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Der Auftakt der großen »Senta«-Tetralogie von Marie Louise Fischer: Silvester in Berlin im Jahre 1899. Auf einem Silvesterball will der junge Arzt Justus Weigand für einen Abend seine Sorgen vergessen. Doch nur wenige Stunden, bevor ein neues Jahrhundert beginnt, wird er in die herrschaftliche Villa der Familie Thielemann gerufen: Auf dem Küchentisch bringt er das Kind des Dienstmädchens Rosa zur Welt. Doch Rosa will mit allen Mitteln verhindern, dass die Thielemanns von dem Kind erfahren. Sie verstößt es. Notgedrungen bringt Justus Weigand das neugeborene Mädchen zur Charité – und gibt es dort als seine Tochter Senta aus.
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Seitenzahl: 758
Marie Louise Fischer
Roman
Man schrieb den 31. Dezember des Jahres 1899.
Die frühe Dämmerung des Wintertages war hereingebrochen, als Justus Weigand, Student der Medizin im letzten Semester, das Zimmer Professor Hübners verließ und dem Ausgang der Kinderklinik zustrebte, die zum großen Komplex der Charité gehörte.
Eine Diakonisse in strenger, steif gestärkter Tracht zündete auf dem Gang die Gaslampen an. Justus Weigand schenkte ihr im Vorübergehen ein rasches, abwesendes Lächeln, ohne den sehnsüchtigen Blick der jungen Schwester zu bemerken.
Er eilte weiter, ein hochgewachsener, magerer Mann von fünfundzwanzig Jahren, mit schmalem, nach hinten stark gewölbtem Schädel, dichtem dunkelbraunen Haar und ausgeprägten Jochbogen, die seine Wangen hohl erscheinen ließen. Im Geist war er mit den Argumenten Professor Hübners beschäftigt, dem Chef des Hauses, von dem er kam. Sein Doktorvater hatte ihm Anregungen für die Dissertation gegeben, mit deren Für und Wider er sich innerlich noch auseinandersetzte.
Der alte Pförtner, ein Veteran von 1870/71, grüßte schon von Weitem. »Juten Abend, Herr Doktor! Ein frohes neues Jahr wünsch ick Ihnen och!« Er salutierte militärisch, die Hand an der Mütze.
»Danke, Pachulke!« Justus Weigand trat ins Freie. Einen Atemzug lang blieb er erschauernd stehen.
Die Winterluft war schneidend kalt.
Er schlug sich den dicken, handgestrickten Schal, ein Geschenk seiner Cousine Clementine vom vorjährigen Weihnachtsfest, doppelt um den Hals, warf die Enden nach hinten, bohrte die Fäuste in die Taschen, schob die Schultern vor und stürzte sich in den Dezemberabend wie in ein eisiges Bad.
Das Gelände der gewaltigen Krankenstadt war wie ausgestorben. Nur wenige Besucher, die sich verspätet hatten, tauchten zwischen den roten Ziegelgebäuden auf. Schwestern, Krankenpfleger und Ärzte, die zum Nachtdienst eingeteilt waren, hasteten ihm entgegen.
Justus Weigand schenkte ihnen keinen Blick, eilte mit weit ausholenden Schritten vorwärts.
Es war mehr als sieben Jahre her, seit er aus seinem schlesischen Heimatdorf Görzen in die Hauptstadt gekommen war. Eine Abteilung der alten Charité nach der anderen hatte in dieser Zeit den Erfordernissen der Wissenschaft und dem Andrang der Patienten und Studenten nicht mehr entsprochen, war Hammer und Spitzhacke zum Opfer gefallen; Neues war allenthalben im Entstehen. Justus Weigand kannte sich aus in diesem Gewirr von Gebäuden, von Baustellen und Bauschutt, weiten Rasenflächen und Gruppen uralter Linden und Kastanien, die jetzt ihre vom Frost entlaubten Äste in den lichtlosen Winterhimmel streckten.
Seine Liebe zur Charité war frei von Sentimentalität; er bedauerte nicht, dass die historischen Operations- und Hörsäle, Laboratorien und Krankenzimmer dem Untergang geweiht waren. Es lag ihm auch fern, Kritik an der neuen Charité zu üben, die da entstand. Dass der Baustil, in dem sie errichtet wurde, diese geschmacklose Neugotik mit ihren verspielten und völlig sinnlosen Erkern und Türmchen, geradezu hässlich war, ließ ihn kalt. Wichtig war ihm und den meisten seiner Kollegen nur, dass die neuen medizinischen Arbeits- und Forschungsstätten den letzten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprachen.
Während seines Studiums hatte er viele epochale Entdeckungen aus der Nähe miterlebt.
Behring hatte das Heilserum gegen die Diphtherie entwickelt, Karl Ludwig Schleich die Lokalanästhesie, Röntgen die X-Strahlen, Ludwig Rehn war es als Erstem gelungen, eine Herznaht mit Erfolg zu setzen, Bergmann hatte sein grundlegendes Buch über die Gehirnchirurgie geschrieben, Dreser das Aspirin eingeführt und damit die Bahn frei gemacht für die Verwendung synthetischer Heilmittel.
Um die Jahrhundertwende war die Charité das Weltzentrum der Medizin, und Justus Weigand war stolz darauf, ihr anzugehören.
Sobald Justus Weigand das stillere Klinikviertel hinter sich gelassen hatte, umbrandeten ihn Lärm und Getriebe. Die Friedrichstadt, noch vor Kurzem begehrtestes und teuerstes gutbürgerliches Wohnviertel, hatte ihren Glanz verloren. Die feinen Leute waren nach Moabit, in die Zoogegend, zum Tiergarten hin ausgewichen. Arbeiter, kleine Handwerker und Geschäftsleute waren nachgedrängt. Die Friedrichstraße selbst, einst Hauptverkehrsader der Stadt, war zur billigen Einkaufsstraße geworden. In den Läden wurden »Occasionen«, preiswerte Gelegenheitskäufe, angepriesen. Nachts lockten Kaschemmen, Bierlokale und anrüchige Cafés.
Pferdebahnen, Droschken und Kaleschen ratterten über die Fahrbahn, die Hufe der Rosse knallten auf das Pflaster, ihr Atem stieg wie Dampf in die Dezemberluft. Dazwischen puckerte und tuckerte eines der frühen Automobile, an die sich die Berliner leichter gewöhnt hatten als die Pferde, die immer noch hochgingen, wenn ihnen eines der schnaufenden Ungetüme zu nahe kam.
Justus Weigand nahm jede Einzelheit dieses wirbelnden Kaleidoskops in sich auf. Die Berliner waren stolz auf ihr Tempo. Aber selten hatte es ihn so beeindruckt wie heute.
Wenn zwei Bekannte einander begegneten, warfen sie sich wohl einen lachenden Gruß zu, aber niemand nahm sich die Zeit zu einem Schwatz, jeder schien es eilig zu haben – nur weiter, schnell, schnell, keine Minute verlieren! –, als wenn sie es nicht erwarten könnten, die letzten Stunden des Jahres und des Jahrhunderts endlich hinter sich zu bringen. Selbst die Menschen, die sich einsam fühlten, die gar nichts vorhatten in dieser einmaligen Nacht, die vom Schicksal Geschlagenen und Beiseitegeschobenen, wurden von dem allgemeinen Schwung mitgerissen und vergaßen, wenigstens für kurze Zeit, dass sie ihr Ziel längst verloren hatten.
Heisere Jungenstimmen schrien an den Straßenecken Zeitungen aus, das »Berliner Tageblatt«, den »Berliner Lokal-Anzeiger«, die »Vossische Zeitung«.
»Große Ansprache des Kaisers vor dem Regiment Alexanders …, ›Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen‹« – »Deutschland lehnt Bündnisverhandlungen mit Großbritannien ab!« – »Heißerkämpfter Sieg der Buren!«
Justus Weigand widerstand der Versuchung, eine Zeitung zu erstehen. Das wäre eine Ausgabe gewesen, die für ihn Luxus bedeutet hätte. Er hatte sich ein Sparprogramm zurechtgelegt, an das er sich eisern hielt, denn nur so war es ihm möglich, aus den wenigen Mitteln, die er von zu Hause erhielt, und den spärlichen Einnahmen, die er durch Nachhilfestunden und Einpaukereien erzielte, sein langwieriges und teures Studium zu finanzieren.
Er bog in die Elsässerstraße ein und bald darauf in den Toreingang des ehemaligen hochherrschaftlichen Hauses, an dessen Vorderfront riesige Karyatiden einen nutzlosen Balkon trugen.
Der Hinterhof, der sich in der warmen Jahreszeit einiger grüner Büsche und eines kümmerlichen Stückchens Rasen rühmen durfte und deshalb von dem Hausbesitzer und den Vermietern als Garten bezeichnet wurde, zeigte jetzt sein graues, ödes Wintergesicht. Nur in wenigen Fenstern brannte Licht, die meisten starrten aus dunklen, toten Augen auf den kahlen quadratischen Platz hinab.
Im Keller linker Hand war eine Schusterwerkstatt. Ganz gleich, ob Justus Weigand am frühen Abend oder spät in der Nacht nach Hause kam, hier wurde immer gearbeitet.
Justus Weigand blieb kurz stehen, bückte sich, pochte gegen das Fenster. Emil Kändler blickte auf, reckte die Schultern, entblößte die gelben Zähne unter dem Walrossschnurrbart. Seine Glatze schimmerte im Licht der Petroleumlampe mit der gläsernen Schusterkugel um die Wette. Justus Weigand formte mit den Lippen ein lautloses: »Guten Abend!« – Das war die Art der beiden Männer, sich zu begrüßen.
Vor das Kellerfenster nebenan war der schwere Vorhang vorgezogen. Frau Lotte, die bis zu ihrer Verheiratung Stubenmädchen in einem vornehmen Hause gewesen war, wusste, was sich gehörte. Wenn sie auch jetzt unter den bescheidensten Verhältnissen lebte – die Schusterfamilie hauste in einem einzigen Zimmer neben der Werkstatt, und der vierte Sprössling war schon unterwegs –, so hielt sie doch alles sauber und fand immer noch Zeit und Kraft, auf Anstand und Schick zu achten.
Justus Weigand mochte diese Leute.
Die Freundschaft zwischen dem jungen Mediziner und der Handwerkerfamilie hatte aber auch eine praktische Seite, es bestand ein stillschweigendes Abkommen zwischen ihnen. Emil Kändler reparierte das Schuhzeug des Studenten kostenlos, schusterte ihm auch gelegentlich ein Paar Stiefel zu, die vom eigentlichen Besitzer nicht abgeholt worden waren. Justus Weigand revanchierte sich dafür, indem er der Familie bei jeder kleinen oder größeren Krankheit mit Rat und Tat zur Seite stand.
Tatsächlich besaß er natürlich noch nicht das Recht zu praktizieren, aber darüber machte er sich keine Gedanken. Er war sicher, dass er keinem fertig ausgebildeten Kollegen das Brot wegnahm. Kändlers hätten sich nur im äußersten Notfall an einen Doktor gewandt, weil sie sich die Ausgabe für Behandlung und Medizin einfach nicht leisten konnten.
Trotz des steigenden Wohlstandes der Großstadt verdiente die breite Masse der Bevölkerung nur wenig, war eigentlich arm zu nennen und hatte keine Aussicht, am Reichtum der vom Schicksal Bevorzugten je teilzunehmen. In seinen Lehrjahren an der Charité hatte er es nur zu oft erlebt, dass einfache Leute zu spät eingeliefert wurden. Sie scheuten den Arzt, glaubten, mit jeder Erkrankung am schnellsten fertig zu werden, indem sie sie gar nicht beachteten. Denn Kranksein bedeutete, nicht arbeiten zu können, und nicht zu arbeiten hieß nichts verdienen und möglicherweise sehr rasch Stellung und Wohnung verlieren.
Justus Weigand dachte an diesem Dezemberabend an die soziale Ungerechtigkeit, an die er sich nie würde gewöhnen können. Aber diese Gedanken waren ihm so vertraut, dass sie ihm nur flüchtig durch den Kopf schossen. Im Moment gab es anderes, das ihm näherlag und ihn mehr beschäftigte.
Er durchschritt den Torweg des sogenannten Gartenhauses, das in jeder Beziehung dem Vorhaus entsprach, nur dass seine Fassade schmucklos war, durchquerte den zweiten Hof und trat durch die breite Tür aus billigem Holz, von dem die dicke Farbschicht abblätterte, in das Stiegenhaus des zweiten Gartenhauses.
Elastisch kletterte er die ausgetretenen Stufen hinauf, vorbei an den Wohnungstüren zur Linken und Rechten, die neben dem Schild des eigentlichen Wohnungsinhabers mit Visitenkarten der studentischen Untermieter geradezu gepflastert waren. Er selbst wohnte im fünften Stock bei der Witwe Göbern. Schon hatte er seinen Schlüsselbund in der Hand und wollte die Etagentür aufschließen, als er in der Bewegung innehielt. Er hatte keine Lust zu dem üblichen Rede- und Antwortduell mit seiner Wirtin.
Eine andere Tür führte direkt von der Treppe her in sein Zimmer, und die Witwe Göbern hatte ihm den Schlüssel dazu anvertraut – ein hohes Privileg, das er sich durch viele Jahre murrelosen und treuen Wohnens verdient hatte. Zu Anfang hatte er ganz am Ende der Wohnung gehaust, noch hinter dem fensterlosen Berliner Zimmer. Im Lauf der Jahre war er dann immer weiter nach vorn, dem Treppenhaus zu, vorgerückt, bis er endlich das begehrte Zimmer mit dem Separateingang erobert hatte.
»Aber nur, weil ich weiß, dass Sie ein anständiger junger Mann sind«, hatte die Wirtin betont, als sie ihm den Schlüssel zur Freiheit aushändigte.
Aber sie sah es nach wie vor nicht gern, wenn er diesen Eingang tatsächlich benutzte, und Justus Weigand nahm, wenn auch nur um des lieben Friedens willen, meist Rücksicht auf ihre Gefühle.
Doch heute, ausnahmsweise, machte er von seinem Recht Gebrauch.
Das Zimmer war finster. Die spärliche Glut im Ofen warf einen matten, rötlichen Schein auf das schwarzgestrichene Blech, das den ausgefransten Teppich vor herausfliegenden Funken schützen sollte, hatte aber nicht die Kraft, den kleinen Raum zu erhellen. Vor dem Rechteck des vorhanglosen Fensters stand der Himmel im Widerschein der Großstadtlichter.
Justus Weigand schloss die Tür hinter sich. Er trat zum Ofen und hielt beide Hände flach ausgestreckt darüber. Nach der schneidenden Kälte draußen und im Treppenhaus war selbst die schwache Wärme, die der Ofen ausstrahlte, eine wahre Wohltat. Einige Sekunden blieb er so stehen, ohne sich zu rühren, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.
Er wandte sich um, war mit zwei knappen Schritten am Tisch, ertastete die Petroleumlampe, nahm die Milchglaskugel und den Zylinder ab und legte sie sorgsam beiseite. Er bückte sich, zog Zeitungspapier aus der Kiste, in der Brennmaterial aufbewahrt war, faltete das Blatt zu einem Fidibus zusammen und schob ihn durch die Ofentür. Er hielt ihn so lange in die Glut, bis er aufflammte. Dann richtete er sich auf, hielt die Flamme nach oben, damit der Fidibus nicht so schnell abbrenne, und entzündete dann mit ihm den kreisrunden Docht der Lampe. Er warf das brennende Stück Papier in den Ofen, setzte Zylinder und Schirm wieder auf und schraubte den Docht niedriger. Er füllte die Blechschüssel auf der wackligen Kommode mit Wasser aus der hohen Kanne und stellte sie oben auf den Ofen. Er schob ein Stück Holz nach und gab drei Kohlen dazu. Er tat dies alles mit der Sorgfalt und Genauigkeit eines Mannes, der gewohnt ist, im Labor mit exakten Maßen und Gewichten zu arbeiten, und sich dazu erzogen hat, selbst kleinste Ungenauigkeiten zu vermeiden.
Dies Zimmer enthielt alles, was er brauchte – ein schmales Bett, in dem er schlafen, einen Tisch, an dem er arbeiten und essen konnte, einen Kleiderschrank, eine Kommode, die Platz für seine Wäsche bot und auch einen Teil seiner Bücher aufnahm. Auch ein Stuhl und ein reichlich ausgewerkelter Armsessel waren vorhanden. Der Großteil seiner Bücher – philosophische Werke, Werke über Physik und Chemie, dicke medizinische Wälzer – lag teils aufgeschlagen oder mit eingelegten Lesezeichen auf dem Tisch, teils waren die Bände hoch oben auf dem Schrank und auf der Platte der Kommode gruppiert oder ohne System übereinandergestapelt. Er hatte sie sich alle buchstäblich vom Munde abgespart, die meisten aus zweiter oder dritter Hand und fast immer nach langwierigem Feilschen erstanden.
Wenn er über all diese Schätze hinwegblickte, fühlte er sich reich. Das lieblos eingerichtete Zimmer, das eher einer Kammer glich, bedeutete viel für ihn. Es war sein Reich, in dem er allein regierte.
»In den Suppentopf kann einem niemand hineinsehen«, hatte seine Mutter daheim in Görzen immer gesagt, als er noch ein kleiner Junge war. Daran hielt er sich auch heute noch.
Wenn unternehmungslustige Kommilitonen ihn in ein Lokal mitschleppen wollten und in seiner Tasche nicht einmal mehr Pfennige klingelten, konnte er sie mit der Erklärung abwehren: »Nichts zu machen, ich esse zu Hause.«
Das war unwiderlegbar. Niemand konnte wissen, dass dieses Essen oft aus nichts anderem als einem trockenen Kanten Brot bestand, manchmal auch nur aus einem Glas Leitungswasser – Justus Weigand hatte die Erfahrung gemacht, dass selbst das, wenn auch nur sehr vorübergehend, den Magen füllte.
Heute jedoch konnte und musste er sich etwas Nahrhaftes gönnen, denn eine lange Nacht lag vor ihm.
Er wickelte sich aus dem handgestrickten Schal seiner Cousine Clementine und hängte ihn über den Haken hinter der Tür. Er zog seinen abgetragenen Paletot aus, pustete über den schwarzen Samtkragen und hängte ihn sorgfältig über einen Bügel.
Diese verdammten Feiertage! Es war jedes Jahr dasselbe und diesmal doppelt schlimm: Es war kein gewöhnliches Silvester, das ihm bevorstand, sondern eine Jahrhundertwende, und er konnte sie nicht still für sich allein bei seinen Büchern verbringen oder mit ein paar Freunden feiern, sondern er musste sich ausgerechnet heute um Cousine Clementine kümmern.
Feiertage! Wozu waren die gut? Es gab keine Vorlesungen. Man konnte sich nichts dazuverdienen, musste aber trotzdem mit jeder Menge Extraauslagen fertigwerden.
Justus Weigand zog die Geldbörse aus der Hosentasche, zählte stirnrunzelnd seine Barschaft. Viel war es nicht, aber immerhin, es musste reichen.
Er holte den dunklen Brotlaib aus dem Schrank, schnitt eine dicke Schnitte herunter, bestrich sie mit Schweineschmalz und streute Salz darauf. Er säuberte das Messer, indem er es durch das Brot zog. Dann biss er kräftig in seine Stulle, aß mit dem gesunden Appetit der Jugend, aber ohne Gier, langsam und mit Bedacht, kräftig kauend.
Das Wasser auf dem Ofen war inzwischen warm geworden. Er schliff das Rasiermesser am Lederriemen, seifte sein Gesicht ein und schabte sich vor dem halbblinden kleinen Spiegel über der Kommode die Stoppeln ab.
Er zog sich aus, wusch sich von Kopf bis Fuß und schlüpfte in frische Wäsche, in sein bestes, auf der Brust gefälteltes Hemd, in die Hose seines guten schwarzen Anzuges.
Aber während er dies alles tat, waren seine Gedanken schon wieder voll und ganz auf seine Dissertation konzentriert, mit der er zum Doktor promovieren wollte: »Kreislauf und Stoffwechsel des Säuglings.«
Professor Hübner hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er, um das Thema wirklich in den Griff zu bekommen, nicht beim Säugling beginnen, sondern erst das ungeborene Kind darstellen müsste, das ja noch mit und von der Mutter lebt.
War das richtig? Oder führte das nicht doch zu weit vom eigentlichen Thema ab?
Ohne zu merken, was er tat, zog Justus Weigand den Stuhl zum Tisch, blätterte in den ersten Seiten seiner handgeschriebenen Arbeit. Der Moment der Geburt, der Moment des ersten entscheidenden Atemholens, damit hatte er begonnen. Aber was war vorher?
Er kramte in seinen Notizen, schlug Fachbücher auf und las nach, ohne eine befriedigende Antwort zu finden. Er begann zu schreiben, die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, eine steile Falte über der Nasenwurzel.
Die Turmuhr der Johanniskirche schlug zweimal die volle Stunde an, aber es wurde ihm nicht bewusst. Er war ganz und gar in seine Arbeit vertieft.
Auch als von der Wohnung her an seine Tür geklopft wurde, sah er nicht auf. Erst beim dritten Mal, als das Klopfen schon mehr einem kräftigen Fausthieb glich, hob er den Kopf.
»Herein«, sagte er mechanisch und hatte Mühe, sich in der Gegenwart zurechtzufinden.
Die Tür wurde mit Schwung geöffnet, und sein Freund, der Korpsstudent Arnold Scheer, trat ins Zimmer, prächtig anzuschauen im vollen Wichs der feudalen Studentenverbindung, der er angehörte. Er trug eine runde, goldbetresste Kappe auf dem schütteren blonden Haar, glänzende schwarze Stulpenstiefel an den etwas zu kurz geratenen Beinen, eine breite farbige Schärpe, die ihn als Chargierten auswies, um den strammen Bauch und den langen Säbel in kunstvoll geschmiedeter Scheide an der Seite.
»Hallo, alter Junge!«, dröhnte Scheer.
»Welcher Glanz in meiner Hütte!«, gab Justus Weigand zurück. »Du trittst ja auf wie Lohengrin persönlich.«
Arnold Scheer schlug mit einer eleganten Bewegung sein großzügig geschnittenes Cape zurück. »Hab’ noch eine Sitzung heute Abend.«
»Ihr wollt euch doch wohl nicht etwa noch in der letzten Nacht des Jahrhunderts die Gesichter zerhacken?«
Unwillkürlich fuhr Arnold Scheers Hand an seine linke Wange und strich sich, nicht ohne Genugtuung, über den breiten, kräftigen Schmiss. »Ach wo«, sagte er, »nichts dergleichen. Es wird ein ganz offizieller, langweiliger Kommerz. Ein paar Alte Herren werden die Gelegenheit wahrnehmen, weise Lehren und den Born ihrer reichen Jugenderinnerungen über uns zu ergießen.«
Justus Weigand schüttelte sich leicht. »Und da gehst du hin?«
Arnold Scheer zuckte mit den Achseln. »Was bleibt mir anderes übrig? Ich habe eben gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen.« Obwohl er reines Hochdeutsch sprach, war sein rheinischer Stimmfall, dieser gewisse schmeichelnde Singsang, der Justus Weigand immer belustigte, nicht zu überhören. Arnold Scheer, Sohn aus reichem Hause, stammte aus Krefeld; er studierte schon eine beträchtliche Reihe von Semestern länger in Berlin als sein Freund. Er war zuerst in Heidelberg gewesen.
»Du lieber Himmel!«, sagte Justus Weigand, durchaus ohne Neid.
Arnold Scheer hakte sein Cape auf und warf es über das Bett. »Jedenfalls bin ich froh, dass ich dich doch erwischt habe!« Er ließ sich in den Sessel plumpsen. »Die Göbern wollte mir doch wahrhaftig weismachen, du wärst noch nicht zu Hause. Dabei hockst du natürlich wieder über deinen Folianten, genau wie ich es mir vorgestellt habe.«
Justus Weigand schob seinen Stuhl zurück, um den Freund besser zu sehen. »Sie konnte es nicht wissen«, sagte er und fügte mit einer Kopfbewegung zur anderen Tür hinzu: »Ich bin durch den Geheimeingang gekommen.«
»Herrje!« Arnold Scheer fuhr hoch, mimte Bestürzung. »Dann störe ich wohl! Warum hast du mir nicht gleich einen Wink gegeben?« Er sah sich mit halb gespieltem, halb echtem Interesse im Zimmer um. »Wo hast du die Dame versteckt?«
Justus Weigand lachte. »Dreimal darfst du raten!«
»Im Schrank? Unter dem Bett? Also – sehr viele Möglichkeiten gibt es hier ja nun wirklich nicht!«
»Alter Schafskopf!«
»Ist wirklich niemand bei dir?«
»Natürlich nicht. Das hätte gerade noch gefehlt. Ich habe den Kopf schon voll genug.«
Arnold Scheer grinste. »Wenn du mich fragst, so sind Liebe und Leidenschaft zwar nicht gerade Dinge, die man mit dem Kopf betreibt, aber da du ja selber Mediziner bist, brauche ich wohl nicht in Details zu gehen, um dir klarzumachen …«
Justus Weigand schnitt ihm das Wort ab. »Bestimmt nicht. Ich weiß Bescheid. Sag mir lieber … wie kommst du mit deiner Dissertation voran?«
Arnold Scheer ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen; er legte sein leicht aufgeschwemmtes Gesicht in kummervolle Falten. »Gar nicht.«
»Aber erlaube mal! Wir haben doch zumindest die ersten Kapitel in allen Einzelheiten durchgesprochen!«
Arnold Scheer hob die Hände und ließ sie hilflos wieder sinken. »Ja, wenn du mit mir redest, dann verstehe ich ja auch alles, alter Junge, jedenfalls kommt es mir so vor. Aber sobald ich dann mutterseelenallein vor meinem Schreibtisch sitze …« Er ließ den Satz in einem tiefen Seufzer ausklingen.
»Du bist doch wirklich der größte Esel des Jahrhunderts«, sagte Justus Weigand freundschaftlich.
Arnold Scheer riss die Augen auf. »Des vergangenen oder des neuen?« Er legte beschwörend seine breite, gepflegte Hand auf Justus Weigands Knie. »Im Ernst, Justus, du musst mir helfen. Ohne dich schaffe ich es einfach nicht.«
»Wenn ich nur nicht – gerade jetzt – selbst so viel um die Ohren hätte! Kannst du nicht noch ein Semester zugeben, bis ich mit den Prüfungen fertig bin?«
»Wenn’s nach mir ginge … sofort! Aber mein alter Herr fängt an, ungeduldig zu werden. Er will mich sobald wie möglich wieder in Krefeld haben. Mit oder ohne Examen.«
»Aber dann …«
Arnold Scheer ließ ihn nicht ausreden. »Ich brauche den Abschluss. Fast zehn Jahre habe ich nun ‘rumstudiert, und wenn ich ohne Titel nach Hause komme, mache ich mich selbst zur Witzblattfigur. Meinen Eltern wird es nicht genügen, dass ich eine herrliche Zeit hatte.«
Justus Weigand wollte etwas einwerfen, aber der Freund kam ihm zuvor.
»Und du«, sagte er beschwörend, »mach mir doch nichts vor, du kannst Geld doch dringend brauchen, wie? Natürlich würde ich dir auch die Moneten für den Druck der Dissertation und so weiter pumpen – aber wie ich dich kenne, wäre das doch nicht nach deinem Geschmack.«
»Ich hasse Schulden.«
»Na also. Sehr ehrenwerter Standpunkt, würde mein alter Herr sagen. Schmink dir alle anderen Extraarbeiten ab, Justus, und konzentriere dich darauf, mich durchzuziehen – ich halte dich dafür über Wasser.«
Justus Weigand hatte durchaus noch Bedenken, aber es schien ihm unfair, den Freund länger zappeln zu lassen. »Also gut, einverstanden«, sagte er, »glaub bloß nicht, dass ich mich wie eine alte Jungfer ziere. Aber du musst mir versprechen, dass du dir wenigstens Mühe gibst und mich nicht alle Arbeit allein machen lässt … die mündliche Prüfung kann ich dir beim besten Willen nicht abnehmen.«
Arnold Scheer zeigte ungeniert seine Erleichterung. »Ich danke dir, Justus.« Er schlug ihm mit Vehemenz auf die Schultern. »Ich wusste ja, dass ich mich auf dich verlassen kann. Die Einzelheiten besprechen wir dann nächstes Jahr, ja? Die Frage ist nur … was fangen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend an?«
»Ich dachte, du wolltest zu deinen Korpsbrüdern?«
»Ja, ich muss. Und anschließend zum Ball der Philharmonie, da trifft sich heute tout Berlin, und ich bin es einfach meinem Ruf schuldig … Aber nachher, Justus, so ab eins, könnten wir uns dann nicht irgendwo treffen?« Justus Weigand fuhr sich etwas verlegen mit allen fünf Fingern der rechten Hand durch das starke braune Haar. »Du wirst lachen«, sagte er, »aber ausnahmsweise bin ich für heute Nacht vergeben.«
»Also doch eine Frau! Du, das habe ich gleich gemerkt, als ich hier hereinkam. Für so etwas hab’ ich eine Nase, weißt du. Also raus mit der Sprache! Wie alt ist sie? Wo wohnt sie? Wie hast du sie kennengelernt? Wie heißt sie?«
Justus Weigand lächelte schief. »Leider muss ich dich enttäuschen, Arnold. Sie ist meine Cousine … das heißt, unsere Mütter waren Cousinen. Ich habe sie kennengelernt, als ich sieben Jahre alt war, und sie ist heute … also ganz ehrlich, ich weiß nicht mal, wie alt sie wirklich ist. Einundzwanzig oder zweiundzwanzig möchte ich annehmen. Ich habe sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, kann mir nicht einmal vorstellen, wie sie jetzt aussieht.«
»Eine pikante Situation«, sagte Arnold Scheer wohlgefällig. »Das Cousinchen vom Lande ist also plötzlich in der Großstadt aufgetaucht … Du, ganz ehrlich, ist das nun die Wahrheit oder nur die Version für die Göbern?«
Justus Weigand stand auf. »Ich habe doch keinen Grund, dir etwas vorzumachen!« Er öffnete den Schrank und holte ein Paar Lackstiefeletten heraus. »Die Göbern brauche ich übrigens auch nicht zu beschwindeln, Clementine wird bestimmt diese Schwelle nie überschreiten.«
»Clementine«, wiederholte Arnold Scheer und ließ den Namen genüsslich über die Zunge rollen.
Justus Weigand nahm einen Lappen, fuhr polierend über das Lackleder. »So plötzlich, wie du glaubst, ist sie übrigens gar nicht aufgetaucht. Sie ist schon ein paar Monate hier. Ich wundere mich, dass ich das doch nicht erzählt habe.«
»Weil du ein Heimtücker bist.«
»Nein, wahrscheinlich, weil mich diese Tatsache bis heute kaum beschäftigt hat. Sie ist als Erzieherin mit einer Familie Thielemann aus Schlesien nach Berlin gekommen, na, und du weißt ja, wie diese armen Mädchen ausgenutzt werden. Sie hat heute zum ersten Mal abends Ausgang …«
»Nun erzähl mir bloß nicht wieder etwas von sozialer Ungerechtigkeit und dass jeder Mensch Anspruch auf eine zeitlich begrenzte Arbeitszeit und bezahlten Urlaub haben sollte und all den anderen utopischen Blödsinn«, sagte Arnold Scheer rasch, »du hast doch selbst Sorgen genug, was musst du dir dauernd wegen anderer Leute den Kopf zerbrechen! Sag mir lieber, was du nun heute Abend mit dem Cousinchen vorhast?«
»Sie hat von ihrer Gnädigen zwei Karten für den Ball der Singakademie bekommen.«
Arnold Scheer hob die blonden Augenbrauen. »Singakademie? Ziemlich fade Angelegenheit, kannst du mir glauben. Spätestens um ein Uhr wirst du die Nase gestrichen voll haben.«
»Mal sehen.« Justus Weigand schlüpfte in seine Stiefeletten, knöpfte sie zu. Er betrachtete kritisch seine Füße. »Nicht schlecht. Aber reichlich unbequem.«
»Wahrscheinlich ’ne Nummer zu klein. Dann geht dir noch eher die Puste aus. Treffen wir uns zwischen eins und zwei im Café Greiff, mit oder ohne Cousine.«
Justus Weigand stand auf und nahm seine schwarze Jacke aus dem Schrank. »Wenn es möglich ist – festlegen kann ich mich da nicht.«
Es wurde an die Tür geklopft, und fast im selben Augenblick schob sich die Witwe Göbern ins Zimmer, ein Tablett mit zwei Tassen Tee und einer Zuckerdose vor sich her tragend. »Ach, Herr Weigand«, sagte sie süßlich, »Sie sind also doch da, und ich hätte schwören können, dass Sie noch nicht nach Hause gekommen sind.« Ihre Augen hatten die fatale Neigung, nach links und rechts auseinander zu rutschen, so dass beide jungen Männer das Gefühl hatten, von ihr fixiert zu werden.
»Wahrscheinlich haben Sie ein kleines Nickerchen gemacht«, schlug Arnold Scheer als Erklärung vor.
»Aber nein! Wo denken Sie hin! Doch nicht am helllichten Tag!«
Die Witwe Göbern stellte das Tablett auf den Tisch.
»Warum nicht? Ich könnte es gut verstehen, wenn Sie sich für die Nacht stärken wollen!« Arnold Scheer umfasste die knochigen Hüften der Witwe. »Sie haben doch sicherlich etwas vor? Oder nicht? Wie wär’s dann mit uns beiden?« Die Witwe Göbern befreite sich kichernd und einigermaßen geschmeichelt. »Aber – Herr Scheer! Immer diese Späße, Sie sind ja ein ganz Gefährlicher!« Sie lief zur Kommode, betrachtete sich in dem kleinen halbblinden Spiegel, steckte ihre grauen Strähnen fest.
»Nett von Ihnen, dass Sie uns einen Tee bereitet haben, Frau Göbern«, sagte Justus Weigand, bemüht, das Gespräch in ein normales Gleis zu bringen.
»Ich habe mir gerade selber ein Tässchen aufgegossen, und da dachte ich mir …«
»Sehr nett von Ihnen!« Er öffnete einladend die Tür zum Gang. Die Witwe Göbern sah sich hinauskomplimentiert. »Dann will ich nicht länger stören«, sagte sie, um sich einen guten Abgang zu schaffen.
»Aber das tun Sie doch gar nicht!«, rief Arnold Scheer. »Haben Sie nicht noch ein bisschen Zeit?«
Die Witwe Göbern bedachte ihn mit dem ganzen Schmelz ihres Silberblicks. »Wenn Sie mich so fragen, Herr Scheer …«
»Wunderbar!« Arnold Scheer nahm den Paletot seines Freundes vom Bügel, drückte ihn der Wirtin in die Hand. »Dann seien Sie doch so gut und bürsten Sie Weigands Mäntelchen ein bisschen aus, ja?« Er legte den Arm um ihre mageren Schultern und schob die verdutzte Wirtin zur Tür hinaus.
Die beiden Männer lachten.
»So muss man mit der alten Schachtel umgehen«, sagte Arnold Scheer, »in diesem Punkt könntest du etwas von mir lernen!«
Es reizte Justus Weigand, dem Freund zu erklären, dass er sich solche Scherze nur deshalb erlauben konnte, weil sein Reichtum der Wirtin imponierte. Aber er sagte nur: »Ich bin nicht du!« Und fügte hinzu: »Sei vorsichtig, sie ist schon ganz wild auf dich.«
Arnold Scheer zog eine kleine Grimasse. »Mein Pech. Bei jungen Mädchen komme ich nicht an. Aber so eine alte Hexe braucht mich nur zu wittern, und schon ist es um sie geschehen.« Er nahm sein Cape vom Bett und legte es sich wieder um die Schultern.
»Also, wie ist es? Bleibt’s beim Café Greiff? Ganz unverbindlich, ja? Wenn wir uns verpassen, treffen wir uns morgen früh im Tiergarten zum Schlittschuhlaufen, beim Pavillon am großen See. Und erzähl mir bloß nicht, dass du arbeiten willst. Nach so einer Nacht wäre das ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Da kannst du recht haben«, sagte Justus Weigand und zog sich seine schwarze Jacke zurecht. »Also abgemacht: entweder – oder …«
Arnold Scheer betrachtete ihn nachdenklich. »Eines verstehe ich nicht. Du kannst anhaben, was du willst – selbst wenn deine Klamotten aussehen wie aus der Lumpenkiste gezogen, du siehst immer blendend aus! Und ich …«
Justus Weigand klopfte ihm gutmütig auf das pralle runde Bäuchlein. »Das kommt von deinem Embonpoint. Iss ein bisschen weniger, und vor allem, trink nicht so viel Bier, und du wirst sehen …«
Arnold Scheer hob abwehrend die Hände. »Hungern und dursten soll ich? Da sei Gott vor! Was sind das für lästerliche Ideen!«
»Nur ein unverbindlicher Ratschlag. Aber ganz ehrlich, mir gefällst du so, wie du bist.« Justus Weigand zog ihn liebevoll an seine Brust. »Du bist eine ehrliche alte Haut, und das ist die Hauptsache. Wenn ein Mädchen auch nur wagen sollte, etwas an dir auszusetzen, dann schick es zu mir …«
Arnold Scheer lachte. »Das könnte dir so passen! Nein, tu du dir deine Eroberungen nur allein auf. Vor allem aber … grüß mir Cousine Clementine!«
»Wird gemacht!«
Als er gegangen war, tat Justus Weigand zwei kräftige Löffel Zucker in seine Teetasse, um sich das fade helle Gebräu schmackhaft zu machen, und leerte auch die zweite – um die Witwe Göbern nicht zu kränken. Er trank stehend und ließ dabei einen bedauernden Blick durch seine Bude schweifen. Justus Weigand fühlte sich sehr unbehaglich, wenn er an das Wiedersehen mit seiner Cousine dachte, und er wünschte von ganzem Herzen, dass dieser Abend schon vorüber wäre.
Als die alte englische Uhr unten in der Diele der Villa Thielemann die neunte Stunde anzeigte, mit dröhnenden, lang nachhallenden Schlägen, empfand Clementine Hergert ganz plötzlich einen scharfen, ziehenden Schmerz in der Herzgrube.
War es die Freude der Erwartung, die sie fast schwindeln machte? Die Sehnsucht, die sie jetzt, so nahe dem Ziel, nicht länger ertragen zu können glaubte? Oder war es Beunruhigung darüber, dass Justus Weigand immer noch nicht da war? Angst, dass er all ihre Hoffnungen zerstören und am Ende nicht kommen würde?
Clementine wusste es selbst nicht, und sie unternahm auch gar nicht den Versuch, es herauszufinden. Sie war ein unsentimentales, klarblickendes, energisches Mädchen, jedenfalls hielt sie sich selbst dafür, und so weigerte sie sich, getreu der Rolle, die sie übernommen hatte, unbestimmte Gefühle ernst zu nehmen oder gar zu sezieren.
Wenn es nur etwas zu tun gäbe, womit sie sich die Wartezeit vertreiben könnte! Alle Briefe in die Heimat waren längst geschrieben. Die Höschen, Hemdchen, Schürzen und Strümpfe der Kinder lagen sauber, gebügelt und geflickt in den Kästen und Schränken, wie es sich zu Ende des Jahres gehört. Zum Lesen hatte sie jetzt keine Geduld.
Sie verließ ihr Mansardenzimmer, lauschte nach unten. Die Türglocke blieb stumm.
Aber dann war es ihr, als ob sie doch etwas hörte, ein dumpfes Stöhnen in der Stille des großen Hauses. Sie horchte auf.
Doch es war schon vorbei. Außer dem vertrauten Schnarren der alten Uhr, mit dem diese sich von der Anstrengung des Schlagens zu erholen pflegte, war nichts zu hören.
Sollte sie sich getäuscht haben? War vielleicht eines der Kinder wach geworden oder litt unter einem unruhigen Traum?
Es war ihr zwar so gewesen, als ob das Stöhnen hier oben, aus einer der Mansarden gekommen wäre. Aber das konnte nicht sein. Rosa Janowitz, das Stubenmädchen, hatte seit dem Nachmittag Ausgang, und die Köchin schlief heute unten, um in der Nähe der Kinder zu sein.
Clementine lief lautlos die schmale Hintertreppe hinab und betrat die Galerie, um die die Räume des zweiten Stockes angeordnet waren. Sie huschte in das Kinderzimmer, wo ihre Schützlinge im schwachen Schein des kleinen Nachtlichtes schliefen, und ging von Bett zu Bett. Sie beugte sich über die beiden kleinen Mädchen und zog ihre Decken zurecht.
Der achtjährige Friedrich öffnete, als sie zu ihm trat, die dunklen Augen. »Tine«, murmelte er schlaftrunken, »du bist so schön!«
Clementine errötete und lächelte über das naive Kompliment des Jungen, aber mehr noch über sich selbst, weil es ihr so wohl tat. »Das bildest du dir nur ein«, flüsterte sie und strich ihm eine Locke aus der Stirn, »ich sehe aus wie immer.«
»Ist schon das neue Jahr?«
»Erst musst du schlafen. Wenn du morgen aufwachst, ist es da.« Sie richtete sich auf und wollte zur Tür. Aber Friedrich rief sie zurück. »Tine!«
»Ja?«
»Gehst du fort?«
»Die Mamsell bleibt nebenan. Die ganze Nacht. Schlaf schön, Fritzchen.«
Clementine huschte wieder in ihr Zimmer hinauf. Über der Waschschüssel hing ein Spiegel, in welchem sie sich lange betrachtete. Das war etwas ganz Ungewohntes für sie, denn im Allgemeinen war sie mit ihrer Toilette im Nu fertig, und jeder weitere Aufenthalt vor dem Spiegel schien ihr Zeitverschwendung und Trödelei, ja geradezu Charakterschwäche. Sie schämte sich auch jetzt ein wenig, als ob sie etwas nicht ganz Anständiges täte. Dennoch konnte sie sich nicht von ihrem Spiegelbild trennen, betrachtete sich sehr aufmerksam, mit leicht gerunzelter Stirn, die Lippen fest aufeinandergepresst. – War sie schön?
Es gab Männer, daheim in Görzen, die ihr das gesagt hatten. Es hatte mehr als einen gegeben, der sie gern geheiratet hätte. Aber sie hatte abgelehnt. Nicht, weil sie hoch hinaus wollte, wie böse Zungen behaupteten, sondern weil sie sich schon als halbes Kind entschieden hatte – für den einen Mann, den sie nicht vergessen konnte.
Sie liebte Justus Weigand. Sie liebte ihn nicht, weil er studierte, nicht, weil er Doktor wurde. Auch wenn er sein Studium hätte aufgeben müssen oder gar in Elend und Not geraten wäre, es hätte sie immer zu ihm hingezogen. Es hatte Zeiten gegeben, da sie davon geträumt hatte, dass eine schwere Krankheit oder ein anderer Schicksalsschlag ihn aus der Bahn werfen möge, damit sie zu ihm eilen, ihn pflegen und ihn seelisch hätte aufrichten müssen.
Aber Clementine wusste, dass ein Mädchen nicht ihres Charakters, nicht der Festigkeit ihrer Haltung wegen geheiratet wurde. Viel wichtiger war, dass man etwas mit in die Ehe bringen konnte. Ersparnisse oder eine Mitgift. Sie hatte Geld, wenn auch nicht viel, das Erbe ihrer früh verstorbenen Eltern, das sie nie hatte anzugreifen brauchen. Für Görzen war es eine beachtliche Summe gewesen, aber hier, in der Großstadt, schien es ihr ein armseliger Bettelpfennig. Ein studierter Mann wie Justus Weigand durfte ganz andere Ansprüche stellen. Und deshalb beugte sich Clementine Hergert am Abend des seit Langem ersehnten und sorgfältig geplanten Wiedersehens dem Spiegel entgegen und fragte sich, ob ihre äußeren Reize dazu angetan seien, das Herz eines Mannes zu erobern.
Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Ihre großen, dunklen Augen gefielen ihr, und auf ihr schweres, schwarzes Haar, das sie in der Mitte gescheitelt und in zwei dicken Zöpfen um den Kopf gewunden trug, war sie stolz. Aber sonst? Die kräftige, gerade Nase mit den beweglichen Nüstern war nicht hässlich. Aber das Kinn war zu ausgeprägt, die Lippen zu hart, zu gespannt. Sie öffnete den Mund, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. So war es schon besser. Aber immer noch wirkte ihr Gesicht streng.
Hätte sie nicht doch die Brennschere benutzen sollen, wie Rosa Janowitz ihr geraten hatte? Aber nein, sie konnte damit nicht umgehen, und dann, es hätte auch nicht zu ihr gepasst.
»Ach was, Firlefanz«, sagte sie laut, als könnte sie sich durch ihre energische Stimme selbst zur Ordnung rufen.
Und in diesem Augenblick hörte sie es wieder, das dumpfe, gequälte Stöhnen, und den Bruchteil einer Sekunde lang kam es ihr fast so vor, als ob sie selbst es ausgestoßen hätte. Sie hielt den Atem an und lauschte. Sie hörte das eigene Herz kräftig schlagen – und dann wieder den qualvollen Ton.
Er schien von nebenan zu kommen. Aus der Kammer von Rosa Janowitz. Und wenn sie sich ihrer Sache auch durchaus nicht sicher war, so war sie doch alarmiert genug, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Sie verließ ihr Zimmer und klopfte an der anderen Tür. Kein Laut antwortete von drinnen.
Clementines anerzogene Zurückhaltung und ihr sehr ausgeprägtes Verantwortungsgefühl kämpften miteinander. Dann drückte sie die Klinke nieder. Sie wusste, dass diese Tür nicht abgeschlossen sein konnte, denn dem Personal im Hause Thielemann, zu dem auch sie gezählt wurde, war der Luxus eines eigenen Schlüssels nicht vergönnt.
In der Kammer war es finster, aber Clementine spürte sofort, dass sie nicht leer war. Die Wärme hier drinnen hatte etwas Lebendiges, sie war geschwängert von einem tierhaft herben Geruch.
»Rosa«, sagte sie – und nach einer kleinen Pause noch einmal: »Rosa!«
Als sie keine Antwort erhielt, ging sie entschlossen auf die Wand zwischen ihrem und Rosas Zimmer zu, drehte an der Gaslampe, die genau gegenüber ihrer eigenen angebracht war, und entzündete sie.
Der Schein der Lampe erfüllte den Raum und fiel auf Rosa, die zusammengekrümmt auf ihrem zerwühlten Bett lag.
»Rosa, was ist denn? Ich denke, du bist schon lange weg!«, rief Clementine Hergert erschrocken. Obwohl sie zwei oder drei Jahre jünger war als das Hausmädchen, duzte sie sie ganz selbstverständlich, denn Rosa war einfacher Herkunft, die Tochter eines Landarbeiters in der schlesischen Heimat.
»Gehen Sie!«, rief Rosa. »Lassen Sie mich in Ruhe! Was wollen Sie denn in meinem Zimmer, Fräulein?« Sie umklammerte das Federbett mit beiden Händen, zog es bis zum Kinn.
Aber Clementine war so leicht nicht einzuschüchtern. »Hast du Schmerzen?«
»Ich will, dass Sie mich in Ruhe lassen!«, fauchte Rosa. Ihre Nase ragte spitz aus dem eingefallenen Gesicht, die Haut wirkte grünlich, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, die seltsam matt und glanzlos waren.
Ein krampfartiger Anfall überkam sie; sie wand sich vor Qual. Dabei zogen sich ihre Lippen über die Zähne zurück, was ihr ein fast totenkopfähnliches Aussehen gab.
Plötzlich bekam es Clementine mit der Angst zu tun. Sie wäre am liebsten davongelaufen oder hätte laut um Hilfe gerufen. Aber beides verbot sich von selbst. Sie konnte Rosa nicht so allein lassen, und genauso unmöglich wäre es gewesen, Herrn und Frau Thielemann, die sich jetzt unten in ihrem Schlafzimmer für den festlichen Abend umzogen, die Stimmung zu verderben.
Rosas Gesicht glättete sich wieder. »Es ist … schon vorbei!«
Clementine trat ganz nahe an das Bett. Sie legte Rosa die Hand auf die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war. »Fieber hast du jedenfalls nicht«, stellte sie mit deutlicher Erleichterung fest.
»Es ist …«, sagte Rosa. »Sie verstehen das nicht, Fräulein. Gehen Sie ruhig, lassen Sie mich allein. Morgen werde ich wieder ganz gesund sein.«
»Hast du das denn schon öfters gehabt?«
»Ja«, sagte Rosa, »o ja, Fräulein.« Wieder erfolgte ein Anfall, und wieder verzerrte sich ihr blutloses Gesicht zu einer schauerlichen Grimasse.
»Ich werde einen Arzt holen«, entschied Clementine und wandte sich zur Tür.
»Nein!« Rosa schrie es mit sich überschlagender Stimme heraus. »Keinen Arzt! Ich bin nicht krank, ich will nicht!«
»Aber natürlich bist du krank, Rosa, mir kannst du doch nichts vormachen, du hast furchtbare Schmerzen.«
»Und glauben Sie, die würden besser werden, wenn man mich hinauswirft? Wer duldet schon ein krankes Mädchen! Thielemanns nicht, die bestimmt nicht!«
»Die gnädige Frau ist sehr gut«, erwiderte Clementine unsicher.
»Aber er nicht! Er ist … ein Teufel! Er wäre ja froh, wenn er mich rauswerfen könnte! Und dann? Was dann?« Wieder ein neuer Anfall; Rosa stöhnte keuchend. »Oh, mein Gott, wie lange denn noch? Mach ein Ende … lass ein Ende sein!«
Clementine stand ganz starr, die Nägel in die Handflächen gebohrt, und wartete, bis der Anfall vorüber war. Ein leiser Abscheu vor dieser nach Schmerz und Schmutz riechenden Kreatur erfüllte sie, gleichzeitig aber auch ein tiefes Mitleid.
»Dein Leben, Rosa«, sagte sie, »nichts ist wichtiger als dein Leben!«
»Daran stirbt man nicht, Fräulein, das macht jede einmal durch! Gehen Sie doch, bitte, gehen Sie!«
Clementine wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Hätte Rosa sie darum gebeten, wäre sie geblieben. Aber ganz offensichtlich lag dem kranken Mädchen doch nichts an ihrer Gesellschaft – und wie hätte sie auch helfen können!
Nein, es war zu viel verlangt, dass sie ausgerechnet diesen Abend, auf den sie sich seit Monaten gefreut und auf den sie seit Jahren hingearbeitet hatte, wegen dieses Zwischenfalls opfern sollte.
Siedend heiß wurde ihr bewusst, dass sie, während sie bei Rosa war, nicht auf die Haustürklingel geachtet hatte, sie wohl auch gar nicht hätte hören können. Vielleicht war Justus Weigand schon da, vielleicht stand er in diesem Augenblick unten und wartete darauf, eingelassen zu werden. Aber sie konnte ja doch nicht gut erwarten, dass die gnädige Frau selbst öffnen ging, zumal Frau Thielemann sicherlich noch nicht fertig angezogen war.
»Gut, Rosa, ganz wie du willst!«, sagte sie hastig. »Ich lasse dich also allein! Aber wenn ich heute Nacht nach Hause komme, darf ich dann noch einmal nach dir sehen?«
»Das wird nicht nötig sein, Fräulein«, konnte Rosa gerade noch sagen, dann packte sie ein neuer Anfall, dessen Ende Clementine nicht mehr abwartete.
Sie verließ die Kammer, huschte die Hintertreppe hinunter, öffnete die Tür zur Galerie. Sie stand lauschend, mit angehaltenem Atem und gespannter Erwartung.
Kein Klingelzeichen ertönte.
Wie lange war sie bei Rosa gewesen? Sie wusste es nicht. Aber doch sicherlich nur wenige Minuten. Es war nicht möglich, dass Justus Weigand inzwischen gekommen und, da niemand geöffnet hatte, wieder gegangen war.
Clementine presste beide Hände gegen ihr heftig schlagendes Herz, als könnte sie es damit besänftigen. Nein, nein, das durfte nicht sein!
Dorothee Thielemann war seit mehr als zehn Jahren verheiratet, und dennoch war es ihr immer noch quälend unangenehm, sich in der Gegenwart ihres Gatten umzuziehen. An gewöhnlichen Tagen vermied sie das, indem sie morgens erst aufstand, wenn er das Haus längst verlassen hatte, und abends vor ihm zu Bett ging. Aber bei gewissen Gelegenheiten, wie etwa heute, war es nicht zu umgehen, und das bedeutete für sie eine wahre Pein.
Otto Thielemann wusste das – und Frau Dorothee war überzeugt, dass er gerade deshalb die Situation ausnutzte und genoss. Das eheliche Schlafzimmer war sehr geräumig. Auf der einen Seite schloss sich ein in weißem Marmor gehaltenes Bad in der Größe eines mittleren Festsaales an, auf der anderen Seite ein Ankleidezimmer, ebenfalls von beträchtlichen Ausmaßen. Aber Otto Thielemann dachte nicht daran, den unausgesprochenen Wunsch seiner Frau zu erfüllen und sie, wenigstens bei den diskreteren Verrichtungen, allein zu lassen. Er wandte nicht einmal den Kopf zur Seite oder senkte die Lider, sondern betrachtete sie unentwegt aus seinen eng beieinanderstehenden schwarzen Augen, unter deren stechendem Blick sie sich herabgewürdigt und elend fühlte.
Sie tat so, als merkte sie es nicht, dass er sie beobachtete, sah konsequent an ihm vorbei ins Leere, und doch war ihr auf geheimnisvolle Weise in jedem Augenblick bewusst, was er tat.
Jetzt stand er da in indezenter Nacktheit. Dorothee Thielemann wurde ganz übel. Sie nestelte an den Verschlüssen ihres Korsetts herum, zog die Schnüre fester, alles mit gesenkten Wimpern, mit fest geschlossenen Augen; denn sie liebte auch ihre eigene Nacktheit nicht.
Sie war sehr schlank, ihr Fleisch, dieses fast durchscheinende weiße Fleisch, von blauen Adern durchzogen, reichte nicht aus, die Knochen ganz zu bedecken, diente gewissermaßen nur als Hülle ihres zarten Skeletts. Sie hätte gewiss keines Korsetts bedurft, trug es nur der Mode und dem Anstand zuliebe. Ihre Taille war so schmal, auch heute noch nach zehn Jahren Ehe mit fünf Geburten – zwei ihrer Kinder waren früh gestorben –, dass Otto Thielemann sie mit beiden Händen umspannen konnte.
Auf ihrem überlangen schlanken Hals saß wie auf schwankendem Stängel das Köpfchen, sehr anmutig, sehr edel. Ihr schneeweißes kleines Gesicht wirkte durch die weit aufgerissenen großen Augen stets verängstigt, geradezu erschrocken, auch wenn kein Anlass dazu bestand.
»Soll ich dir beim Schnüren helfen, Mausi?«, fragte Otto Thielemann mit geschmeidiger Stimme.
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen – erst in dieser Sekunde war ihr bewusst geworden, dass er hinter ihr stand. Wie lange schon? Eine feine rote Welle lief wie ein warmer Hauch über ihre schneeweiße Haut – von dem kindlichen Busen über den Hals, das Kinn und hinauf bis zur Stirn.
»Nein, nein, danke«, stammelte sie.
»Lass mich nur, ich verstehe mich darauf!« Er legte seine gelbliche, sehr gepflegte Hand mit dem behaarten Rücken auf ihre Schulter.
Es war ihr, als wenn ihr Fleisch zu Eis erstarrte. Sie saß steif und bewegungslos.
Er tat, als merkte er ihren Widerstand gar nicht. »Nun, wo muss ich ziehen?«
»Ich möchte nicht … bitte, Otto, ich möchte nicht!«, sagte sie verzweifelt. »Das ist … keine Beschäftigung für einen Mann!«
Sie wusste, er konnte hartnäckig sein, und sie befürchtete schon das Schlimmste. Aber anscheinend hatte er diesmal nur einer plötzlichen Laune nachgegeben. Er zog seine Hand zurück.
»Dann klingle bitte nach einem Mädchen. Es ist nicht mit anzusehen, wie ungeschickt du dich abplagst«, sagte er kalt.
Der kurzen Erleichterung folgte ein Gefühl tiefer Demütigung. »Das geht nicht, heute nicht«, sagte sie, »und außerdem … ich bin ja schon fertig!« Sie band die Schnüre ihres Korsetts im Kreuz zu einer festen Schleife, die sie verknotete, erhob sich rasch und stieg in ihr Abendkleid, einen Traum aus braunem Samt, Ekrüseide und Spitzen, der einer statuösen Frau königlich gestanden hätte, sie aber fast zu erdrücken schien. Außerdem machten die stumpfen und gedeckten Farben sie alt.
Jetzt, da sie darangehen musste, die unzähligen Knöpfchen auf dem Rücken zu schließen, hätte sie die Hilfe ihres Gatten brauchen können, aber sie wagte es nicht mehr, ihn darum zu bitten; sie machte sich mit verzweifelter Entschlossenheit selbst an die Arbeit.
Er stand vor dem großen Spiegel, zupfte sich die weiße Schleife vor dem »Vatermörder« zurecht, dem eckigen hohen Kragen, und beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
»Wo ist Rosa?«, fragte er.
»Ich habe ihr Ausgang gegeben.«
»Und Clementine?«
»Sie wird von ihrem Vetter abgeholt.«
Er betrachtete prüfend den schnurgeraden Scheitel, der sein lackschwarzes Haar genau in der Mitte teilte. »Findest du nicht, dass du dem Personal gegenüber ein bisschen zu großzügig bist?«
»Aber, Otto, gerade heute …«
»Gerade heute wünsche ich, dass unsere Kinder nicht allein bleiben!«
»Die Mamsell …«
Er fiel ihr ins Wort. »… ist für die Küche und nicht für die Kinder da! Ich werde Clementine jetzt rufen, und du wirst ihr mitteilen, dass sie heute Abend zu Hause bleiben muss!«
»Nein, Otto«, rief Frau Dorothee ganz entsetzt, und ihre Augen wurden, wenn überhaupt möglich, noch größer, »das kann ich nicht, das darfst du nicht von mir verlangen! Sie hat sich so sehr auf das Wiedersehen mit ihrem Vetter gefreut, und ich habe ihr fest versprochen …«
»Dann nimmst du dein Versprechen eben zurück und vertröstest sie auf ein anderes Mal!«
»Nein, Otto, das bringe ich nicht über die Lippen, das musst du ihr schon selbst sagen!«
Otto Thielemann setzte sich auf einen der kleinen Sessel, zwängte seine Füße in die glänzenden schwarzen Stiefeletten. Er hatte durchaus nicht die Absicht, Clementine eine solche Enttäuschung zu bereiten, denn er legte sehr viel Wert darauf, beim Personal beliebt zu sein, als ein leutseliger, wenn auch gestrenger Herr zu gelten.
»Was ist dieser sogenannte Vetter überhaupt für ein Bursche?«, fragte er.
»Ein Medizinstudent.«
Otto Thielemann schnalzte mit der Zunge. »Also ein versoffenes Genie. Ich hätte der guten Clementine schon etwas mehr Verstand zugetraut.«
»Er ist ein sehr anständiger und sehr strebsamer junger Mann, jedenfalls nach ihren Erzählungen. Ich werde ihn mir aber natürlich selber ansehen, wenn er kommt.«
Otto Thielemanns stechende Augen funkelten vor Belustigung. »Und wenn er deinem Geschmack nicht entspricht, wirst du ihn zurückschicken?«.
Frau Dorothee schob das Kinn vor. »Jawohl, das werde ich tun! Das Mädchen ist mir von seiner Mutter anvertraut, und ich fühle mich für sie verantwortlich.«
»Wie rührend, meine Liebe! Wenn du dich für deine Familie nur halb so verantwortlich fühlen würdest wie für diese Proleten …«
»Pfui!«, rief sie. »Das ist ein sehr hässliches Wort! Willst du mir etwa vorwerfen, dass ich mich um die Kinder nicht genug kümmere?«
»O doch, das tust du! Ich bin es, den du vernachlässigst!« Die Türklingel schrillte.
Herr und Frau Thielemann sahen sich an. »Das ist er!«, rief sie.
Otto Thielemann lief zur Tür, brüllte in die riesige Diele hinaus: »Clementine!«
Aber im selben Augenblick rannte diese schon die Galerie entlang und an ihm vorbei, mit strahlenden Augen und so viel Schwung, dass er ganz überrascht war.
»Donnerwetter«, sagte er und zwirbelte nachdenklich seine rechte Schnurrbartspitze. »Die Kleine hat ja Temperament! Wer hätte das gedacht!«
Justus Weigand hatte einen netten kleinen Marsch hinter sich gebracht. Er war von der Friedrichstraße her zu Fuß zum Tiergartenviertel gelaufen; ihm machte das nichts aus, er war es gewohnt, weite Strecken zu bewältigen.
Die Thielemannsche Villa war nicht schwer zu finden gewesen, denn die Von-der-Heydt-Straße war noch zum größten Teil unverbaut, und nach der Beschreibung, die ihm Cousine Clementine in ihrem letzten Brief gegeben hatte, erkannte er den imposanten, hochmodernen Bau mit den vielen, teils überdachten, teils offenen, teils eckigen und teils runden Balkons sofort. Er stand, ein wenig von der Straße abgerückt, in einem Vorgarten, durch den man an der linken und rechten Flanke des Hauses vorbei in den dahinter liegenden parkähnlichen Garten gelangte.
Energisch zog er an der Klingel, trat einen halben Schritt zurück und erwartete, dass nun in dem halbdunklen Fenster über der schweren Eichentür mit den Messingbeschlägen Licht aufscheinen würde.
Aber stattdessen blieb es, auch als die Tür aufgerissen wurde, drinnen dunkel, und der Schein der Straßenlampe fiel Clementine gerade ins Gesicht – einer Clementine, die so sehr der kleinen Spielgefährtin vergangener Tage glich, dass er ganz überrascht war. Die runden schwarzen Augen waren dieselben geblieben, auch die warme braune Haut und die starken weißen Zähne. Es fehlten nur die schweren braunen Zöpfe, die ihr immer so lustig um den Kopf geflogen waren – aber nein, selbst die waren noch da, sie hatte sie nur hochgesteckt.
»Tina!«, rief er und breitete die Arme aus.
Eine Sekunde lang schien es, als wollte sie sich ihm an die Brust werfen.
Aber dann rief eine dünne Frauenstimme aus dem Inneren des Hauses: »Clementine, warum machen Sie denn kein Licht an?«
»Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau!« Clementines Lächeln erlosch. »Ich hatte es so eilig … ich …« Sie wich ins Haus zurück.
Als Justus Weigand hinter ihr eintrat, schimmerten die marmorverkleideten Wände des Eingangsraums im hellen Licht der Gaslampen. Clementine wirkte wie verzaubert. Ihre Lippen waren schmal geworden, sie senkte die Wimpern über die schönen Augen, öffnete eine weißlackierte, mit Ornamenten reich verzierte Tür.
»Möchtest du nicht ablegen?« Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. »Ich dachte, wir gehen gleich.«
»Ja, schon. Aber meine Gnädige möchte dich sprechen.«
Er war überzeugt, ein sozial denkender Mensch zu sein; dennoch – oder gerade deswegen – störte ihn ihre Ausdrucksweise.
»Warum?«, fragte er. »Ich kenne Frau Thielemann ja gar nicht, und ich wüsste nicht, worüber ich mich mit ihr unterhalten sollte.«
»Das weißt du schon«, sagte sie und nahm ihm den Spazierstock aus der Hand, »ach, sei doch nicht so.«
Obwohl er sich keiner Schuld bewusst war, hatte er plötzlich das Gefühl, sich schlecht zu benehmen. Das reizte ihn. Er war nahe daran, ihr seinen Stock zu entreißen und wieder zu gehen.
Aber dann merkte er, dass er im Begriff stand, sich wie ein ungezogener Junge zu benehmen – ein durch das Wiedersehen mit der Cousine hervorgerufener Rückfall in die Gepflogenheiten der Kindheit? – und nahm sich zusammen. Er ließ sich von Clementine aus dem Paletot helfen, gab ihr den weißen Schal, den er sich zur Feier des Abends um den Hals geschlungen hatte, nahm den Chapeau claque ab, legte seine Handschuhe hinein.
»Ich bin sehr froh, dass du gekommen bist«, sagte sie fast schüchtern.
Ihr Anblick erinnerte ihn an daheim, an die Mutter, an das Dorf, an viele liebe und wehe Dinge, die alle so unendlich weit zurücklagen. Aber er konnte dieses heftige und doch ganz unbestimmte Gefühl nicht in Worte kleiden. »Ich hatte es dir doch versprochen«, sagte er stattdessen und kam sich selbst unbeholfen vor.
Sie hatte seinen Paletot aufgehängt. Außer der offenen Garderobe gab es noch einige verschlossene Schränke für die Mitglieder der Familie. Auch dieser Raum war ganz in weißem Marmor gehalten, aus dessen anthrazitgrauen Adern sich mit ein wenig Phantasie Gesichter und Landschaften erkennen ließen. Zwischen den Schränken war ein marmornes Waschbecken eingelassen, mit einem Spiegel darüber, in den er aber keinen Blick warf. Er fuhr sich mit allen fünf Fingern durch sein braunes, weiches Haar, eine Geste, mit der er das Gegenteil dessen bewirkte, was er hatte erreichen wollen, nämlich seine Frisur in Ordnung zu bringen.
Clementine hätte ihn beinahe darauf aufmerksam gemacht, unterließ es dann aber doch. Er hatte es immer gehasst, zurechtgewiesen zu werden, und er sollte nicht glauben, dass es sie störe, wenn er sich vor Frau Thielemann ungünstiger präsentierte als notwendig gewesen wäre.
Wie eine zerbrechliche Porzellanfigur saß die Dame des Hauses inmitten der riesigen Diele, von der aus eine breite geschwungene Treppe in die Galerie des zweiten Stocks hinaufführte. Frau Dorothees große erschrockene Augen passten nicht zu der steifen, gebieterischen Haltung, mit der sie ihn empfing. Sie reichte ihm eine schmale Hand, ohne Kraft und ohne Wärme, forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Er setzte sich ihr gegenüber auf einen der hochlehnigen gedrechselten Stühle, schob Zylinder und Handschuhe unter den Sitz.
Ein Frage-und-Antwort-Spiel begann, das Justus Weigand ebenso abwegig wie lächerlich vorkam. Mehr als einmal hatte er eine heftige oder ironische Bemerkung auf der Zunge, aber jedes Mal, als ob sie seine Gedanken lesen konnte, traf ihn ein flehender Blick von Clementine, und er sagte, was man von ihm erwartete.
»Jawohl, gnädige Frau … Nein, gnädige Frau … Natürlich, gnädige Frau … Im nächsten Jahr, gnädige Frau… Aber ganz gewiss, gnädige Frau …«
Und dann war es endlich überstanden. Sehr zögernd, als wenn sie einen inneren Kampf noch nicht ganz ausgefochten hätte, reichte Dorothee Thielemann der Erzieherin ihrer Kinder einen Hausschlüssel. »Aber, bitte, trotz allem, Fräulein, Sie versprechen mir, dass es nicht zu spät wird!«
»Sie können sich auf mich verlassen, gnädige Frau!« Clementine war aufgestanden, ja beinahe aufgesprungen, als wollte sie ihrer Dienstherrin den Schlüssel aus der Hand reißen. Aber Frau Thielemann hielt ihn so dicht vor ihrer Brust, als ob sie sich nicht davon trennen könnte. »Da – so nehmen Sie ihn doch!«, sagte sie ungeduldig und reichte ihn gleichzeitig, immer noch zögernd, hin.
Clementine griff zu. »Vielen Dank, gnädige Frau!« Sie deutete einen kleinen Knicks an, was, wie Justus Weigand fand, bei diesem großen, starken Mädchen ungeschickt und unpassend wirkte.
Frau Thielemann erhob sich. »Sie werden gut auf sie aufpassen, Herr Weigand, nicht wahr? Ich verlasse mich auf Sie!«
»Selbstverständlich, gnädige Frau, ich werde meine Cousine heil und gesund wiederbringen.«
Justus Weigand beugte sich über Frau Thielemanns blutleere, matte Hand und wollte einen Kuss andeuten – eine Höflichkeitsgeste, die ihm ganz und gar nicht lag und zu der er sich nur Clementine zuliebe aufraffte –, aber er kam gar nicht dazu, denn Frau Thielemann zog ihre Hand so rasch zurück, als wenn sie sich verbrannt hätte.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Fräulein«, sagte sie.
Justus bückte sich, zog seinen Chapeau claque unter dem Stuhl hervor, nahm die Handschuhe heraus und folgte seiner Cousine durch die breite Glastür in die Garderobe. Sie band ihm liebevoll den weißen Schal um den Hals, half ihm in den Paletot, von dessen Samtkragen sie ein Stäubchen wegpustete.
»War es sehr schlimm?«, fragte sie lächelnd und verstaute den kostbaren Hausschlüssel in einer roten, kunstvoll gehäkelten und mit silbernen Perlen bestickten Beuteltasche.
Er beantwortete diese Frage nicht direkt, sagte stattdessen: »Ich bewundere dich, dass du das aushältst.«
»Wenn es um das tägliche Brot geht«, sagte sie heftiger, als nötig gewesen wäre, »kann man vieles.«
Er wusste, dass sie recht hatte, ärgerte sich umso mehr, dass sie ausgerechnet ihm damit kommen musste. »Hast du das nötig?«
Ihr Gesicht wurde überraschend weich. »Wie hätte ich denn ohne Thielemanns nach Berlin kommen können?«, fragte sie zurück.
Er hatte das Gefühl, auf glatten Boden zu geraten. »Jedenfalls bin ich sehr froh, dass du jetzt hier bist«, sagte er ausweichend, »und gut siehst du aus!«
Sie zog sich das dicke wollene Dreiecktuch enger um die Schultern. »Mach dich nicht lustig über mich, ich bin nur ein altes Mädchen vom Lande! Aber du … du bist richtig stattlich geworden! Wenn Tante Anna dich so sehen könnte!«
Tante Anna war seine Mutter, und ihre Erwähnung berührte ihn tiefer, als er es für möglich gehalten hätte. Seit Jahren, seit vielen Jahren war er niemandem mehr begegnet, der seine Eltern kannte und mit denen er über sie hätte sprechen können.
»Wie geht es ihr?«, fragte er. »Ihre Briefe klingen immer so fröhlich, dass ich manchmal beunruhigt bin.«
»Beunruhigt?«, fragte sie erstaunt und öffnete die Haustür. Ein Schwall eisiger Luft wogte ins Haus; die Gaslampen flackerten.
»Verstehst du das denn nicht? Sie schreibt mir wie einem Kind, das man nicht mit ernsten Dingen belasten will, weil man ja weiß, dass es das doch nicht versteht. Was wirklich passiert ist, muss ich immer zwischen den Zeilen lesen.«
Clementine lachte, hängte sich bei ihm ein. »So ist sie nun mal. Für sie bist du immer noch das Jungchen. Aber du kannst unbesorgt sein, sie wird mit dem Leben noch ganz gut fertig. Besser als sonst jemand, den ich kenne.«
»Und Vater?«, fragte er.
»Erklärt noch immer alles mit erhobenem Zeigefinger. Er merkt nicht, dass das für seine Familie manchmal recht schwierig zu ertragen ist. Das Lehren ist ihm nun mal in Fleisch und Blut übergegangen.«
»Aber er ist gesund?«
»Bis auf seine Schmerzen in den Beinen. Aber aus denen macht er sich nicht viel. Wenn unser alter Doktor Kumpmann – der ist übrigens auch schon reichlich klapprig geworden – ihm etwas dagegen verschreiben will, sagt er immer: Lassen Sie nur, Herr Doktor, das schaffen Sie doch nicht mehr weg. Warten wir lieber, bis mein Sohn ausstudiert hat und wieder heimkommt. Dann wird er uns schon zeigen, wie man mit so einem Wehwehchen fertig wird!«
»Er rechnet also fest damit, dass ich mich in Görzen oder Umgebung niederlasse?«, fragte Justus Weigand einigermaßen beklommen.
Sie verhielt den Schritt, sah ihn von der Seite an. »Willst du das nicht?«
»Ehrlich gestanden, ich weiß noch nicht recht …« Er löste sich aus ihrem Griff, der seine Bewegungsfreiheit einengte. »Mich zieht einfach nichts mehr nach Hause, verstehst du das?«
»Ich habe gleich gemerkt«, sagte sie leise, »dass du ein richtiger Großstädter geworden bist.«
»Großstädter!«, wiederholte er. »Nein, du siehst das ganz falsch. Ich bin nicht vergnügungssüchtig, wenn du das meinst … herrje, ich kann es ja an den Fingern abzählen, wann ich in all den Jahren meines Studiums mal bummeln war, dafür hätte ich auch, selbst wenn ich es wollte, gar kein Geld! Es ist einfach so: Wenn ich mich auf dem Land niederlasse, dann bedeutet das das Ende meiner wissenschaftlichen Karriere … Nein, ich bin nicht ehrgeizig, sondern – ich könnte einfach nie mehr weiterkommen, verstehst du? Da, wo ich mit dem Studium geendet hätte, wäre Schluss. Es käme nie, nie mehr etwas dazu … Und erzähle jetzt nur nicht, dass man auch aus medizinischen Zeitschriften und Büchern lernen kann!« Er hatte sich so in Eifer geredet, dass er sich, obwohl die Winternacht bitterkalt war, mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischen musste.
»Das ist nicht so schwer zu begreifen«, sagte sie ruhig.
Er blieb stehen, packte sie bei den Schultern. »Clementine, du bist ein wundervolles Mädchen! Glaubst du, dass auch Vater und Mutter es verstehen würden?«
Sie lächelte schwach. »Was wird ihnen anderes übrig bleiben?«
Er ließ sie los. »Das war eine schlechte Antwort. Ich möchte sie nicht vor ein Fait accompli stellen, ich möchte ihre innere Zustimmung haben. Clementine, wenn du wieder nach Görzen zurückkommst …«
Sie fiel ihm ins Wort. »Das wird in absehbarer Zeit nicht geschehen.«
»Du willst für immer hier in Berlin bleiben?«
»Wundert dich das so? Du willst es doch auch – ein Grund mehr für mich.«
»Ich bin ein Mann«, sagte er, »bei einem Mann ist doch das etwas ganz anderes!«
Clementines Lippen spannten sich. »Diese Einstellung, Justus, passt nun aber gar nicht zu dir. Du bist doch sonst so sehr für die Gleichberechtigung aller Menschen und für den sozialen Fortschritt.«
»Woher weißt du das?«, fragte er verblüfft.
Sie lächelte. »Ich habe deine Briefe eben sehr genau gelesen, alle Briefe, die du nach Görzen geschrieben hast. Ein bisschen bist du ja wie Tante Anna. Du hast auch mit der Wahrheit hinter dem Berg gehalten, um niemanden aufzuregen, aber es war deutlich genug zu erkennen, was du denkst und wie du fühlst.«
»Und Vater und Mutter haben es nicht gemerkt?«