Krimi
Die eine Person: „Nun sag mir endlich, gibt es das perfekte Verbrechen oder nicht!“
Die andere Person, genüsslich an der Zigarre ziehend und in die Rauchkringel hinein: „Das muss es geben. Es gibt es. Nur fünfundneunzig Prozent der Morde werden aufgeklärt. Das heißt, wenn die Polizei den Mord nicht aufklären kann, ist das Verbrechen perfekt. Doch das ist mir zu einfach. Kommt dann ein besserer Detektiv, wird der Mord aufgeklärt. Das perfekte Verbrechen kann nicht am Dritten, dem Polizisten, festgemacht werden. Die Qualität muss im Verbrechen selbst liegen.“
„Nun gut. Du fährst mit dem Auto von A nach B. Dann entschließt du dich spontan, vom Weg abzuweichen. So zweihundert Kilometer. Wirst nicht geblitzt oder so. Es regnet stark – also keine Spuren – und du trägst Handschuhe. Auf einem Parkplatz siehst du einen fremden Menschen, neben dem zufällig ein Ast liegt. Du hältst an, nimmst den Ast, schlägst die Person tot und fährst weiter. Kommst pünktlich nach Hause. Perfekt – bekommt nie einer raus.“
Und wieder zog die Person, im Sessel zurückgelehnt, an ihrer Zigarre.
„Das ist Quatsch und kein Mord. Der perfekte Mord hat kein Motiv. Jedenfalls so nicht. Für mich ist das perfekte Verbrechen, höre jetzt gut zu, wenn ein Mensch getötet wird und das Opfer als Mörder ermittelt und verurteilt wird.“
„Jetzt redest du aber Quatsch. Das Opfer eines Mordes ist tot und kann nicht für eine Tat an sich selbst verurteilt werden.“
„Du denkst zu eingleisig. Pass auf …!“
Beide Personen genossen ihre Zigarren und ihre Gedanken. Dann planten sie.
September
Die ganze Nacht konnte Kommissar Wilmar Krause nicht schlafen.
Hin und her hatte er sich in seinem Bett gewälzt. Ob Augen zu oder Augen auf – immer wieder sah er vor sich das erstaunte, traurige Gesicht dieser blonden jungen Frau. Es raubte ihm schon seit zwei Wochen die Ruhe und den Schlaf.
Was war das bloß für ein Albtraum! Zu einer Routineverhaftung in einem Drogendelikt von der Staatsanwaltschaft beordert, fanden sie, KK und seine Kollegin Marie Volkert, eine bewaffnete Frau vor. Doch was heißt „Frau“; mehr ein Mädchen, vielleicht zwanzig, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt.
Dann hielt dieses Mädchen eine Pistole in seine Richtung und drückte ab. Ihr Kopf verschwand in einer Wolke aus Pulverrauch.
Blitzschnell hatte KK seine Pistole auf das Mädchen gerichtet und ihr in den Kopf geschossen; nicht in das Bein oder in die Schulter. In den Kopf. Der sich auflösende Pulverdampf offenbarte das Fiasko.
Warum schießt sie auf mich? Ich musste mich doch wehren. Aber in den Kopf?
Ganz starr stand er da, seine Augen auf das Mädchen, die junge Frau gerichtet, nur das Blut und die blonden Haare sehend.
Nur Blut und Haare.
KK rannte aus dem Raum. Gerade noch konnte er damals das Zimmer verlassen, um den Tatort nicht mit seinem Erbrochenen zu kontaminieren.
Ohnmacht, Verzweiflung und die Freude, selbst noch zu leben; unversehrt zu sein. Jetzt schämte sich KK ob dieses Momentes, ob dieses Gefühls. Denn Kommissarin Marie, die ihn wie immer bei diesem eigentlichen Routineeinsatz begleitete, kam aus dem Zimmer und sagte leise und zögerlich kurze Zeit später: „Sie hatte eine Gaspistole.“ Dieses Fiasko war in den letzten Tagen des Junis passiert und sein Martyrium dauerte nun schon fast zwei Monate. Der Fall war sofort seinem Kommissariat entzogen worden.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war die Leiche der Frau noch vor der Obduktion aus der Pathologie des hiesigen Krankenhauses verschwunden. Ja, es gab nicht mal einen Totenschein. Um die Polizei nicht zu diskreditieren, gelangte keine Meldung an die Zeitung. „Erholen Sie sich erst mal, erholen Sie sich!“, hatte der Oberstaatsanwalt Wendisch ihn ermahnt. Als er sich nach dem Grab der Frau erkundigte, wurde ihm nur gesagt: „Was für ein Grab? Die Leiche ist verschwunden. Leider kann ich Sie nicht dafür verantwortlich machen. Doch diese Schlamperei bekommen wir auch noch heraus!“
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Warum muss mir das passieren? Noch nie habe ich einen Menschen erschossen!
Und so manches Mal hätte ich schießen sollen.
Die dem „Unfall“ folgende Untersuchung durch die Kollegen ergab natürlich seine Unschuld. Kein Vorwurf, von niemandem. Er selbst konnte es sich nicht verzeihen. Er reichte seine Kündigung ein, zog sie wieder zurück, ging in den Urlaub, wurde krank- und gesundgeschrieben. Ganze sechs Wochen ging das nun schon so. Den ganzen Sommer.
Die Behandlung beim vermeintlich besten Therapeuten der Stadt, Professor Lehnert, war Bedingung für die Wieder-Indienst-Stellung. Dabei war KK im Rahmen der vor einem halben Jahr eingeführten psychologischen Betreuung des Kommissariats und der KTU durch das Lehnert-Institut schon Klient des Institutsleiters. Doch die Bemühungen des Professors halfen nur am Tage. Die Nacht wurde meistens zur Hölle für KK. Wenn er denn nicht alleinstehend gewesen wäre; Frau und Kinder hätten ihn abgelenkt. Doch für so etwas hatte Krause nie Zeit. Sein Beruf war ihm viel zu wichtig. Diese Einstellung verlangte er auch von seinen Kollegen und den Frauen im Kommissariat. Das hatte er nun davon!
Das habe ich nun davon!
Die vom Therapeuten Professor Max Lehnert mit ihm eingeübten Entspannungsübungen hatten nur teilweise Erfolg. Ruhig und ausgeglichen fühlte sich Wilmar Krause nach jeder Behandlungsstunde. Sein Entspannungsbild – der Waldsee am Morgen – beruhigte ihn, vertrieb die Schuldgefühle. Heute Morgen noch, bei seinem Besuch im Lehnert-Institut, hatte es funktioniert und er bekam die neue, extra für ihn komponierte Entspannungs-CD mit.
Das funktioniert ja doch nur im Behandlungszimmer – nicht nachts!
Die CD mit Professor Lehnerts Entspannungsmusik war abgelaufen. KK wollte aus dem Bett springen.
Wieso bin ich im Bett? Was ist für ein Tag?
Ich fahre an meinen See! Ich fahre in meinen See!
Doch KK konnte nicht aufstehen. Er war wie gefesselt. Mal auf seinem Sofa, auf dem Stuhl am Tisch, mal auf dem Boden. Die tote Frau war in seiner Wohnung. Auf seinem Sofa. Sie war nackt. KK wollte zu ihr, doch er war gefesselt – gelähmt. In diesem furchtbaren Albtraum nahm er noch andere Gestalten in seiner Wohnung wahr. Schemen – Geister, Vermummte.
Alles nur ein Albtraum!
Ich fahr an meinen See! Du fährst zu deinem See!
Du fährst zu deinem See und du vergisst!
Du fährst in deinen See – fahr hinein und du vergisst.
Morgenstimmung am See.
Ein leichter Oktobernebel schwebte über dem Waldsee. Gerade noch erkennbar durch die milchig beschlagenen Scheiben des Autos. Der Motor des Autos tuckerte langsam.
Wie lange stehe ich schon hier? Habe ich geschlafen? Schon wieder ein Traum? Ein komisches Geräusch ist in der Luft. Es summt. Egal. Ich fahre jetzt in den See.
Vergessen!
Die Landschaft nahm KK wie durch einen Weichzeichner wahr. Verschwommen – Ort und Zeit verschwammen. Immer wieder versuchte er, sich auf das zu Sehende – hier und jetzt – zu konzentrieren. Es fiel ihm sehr schwer.
Ich fahre in den See!
Das war doch genau sein Entspannungsbild – wie mit Leh-nert eingeübt.
Ein ganz ruhiger, schwerer See. Keine Wellen. Wasserringe von Fischen, die die Seeoberfläche berührten, mal hier, mal da. Sie konnten die monoton graue Fläche nicht auflockern.
Das soll mich doch beruhigen, entspannen. Ganz ruhig, ganz entspannt!
Im See ist die Entspannung. Gleich fahre ich hinein.
Die am Ufer stehenden Bäume gaben dem grauen Wasser einen dunklen Rahmen. Nur unterbrochen von dunkelgrünem Schilf und grauen kleinen Sandstränden. Noch ein, zwei Stunden, dann würde das Grau und Dunkelgrün sich in Grün und Gelb verwandeln.
Hier, mit diesem Bild im Kopf, war er bei seinen Sitzungen beim Therapeuten. Dieser Gedanke verschaffte KK Ruhe. Er hörte die Stimme des Therapeuten und die monotone Musik im Hintergrund. Schwere, Wärme.
Fahr hinein!
KK entspannte sich mehr und mehr, tiefer und tiefer. Sein Autositz wurde bequem wie der Therapeutensessel. Die Zeit verschwand, mehr und mehr. Der Automotor tuckerte leise.
Träum ich oder bin ich wach? Ein komisches Geräusch ist in der Luft. Es summt.
Doch langsam, ganz langsam wurde sich KK bewusst, er saß im Auto und die Scheiben waren beschlagen. Eben im Kopf, in der Vorstellung noch ganz deutlich, konnte er jetzt die reale Landschaft nur noch erahnen.
Ruhe und Entspannung – ich fahre in den See.
Gerade, als er sich ganz ruhig und langsam bewegen wollte, um die Scheibe vor ihm abzuwischen, den Weg zum Ufer zu finden, da krachte das ganze Auto fürchterlich.
Das Dach wurde eingedrückt und schlug ihm auf den Kopf. Der Arm, den er im durch die Trance verlangsamten Reflex über den Kopf ziehen wollte, kam zu spät. Schmerzen.
Ein Meteorit! – Quatsch, ich lebe noch.
Immer noch halb benommen von seiner Trance und ihrem abrupten Ende, versuchte sich KK zu orientieren. Unbewusst drehte er den Zündschlüssel und stellte zuerst den tuckernden Motor ab.
Kein Loch im Dach – doch wie kommt mein Blut an die Scheibe?
Ein dünner Streifen roter Farbe lief über die immer noch von innen beschlagene Vorderscheibe. Die Heckscheibe war zersprungen. Die frische Morgenluft ließ das Kondensat an den heil gebliebenen Scheiben langsam gerinnen. Benommen sah KK auf den roten Streifen vor sich.
KK wollte das Blut von seinem Kopf, von seinen Augen wischen – doch er blutete nicht.
Das Blut läuft von außen über die Scheibe.
Wie gebannt beobachtete er den dünnen roten Streifen, der die Frontscheibe, mal dicker, mal dünner, teilte. Wie festgenagelt saß er im Auto. Er konnte nicht denken, nicht handeln.
Bin ich besoffen?
Und plötzlich – ein weiteres, aber weitaus leiseres Geräusch von oben und er riss die Arme über den Kopf. Es war nicht das Geräusch, sondern das, was er sah, das Kommissar Wilmar Krause aus seiner Starre riss. Eine Hand und etwas Gelbes, eine Strähne blonder Haare, rutschten über die Frontscheibe.
Raus hier!
KK fand den Türgriff, öffnete die Tür und wollte raus. Angeschnallt!
Mist! Das ist doch ein Film!
Abschnallen. Raus. Ganz gelang ihm der normale Ausstieg nicht. Mit dem rechten Fuß blieb er am Schweller der Autokarosserie hängen und stürzte mit dem Gesicht auf den feuchten, sandigen Waldboden. Ein auf dem Boden liegender Stein verursachte eine kleine Wunde auf seiner Stirn. Den Schmerz spürte er nicht.
Im Sitzen drehte er sich um und sah eine Leiche auf seinem Auto.
Eine Puppe, Arme und Beine verdreht! Es ist eine Puppe!
Was für ein schlechter Scherz seiner Kollegen. Er fürchtete, hoffte, dass sie gleich hinter den Büschen hervortreten und „Überraschung“ rufen würden. Doch es kam keiner und das rote Blut bildete große Flecken über seinem blauen kaputten Auto.
Es ist eine Leiche!
KK erhob sich und schaute sich die Leiche an.
Das ist, das war eine Frau.
Er kannte sie nicht. Wie in einem Register rief er Frauen ab, mit denen er beruflich zu tun hatte, die er kannte.
Die blonde Fixerin? Ich habe nie ihr Gesicht gesehen. Sie ist tot!
Langsam wurde aus Wilmar wieder KK. Er musste das Kommissariat und den Notarzt rufen.
Die Kollegen glauben mir das sowieso nicht.
Mit einem Blick auf die Frauenleiche dachte er auch an den Leichenwagen. Das Handy war im Auto. Um in den Wagen zu kommen, musste KK den über das Dach gerutschten Arm zur Seite schieben. Bei der Berührung überlief ihn ein kalter Schauer.
Das Fleisch ist kalt. Das Fleisch ist kalt!
Er fing an, zu beobachten. Kein Reif auf dem Fleisch – nicht aus dem Flugzeug – von einem Flugzeugabsturz. Den Himmel hatte er schon vorher abgesucht. Nichts zu sehen.
Und wenn, wie hätte sie sich im Flug, im Sturz auch entkleiden können? KK lächelte in sich hinein – sehr finster – aber doch ein erstes Lächeln. Beim Klettern ins Auto rutschte ihm wieder der Arm der Leiche auf den Rücken.
Furchtbar. Das komische Geräusch ist weg. Was war das?
Dann endlich hatte er sein Handy gefunden. Noch immer vor seinem Auto kniend, halb im Fond, drückte er auf seine Taste – Wahlwiederholung Kommissariat.
Was soll ich sagen? Das glaubt mir ja doch keiner.
Keiner ging ran.
Schlafen die noch?
Und mit einem Blick auf seine Armbanduhr:
Die schlafen noch!
So drückte er Maries Nummer.
„Hier KK, bist du es, Marie? Marie, höre mir bitte gut zu. Ich mach jetzt keinen Quatsch!
Ich stehe hier im Wald am See. Besser, ich knie vor meinem Auto und auf dem Dach liegt eine nackte tote Frau. Sie hätte mich beinahe erschlagen … Ich bin nicht besoffen und hab auch sonst nichts eingenommen … Ich habe sie nicht erschlagen. Sie ist vom Himmel gefallen – gibt es irgendwelche Nachrichten von einem Flugzeugabsturz …? Marie, höre jetzt auf! Ich brauch euch hier, die KTU, einen Notarzt und einen Leichenwagen … Ja, sie ist tot. Mein Auto auch. Ich bin am Waldsee im Lauchwald – dem Teufelsschlund. Da gibt es nur einen Weg hin. Ihr werdet es finden. Los jetzt! Kein Quatsch.“ Und leise: „Mir geht es nicht gut.“
Hoffentlich werde ich nicht verrückt. Oder bin ich es schon?
Das wirft meine Behandlung bei Professor Lehnert um Monate zurück. Der denkt, ich spinne mir das nur zurecht. Wieso muss ich jetzt an meinen Therapeuten denken?
Wieso nicht? Das hält man doch sonst nicht aus!
Ende Mai – im Frühling davor
Heiß ist in diesem Jahr der Frühling – wenn der Juni auch noch so wird – hoffentlich ist es nicht schon der Sommer und wir erleben im Juli den Herbst. Ich werde wohl eine neue Klimaanlage einbauen lassen. Eigenartig, die Patientin hat gar nicht geschwitzt. Eigentlich hätte sie schwitzen müssen. Auf Entzug und dieser dicke Pullover. Schüttelfrost hatte sie nicht.
Gerade hatte die Patientin nach einem Erstinterview seinen Behandlungsraum verlassen. Zufrieden, selbstgefällig lehnte sich Lehnert auf seinem schwarzen bequemen Lederschreibtischsessel zurück. Die Arme hinter den Nacken gelegt, resümierte er in Gedanken das Gespräch.
Sie ist eine Frau und weiß gar nicht, was es bedeutet. Eine Frau und ein armes Schwein zugleich. Nichts hat sie in ihrem Leben bisher gehabt. Nur Scheiße.
Pass schön auf, Lehnert, dass du nicht in Mitleid verfällst! Sie ist dir vom Sozialamt übergeben worden und das Honorar ist klein. Sie will gar nicht so richtig weg von der Nadel, also hab ich nur wenige Chancen. Jeder Trip ein partieller Suizid. Nun gut, sie ist schon auf Entzug. Könnte auch eine von zehntausend werden.
Wie hält sie bei diesem Leben ihre Haut so rein, so makellos?
Lehnert betrachtete seine Patientin im Geist.
Die Haut so rein, so makellos. Große, blaue, unschuldige Augen. Wenige Augenringe, nur kleine, fast sympathische Fältchen. So unschuldig, wie sonst nur dunkle Augen es sein können. Volle Lippen. Ob sie schon jemals einen Lippenstift benutzt hat? Ihre Lippen, so voll und doch so verletzlich. Die Farbe? Keine Frisur für die blonden Haare. Ob das Blond echt ist? Blöde Frage – die geht nicht zum Friseur. Klar, es passt zu den Augen, zum Mund nicht. Die Augen klar, nicht geädert. Und das bei diesem Leben. Die Zähne haben gestört. Eklig – eigentlich. Das könnte man richten.
Mit einem Blick auf die vor ihm liegende Patientenkarte:
Dreiundzwanzig Jahre alt. Was sich wohl unter dem dicken Pullover und der zu weiten Hose verbirgt? Die Füße in den Sandalen waren schlank, mit gepflegten Zehennägeln. Da hat sie von Mutter Natur eine gehörige Portion Schönheit mitbekommen und wirft sie weg. Andere sehen bei diesem Lebenswandel zwanzig Jahre älter aus. Keine Einstiche zu sehen. Der Körper passt nicht zu ihrer Geschichte! Waisenhaus, Straße, kaputte Pflegeeltern und immer wieder Straße. Das kann nicht stimmen! Doch das steht auch in der Akte vom Sozialamt. Mal sehen. Dreißig bis fünfzig Sitzungen Gesprächstherapie mit Hypnose als Therapiemittel werde ich beantragen.
Der Beruf eines Psychotherapeuten wurde Max Lehnert buchstäblich in die Wiege gelegt: Mutter und Vater hatten sich dem Menschenverstehen verschrieben. Psychoanalyse und Verhaltenstherapie, eigentlich einander spinnefeind, hatten sich hier ineinander verliebt und Max gezeugt. In dem großen weißen Haus, dem Lehnert-Institut für Psychotherapie, wuchs Max, vom Kindermädchen liebevoll umsorgt, in der gebotenen Stille auf. Gehörte am Tage Max dem Kindermädchen, wurde er am Abend zunehmend in die liebevollen Streitgespräche seiner Eltern einbezogen. Und Verständnis hatten seine Eltern, Verständnis für alles Menschliche. Selbst für die manchmal für den kleinen Max nicht zu verstehende Strenge des Kindermädchens. Tanja hieß die dunkelhaarige Schönheit aus dem östlichen Nachbarland. Die Schule stellte für Max kein Problem dar. Freunde, richtige Freunde hatte er nicht. Verstand er doch viel zu früh die Beweggründe für das Handeln der anderen. Seine Sexualität, immer und in jedem Alter des Heranwachsenden von seinen Eltern verstanden, konnte Max ausleben. Seine Tanja war für jedes Problem offen und Onanieren, das wusste er, war etwas ganz Natürliches. Dank Tanja verstand er die Frauen schon ganz früh. Nach dem Abitur schrieb Max sich ganz selbstverständlich in der Medizinischen Fakultät der ansässigen Uni ein. Mit Bravour den Arzt gemacht, konnte er seinen „Therapeuten“ am elterlichen Institut ablegen. Dass sein Kindermädchen einen Mann aus ihrem Heimatland geheiratet hatte und dahin zurückgegangen war, hatte ihn anfangs getroffen. Doch Mitstudentinnen, von seinem Wissen und den Eltern des gut aussehenden Studenten begeistert, hatten ihn getröstet. Eine Frau fürs Leben hatte er noch nicht gefunden. Keine Frau hatte ihn jemals so verstanden wie seine Mutter und wie Tanja. Eigentlich sah er beide Personen als eine an. Und natürlich war ihm das bewusst.
Nun waren beide nicht mehr da. Tanja war weg und seine Eltern waren vor fünf Jahren, als er sich im Alter von fünfunddreißig Jahren anschickte, die Leitung des elterlichen Instituts zu übernehmen, bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Natürlich gab es Frauen, Frauen zum Ficken, in seinem Leben. Kolleginnen auf Kongressen. Schwester Michaela, seine „Dame“ am Empfangstresen, hatte ab und zu und immer mal wieder mit ihm ein Verhältnis. Doch für etwas Dauerhaftes reichte es nie. Max Lehnert verstand sie alle viel zu gut.
Na ja, und Patientinnen waren tabu – egal, ob Kassen- oder Privatpatientinnen. Hier wurden sie gleich behandelt – wenigstens hier. Avancen gab es viele. Denn Max Lehnert war ein guter und erfolgreicher Therapeut. Mit seinen schlanken hundertachtzig Zentimetern, dem dunkelblonden, frisierten Haar und dem sonnenbankgebräunten Körper erschien er in seiner stets sportlich korrekten Kleidung schon auf den ersten Blick als gute Partie. Eine äußerst gepflegte Erscheinung. Sein hervorragendes Benehmen passte zu seiner Arbeit.
Im Unterschied zu seinen Eltern, die jeweils auf ihrer Therapieform beharrten, arbeitete Max analytisch, verwendete Gesprächstherapien, koppelte diese mit Elementen der Verhaltenstherapie. Aus der Psychoanalyse ging er auch zurück zur Hypnose. Er war ein therapeutisches Allroundtalent.
Dieses in ein wissenschaftliches System übertragene Konglomerat brachte ihm nicht unbedingt die Anerkennung seiner Kollegen, doch den Zustrom von Patienten, Privatpatienten, ein. Ein wundervolles Gefühl für Professor Max Lehnert, aus einem finanziellen Überfluss vereinzelt auch Kassenpatienten in seinem Institut behandeln zu lassen. Sogar er selbst (!) übernahm Patienten, die ihm das Sozialamt des örtlichen Magistrats schickte. Das war interessant.
Tina Severin ist interessant. Nicht, weil sie Tina heißt, nicht ob ihrer Haut, ihrer Lippen, ihres Körpers? Quatsch – was soll das!
„Michaela, bitte tragen Sie Frau Severin bei mir ein! Und im Antrag an das Amt dreißig bis fünfzig Sitzungen. Danke.“
Schwester Michaela legte den Hörer auf und bevor sie sich dem Computer zuwandte, lächelte sie Doktor Johannsen, dem Stellvertretenden Institutsleiter, zu, der, über den Tresen gebeugt, das Gespräch mitgehört hatte.
Die blonde junge Frau im viel zu weiten Pullover, die Pluderhose schwingend, hatte gerade das Haus verlassen. Ein trainierter Beobachter hätte den Widerspruch zwischen dem etwas gebeugten Oberkörper und dem leichten Gang bemerkt.
Das war also der berühmte Professor Max Lehnert. Eigentlich habe ich ihn mir ganz anders vorgestellt. Älter oder jünger. Anders. Nicht so sympathisch. Der hat mich einfach reden lassen. Hat richtig zugehört. Die Brille auf das frisierte Haar geschoben, sieht ein wenig affektiert aus. Na ja, es geht. Kariertes Hemd zu Cordjeans, aber erste Qualität. Fehlt nur noch Bart, Strickjacke und Pfeife. Dann sieht er aus wie der olle Siegmund Freud. Aber zuhören kann er! Und er sieht wirklich gut aus. Was habe ich denn man alles erzählt?
Das habe ich ja selbst nicht vorher gewusst. Na gut, ein wenig gelogen habe ich auch. Vor allem das Ende. Tina wird es mir verzeihen.
Das hat der bestimmt mitbekommen. Dreißig bis fünfzig Stunden, hat die Frau eben gesagt. Ob die ein Verhältnis mit dem Professor hat? Macht ganz schön was her mit ihren roten Haaren und den dicken Titten. Der Mann am Tresen ist aber auch nicht zu verachten. Hat einen bisschen geilen Blick. Wer weiß, wie lange der so von oben schon auf die Titten geschaut hat. Da bekommen Männer eben etwas stiere Augen.
Mal sehen, wie lange der Professor braucht, um mich als Lügnerin zu entlarven. Er ist ja ebenso Arzt. Spätestens dann, wenn ich die Einschusslöscher, Quatsch, Einstichlöcher zeigen soll. Da muss ich mich wohl beeilen.
Als Tina die noble weiße Villa verlassen hatte, ging sie langsam und leicht gebeugt an den hohen Zäunen, hinter denen das frische Grün die Gebäude in den großen Gärten fast verdeckte, entlang. An der nächsten Straßenkreuzung drehte sie sich noch einmal um und versicherte sich des gewonnenen Abstandes. Ihr Gang wurde aufrechter. In einer gewohnten Geste ordnete sie mit der linken Hand ihr langes blondes Haar. Aus den Haaren wurde in einer Sekunde eine Frisur. Mit der Zunge und einem Taschentuch putzte sie die Reste der Mohnschnecke, die sie vor der Sitzung mit dem Professor gegessen hatte, von den eigentlich fast weißen Zähnen. Das Taschentuch hatte sie vorsorglich mit etwas Nagellackentferner versehen. So entfernten sich auch leidlich die mit braunem CD-Marker vorgetäuschten Zahnbeläge.
Pfui Teufel!Das mache ich nicht noch mal!
Der Ärmel des Pullovers wischte den stumpfen Puder vom Gesicht. Dann streifte sie ihn ab wie eine lästige Hülle. Die darunter erscheinende weiße Bluse ließ die ganze Frau erstrahlen, erstraffen. Hatte sie sich eben noch über die Oberweite der Empfangsdame amüsiert, war sie jetzt stolz auf ihre eigenen weiblichen Attribute. Der Fahrer eines vorbeifahrenden Taxis riskierte eine Halsverrenkung und war hocherfreut, ja, fast erregt, als die Klassefrau ihm zuwinkte. Mit dem Taxi verließ sie als ein anderer Mensch, aber immer noch eine „Tina“, den Vorort der Stadt. Während der Fahrt sinnierte sie über ihren Weg bis hierher.
Es war nicht einfach gewesen, die Überweisung vom Sozialamt zu ergattern.
Wochenlang hatte sie sich im Fixermilieu der Stadt umgeschaut. Eine von „ihnen“ zu werden, so war ihr Plan, gelang ihr nicht. Dann, endlich, durch einen Zufall hatte sie die andere Tina getroffen. So groß wie sie, fast so alt und blonde Haare. Sie hatte sich mit ihr angefreundet, geholfen. Mit Geld und Verbindungen. Sie hatte ihre Vornamensvetterin zum Arzt geschickt und dafür gesorgt, dass sie eine Überweisung zum Therapeuten bekam. Schon in der anderen Identität hatte sie selbst im Sozialamt daraus eine Überweisung zum Lehnert-Institut gemacht.
Ihre „Zwillingsschwester“ schickte sie dann im beginnenden Frühling zu einem befreundeten Heilpraktiker ins Gebirge im Nachbarland. Dort würde, könnte sie einen nadelfreien Weg beschreiten; die Chance dazu war ihr gegeben.
Ich habe sie ihr gegeben!
Für die Diplomarbeit einer angehenden Sozialpädagogin hätte dieses spektakuläre Experiment schon ausgereicht. Jetzt hätte Tina es stoppen müssen. Eigentlich schon vor dem Termin bei Professor Lehnert. Sie hatte bewiesen, dass es ging, erstens, die Identität zu wechseln, zweitens, das Milieu zu verlassen, und drittens, Hilfe zu bekommen.
Und Tina bekommt Hilfe. Wie sie noch vor vier Wochen im April aussah!
Da kann ich mir den Professor noch leisten.
So war Tina Konrad. Verantwortungsvoll und unbekümmert bis zum Erbrechen. Schön wie eine blonde Venus, mit einem immer vergnügten Wesen, war sie der Liebling einer jeden Runde.
Sie war auch Papas Liebling. Denn Tina war die älteste von drei Schwestern, die der Vater nach dem frühen Tod seiner Frau allein aufzog. An die Mutter konnte sich Tina kaum noch erinnern. Sie starb bei der Geburt der Jüngsten, da war Tina vier Jahre alt. Tina unterstützte ihren Vater, der nie wieder heiratete, wo sie konnte. Als sie dann mit zwanzig Jahren ihr Studium begann, waren auch ihre Schwestern relativ selbstständig. Ihr Vater hatte immer nur gearbeitet, um für die Kinder zu sorgen. Wenn er nicht für Geld arbeitete, schuftete er im Haushalt. So entstand zwischen Vater und Tina nach außen ein Verhältnis wie zwischen Kollegen. Nach innen war es tiefe Zuneigung. Natürlich liebte der Vater auch die anderen Töchter. Bei Tina kam noch die Dankbarkeit dazu.
Nicht nur für die Hilfe im Haushalt, sondern für die Fröhlichkeit, mit der Tina das Leben der kleinen Familie erhellte. Nicht immer war diese Fröhlichkeit echt, manchmal gespielt, um eben das Leben der Familie fröhlich zu gestalten. Sie wurde immer besser im Spielen der Rolle. Vor zwei Jahren verstarb der Vater und hinterließ seinen Töchtern eine überraschend hohe Summe aus einer Lebensversicherung, die ihnen ein finanziell sorgenfreies Studieren ermöglichte. Die Verantwortung für ihre Schwestern war Tina mit dem Beginn des Studiums der mittleren Schwester und der Heirat der jüngsten Schwester von den Schultern genommen. Nun lebte Tina sorgenfrei und experimentierte im Endstadium ihres Studiums. Vielleicht sogar etwas leichtsinnig.
Die andere Tina, die Vornamensvetterin der Sozialpädagogikstudentin, die Fixerin, hatte ein wirkliches Scheißleben. Tina hatte es eben dem Psychotherapeuten Professor Lehnert erzählt.
Warum durften Mütter bei der Geburt ihres Kindes sterben? Und war dann das Kind oder der Erzeuger mitschuldig am Tod der Frau? Tinas Vater konnte diese Frage nicht ertragen. Alkohol verschaffte ihm beim Grübeln Erleichterung. Er liebte sein Kind, er hasste sein Kind. Die ersten Jahre war die Oma für Tina und ihren Sohn da. Sie kümmerte sich um das Kind und hielt die Wohnung in Schuss. Die Damen vom Sozialamt waren bei jedem Besuch erstaunt und erfreut, wie der alleinstehende Vater dies alles bewältigte. So konnte man sich irren! Mit fünf Jahren sah Tina ihrer verstorbenen Mutter schon sehr ähnlich. Dies nahm der Alkoholiker immer häufiger zum Anlass, seinem einzigen Hobby zu frönen.
Und als die Oma (aus Gram?) verstarb, ging nichts mehr. Ein Hinweis aus der Nachbarschaft veranlasste das Amt zu unangemeldeten Kontrollen. Tina kam in ein Kinderheim. Der Vater soff sich tot.
Von da an hätte es auch gut gehen können, aber das Heim befand sich im Einzugsgebiet eines fleißigen Dealers. Aus einer guten Schülerin wurde eine schlechte Schülerin, die mehr Geld brauchte als die anderen. Erst klaute sie in der Schule, dann im Heim. Und alles kam raus. Eine andere Schule, ein anderes Heim, der erste Einbruch – erwischt. Ein anderes Heim, mit vierzehn eine Lehre als Anstreicherin. Das wollte Tina nicht, sie wollte …, das wusste sie nicht. Außer die Nadel – doch ihre Sucht hielt sich in Grenzen. Da hatte sie wohl neurologisches Glück – wenigstens das. Männer wollte sie auch nicht; und hätte doch alle haben können. Sie wollte nicht. Als sie dann mit achtzehn auf der Straße lebte, galt sie als Lesbe. Doch Frauen wollte sie auch nicht. Sie wollte nichts. Nur jeden Sonntag ging sie auf den Friedhof zum Grab ihrer Oma. Keiner kannte die blonde Tina von der Straße. Sie selbst wollte keinen kennenlernen. Eine Einzelgängerin. Ihre Schönheit verbarg sie hinter grauen, braunen, viel zu großen Klamotten. Das eigentlich makellose Gebiss, die weißen Zähne blieben ob einer mangelnden Pflege hinter Plaque verborgen.
Doch dann traf sie die andere Tina, die sie einquatschte. Wäre sie ihr nicht so ähnlich wie eine Schwester gewesen, hätte sie ihr gar nicht zugehört. Sie kam sogar mit zum Grab ihrer Oma. Und da redete diese Frau über Berge und Wandern und so. Es klang fast so, als ob ihre Oma ihr ein Märchen erzählte. Sie willigte ein.
September
Als die ersten Motorengeräusche sich dem idyllischen Waldsee näherten, konnte KK nicht sagen, wie lange er auf seine Kollegen warten musste. Zur Untätigkeit laut Vorschrift verurteilt – eine Ewigkeit oder einen Augenblick. Die feuchte Hose am Hintern, die er beim Aufstehen bemerkte, ließ ihn Ersteres vermuten. Von seinem Auto mit der Leiche auf dem Dach hatte er sich nicht entfernt, hatte aber den gehörigen kriminaltechnischen Abstand gehalten. Es war schon eine Versuchung gewesen, die Leiche vom Dach zu nehmen und zu bedecken. Es war kalt für einen Septembermorgen.
Zum Glück sind noch keine Blätter draufgefallen. Was für ein unsinniger Gedanke!
Abstand haltend, stoppte der BMW des Kommissariats. Kommissarin Marie stieg aus und zögerte beim Näherkommen – welche Richtung sie denn einschlagen sollte. Sie sah den Jammerhaufen, ihren Kollegen und Vorgesetzten Krause, und den Schrotthaufen, tatsächlich mit einer Leiche auf dem Dach. Letztlich entschied sie sich für ihren Kollegen und überließ das Unglücksauto den Technikern.
Erst sagte sie gar nichts, hielt KK einfach in den Armen.
Wie warm ihre Hand ist. Wie warm sind Frauenhände.
Die Nähe zu seiner Kollegin gab KK Kraft. Es war, als ob die Wärme von ihr auf ihn überging.
Sie soll mich immer festhalten.
Doch schon ihre ersten Worte ließen ihn körperlich und mental abrücken.
„Erzähl mal, Krause, was ist passiert!?“
Unverständnis paarte sich mit Wut beim Kommissar.
„Was soll passiert sein? Ich fahre hier raus, um Ruhe zu finden. Ich finde Ruhe – glaube ich jedenfalls, da kracht es fürchterlich. Und als ich gucke, was die Ursache dafür ist, da liegt diese nackte Frau auf meinem Auto.“
„Wer ist sie?“
„Das weiß ich doch nicht. Was soll die Frage?“
„Gut, gut oder nicht gut. Setz dich ins Auto und nimm einen Schluck Tee aus der Thermoskanne.“
„Ich soll mich ins Auto setzen? Ich muss doch schauen, wer sie ist.“
„Entschuldige, Krause, setz dich ins Auto! Das ist mein Fall.“ Und in die erstaunten Augen von KK fügte sie noch hinzu: „Anordnung von Wendisch.“
„Woher weiß der Oberstaatsanwalt jetzt schon hiervon?“
„Ich habe natürlich auf der Fahrt hierher mit ihm telefoniert. Übrigens, er wird gleich hier sein.“
„Danke für den Tee.“ Mit hängenden Schultern und die Welt gar nicht mehr verstehend, ging Krause zur Dienstlimousine.
Wie kann sie, die junge Kommissarin, so professionell sein? Noch vor Kurzem, vor vier Jahren, hat sie bei mir ihr Volontariat gemacht. Hat versucht, mich in ihr Bett zu kriegen. Doch nicht, wenn ich ihr Chef bin. Und jetzt ist es ihr Fall. Bin ich ihr Fall. Der warme Tee ist gut.
KK lehnte sich im Wagen zurück und schloss für kurze Zeit die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er Marie neben dem Oberstaatsanwalt Jürgen Wendisch stehen.
Lackarsch! Wie lange der Maries Hand hält.
Schnell schlug er die Augen nach unten, als die beiden ihren Blick zur Dienstlimousine, zu ihm wandten.
Was soll das? Fühl ich mich etwa schuldig?
Trotzig öffnete er die Tür und wollte aussteigen. „Bleiben Sie sitzen, bleiben Sie sitzen!“, eilte ihm der Oberstaatsanwalt entgegen.
„Das muss ja furchtbar für Sie sein!“ Vor der offenen Tür reichte Wendisch die Hand zu dem im Auto sitzen gebliebenen KK nach unten.
Blitzschnell schoss KK ein Bild durch den Kopf. Gerade mal drei Jahre war es her, als er gegen Wendisch ermitteln musste. Dessen um zehn Jahre jüngere Frau war verschwunden und die Schwiegereltern hatten Anzeige erstattet. Bei der Hausdurchsuchung saß Wendisch im Sessel und er, KK, stand bei der Befragung vor dem damaligen Staatsanwalt Wendisch. Ein Brief der Ehefrau und ein Anruf aus Mexiko hatten dem Verfahren ein schnelles Ende bereitet. Marie war zum Gespräch mit der Frau nach Mexiko gefahren. Die wohlhabenden Eltern der Ehefrau hatten Marie begleitet und waren auf dem amerikanischen Kontinent geblieben. Fast wie zur Entschuldigung für den Verdacht wurde Wendisch kurz darauf zum Oberstaatsanwalt befördert.
„Ich merke, Sie sind noch ganz benommen“, riss Wendisch KK aus seinen Gedanken. „Kommen Sie einfach morgen Früh in mein Büro. Da wissen wir schon mehr über die Frau. Bis dahin bleiben Sie zu Hause und ruhen sich aus. Gehen Sie doch zu Ihrem Therapeuten. Wenn einer Ihnen helfen kann, die Sache zu verarbeiten, dann er.“
KK bemerkte, befürchtete schon die unausgesprochene Suspendierung, doch statt zu protestieren, sagte er nur für sich völlig unverständlich: „Sie kennen den Professor?“ Wendisch lächelte müde. „Wer kennt Max nicht?“
Der Oberstaatsanwalt Jürgen Wendisch und der Psychotherapeut Max Lehnert waren alte Bekannte. Beide gehörten der Studentenverbindung der ansässigen Universität an. Wendisch, der Ältere von beiden, hatte damals dafür gesorgt, dass Lehnerts Aufnahme in die Verbindung problemlos und schon im ersten Jahr des Medizinstudiums verlief. Max Lehnert war ihm dankbar dafür.
Und immer wieder, in großen zeitlichen Abständen, trafen sich die beiden, um über die Abgründe der menschlichen Seele zu philosophieren. Der eine als der Verfolger, der andere als der Versteher. So war es auch zu der psychologischen Betreuung des Mordkommissariats durch das Lehnert-Institut gekommen.
Nächster Tag
In gewohntem Eilschritt hatte Johnny Walker dem Kommissar Krause den traumlosen Schlaf gebracht. Doch ausgeschlafen war KK nicht. Mit dem unmenschlichen Klingeln des Weckers hatte er versucht, die verkaterten Augen zu öffnen. Jetzt, im Bad, wachte er langsam auf. Die kalte Dusche brachte ihn ins Leben zurück und die Erinnerungen an den gestrigen Tag waren schlimmer als die Stilettstiche des kalten Wassers aus dem Duschkopf.
Die Fenstervorhänge in seinem Wohnzimmer waren zugezogen.
Komisch, wie das Zimmer aussieht. Habe ich noch nie so gesehen.
Die Vorhänge müsste ich mal waschen.
Acht Uhr,
erinnerte sich KK des Blickes auf den Wecker.
In einer Stunde muss ich in meinem Kommissariat sein. Ist es noch mein Kommissariat? Was war das bloß; glauben die mir das? Würde ich das anderen glauben? Doch die Spurensicherung wird meine Unschuld zeigen und ich kann ermitteln. Da will mich einer reinlegen.
War es doch ein Flugzeugabsturz?
KK wollte Jeans, Hemd und Pullover des Vortages wieder anziehen. Er hob sie vom Boden auf und erst, als er zwischen den Fingern den nun getrockneten Sand des Waldbodens spürte, nahm er sich frische Sachen aus dem Schrank. Der trockene Sand an den gestrigen Klamotten hatte sich bereits teilweise von den alten Sachen gelöst und war auf den alten, zerkratzten, aber sonst blitzblanken Laminatfußboden seines Wohnzimmers gefallen. Der ungewöhnlich saubere Zustand seiner Wohnung war ihm gestern nicht aufgefallen. Auch jetzt bemerkte er nicht, dass in seiner Wohnung sogar Staub gewischt war.
Ermittlungsfehler Nummer eins – Marie hätte mich sofort untersuchen lassen und meine Sachen einziehen müssen. Die glauben mir bestimmt – doch das müssen sie beweisen!
KK nahm seine gestrigen Sachen und packte sie in seine Reisetasche.
Ich habe ja kein Auto mehr! Am besten, ich nehme ein Taxi.
Noch, als KK sein Handy suchte – klingelte es an der Haustür. Marie.
„Ihr holt mich ab? Bin ich verhaftet?“, begrüßte KK seine Kollegin, halb im Scherz – mit viel Unsicherheit – an der Haustür. Der Versuch einer ironischen Miene entgleiste ihm. Erst die Worte Maries, „Mensch, KK, hör auf. Du hast kein Auto mehr und ans Handy gehst du nicht. Da bin ich eben gekommen“, gaben KK etwas Sicherheit und ein wenig Körperspannung. Aufkommende Dankbarkeit wurde durch Neugier verdrängt.
„Kannst du mir schon irgendwas erzählen? Wie kommt die Frau auf mein Auto? Wer ist sie?“
Fast belustigt, irgendwie ironisch betrachtete die nicht mehr ganz so junge Kommissarin ihren Vorgesetzten. „Weißt du, auf dem Weg zum Kommissariat besorge ich dir erst mal einen Kaffee. Viel kann ich dir noch nicht erzählen. Und nebenbei, wo hast du deine Sachen von gestern? Doch hoffentlich noch nicht gewaschen?“, erinnerte sie ihn an seinen wenigstens Pro-forma-Status als Verdächtiger. „Ach ja, eine Hose und einen Pullover solltest du schon noch über deine Unterhose ziehen. Mensch, du bist ganz schön durch den Wind.“
Mist! Wenigstens ist die Unterhose frisch. Da öffne ich in Unterhose die Tür. Mann, Mann, Mann – ich bin ganz schön angeschlagen.
In Sekunden hatte sich KK angezogen und die Tasche mit den gestrigen Sachen seiner Kollegin übergeben – das Lächeln dabei wurde sicherer.
Den Kaffee hatte Marie im Becher besorgt. KK blieb im Auto sitzen. Das Adrenalin hatte Johnny Walker längst in die Flucht getrieben und KK war hellwach. Doch Marie redete nicht und KK fragte nicht, traute sich nicht, zu fragen.
Im Kommissariat schauten ihn alle merkwürdig an oder versuchten, wegzugucken. Und in seinem Zimmer –
auf meinem Platz – der Lackarsch –
saß schon Oberstaatsanwalt Jürgen Wendisch.
„Ja, Herr Kommissar, das ist schon eine vertrackte Sache, in die wir uns da hineinbegeben haben. Können Sie mir noch etwas dazu sagen? Und setzen Sie sich doch endlich hin.“
KK stand immer noch wie versteinert in seinem Büro. Hinter ihm hatte Kommissarin Marie Volkert sich auf ihren Schreibtisch gesetzt. Sie schaute sich im gemeinsamen Dienstzimmer der Kommissare um, als ob sie zum ersten Mal hier wäre. Zwei Schreibtische, kaum Platz für einen dritten Stuhl. Die beiden Computer unter den Schreibtischen ersetzten die Schränke. Kaffeemaschine und Wasserspender waren der Luxus im Raum. Die unmöglichen Gardinen konnten die Vergitterung des Fensters nicht verdecken. Das Waschbecken und der kleine Spiegel wirkten wie Relikte vergangener Zeit. Gern hätte Marie ein Bild an die ehemals makellosen weißen, jetzt grauen Wände gehängt. Doch ihren Kollegen und Vorgesetzten Wilmar hätte dies in seiner ewigen Konzentration auf die Arbeit abgelenkt.
Nun findet er nicht mal einen Stuhl.
Als sie Wilmar den Stuhl, ihren Stuhl zuschob, sah sie aus ihren Augenwinkeln ganz kurz eine Missbilligung beim Oberstaatsanwalt. Nur kurz.
Im Vorgang des Setzens fand KK halbwegs seine Contenance zurück und richtete seine Stimme auf seinen Platz, den der Oberstaatsanwalt in Besitz genommen hatte: „Ich habe keine Ahnung, nicht die geringste. Ja, ich bin verwirrt und erhoffe Aufklärung von Ihnen.“ Dabei drehte KK seinen Kopf halb in Richtung Marie. Und es nicht verkneifend, fügte KK hinzu: „Meine Sachen von gestern habe ich natürlich nicht gewaschen und mitgebracht.“
Wendisch pumpte seine wie immer frisch rasierten Wangen halb auf und versuchte, durch die Brille mit dem schwarzen Gestell, noch strenger zu blicken.
Wilmar und Marie denken beide:
Lackarsch.
„Also, Herr Hauptkommissar, was wir bisher wissen. Die Leiche ist wahrscheinlich nicht vom Himmel gefallen. Wie sollte sie auch fliegen können, so besoffen und vollgedröhnt.“
Laut lachte der Oberstaatsanwalt ob seines schlechten Scherzes und winkte dabei die vor der Tür stehende KTU-Mitarbeiterin herein, die ohne weitere Erklärung eine Blutprobe KKs entnehmen sollte. Jetzt schon fast stoisch, sein Dienstraum hatte KK etwas Sicherheit zurückgegeben, krempelte der Noch-Hauptkommissar seinen linken Ärmel hoch. Entschuldigend blickend und mit einem fast liebevoll gehauchten „Danke“ vollzog die KTU-Laborantin Gabi ihr blutsaugerisches Werk.
„Also, Herr Hauptkommissar, die Leiche – das Opfer, wir wissen noch nicht, wer sie war – wurde vergewaltigt und auf das Auto geworfen. Wenn ich die Vergewaltigung mal weglasse, müssen Sie mir nur erklären, wie Ihr Auto eingedrückt wurde und wie und wer die Leiche auf Ihr Auto geworfen hat.“ In den fassungslosen Blick von KK hinein fuhr der Oberstaatsanwalt fort: „Keine, fast keine Spuren am Tatort. Es hat furchtbar geregnet am gestrigen Dienstagmorgen. Über die Spuren an der Leiche müssen wir reden. – Es ist bestimmt nicht diese blonde Frau, die Sie erschossen haben. Der Kopf ist fast heil geblieben. Ach ja, und noch eine Frage habe ich: Wo waren Sie den ganzen Montag?“
KK war fassungslos. Das Mysterium der fliegenden Leiche hatte sich in das noch verwirrendere Geheimnis eines brutalen Mordes aufgelöst.
Und der Lackarsch verdächtigt mich!
KK wandte seinen Kopf nicht zu Marie. Zu groß war die Angst, auch von ihr einen Vorwurf zu sehen.
„Was ist heute für ein Tag?“
Mai – im Frühling davor
Wie jeden Morgen, wenn es nicht gerade in Strömen regnete und Schneeflocken die Sicht vereitelten, setzte sich Arndt Bliemer auf die alte Holzbank neben der Tür seines Hauses. Es war nicht nur die Aussicht schneebedeckter Berggipfel, der je nach Wetterlage blaue, grüne oder graue Bergsee, die kleine Stadt mit den roten Dächern ohne Schornsteine, die ihm dieses Ritual lebensnotwendig erscheinen ließen; es war viel mehr noch die klare Bergluft, die er jeden Morgen genoss.
Nur eines ging noch über diesen Blick von seiner Bank in das Tal – der Blick von oben, wenn er mit seinem kleinen Hubschrauber zwischen den Bergen kreiste.
Jetzt, im Frühling, vermeinte man, dass sich der leise Geruch von sich gerade öffnenden Blüten in diese klare Luft mischte. Doch Arndt wusste, dieser Geruch war nur eine „optische“ Täuschung, gemischt mit einer überzogenen Erwartungshaltung. Er, der in der Bergstadt als Einsiedler verkannte, hagere Mittvierziger, musste es wissen. Kam der studierte Psychologe doch eigentlich von der Küste. Und mit Luft kannte man sich dort aus. Sein Psychologiestudium ärgerte ihn heute noch. Denn seine Mutter starb an Darmkrebs. Die Ärzte halfen nicht viel. Chemo und Bestrahlungen verschlimmerten in seinen Augen nur das Leiden seiner Mutter. Im Endstadium der Krankheit war es dann ein Heilpraktiker, der seiner Mutter und ihm Linderung und Trost brachte. Und ohne jemals den Beruf eines Psychologen ausgeübt zu haben, ging Arndt auf eine Heilpraktikerschule, bildete sich danach hier und da ganzheitlich weiter.
Letztendlich zog er dann von den „Klassische-Medizin-Gläubigen“ im Norden des Landes weg in die Berge. Es dauerte eine Weile, bis die Einheimischen auch den „Doktor“ aus dem Norden akzeptierten. Doch sein Geld verdiente Arndt sowieso im ganzen Land. Seine ehemalige Heilpraktikerschule hielt ihn als Referent. Und Entspannungsseminare für Manager und solche, die sich so nannten, wurden wirklich gut bezahlt.
Bei einem solchen Seminar, für Studenten kostete es nur zwanzig Prozent, traf der Heilpraktiker mit psychologischem Hintergrund die attraktive Tina Konrad. Die Frau, die er schon immer kennenlernen wollte. Aber zu jung für ihn. Zwanzig Jahre Altersunterschied waren nicht einfach wegzuwischen. In den fünf Tagen des Seminars hatte sich eine Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Tina war fröhlich und nett. Er spielte diese Freundschaft, mit einem in ihrer Gegenwart fast dauernd erigierten Glied. Ob Tina das bemerkte, wusste er nicht. Noch nie war ihm so etwas passiert. Er traute sich nicht, sich ihr zu offenbaren. Es hätte sie verletzen können.
Der Kontakt blieb auch nach dem Seminar. Tina hatte ihn sogar in seinem Heim besucht. Eine tolle Freundschaft für die junge Frau. Seine Blutwallungen im Unterleib hatten sich etwas beruhigt. Doch abends beim Einschlafen, beim Onanieren, war es eben das Bild Tinas, das er im Kopf als Wichsvorlage benutzte. So war die Beziehung, nicht mehr und nicht weniger.
Als sie dann vor einer Woche anrief und ihn um einen Gefallen, einen großen Gefallen, bat, sagte er, ohne groß zu überlegen, zu. Dies entschuldigte er für sich im Nachhinein.
Ich brauch sowieso eine Haushaltshilfe. Die Leute in der Stadt werden es schon akzeptieren. Sie wird einfach im als Gästewohnung umgebauten Stall wohnen.
Es war schon öfter vorgekommen, dass der Heilpraktiker gut zahlende, sehr gut zahlende Patienten zu einem Heilaufenthalt in sein Domizil geladen hatte.
Na gut, keine junge Frau – was soll es? – Für Tina.
Arndt saß auf seiner Bank. Der Blick und die Luft konnten ihn heute nicht so ganz erfrischen.
Und nun kommt sie. Ich hole sie nicht ab – sie muss es allein hier rauf schaffen.
Der Bus hält keine vierhundert Meter von hier und wenn ich Tina richtig verstanden habe, hat sie auch nicht viel Gepäck. Eigentlich müsste sie schon da sein.
Obwohl er doch wartete, erschrak er und zuckte zusammen, als er von rechts hinten eine Stimme vernahm: „Hallo! Entschuldigung, sind Sie Herr Bliemer? Tina schickt mich.“ Die Stimme war hell, etwas heiser und abgekämpft.
Aus dem anfänglichen Erschrecken wurde Überraschung, als der Heilpraktiker den Blick seiner neuen Patientin zuwandte.
Das hat sie mir nicht gesagt. Das ist ihr Ebenbild, nur älter – nein, jünger. Sie trägt sogar ihre Jacke. Puh.
„Grüß Gott, Frau Severin, ich habe auf Sie gewartet. Sind Sie mit Tina verwandt? Das hat sie mir gar nicht gesagt.“
„Nein, nein, aber können Sie Tina zu mir sagen? Frau Severin – an den Namen muss ich mich erst wieder, wohl überhaupt, gewöhnen.“
Arndt Bliemer hatte seine Fassung schnell wiedergefunden. Hunderte Gedanken schossen durch seinen Kopf. Die meisten, aber nicht alle davon, waren „astrein“.
„Okay, Tina. Lassen Sie Ihre Tasche stehen und setzen Sie sich zu mir auf die Bank.
Keine Hemmungen – ich tu Ihnen schon nichts – ich bin Ihr Therapeut. Und hier, auf der Bank, fangen wir mit der Therapie an.“
Tina Severin, mit fast zehn Jahren Erfahrungen auf der Straße, hatte die männlichen Relais im Kopf ihres neuen Gastgebers klicken hören und für einen ganz kurzen Augenblick auch die sexuelle Gier in seinen Augen gesehen. Doch die tiefe ruhige Stimme des Mannes ließ das sofort vergessen.
Und der Mann machte Platz für sie auf seiner Bank, sodass sie mit Abstand zu ihm seiner Aufforderung folgen konnte. Trotzdem war sie natürlich verunsichert.
Sie schwitzte von der Anstrengung der letzten vierhundert Meter und ihre Beine waren wackelig. Tina war froh, dass sie sich setzen konnte. Dann erst sprudelten die Gedanken.
Jetzt sagt der gar nichts mehr. Guckt einfach auf seine Berge und sagt gar nichts. Das kann ja was werden. Da könnt ich doch schon mal meine Sachen auspacken. An Stoff komme ich hier oben nicht. Ob der meine Sachen kontrolliert? Gut, dass ich die kleine Reserve habe. Was mache ich, wenn die alle ist oder wenn er sie mir wegnimmt? Oh, Tina. Vier Wochen habe ich ihr und mir versprochen.
Die halte ich durch! Der guckt immer noch auf die Berge. Na gut, ist schon ein toller Ausblick. Soll er mir mal die Berge erklären. Hier sitzen wir bestimmt noch öfter. Ich kann auch schweigen. Der guckt und guckt. Mich machen das Schweigen und diese Weite verrückt.
Doch der Mann neben ihr guckte nicht nur auf die Berge. In diesem Augenblick hätte man den größten Gipfel sprengen können, Arndt Bliemer hätte es nicht mal gemerkt. So intensiv war er in seiner Gedankenwelt.
Will Tina mich verarschen? Oder quälen? Übergibt mir eine Patientin, die ihr Ebenbild ist. In einer Woche hier oben; Friseur, Kosmetik und vor allem Zahnarzt – für immer weg von den Drogen – ist sie dann meine Tina? Wird sie meine Tina? Kann sie meine Frau sein? Kann diese Tina meine Frau sein? Soll ich mit ihr schlafen? Wenn sie nicht will? Ich kann es erreichen, dass sie will!
Und er sah das Bild: diese Tina, seine Patientin, und die andere Tina, seine Freundin, eine Person, nackt, die Schenkel gespreizt, mit den Händen in den Kniekehlen, die Beine nach oben gezogen, ihn erwartend.
In seinen Gedanken reifte ein Therapieplan, der dem Plan eines Casanovas glich.
„Ja, Frau Severin, Tina, unsere Therapie“, über seinen „Freudschen Versprecher“ lächelte er nach innen, „beginnt heute schon. Ist zwar ungewöhnlich, aber sie beginnt mit einem Besuch in der Stadt – beim Friseur und der Kosmetik. Haben Sie Angst vor dem Zahnarzt? Ach ja, Ihre Tasche können Sie hier im Zimmer, in der ersten Etage, links, auspacken.“ Die Gästewohnung im alten Stall war längst vergessen.
September
„Wieso? Herr Krause! Heute ist Mittwoch. Gestern haben Sie sich eine Leiche aufs Auto gelegt, Montag Früh waren Sie im Lehnert-Institut. Das wissen wir schon. Wo waren Sie dann? Den ganzen Montag hat Ihr Kommissariat versucht, Sie zu erreichen.“
KK war sprachlos, verwirrt. „Heute ist Mittwoch? Wo war ich am Montag?“, wiederholte er die an ihn gerichtete Frage. Dabei war nicht klar, an wen er sie richtete, an sich selbst, an Marie Volkert oder an den Oberstaatsanwalt. Kommissar Krause war nicht mal in der Lage, die Bedeutung der Frage zu erfassen. Wie in einem Kreis drehte sich die Frage „Wo war ich am Montag?“ in seinem Kopf. Mehr als „Ich weiß es nicht!“ brachte er nicht zustande.
„Na, da denken Sie mal in Ruhe nach. Das ist schon eine sehr wichtige Frage und die Antwort würde ich gern zu Protokoll nehmen.“ Der Ton des fast hundertneunzig Zentimeter großen Oberstaatsanwalts war sehr offiziell geworden. Seine Brille mit dem schwarzen Gestell hatte er in die linke Hand genommen – den Blick unverwandt auf KK gerichtet.
Lackarsch – jetzt guckst du noch blöder!
Dieser Gedanke half KK aus seiner geistigen Lethargie.
„Herr Oberstaatsanwalt, im Augenblick kann ich Ihnen nicht sagen, wo ich mit wem und wieso am Montag war. Wie soll ich denn auch, habe ich doch eben erst erfahren, dass heute schon Mittwoch ist. Ich dachte, gestern war Montag, also ist heute Dienstag. Und gestern war ich zu Hause – doch das muss wohl Dienstag gewesen sein. Und nicht Montag. Ich glaube, ich rede Quatsch. Oder?“
Ein strenges Nicken seines Gegenübers und eine hilflose Geste der Kommissarin bejahten seine Frage. „Ich glaube, ich brauche doch ein wenig Zeit zum Nachdenken.“ Und das Zucken mit den Achseln unterstrich die Aussage des Kommissars.
„Wo kann ich nachdenken?“
Mit dieser Frage brachte er seine Kollegen in die Bredouille. Eine Bredouille, die schon länger wie ein Damoklesschwert an diesem eigenartigen Gespräch für alle über den Köpfen hing. KK brachte es auf den Punkt.
„Bin ich jetzt verhaftet?“
Marie richtete ihren Blick auf den Oberstaatsanwalt, schob das Schwert von sich auf den Vorgesetzten. Natürlich hatte der Oberstaatsanwalt die Frage schon länger vorausgesehen, die Antwort vorbereitet. Er erinnerte sich auch der Reaktion KKs vor vier Jahren, als er der Verdächtige war.
„Selbstverständlich sind Sie nicht verhaftet, Herr Hauptkommissar. Für mich sind Sie nicht mal verdächtig. Fahren Sie nach Hause und kommen Sie in Ruhe zu Ihren Erinnerungen. Aber Sie kennen ja den Spruch, bleiben Sie in der Stadt. Wir sehen uns bestimmt morgen. Da haben wir auch die Ergebnisse der KTU. Marie, holen Sie ihn oder lassen Sie ein Taxi für den Oberkommissar holen“, sagte er, stand auf und verschwand aus dem Kommissariat. Zurück blieben die Kommissarin und ihr beurlaubter Chef.
„Toller Abgang!“, kommentierte KK, wobei nicht ganz klar war, für wen der Kommentar bestimmt war; für sich oder seine Kollegin. Doch die fühlte sich angesprochen.
„Lass sein, Wilmar, er hätte auch anders können. Das weißt du.“
„Das weiß ich und es beruhigt mich gar nicht“, fand KK langsam zu seiner Selbstironie zurück.
„Ich muss wirklich in Ruhe nachdenken und in einer Zelle wäre mir das sehr schwer gefallen. Ruf mich an, wenn du irgendetwas erfährst“, und leise hinzufügend: „Wenn du es mir denn sagen darfst.“
Dass er das fast, aber nur fast, unabsichtliche Berühren von Maries Oberschenkel mit der Hand durch den Oberstaatsanwalt im Waschbeckenspiegel gesehen hatte, ließ er sich nicht anmerken.
Heute nicht!
Im Frühling davor
Der Blicke der männlichen Badegäste bewusst, aber nicht heischend, rekelte sich Tina Konrad auf ihrem Handtuch. Nur ein wenig, um nicht doch irgendwelche plumpen Annäherungsversuche zu provozieren. Gegen einen Flirt hatte sie nichts einzuwenden, aber hier im Freibad musste es ja nicht sein. Die Diplomarbeit stand fast. Und eigentlich hätte sie diese abgeben können. Doch da war noch das Spiel mit diesem Professor Lehnert. In der zweiten Sitzung hätte sie sich fast verplappert. Aber nur fast. In der dritten war sie schon ganz Tina Severin.
Irre, dieses Rollenspiel. Man ist wie gefangen. Ich betrete das Institut und bin eine andere Person. Es sind nicht die Klamotten oder die Haare.
Dass ich beim Zahnarzt war, hat er einfach hingenommen. Ein Mann guckt doch zuerst woanders hin. Gut, dass ich noch die alten engen Jeans hatte.
Aber es ist nicht das Verkleiden. Die Rolle beginnt mit dem Betreten dieser Villa. Ich soll in die Sonne gehen, hat er gesagt. Habe ich gemacht. Er bemüht sich und ich verarsche ihn – will ich das? Warum gehe ich da noch hin? Wegen ihm – will ich ihn sehen, reden hören? Der ist doch zu alt für dich, Tina! Nur noch das eine Mal!
Schnell hatte sie die Hose und den Pullover aus dem alten Armeerucksack und über ihren weißen Bikini gezogen – etwas verknittert, genau richtig! Das knallrote Handtuch verschwand im Rucksack und aus Prinzessin Cinderella war das Aschenputtel geworden. Ein nicht ganz junger Gigolo mit viel zu kleiner roter Badehose, eben noch mit zwei Gläsern Prosecco in der Hand auf dem Weg zu dem blonden Mädchen auf dem roten Handtuch, wischte sich verwundert die Augen. Etwas Graues mit (waren es immer noch dieselben?) blonden Haaren verließ das Freibad. Völlig überrascht trank er die beiden Gläser Schaumwein selbst.
Furchtbar.
Und während der Schwan im grauen Entengewand zum Lehnert-Institut eilte, saß dessen Leiter Max schon in Erwartung seiner Patientin an seinem Schreibtisch.
Jeder Patient ist etwas Neues. Es ist nicht so, wie ein neues Bild zu betrachten. Nein, auch ich bin jedes Mal anders. Ist ja klar, habe ich auch so gelernt. Man ist sich dessen nicht bewusst. Und wenn man sich dessen bewusst ist, muss man aufpassen, sich nicht ständig selbst zu beobachten. Dabei ist doch diese Tina ein ganz leichter Patient. Wenn es so etwas gibt. Heute ist erst die vierte Sitzung und ich kenne sie. Ich kenne sie ganz genau – sie ist die Verkörperung eines Klischees, die Inkarnation einer Figur aus dem Fach Psychologie bei den Sozialpädagogen. Alles richtig, aber viel zu einfach. Nach der ersten Sitzung hat sie keine Drogen mehr genommen, war beim Zahnarzt und hat sich die Haare mal richtig gekämmt.
Doch wenn ich mir deswegen auf die Brust schlage, tut mir das Herz weh. Ich freu mich auf die Sitzungen mit ihr. Das ist alles nicht gut. Um sie zu Doktor Johannsen zu schicken, ist es zu spät. Und außerdem gönne ich sie ihm nicht. Der ist mir sowieso ständig zu geil. Das muss ich mal überprüfen, bevor es für das Institut Schaden bringt.
Die Gedanken über seinen Stellvertreter wurden durch eben dessen Stimme unterbrochen. „Herr Professor, Ihre Patientin ist da.“
„Okay, schicken Sie sie rein. Aber was machen Sie am Empfang, Knut?“
„Michaela ist gerade mal eben zur Toilette.“
„Okay.“
Was geht den das an, ob Michaela zur Toilette ist? Der hängt da ständig rum. Ich muss einfach mal die Dienstpläne kontrollieren. Doch das ist die Aufgabe meines Stellvertreters. Na gut, die Dienstpläne liegen in der Anmeldung.
Noch, bevor Max Lehnert weitere Entschuldigungen für das sonderbare Verhalten seines Stellvertreters finden konnte, klopfte es an seine Tür.
Wieso bin ich jetzt aufgeregt – sie ist meine hunderttausendste Patientin?
„Herein!“, und die angebliche Tina Severin trat in sein Zimmer. Den Kopf und den Blick nach unten gerichtet, mit leicht hängenden Schultern.
Eigentlich wie beim Erstgespräch. Gab es doch wieder einen Rückfall?
„Hallo, Tina, wie geht es Ihnen heute? Und nehmen Sie doch Platz“, begann der Professor die Stunde. Tina war voll in ihrer Rolle. Berichtete von der Sehnsucht nach Befriedigung ihrer Sucht. Von ihrem Kampf dagegen. Von ihrer monotonen Arbeit im Lager des Baumarktes.
Sie redete und redete. Der Professor fragte kurz, um den Redefluss im Laufen zu halten, zeigte durch Gesten und kurze Bemerkungen sein Mitgefühl. Und obwohl es nur eine Rolle war, genoss Tina das Mitgefühl an ihrem schweren Schicksal, das eigentlich das Leben einer anderen war. In diesen kurzen Momenten hätte sie das Zurücktauschen der Identität erst mal ernsthaft geprüft.
Doch da, für Tina überraschend, stellte der Professor eine ganz andere Frage: „Tina, es ist erst die vierte Sitzung, wir kennen uns erst zwei Wochen, aber ich habe das Gefühl, es geht Ihnen schon deutlich besser – stimmt das?“
Nicht die Antwort, aber der kurze freie Blick der jungen Frau davor ließ bei ihm die Alarmglocken klingeln. Selbstbewusstsein ob ihrer eigenen Intelligenz und Schönheit ließ ihn für einen kurzen Augenblick im Meer ihrer blauen Augen ertrinken. Noch immer dem Ertrinken nahe und nach Luft schnappend, sah er wieder ihren Blick mehr auf den Boden denn auf ihn gerichtet. Das Meer war eine Pfütze, höchstens ein kleiner Waldsee. Und die Antwort war die erwartete, die mit der Frage induzierte Bestätigung seines Gefühls der Besserung des Zustandes seiner Patientin.
Noch immer etwas verwirrt, konnte er sie verabschieden und sie zur Verabredung eines neuen Termins zur Anmeldung schicken.
Das ist mir noch nie passiert! Beginnt so eine Liebe? Liebe zu einer Fixerin?
Unsinn! Hier stimmt was nicht!
Schnell griff er zum Telefonhörer.
„Michaela, verbinden Sie mich bitte mit dem Sekretariat Wendisch. Wer das ist? Entschuldigung, ich dachte, Sie kennen ihn. Ich hatte ihn Ihnen schon mal vorgestellt. Oberstaatsanwalt Jürgen Wendisch.“
Schon kurz darauf hatten beide Sekretärinnen die Verbindung zwischen den beiden Studienfreunden hergestellt.
„Hallo, Jürgen, heute muss ich mal um einen Gefallen bitten“, erinnerte der Professor an die vielen Gefälligkeiten seinerseits und des Instituts für die Staatsanwaltschaft.
„Na klar, Max, schieß los.“
„Nein, nein, schießen will ich nicht. Aber ich habe da eine Patientin, Tina Severin. Sie ist mir vom Sozialamt als Fixerin überwiesen.“
„Max, lass dich unterbrechen, verletzt du jetzt nicht Patientengeheimnisse?“
„Nein, nein, ich will dich ja nicht über etwas informieren; ich will, dass du mich informierst. Fremdanamnese nennt man das. Ist ganz üblich. Na gut, über die Kripo ist es etwas ungewöhnlich, aber wenn man die Verbindung hat und die Staatsanwaltschaft einem etwas schuldig ist, sollte man es machen.“