungspunkt. Näher und näher kam der Ballon, manchmal kreisten Flieger um ihn, dann flogen weisse Schrapnellbälle hinauf von den Fliegerabwehrgeschützen, das ganze sah aus der Ferne aus wie eine Volksbelustigung im Lunapark. Das Getacke der Maschinengewehre von den Flugzeugen, die den Ballon aus Wolkenhöhe zu treffen versuchten, klang schon dünn wie Gänsegeschnatter herüber.
Die Sinnfälligkeit des maschinenhaften kriegerischen Geschehens entkleidete es allem Heldischen. Ich schiesse, du schiesst, wir schiessen — die Front konjugierte ihr Pensum. Ja, so murmelnd hatte man seine Lektion aufgesagt, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
In Dannevoux, die Erbswurst des Fesselballons hing nun über ihnen, wurden sie noch am gleichen Tag in die zusammenge schossene 12. Kompagnie eingereiht. Sie standen kaum fünf Minuten unter ihren neuen Kameraden, da wussten sie, dass am zweiten Feiertag nachmittags vier Uhr gestürmt werden sollte.
Nun war die Kompagnie angetreten. Der Feldwebel rief die Namen der Neuen auf, teilte sie den Gruppen oder Sonderfunktionen zu.
„Lindolf! Sie haben das Einjährige?“
„Jawohl!“
„Melder. He, Bernöckel, hier ist der zweite Melder. Wo ist der Leutnant? Nicht da? Sobald Sie den Leutnant sehen, melden Sie sich bei ihm als Gefechtsordonnanz.“
Töz sagte, als Lindolf an ihm vorbei sich wieder in die Reihe stellte, jetzt neben Bernöckel, dem anderen Melder: „Arme Lucie!“
Langsam dämmerte es Lindolf auch, dass er einen der gefährlichsten Posten bekommen hatte: Die andern standen, er lief durch den Dreck da vorn.
Bernöckel sagte gleich: „Na, da wollen wir heut abend Testament machen. Das hat man von seiner Intelligenz.“
„Wegtreten!“ kommandierte der Feldwebel. Und alles trieb auseinander. Wahllos in das Dorf, in die Gegend, in den Wald hinein. Das Gemurre der Front hörte keiner mehr.
Bschinng — — —
„Das war im Dorf“, sagte Bernöckel ruhig. „Schweres Geschütz.“
„Ob welche tot sind?“
„Lass doch. Nicht soviel fragen. Immer drücken. Ausser Schussweite. Seit Langemarck hab’ ich die Neese plein! Aber was ist zu machen?“
Bernöckel war Gefreiter. Im übrigen so etwas, was man einen schlappen Hund mit grosser Schnauze nennt. Berliner. Student im ersten Semester, als der Krieg ausbrach.
„Ist das eklig — Melder?“ fragte Lindolf.
„Bin es auch zum ersten Mal, früher oder später kriegt’s den Melder immer, überhaupt da vorn — Junge, Junge, die Blumentöpfe fliegen da in ganzen Plantagen —“
„Kann man sich gar nicht in acht nehmen? Hat sich gar kein Brauch herausgebildet — so hinlegen — hört man überhaupt die Granaten, die aus der Höhe kommen —?“
„Quatsch nicht heut schon von dem Dreck, Lindolf. Du wirst alles erleben. Nichts kann man machen. Man hält es aus. Der eine so, der andere so!“
„Ich habe noch keinen hier draussen kennen gelernt, der so der Typ des mutigen, braven, vaterlandsliebenden Feldsoldaten wäre, wie ihn die Heimat sieht.“
„So in der schönen, neuen, grauen Felduniform, wat?“ lachte Bernöckel. „Den gibt’s nicht. Selbst unter Offizieren und Unteroffizieren, die sich schustern wollen, stirbt diese Gattung aus, sobald das Kohlenkastenschmeissen da vorne beginnt.“
„Wenn jetzt das Regiment anträte und jeder seines Eides entbunden würde —“
„Kein Mensch hätte den Eid geschworen, wenn er ihn an der Front schwören müsste, wenn er wüsste, wie das aussieht, das Feld der Ehre — ja, Hunde, die was für sich selbst mit dem Tod erkaufen wollen — ganz ehrgeizige Hunde — solche gibt’s einige — aber sonst —“ schimpfte Bernöckel.
„Hör zu,“ sagte Lindolf und sah Bernöckel in die merkwürdig trüben Augen und auf die welke Haut, (der Mann ist ja vollkommen mit den Nerven herunter, dachte er) „hör zu, wenn jeder seines Eides entbunden, gefragt würde: Willst du weiter schiessen? Soll weiter geschossen werden? Hier und drüben? Es gäbe doch nur eine Antwort. Nein!“
„Natürlich!“ sagte Bernöckel. „Aber nun ist es losgegangen. Wer soll zuerst aufhören. Wir?“
„Nein.“
„Die andern, in deren Land wir sitzen?“
„Sie kämpfen bis zum Aeussersten.“
„Also?“
„Der Krieg nimmt nie ein Ende.“
„Nie — ich glaube es auch fast —“
„Also warten wir ab, was nun kommt. Für uns.“
„Warten wir ab.“
„Wir wollen Kameraden sein“, sagte nach einer Weile Schweigen Lindolf. „Echte Kameraden.“
„Man kann hier nicht unecht sein. Das ist vielleicht das Grosse. Deswegen hat der sinnlos begonnene Krieg einen Sinn — verstehst du? Das Echte, das Grosse, das, was gestern noch keinen Namen hatte, so stark an Gefühlen uns Ueberwältigende — die Reinigung von Hirn und Herzen hat begonnen — an der Front wachen alle auf. Alle. Das Volk wacht auf, die Völker. Sie werden wissend. Keiner wird sich mehr belügen lassen.“
„Wenn es so ist, dann will auch ich nach vorn,“ sprach Lindolf und sann und sann — — —
Die 12. Kompagnie des Reserve-Infanterie-Regiments 313 wurde mit dem III. Bataillon dieses Regiments westlich der Maas bei der Höhe Toter Mann in Richtung auf das Fort Marre, zusammen mit andern Bataillonen anderer Regimenter, im ganzen etwa anderthalb Brigaden, am zweiten Osterfeiertag nachmittags zum Sturm angesetzt.
Leutnant Wynfrith, der Führer der 12. Kompagnie, meldete sich beim Major Graf Böchlarn zum Empfang der letzten Instruktionen. „Sie sind die dritte Welle. Angriffszeit 4,13 nachmittags.“
„Wenn noch solch Schlamm ist wie beim letzten Mal, werden wir schwer vorwärts kommen. Wir finden auch keine Gräben vor, wenn wir nicht bis in die Sperrfortkette dringen.“
„Ich hoffe, dass das Bataillon so weit kommt —“
„Das wären zwei Kilometer vorwärts. Wir haben schon um 60 Meter mit hohen Verlusten gekämpft. Ausserdem bekommen wir beim Vorwärtsdringen die Höhe 304 in die Flanke.“
„Divisionsbefehl: nachzudrücken. Sie wissen, auf dem östlichen Ufer sind Douaumont und Vaux schon vor Monaten gefallen.“
„Heute würden sie auch nicht mehr fallen. Forts können nur überrumpelt werden. Die Franzosen erwarten uns.“
„Wir müssen es versuchen, Wynfrith.“
„Jawohl, Herr Graf!“
„’s ist gut. Lassen Sie antreten.“
Leutnant Wynfrith stand tiefernst, aber gelassen mit klarem offenen Blick vor seiner aufgefüllten Kompagnie.
„Seid ihr in Ordnung einigermassen? Der Herr Major will euch sehen — he, Martens, sehen Sie doch die Kerle nach.“
Wynfrith sah gelangweilt der kommissigen Untersuchung zu.
„Alles in Ordnung,“ meldete Vizefeldwebel Martens.
Da kam der Major. Mit seinem knickebeinigen Kavallerieschritt in seiner Ulanenuniform, die Mütze schief über den Ohren — der Herr Graf.
„Stillgestanden. Augen rechts —“ kommandierte Wynfrith ein wenig lässig. Was soll dieser Betrieb?
Dann meldete er. Der Graf nahm die Meldung mit der eingefleischten schneidigen Grussgebärde entgegen. Jetzt schnarrte er: „Rührt Euch!“ und schritt von Mann zu Mann.
„Die neuen vortreten!“
Unteroffizier Liebetanz, Gefreiter Krauss, Lindolf, Töz, Hirschfeld, Pechtler, und alle die dreissig, die gestern so fröhlich hermarschiert waren, traten mit ernsten Gesichtern vor.
„Ihr wisst, dass hier grosse Kämpfe im Gange sind. Vielleicht die Entscheidungsschlacht. Ich hoffe, ihr werdet meinem Bataillon wie alle andern hier Ehre machen. Es ist für uns alle eine Auszeichnung, unter den Augen des Kaisersohnes als Oberbefehlshaber zu kämpfen — in Tod und Sieg. Ein Zurück gibt’s nicht. Die Festung muss fallen. Nun — nun —“ er wurde unsicher, er sah verständnislose disziplin-unbewegte Gesichter vor sich, keine Begeisterung — „nun, ich weiss — die Stunde ist ernst — mit Gott für König und Vaterland.“
Die Kompagnie glotzte unbeweglich geradeaus. „Quatsch nich. Krause,“ flüsterte einer.
Lutz dachte: Das war arg verfehlt. Das waren falsche Töne. Es geht ja um viel mehr als um König und Vaterland. Es geht um den Sieg über uns selbst. Um die Freiheit schlechthin. Dieser Krieg ist ein Fieber. Wir müssen durch alle Krisen. Alle Völker. Nachher werden wir, die es überstehen, um so fester und lebenssicherer sein.
„Stillgestanden! Die Augen links!“ kommandierte müde Wynfrith. Graf Böchlarn verabschiedete sich. „Mein Stabsunterstand der gleiche wie in den letzten vier Wochen.“
Wynfrith grüsste stumm. Der Major ging. Dann wandte sich Wynfrith zu seinen Leuten:
„Rührt euch. Wir marschieren heut abends 7½ Uhr ab. Feldwebel! Gutes Essen! Für die Neuen: Der Marsch in den Graben dauert 4—5 Stunden. Sturmgepäck. Alles Ueberflüssige hier lassen. Ich hoffe, dass wir alle — möglichst alle — in vier Tagen wieder hier stehen. Die Melder —!“
Lindolf und Bernöckel sprangen vor.
„Heisst?“
„Lindolf, Herr Leutnant.“
„Bleiben immer an meiner Seite. Keine Angst, Junge. Es ist halb so schlimm, wie es vorher aussieht.“
„Ich habe keine —“ wollte Lindolf abwehren. Aber er fühlte selbst, wie unecht das klang.
„Ich weiss, ich weiss. Du willst keine haben. Aber bange zu Mute ist uns allen. Immer wieder. Na —“ Er streckte ihm die Hand hin. „Und Bernöckel, alter Knabe? Noch immer kein Heimatschuss?“
„Nein, Herr Leutnant.“
„Wie lange?“
„Seit Langemarck ununterbrochen draussen — 17 Monate.“
„Ich auch — von der Marneschlacht bis heute — und man lebt — — —“
Lindolf wollte seinen Leutnant umarmen.
„Fresst euch satt, Jungens. Vorn gibt’s vielleicht nichts — Auf Wiedersehn.“
„Auf Wiedersehn —“
„Mit dem Leutnant haben wir Schwein, was?“ sagte Lindolf.
„Ja, er ist besser als mancher andre. Darum pfeifen die Kugeln nicht weniger in seiner Kompagnie,“ sagte gähnend Bernöckel.
Plötzlich ein Schuss in einem der Quartiere — —
Alles lief zusammen. Da trug man einen kräftigen rothaarigen Mecklenburger hinaus — beim Gewehrreinigen war dem ungeschickten Hirschfeld ein Schuss losgegangen, er hatte vor der Reinigung zu entladen vergessen —
„So stirbt man auf dem Felde der Ehre,“ sagte ein Gefreiter in lehmgrauer Uniform, also einer von den Alten der Kompagnie. „Vorn kommt man durch, daun knallt einem solch ein Dussel die Bohne in den Rücken.“
Hirschfeld stand zitternd mit halb irrem Blick im Winkel. Schon in der Garnison hatte der kleine Jude dauernd Pech. Alle, vom Kompagniechef bis zum kleinsten Flügelmann, sahen ihn schon in Döberitz als minderwertig an. Nur zu Lindolf hatte er Zutrauen.
Lindolf fragte aber jetzt auch böse: „Warum hast du das getan?“
„Es ging los —“
Da sah ihn dieses grossnasige, glotzäugige Gesicht über der ewig verrutschten Halsbinde schräg von unten an: Verlass du mich nicht auch noch —
Bernöckel schrie: „Verdammter Judenbengel! Das hätte mir passieren sollen — ich hätte dir eine gelangt —“
Da fing alles zu lachen an über die Unmöglichkeit, sich mit der todbringenden Gewehrkugel im Leib zu rächen.
Lindolf sagte zu den andern: „Dem wird immer die Kugel an unrechter Stelle losgehen. Es gibt solche Menschen. Er trägt ja selbst am schwersten daran. Er hat eine gute Seele. Es gibt nur nichts Ungeschickteres auf der Welt.“
Jetzt kam der Feldwebel. Auch der pfiff Hirschfeld an, sprach was von Meldung und Arrest. Und von allen jämmerlich verachtet sass Hirschfeld an einem Pfeiler und weinte bitterlich.
So war dieser letzte ruhige Nachmittag verstört durch Tod und Begräbnis.
Doch so gegen fünf Uhr begann man zu saufen und eine sich immer höher steigernde nervöse Heiterkeit in Gang zu bringen.
Dazu ass man ohne Unterlass. Hastig. Soviel wie möglich. Brot, Zwieback, Fleisch, Nudeln, Schokolade.
Lindolf hielt sich abseits. Er hockte am Waldrand und sah die Sonne sinken. Er liebte die Birken, die vor ihm in erstem Frühlingsgrün sich im Winde wiegten. Er sah über die Dächer des Soldatendorfes hin, wo nicht ein Zivilist mehr wohnte — Frontland — — —
Und doch stille Wolken darüber. Und ein Vogellied.
Er begann zu schreiben: an die Mutter, beruhigend, zuversichtlich, es ist alles halb so schlimm, und an Adelheid: — — Ich weiss, dass du nicht verstehst, worum es hier geht. Nicht um Epauletten und Eiserne Kreuze, es geht um den Aufruhr der Seele. Die Welt fiebert. Wir sind die Bazillenheere, die den Fieberkampf auslösen. Gift und Gegengift, auf dass alle gesunden. Grüss mir Berlin. Ist es noch da? War ich vor einer Woche noch in Deiner Nähe? Ich küsse Dich, heut’ abend geht es nach vorn. Dein Lutz.
In lockerer Marschordnung, zu zweien und dreien, zog die 12. Kompagnie R.J.R. 313 gemächlich an die Front. Das Gewehr trug jeder, wie er wollte, die Schritte gingen durcheinander — es war wirklich die berüchtigte Hammelherde des Kasernenfeldwebels, die jetzt auf den Feind losgelassen wurde. Wie lächerlich wäre es aber auch gewesen, mit Gewehr über in Gruppen rechts schwenkt marsch zu marschieren — Lindolf dachte an seinen Hauptmann Koesel, der dem Exerzieren immer vorzeitig ein Ende machte in der richtigen Erkenntnis, es hat ja alles vorne keinen Sinn. Wozu bloss dieser Schliff? Wieviel harte Herzen hat er geschaffen? Rebellen gegen die Exerzierknute. Statt die Seelen vorzubereiten, in Freiheit mutig, für den grossen Kampf. Nun mussten sich die Seelen trotz des widerlichen Kasernenballasts mit all seinen verdriesslichen Schikanen in wenigen Stunden freimachen für den grossen Gang in den Tod. Als dumme Jungens wurden sie in den Garnisonen behandelt, nun verlangte man, dass sie Männer seien.
Ja, hier schritten Männer. Auch die fast Knaben waren, schritten weise und gelassen. Aber dies geschah trotz des Garnisonexerzierens.
Leutnant Wynfrith sann vor sich hin. Bernöckel rauchte nervös eine Zigarette nach der andern. Er sah käsebleich aus und hatte sicher Fieber. Zu Hause wäre er im Bett geblieben, so schlecht fühlte er sich, abgekämpft. Doch solange man nicht wirklich umsank, sah alles wie Feigheit aus.
Sie verliessen das Dorf, die Strasse neigte sich, gerade holte man den Fesselballon ein. — „Na, ihr Etappenschweine, ihr macht Feierabend —“ rief man aus der Kompagnie den Luftschiffern zu, die sich wortlos diese Gemeinheit einsteckten. Was sollten sie viel sagen? Sie wussten, mit ihrem Ballondienst war das da vorn schwer zu vergleichen.
Nun breitete sich eine ziemlich weite Ebene mit mehreren Anmarschstrassen aus, bis die Höhen „Toter Mann“ und „304“ zu ragen begannen. Die Front murmelte bald nicht mehr, sie tobte laut. Und man hörte schon vereinzelte Einschläge, die näher kamen, heraus.
Doch Lindolf dachte: Vorläufig ein Abendspaziergang. Da ist der Friedhof — hier ein Soldatengrab — da eine zerschossene Mühle — dort ein anderes Dorf — letzter Abendsonnenschein — der Mond —
„Wann kommen wir ins Feuer? In wieviel Stunden?“ fragte Lindolf den Leutnant.
„In zwei so richtig, in einer kann es schon vereinzelten Zunder geben.“
Da trank Lutz noch einmal das Leben, das in allen Adern und Nerven so lebensstark wie nie gefühlte Leben in vollen Zügen. Alles erwachte aus der Vergangenheit: Kindheit, Studienzeit, Weihnacht, erste Liebe, Berlin, die Fahrt durch Deutschland, die letzten Tage, und Adelheid. Aber er zürnte ihr nicht. Die Stunde war gross, und eine tiefbeseelte Adelheid erschien ihm gütig in dieser Stunde, wie sie nicht lebte, aber wie er sie träumte, wie er sie brauchte in seiner grossen Not zwischen Leben und Tod. Das verklärte Finale aus der Egmont-Ouvertüre umkreiste ihn — der Schritt der Kameraden um ihn, vorwärts, vorwärts —! Wohin? In die grausigste, die Seele hochtreibendste Mannestat — er blieb stehen und liess seine Kameraden vorbeimarschieren. Er wollte ihre lebendigen Gesichter sehen. Er verbarg diese seelische Wunde mit der Frage nach nichtigen Dingen. Er, der Schweigsame, wurde gesprächig. Er horchte auf seine Stimme und liebte sie, dass sie noch so jung und schön klang in all dem Graus. Und alle waren weich im Herzen und antworteten gern.
Dann lief er wieder zur Spitze der Kompagnie an des Leutnants Seite. Gerade kam ihnen eine in Ruhestellung ziehende Kompagnie entgegen. Der Leutnant fragte den ersten Vorbeikommenden, es waren 127er — —: „Euer Leutnant?“
„Hops gegangen. Hier der Vize führt.“
„Guten Abend,“ grüsste Wynfrith. Der Feldwebel nickte.
„Wie sieht’s aus, noch immer so lehmig, dass man bis in die Knie stecken bleibt?“
Der Feldwebel nickte. Die Stimme schien ihm vor Entsetzen zugefroren.
„Starke Verluste?“
Der Feldwebel liess wegwerfend die Hand zur Seite fallen. Dann zog er ohne Gruss weiter.
„Die haben die Nase voll!“ sagte Wynfrith.
Keiner der 127er antwortete auf die Zurufe aus der zur Front rückenden Kompagnie. Sie dösten geistesabwesend vor sich hin: Ruhe, nur Ruhe!
Bschirr — ing — —