Eine Melange zum Verlieben - Fiona Fellner - E-Book
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Eine Melange zum Verlieben E-Book

Fiona Fellner

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Beschreibung

Statt ihre Promotion mit Bravour abzuschließen, kellnert Katie im Wiener Kaffeehaus Schopenhauer und träumt vom geheimnisvollen neuen Gast an Tisch 15. Doch als ihre Stammgast-Freundinnen Lisi und Elena sich in die Schwärmerei einmischen, gerät Katies sorgsam gepflegtes Schopenhauer-Universum in Gefahr. Der Neue scheint nicht der zu sein, für den die Freundinnen ihn halten. Plötzlich ist alles möglich: Freund, Feind, Liebhaber, Geheimagent, Mafioso … Katie muss sich entscheiden: Will sie weiter träumen oder die Wahrheit erfahren?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fiona Fellner

Eine Melange zum Verlieben

Kaffeehaus-Romanze

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Satz: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © VICHIZH / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3180-2

Widmung

Für Laila, Dina und Levke – und alle guten Freundinnen da draußen

Karte

Vorbemerkung

Obwohl es das charmante Café Schopenhauer in der Staudgasse 1 wirklich gibt (überzeugen Sie sich selbst!), sind Personen und Handlung in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Zitat

Das Schicksal

mischt die Karten,

wir spielen.

Arthur Schopenhauer

Erwischt

»Ist es wegen mir oder wegen ihm?«

Lisi setzte sich mit Schwung auf den Hocker an der lang gezogenen Bar des Café Schopenhauer. Ihr kinnlanges, kaschmirrot gefärbtes Haar pendelte von links nach rechts.

Sie zog eine einzelne, fein gezupfte Augenbraue in die Höhe und nickte mit dem Kopf in Richtung zweite Sitzkoje links neben dem Eingang des Wiener Kaffeehauses, als ob Katie nicht genau gesehen hätte, wie Lisi beim Anmarsch auf die Bar eben diesen bedauernswert leeren Platz mit mehr als einem kurzen Blick gemustert hatte …

»Wie bitte?« Katie sah auf das Glas in ihrer Hand und rieb mit dem Handtuch darüber. Sie wünschte, sie könnte ihre Bedenken genauso leicht wegwischen wie die Wasserflecken am Glasrand.

»Na, ob es meinetwegen oder seinetwegen ist?«

»Was jetzt?«

»Du polierst ein sauberes Glas.«

Katie hielt inne.

»Das ist mein Job.« Sie legte das Handtuch beiseite, stellte das Corpus Delicti hinter sich ins Regal und verkniff sich, zum nächsten Glas aus dem offen stehenden Geschirrspüler zu greifen.

Lisi verdrehte die Augen. »Herzipinkerl, immer wenn dir etwas gegen den Strich geht, polierst du wahllos Gläser.«

»Was sollte mir gegen den Strich gehen?«

»Na, dass er nicht da ist. Es ist Mittwochnachmittag.«

Konnte Lisi ihn wirklich bemerkt haben? Aber wie …? Er war der unauffälligste Gast im Schopenhauer. Okay, ihr war er aufgefallen. Doch das war etwas anderes. Sie arbeitete hier.

Vielleicht meinte Lisi jemand anderen. Vielleicht hatte sie –

»Der Typ in Schwarz.«

Mist. Sie hatte ihn entdeckt. Das schmeckte Katie nicht. Denn Lisi war so verwegen wie der Schwung, mit dem sie sich seit eineinhalb Jahren in ihren Business-Röcken und Seidenblusen auf den Barhocker an die Schopenhauer-Theke setzte: ungewöhnlich, unerwartet, unberechenbar. Sie war ein auf 1,59 Meter konzentriertes, minimal molliges Energiebündel mit einem Lippenstift, der – wie ihre mattierten Pumps – auf ihren rötlichen Haarton abgestimmt war. Ihre strahlend blauen Augen bildeten einen irritierenden und gleichzeitig umwerfenden Kontrast dazu.

Wenn Lisi so straight, tough und beherzt das Schopenhauer betrat und sich auf den Barhocker schwang, hatte Katie sofort den 50er-Jahre-Song »I’m A Woman« von Peggy Lee im Ohr, der so herrlich absurd die unmöglichsten Alltagsaufgaben aufzählt, die aus einem einzigen Grund machbar sein sollen: weil man »a Woman« ist.

»Also?«, fragte Lisi. »Was ist mit ihm?«

»Keine Ahnung, wen du meinst.« Katie griff zum Filterkaffee, goss sich selbst und Lisi eine Tasse ein. So wie immer. Kommando: Ablenken. Back to normal. Hoffentlich.

Erwin, der Besitzer des Schopenhauers, sah es zwar nicht gern, dass Katie mit ihrer »Bargesellschaft« den Filterkaffee trank, kostenlos und so gut wie jeden Nachmittag in der Woche. Aber Lisi hatte ihn schnell weichgekocht. Sie hatte ein Händchen für die Schwächen ihrer Mitmenschen. Ein Talent, das sie für ihren Job prädestinierte, wie Erwin einmal zynisch bemerkt hatte. Lisi war Fachärztin im Allgemeinen Krankenhaus, dem AKH, ein paar Straßen vom Schopenhauer entfernt. Sie arbeitete in der Onkologie. Krebsstation. Erwin war, was den kostenlosen Filterkaffee anging, sehr schnell sehr ruhig geworden, als er vor anderthalb Jahren die Diagnose Prostatakrebs erhalten und Lisi ihn sofort an einen Kollegen, eine Koryphäe auf dem Gebiet, vermittelt hatte.

»Du weißt genau, wen ich meine.«

Ja, das wusste Katie. Und sie hatte sich seit sechs Tagen auf diesen Mittwochnachmittag gefreut, weil er garantiert wieder ins Schopenhauer kommen würde. Er kam immer mittwochs. Seit vier Monaten schon.

Katies Finger zuckten in Richtung Geschirrhandtuch. Doch sie beherrschte sich, griff stattdessen zum Schwammtuch und rieb unnötigerweise über das Chrom ihrer Arbeitsfläche hinter der Theke, das bereits matt und träge funkelte. Egal. Hauptsache nicht in Lisis blaue Röntgenaugen sehen. Hauptsache sich nicht verraten. Denn Lisis Neugier konnte explosive Züge annehmen. Wenn Lisi ein Ziel im Visier hatte, dann verfolgte sie es, bis sie es erreichte. Sie hatte sogar durchgesetzt, vom Schichtdienst im Krankenhaus befreit zu werden. Seit anderthalb Jahren hatte sie den unschlagbaren Deal herausgehandelt, nur noch vormittags in der Onkologie zu praktizieren – was sich, wie sie geduldig ertrug, oft bis in den Nachmittag hineinstreckte –, um ab 17 Uhr an der Medizinischen Universität zu unterrichten, dessen Hörsaalzentrum praktischerweise im AKH stationiert war. Dazwischen kam sie ins Schopenhauer. Stets gegen 16 Uhr. Ihr Job-Deal sei ein Sechser im Lotto, meinte Lisi. Katie fand, dass die Vereinbarung eher von strategischem, hartnäckigem Verhandlungsgeschick zeugte als von Glück.

»Na?« Lisis Augenbrauen wackelten auf und ab. Gleich zweimal. Das war ihre Spezialität. Wenn sie besonders gut drauf war, schaffte sie sogar eine La-Ola-Welle mit ihren Brauen.

Zu Katies Rettung ging just in diesem Moment die Tür des Schopenhauers auf.

»Elena kommt.«

Elena schritt wie auf Wolken über den honigfarbenen, hier und da knarzenden Parkettboden des Kaffeehauses. Sie schien das komplette Gegenteil von Lisi zu sein: groß, schlank, brünett, durch und durch natürlich. Wenn Elena zur Tür hereinkam, hatte Katie immer »Lovefool« von den Cardigans im Ohr: weich, smooth, verträumt.

Elena trug ein dunkelgrünes, knielanges, einfaches Wickelkleid, braune Riemchensandalen und eine lange goldene Kette mit einer einzelnen Perle und einer Feder, die ihr Sebastian zu irgendeinem Jahrestag geschenkt hatte. Die langen, glatten Haare hatte sie zu einem unprätentiösen, lockeren Zopf zusammengebunden. Am rechten Ohr baumelte ein großer, dünner Ohrreifen. Er kostete vermutlich 5,50 Euro bei Bijou Brigitte, aber an Elena sah er aus wie eine Kostspieligkeit von Cartier. Sie trug einen No-Name-Stoffturnbeutel mit Kordelzug über einer Schulter, der denselben Effekt hatte: Er hätte ein Understatement von Louis Vuitton sein können.

Natürlich-elegant, fand Katie.

Öko-kunststudentisch, nannte es Lisi.

Elena schlenderte zu ihnen herüber. Zwölf Schritte von der Eingangstür des Schopenhauers zur gegenüberliegenden Bar. Ihr Weg teilte den L-förmigen Gastraum in zwei ungleiche Hälften: eine kürzere links von ihr, eine längere rechts von ihr. Links ließ Elena die Spieltische, alle mit grünem Samt bespannt, unbeachtet. Rechts schenkte sie weder dem Billardtisch noch der Auswahl an diversen Tageszeitungen noch den zwölf Kaffeetischen einen Blick. Sie achtete nicht auf die Logen, die mit ihren gepolsterten Sitzbänken den Schankraum ringsum säumten und den Gästen entweder unter den großen Fenstern der Straßenseite oder unter den großen Spiegeln an den übrigen Wänden Platz boten. Sie bestaunte nicht die immense Deckenhöhe und auch nicht die übrige Ausstattung, die dem Schopenhauer das traditionelle Kaffeehaus-i-Tüpfelchen aufsetzte. Wie das Mobiliar: natürlich Holz, natürlich Thonet. Wie die Kaffeetische: alle mit runden Marmorplatten. Was Touristinnen und Touristen ihre Ohs und Ahs entlockte, ignorierte Elena. Nicht, weil sie das Ambiente nicht schätzte. Nein, Katie vermutete, dass der Wiener Schmäh recht hatte: »Kaffeehaus is a Lebensgefühl«, und Elena stellte diese zweite Haut nicht infrage. Warum auch? Es war ja alles wie immer, oder?

Lisi zum Beispiel drehte sich nicht zur nahenden Elena auf dem Barhocker um, nein – sie tauchte ab. Wie so oft. Eine peinliche Angewohnheit, die ihr nicht mehr auszutreiben war. Lisi tauchte ab, indem sie ihre Kaffeetasse zwei Zentimeter hoch und ihren Kopf zwanzig Zentimeter hinunter der Tasse entgegenstreckte. Mit rundem Rücken, den Kopf fast auf der hölzernen Theke, konnte sie in den schräg hängenden Spiegel über der Bar schauen und hatte so den Gastraum im Auge, ohne sich umdrehen zu müssen.

»Du weißt, dass das total deppert ausschaut?« Elena setzte sich in einer fließenden Bewegung auf den Barhocker neben der wiederauftauchenden Lisi. Die Bargesellschaft war komplett.

»Papperlapapp, ich trinke kontrolliert aus meiner randvollen Kaffeeschale. Das ist total normal.«

Für ihre eigenen Schwächen hatte Lisi kein gutes Händchen.

Katie schob Elena einen Kaffee zu.

»Sebastian war gerade da.« Elena zog die dampfende Tasse zu sich. Auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte.

»Wie? Bei dir im Geschäft?«

Elena hatte ihr Studium vor neun Monaten, im vergangenen Herbst, erfolgreich abgeschlossen. »Masterin of Kunstgeschichte«, wie Lisi ausgerufen hatte, als sie zu dritt mit einem Glas Prosecco angestoßen hatten. Trotzdem war Elena in ihrem Studentinnenjob hängen geblieben. Das passierte vielen. Wie Katie selbst sehr genau wusste …

Elenas Studi-Job war die Aushilfe im Blumengeschäft auf dem Kutschkermarkt, gleich um die Ecke vom Schopenhauer. Katies Studi-Job war die Aushilfe im Schopenhauer. Der kleine Unterschied war nur, dass Elena mit ihrem glatten Mittzwanziger-Gesicht 20 Stunden im Blumenpavillon arbeitete, während Katie satte 40 Stunden angestellt war. Sie hatte zu ihrem dreißigsten Geburtstag von einer geringfügigen auf eine Vollzeit-Anstellung aufstocken müssen. Und der große Unterschied war wohl, dass Elena ihren Abschluss in der Tasche und ihre Sponsion bereits gefeiert hatte, Katie aber immer noch als Promotionsstudentin an der Uni eingeschrieben war.

»Yes, er war bei uns im Geschäft.«

»Um Blumen für dich zu kaufen?«, stichelte Lisi.

Nach über anderthalb Jahren und etlichen gemeinsamen Kaffees war allen drei Frauen klar, dass der Computer-Nerd Sebastian nicht der geborene Romantiker war.

»Pff!«, schnaubte Elena. »Nope. Er war einfach so da.« Ihre Stirnfalte vertiefte sich.

Oh weh. Katie beugte sich zum Kühlschrank hinter der Bar und zauberte einen Becher mit frisch geschlagenem Obers hervor: das Wundermittel gegen Stirnfalten. Sie ließ in jede Tasse eine weiße Sahnehaube sinken.

»Klasse Idee.« Elena pustete in ihren Kaffee, ließ den weißen Tupfer tanzen und nippte daran. Ihre Stirn glättete sich.

»In letzter Zeit scharwenzelt er immerzu um mich herum.« Elena strich mit Mittel- und Zeigefinger den Schlagobers-Kuss von der Oberlippe. Dann kam die Falte zurück. »Ich bin gerne da, wo du bist«, imitierte sie Sebastians tiefe Stimme. »Und heute wollte er mir einfach so ein Bussi vorbeibringen.«

Elena nippte noch einmal, diesmal ließ sie die Sahnereste am Mund kleben. »Des zipft mi an! Ich bin doch kein siamesischer Zwilling! – Reichst mir eine Serviette, Katie?«

Heute half nicht einmal mehr Kaffee mit Schlag. Katie wechselte mit Lisi einen Blick und fragte sich, wie sehr sie sich darüber freuen durfte, dass Elenas gereizte Nerven ein ausgezeichnetes Ablenkungsmanöver zu Lisis Neuer-Stammgast-Entdeckung waren.

»Wie lange seid ihr jetzt zusammen?« Lisi griff zum Kaffeelöffel und fischte ihren Obersklecks aus der Tasse, um ihn im Ganzen zu genießen.

»Sieben Jahre.«

»Ganz klar«, Lisi deutete mit dem Löffel auf Elena. »Er denkt, du hast eine Affäre.«

»Pff«, machte Elena.

»Vielleicht denkt er, du triffst deine Affäre hier im Schopenhauer?«

»Schön wär’s.«

Lisi und Katie wechselten erneut einen Blick. »Oh, oh«, sagten sie gleichzeitig.

Elena seufzte nur.

Katie griff wieder zum Sahnebecher und kleckste jeder noch etwas auf den Kaffee.

»Also? Wo ist er?« Lisi ertränkte den neuen weißen Tupfer in ihrer Tasse.

Elena sah auf. »Sebastian?«

»Nein, der Neue.«

Ein Themenwechsel war sicher gut, dachte Katie. Dieser allerdings …

»Welcher Neue?«

»Der, auf den Katie ein Auge geworfen hat.«

Elena setzte sich kerzengerade auf ihren Barhocker. »Wer ist es?«

»Niemand.« Katies Hand griff wie von selbst zum Geschirrtuch. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie angelte sich ein neues Glas aus dem Geschirrspüler und rieb den Rand ab.

Elena wandte sich zu Lisi.

»Er saß vergangenen Mittwoch in der Sitzkoje neben dem Eingang, zweiter Tisch von links.« Beide drehten sich auf ihren Barhockern, um über die Schulter zum verwaisten Tisch 15 zu sehen. »Und Katie konnte gar nicht genug davon bekommen, ihn anzusehen.« Lisi neigte sich über das Holz der Bar zu ihr und hob eine Augenbraue: »Stimmt’s oder hab ich recht?«

»Ich muss mich im Gastraum umschauen. Ich arbeite im Service. Das ist mein Job.«

»Aber nicht so«, stellte Lisi viel zu treffsicher fest.

Shit.

»Wie sind denn seine Zeiten? Der war ja nicht zum ersten Mal da.« Lisi rührte ihr ertränktes Obers in den Kaffee ein. »Ich meine, den hätte ich vor meinem Urlaub schon gesehen.«

»Stimmt das?« Elena sah Katie aus großen Augen an.

Und wie das stimmte.Es hatte im März angefangen, bei Regen. Und es sollte jetzt, Mitte Juli, bei strahlendem Sonnenschein und den ersten Ü-30-Grad-Temperaturen, nicht aufhören. Das würde Katie allerdings nicht verraten. Garantiert nicht. Auch nicht, wenn Elena sie mit ihren Bambi-Augen so erwartungsvoll ansah. Denn eine Frage würde zur nächsten führen – dabei wusste Katie nichts über ihn. Gar nichts. Was sie nicht weiter störte, aber gewiss Lisi.

»Ist doch Quatsch.« Katie stellte das wasserfleckenfreie Glas ins Regal hinter sich.

»Wie? Quatsch?«, fragte Elena.

»Quatsch ist das neue Codewort für anspernzeln und anflirten.«

»Stimmt doch gar nicht.« Das war die Wahrheit. Denn Katie flirtete nicht. Ihr genügte es, ihn zu beobachten, den lonesome Cowboy von Tisch 15. Seitdem er das erste Mal ins Schopenhauer gekommen war, machte er den Eindruck, als sei er nicht ganz da. Und trotzdem kam er immer wieder. Was ihn viel zu interessant für Katie machte. Wieso fand sie nur immer diese introvertierten, unerschütterlich und trotzdem verletzlich wirkenden Typen gut? Hatte sie denn nichts dazugelernt?

Wie Sven damals an der Uni wirkte der Neue an Tisch 15 abwesend und gleichzeitig tief beschäftigt – mit Dingen. Wichtigen Dingen. Er hatte stets einen breiten Aktenkoffer in der Hand und war immer gut gekleidet: schwarze Stoffhose, schwarzes tailliertes Hemd. Sogar jetzt im Juli, da Wien zum Dampfkessel wurde, trug er ein schwarzes Jackett. Zumindest hatte er das vergangenen Mittwoch noch getan. Selten ließ er den Blick durchs Kaffeehaus schweifen. Wenn er es jedoch tat, inspirierte es ihn jedes Mal. Er griff dann zum Stift und machte sich Notizen; nicht auf einem schnöden Block mit Kugelschreiber, sondern auf einem Tablet mit einem elektronischen Stift. Er war ein lonesome Cowboy-Techie.

Eine Melange, ein Tablet – mehr brauchte er nicht. War das nicht Unabhängigkeit und Freiheit pur?

Katie fand ihn eindeutig viel zu interessant. Sie fand seine hellbraunen Augen viel zu interessant. Und sie fand seine Art, das Jackett auszuziehen, viel zu … interessant.

»Siehst du!«, platzte Lisis Stimme in ihre Gedanken, und Katie wurde bewusst, dass sie das nächste Glas in der Hand hielt und mit dem Geschirrtuch über den Rand rieb.

»Ein neuer Stammgast also?« Elena griff in ihren Stoffturnbeutel und zog einen fingerdicken VHS-Katalog heraus. »Katie hat einen neuen Stammgast. Ich bin gerade dabei, mir einen neuen Kurs zu suchen. Und was gibt es bei dir Neues, Lisi?«

»Ich brauche eine neue Heizung.«

»Gut, dass gerade Sommer ist.«

»Zu Hause?«, fragte Elena.

»Nein, eine neue Heizung an der Uni. Das soll geregelt sein, bevor im Herbst alle ihre Heizung anstellen und nach den Hausbesorgern rufen. Das Depperte ist, dass die MedUni auf die Hausbesorger des AKH zurückgreift. Kooperation-Gschisti-Gschasti. Dienstweg-Gschisti-Gschasti.« Lisi seufzte. Die Dramaqueen. »Meine Heizung glugazt, gluckert und kudert. Da ist vermutlich nur Luft drin. Aber ich muss eine Millionen Male telefonieren und einen Aufwand treiben, damit sich irgendwer in mein Büro bequemt. Lästig, sag ich euch. Lästig!«

»Na oarg.« Elena war immer ein dankbares Publikum für Lisis Alltagsdramen. »Wie lang ist denn so ein Dienstweg?«

»Zu lang.« Lisi rührte in ihrer Tasse. »Ich habe eine Abkürzung genommen und direkt angerufen. War gar nicht so leicht, die private Nummer vom leitenden Hausbesorger zu bekommen.«

»Die private Nummer?«

Lisi zuckte nur mit den Schultern und sah auf ihre weißgolden glitzernde Armbanduhr. Garantiert nicht Bijou Brigitte.

»Stellt euch vor, der hält mich hin. Er hat mich tatsächlich heute früh versetzt und auf einen neuen Termin gelegt. Unpackbar! Als ob ich Zeit hätte, ständig neue Termine zu vereinbaren.«

»Oarg«, sagte Elena.

Katie griff noch einmal zum Schlagobers. Wie sehr es sie versöhnte, dass bei Lisi mal nicht alles glattlief. Hoffentlich hielt die Heizung sie lange auf Trab.

»Bist die Beste.« Lisi löffelte ihren neuen Obersklecks vom Kaffee. Sie nickte in Richtung VHS-Katalog in Elenas Händen. »Und? Was schwebt dir vor?«

»Ich denke, ich nehme ein, zwei Sommerkurse, bevor es im Oktober weitergeht.« Elena schlug den Katalog auf. Einige Seiten waren bereits markiert.

Elena musste eine der besten Kundinnen der Kunst-VHS sein, deren Standort in der Lazarettgasse gute 15 Minuten zu Fuß vom Schopenhauer entfernt lag. Seit sie ihren Uniabschluss in der Tasche hatte, belegte Elena mehrere Kurse pro Woche. Schnitzen, Aquarellmalerei, Bildhauerei, Aktzeichnen, Fotografie … Erst vor zwei Wochen hatte sie stolz ihre Abschlusszertifikate für »Schauspielkunst. Die ersten Schritte auf der Bühne« und »Hands on. Freie Keramik-Gestaltung« präsentiert.

»Du solltest mal eine gescheite Berufsberatung in Anspruch nehmen.« Lisi trank von ihrem Kaffee.

»Wie sollen fremde Leute wissen, was zu mir passt, wenn ich es selbst nicht weiß? Und wie soll ich es wissen, wenn ich es nicht ausprobiere?«

»Jajaja.« Lisi lehnte sich zu Elena, um mit ihr in den VHS-Katalog zu schauen. »Was fehlt denn in deinem Künstlerinnen-Portfolio?«

»Ich bin mir unschlüssig …« Elena blätterte langsam durch die Seiten und Katie war froh, dass sie trotz ihrer weichen Art einen ziemlich robusten Panzer gegen Lisis Sticheleien hatte. Es wirkte oft, als ob Elena die Seitenhiebe gar nicht wahrnahm. Sie einfach verträumte und überhörte. Eine großartige Gabe.

»Das tät mich interessieren.« Elena tippte auf eine Seite im Katalog. »Biografiearbeit. Wisst ihr, meine Oma mütterlicherseits ist zugewandert.«

»›Sich selbst auf der Spur. Biografiearbeit mit Birgit Deimel-Kovacic‹«, las Lisi. »›Donnerstags, 19 bis 21 Uhr.‹ Wieso lächelt die Gute kein Stückl auf dem Foto?«

»Weil das eine ernste Angelegenheit ist«, antwortete Elena ohne eine Spur von Ironie und blätterte weiter. Sie überflog die Doppelseite, dann schlug sie die nächste auf und die nächste und noch eine. Katie ließ ihren Blick an Elena und Lisi vorbei durch das Café schweifen. Es war wie jeden Mittwochnachmittag im Schopenhauer. Es wurde gespielt: Schach und Tarock. Es wurde genippt: an der Melange, dem Verlängerten, am Kleinen Brauen. Es wurde gelesen und geplaudert.

Halb voll, schätzte Katie das Kaffeehaus. Ihr Blick blieb an Tisch 15 hängen, wo der Neue fehlte, und glitt weiter zu Tisch 5: Schach und Matt fehlten auch. Die beiden Herren hießen eigentlich Hansjörg und Herbert, aber Lisi hatte »Schach« und »Matt« als geheime Namen für sie eingeführt und es hatte sich durchgesetzt. So wie sich alle ihre Spitznamen für die Stammgäste des Nachmittags durchgesetzt hatten: Die Dog Lady saß mit ihrem blonden Spitz in der Ecke am Fenster, genoss ihren Kapuziner und las die Kronen Zeitung. Johnnie Walker, der mit Walkingstöcken und Umhängetasche Tisch 42 belegte, trank wie immer seinen Kleinen Braunen. Die Tarock-Runde 1 schaute konzentriert in ihre Karten am Spieltisch ganz hinten, die Tarock-Runde 2 tat es ihnen gleich, allerdings am Spieltisch vorne, nahe der Eingangstür. Es waren alles bekannte Gesichter vor noch halb vollen Tassen, Bechern und Gläsern. An den übrigen besetzten Tischen saßen Hin-und-wieder-Gäste, die Katie vage erkannte, zwei Laptop-Nomaden und drei Schopenhauer-Neulinge.

Draußen im Schanigarten vor dem Kaffeehaus tummelten sich die Sonnenanbeterinnen und Hitzeresistenten. Sie wurden von Sepp bedient, Katies Piccolo. Sepp war kein Piccolo, sprich Kellner-Lehrling, im traditionellen Kaffeehaus-Sinn. Er war Aushilfskraft, studierte Jura und finanzierte sich im Schopenhauer seine Wohnung und seine Designer-Schuhe. Jetzt, in den Semesterferien, war er so gut wie jeden Nachmittag da: in Maßen fleißig, oft zu interessiert an den ausliegenden Tageszeitungen und Katie die größte Hilfe, indem er allein zuständig für den Service im hochsommerlichen Gastgarten war, während Katie sich um den klimatisierten Innenraum kümmerte, wo Elena an der Bar in ihrem Blättern soeben innehielt: »Der schaut wirklich nett aus.«

»Kursleiter für Kreatives Schreiben, Matthias N. Frey«, las Lisi.

Katie sah auf das Schwarz-Weiß-Foto eines Hipsters: Vollbart, runde Brille, kurze Haare, trotzdem mit Undercut. Es war schwer zu sagen, welche Haarfarbe überwog: Schwarz, Weiß oder Grau.

»Dieser George-Clooney-Bobo sieht nett aus?« Lisi hob ihre Tasse an die Lippen, trank von ihrem Kaffee und zog gleichzeitig den VHS-Katalog etwas zu sich.

»Er lächelt jedenfalls.«

»Ein Sommer-Intensivkurs?«

»Yes, der ist an drei Abenden. Dann geht sich leider kein anderer Kurs mehr aus …«

»Da steht auch was von Hausübungen.« Lisi tippte auf die Mitte des Beschreibungstextes.

»No na!«, sagte Elena und meinte damit »natürlich«.

»Und eine Abschlussarbeit sollt ihr abgeben.« Lisi wandte sich zu Katie und wackelte mit ihren fein gezupften Augenbrauen. Rauf, runter, rauf, runter: »Vielleicht gibt’s in dem Kurs auch Tipps gegen Schreibblockaden?«

Katie wünschte sich, sie hätte wie Elena einen undurchdringlichen Lisi-Panzer, an dem alles abprallte. Hatte sie aber nicht. Das Augenbrauen-Gewippe von Lisi übertrug sich in Katies Bauch und fand unangenehm Resonanz zwischen Bauchdecke und Magenwand – genau dort, wo ihr Gewissen saß.

»Haha.« Sie konnte es nicht leiden, wenn Lisi recht hatte. Und Lisi hatte so oft recht. Katie glaubte zwar nicht, dass sie unter einer Schreibblockade litt, doch Fakt war: Sie schrieb nicht. Sie schrieb einfach nicht an ihrer Doktorarbeit weiter. Seit zwei Jahren schon nicht mehr. Seit dem Tag. Dem Tag, an dem Sven das gemeinsame Konto geräumt, die Türschlösser ausgetauscht und sie auf die Straße gesetzt hatte. Dem Tag, an dem alle Wiener Freundinnen und Freunde sich nicht einmischen wollten und Katie zum ersten Mal obdachlos auf einer Sitzbank im Schopenhauer übernachtet hatte. Dem Tag, an dem sie endlich kapiert hatte, dass ihre Promotionsthese nichts taugte und sie alles würde umschreiben müssen. Zumindest dafür war sie Sven dankbar, dass er ihr in dieser Sache die Augen geöffnet hatte, auch wenn ihre Dissertation seitdem unangetastet geblieben war.

»Auf welcher Seite bist du gerade?«, fragte Lisi. Es war ihre Standardfrage. Seit anderthalb Jahren.

»Ich bin im dreistelligen Bereich.« Katies Standardantwort. Seit anderthalb Jahren. Und die war nicht gelogen. Nach einem vor Netflix vertrödelten Wochenende war Katie sich manchmal sogar sicher, dass sie bald wieder mit dem Schreiben beginnen würde. Wirklich bald. Immerhin zahlte sie die inzwischen ziemlich hohen Langzeitstudiengebühren und verlängerte ihren Studentinnenausweis Semester um Semester. Denn die Promotionsarbeit war so gut wie fertig. Katie würde nur die These korrigieren und die Argumentation überarbeiten müssen. Die vielen, vielen Quellen, die sie über die Jahre gesammelt hatte, könnten bleiben, müssten nur endlich objektiv gewichtet werden. Schluss mit den peinlichen Teenie-Interpretationen, wie Sven ebenso trefflich wie schmerzlich formuliert hatte. Dann fehlte noch die Conclusio und sie wäre fertig. Fürs Schreiben des Schlusskapitels hatte Katie vor ein paar Tagen sogar einen passenden Vintage-Schreibtisch auf willhaben, dem österreichischen eBay, entdeckt. Vielleicht würde sie an solch einem Schreibtisch endlich zur Dissertationsthese zurückkehren …? Denn aktuell tat sie es nicht. Sie schaute die Ordner nicht an. Sie fügte ihrer Promotionsarbeit keine Conclusio hinzu. Keinen Absatz, keinen Satz, nicht mal ein Wort, einen Buchstaben, einen Beistrich.

»Okay, den nehme ich!« Elena machte ein Eselsohr in eine Seite des VHS-Katalogs und klappte ihn zu.

»Wen?«

»Was?«

»Ich habe meinen nächsten Kurs gewählt.« Elena stimmte mit den Zeigefingern einen Trommelwirbel auf der Theke an. »And the winner iiiiiiiiiis …«

»Der Schreibkurs!«, fuhr Lisi ihr in die Parade.

Elenas Zeigefingerwirbel erstarb, ihre gute Laune blieb. »Yes! Woher wusstest du es?«

»Du hast das Bild von dem Oldie-Bobo so angeschmachtet.«

»Hab ich nicht!«

»Hast du doch.« Lisi rührte in den Resten ihres Kaffees. »Alsdann, der Intensivkurs?«

»Yes: montags, dienstags und freitags.« Elena strich mit zwei Fingern das Cover des Katalogs glatt.

»Sind das nicht die Abende, an denen Sebastian zu Hause wäre? Hat er nicht mittwochs diesen IT-Stammtisch und donnerstags seine seltsame Fortbildung?«

»Yes.« Elena packte den VHS-Katalog umständlich zurück in ihren Stoffturnbeutel.

Katie und Lisi tauschten Blicke.

»Hmmmh«, machte Lisi, »vielleicht sollte Katie als Anstandsdame –«

»Mensch, Lisi«, unterbrach Katie.

»Jajaja, tut mir leid! Ich bin heut unleidlich. Das liegt alles nur an der depperten Heizungsg’schicht. Ich halt ab jetzt die Pappn! Ich versprech’s!« Lisi malte mit dem rechten Zeigefinger ein Kreuz über ihr Herz und hob zum Schwur die Hand: »Ich gelobe feierlich Besserung.«

Elena schmunzelte.

»Ja klar …«, sagte Katie.

Sie glaubte Lisi kein Wort. Sie glaubte nicht an Wunder. Nicht mehr. Und sie glaubte nicht mehr daran, dass Menschen sich änderten. Warum auch? Aber Katie glaubte Lisi, dass sie den Schwur in diesem Augenblick ernst meinte, auch wenn sie ihr Gelöbnis niemals würde halten können. Niemals. Vor allem nicht angesichts der Tatsache, dass die Tür zum Schopenhauer in diesem Moment aufschwang und helle, braune Augen durch das Café schweiften. Katies Herzschlag beschleunigte sich, als der Mann in schwarzer Hose und schwarzem Jackett, mit diesem breiten Aktenkoffer in der Hand, sich zu Tisch 15 wandte. Dem Tisch der zweiten Sitzecke links neben dem Eingang. Katie versuchte, das Lächeln niederzuringen, das sich automatisch auf ihren Lippen auszubreiten schien. Sie versuchte wirklich, ihren Blick von dem neuen Stammgast abzuwenden.

»Er ist da, oder?« Lisis Augenbrauen schnellten beide nach oben, als ob sie sich unter ihrem Haaransatz verstecken wollten.

Und wie er da war. Whatta man!

Drei Worte

Katie zupfte den Kragen ihrer weißen Bluse zurecht. Eine Woche war vergangen, seit Lisi und Elena dem neuen Stammgast den Spitznamen »El Sol« verpasst hatten. Eine Woche war vergangen, in der Katie von seinen hellbraunen Augen, seinem bis zu den Ellenbogen hochgekrempelten schwarzen Hemd und seinen drei Worten »Eine Melange. Danke« getagträumt hatte. Eine Woche war vergangen und jetzt war er endlich wieder da. Denn es war Mittwoch. Der beste Tag der Woche.

Katie fuhr sich mit drei Fingern durch die Spitzen ihres fransigen blonden Ponys, um ihn noch lockerer und verwegener aussehen zu lassen. Sie zog ihren kurzen Pferdeschwanz fester, damit er noch frecher abstand.

Es wurde Zeit, seine Bestellung aufzunehmen. Und das Beste daran: Lisi war noch nicht da! Frau Doktor verspätete sich heute.

Bisher saß allein Elena an der Bar. Ihr olivgrünes Notizheft lag aufgeschlagen vor ihr und sie erzählte von ihren ersten zwei Abenden im Schreibkurs. Katie griff zur Kaffeetasse. Ein wärmender Schluck fürs Wohlgefühl und für den Mut, dann würde sie zu ihm gehen. Nur zu ihm. Denn bis auf ihren Neuen waren alle Gäste bereits gut versorgt. Die Tarock-Runden 1 und 2 verschanzten sich hinter ihren Karten. Matt hielt einen weißen Bauern in die Höhe und diskutierte mit Schach. Die Dog Lady blätterte in der »Krone« und er notierte gerade die ersten Worte auf seinem Tablet. In Katies Bauch kribbelte die Vorfreude.

Genau so sollte es sein: duftender Kaffee in der Nase, sanfte Worte von Elena im Ohr und den Neuen im Blick. Katie mochte seine Art, wie ein erhabener Eremit seinen Stammplatz einzunehmen. Sie mochte sein leicht gewelltes braunes Haar, das ihm etwas in die Augen und über die Ohren fiel und dessen gewiss kitzelnde Spitzen er sich ab und an hinter sein Ohr strich. Sie mochte seine Haltung, wie er eine Hand auf dem Oberschenkel aufstützte und aufrecht saß, während die andere Hand über dem Tablet schwebte, mit dem e-Pen zwischen den Fingern, bereit, den nächsten Gedanken zu notieren. Wie er mal an die Decke sah, mal über die Leute hinweg oder eben den Blick auf sein Tablet richtete. Sie mochte das. Es wirkte so gesettelt. Als ob er genau wüsste, was er wollte und wer er war. Und wem das nicht gefiel, der konnte Leine ziehen. Er würde nicht buckeln vor den Erwartungen anderer. Nein, El Sol würde bleiben, wie er war. El …

Mist! Dieser Name war eingängiger als gedacht. Vielleicht weil es tatsächlich irgendwie passend war? El Sol: stark, unabhängig, unerreichbar, heiß. – Oh Mann, sie sollte Werbetexterin werden. Katie konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

»Leiwande Aufgabe, oder?« Elena tippte mit ihrem lilafarbenen Roller-Pen auf eine Seite ihres Notizheftes.

Huch, sie war ja im Gespräch mit Elena …

»Willst du wissen, wen ich für meine Hausübung porträtieren werde?«

Katie fürchtete einen winzigen Moment, sie würde »El Sol!« sagen. Doch Elena grinste und antwortete: »Lisi!«

Sie beugte sich etwas über die Bar und sprach leise weiter. »Der Tipp für die Aufgabe ist, dass wir den Charakter überzeichnen sollen. Stilmittel, weißt du? Aber bei Lisi wird das wohl nicht nötig sein.«

Sie schmunzelten beide.

Katie zupfte ein letztes Mal die weiße, kurzärmelige Bluse über ihrem Bauchansatz zurecht, die in einer schwarzen, dünnen Leinenhose steckte. Ihre bestsitzende Bluse, die ein bisschen mehr Dekolleté zeigte. Und ihre neue Hose, die ihren Po bestmöglich zur Schau stellte. Schließlich war heute Mittwoch.

»Ich hol mir ’ne Bestellung. Bin gleich wieder da.«

Mit leicht klopfendem Herzen ging Katie um die Bar und auf seinen Tisch zu. 23 Schritte. Sie freute sich auf seine verblüffend hellen, braunen Augen. Niemals zuvor hatte sie bei jemandem so eine Augenfarbe gesehen.

Noch 15, 14, 13 Schritte. Katie versuchte, das ungeniert breite Lächeln niederzukämpfen, das sich auf ihren Lippen Bahn brechen wollte wie Ron Bushys Drum-Solo in dem Song »In-A-Gadda-Da-Vida«.

Noch 4, 3, 2. Bis sie vor ihm stand, hatte Katie ihren Mund zu einem unverfänglichen Lächeln diszipliniert. Sehr gut.

Der Mann vor ihr auf der Sitzbank wirkte so abwesend und in seiner eremitischen Welt gefangen wie immer. Das sollte sie wirklich nicht so faszinieren … In Katies Kopf gesellte sich zu den Drums von Ron Bushy die Stimme von »Iron Butterfly«-Sänger Darryl DeLoach, der mit tiefer, vibrierender Stimme seinem lyrischen Gegenüber seine Liebe gesteht. In-A-Gadda-Da-Vida. Weißt du nicht, dass ich dich liebe?

Der, zugegeben simple, Songtext flutete Katies Gedanken. Zum Glück formte ihr Mund andere Worte: »Hi, was darf’s sein?«

Wie immer schaute er auf, jedoch nicht in ihre Augen. Sein Blick driftete irgendwo oberhalb ihrer Schulter ab. Trotzdem konnte Katie das helle Braun seiner Augen genau erkennen. Darunter die leicht krumme Nase.

»Eine Melange.« Er hatte eine angenehme Stimme. Dunkel, aber nicht tief. »Danke.«

»Gern«, nickte Katie.

Eine Melange. Danke. – Mehr musste er nicht sagen. Drei Worte genügten. Genügten, um sie neugierig zu halten. Um sie hoffen zu lassen, dass er wiederkäme. Drei Worte genügten, um sie fantasieren zu lassen, wie sein Rasierwasser roch …

In-A-Gadda-Da-Vida!

Katie wandte sich ab, Richtung Bar. Just in diesem Moment kam Lisi zur Tür herein.

Oh no!

Lisi riss die Augen auf, als sie hinter Katie El Sol entdeckte. Bevor sie auf irgendwelche Dummheiten kommen konnte, schob Katie sie am Ellenbogen weiter zur Theke. Dort drehte sich gerade Elena auf dem Barhocker um. Sie strahlte ihnen zuerst entgegen, dann riss auch sie die Augen auf. War ja klar … Elena rutschte auf ihrem Barhocker von links nach rechts, Lisi ging einen Schritt schneller. Zumindest warteten die beiden, bis sie alle drei an der Theke waren, dort platzte es zeitglich aus ihnen heraus:

»Was hab’ ich verpasst?«

Alles, dachte Katie und sagte: »Nichts. Wieso?«

Es fühlte sich triumphal an. Was für ein ausgezeichneter Mittwoch!

Katie verschwand auf die andere Seite der Bar, um die Melange für El Sol zuzubereiten: halb Kaffee, halb Milch, etwas Milchschaum.

»Was hat er gesagt?« Lisis Stimme klang fast schon empört.

»Eine Melange. Danke.«

»Mehr nicht?« Elena schob die Kappe von ihrem lilafarbenen Roller-Pen.

Katie bereute sofort, dass sie überhaupt geantwortet hatte. »Mehr ist nicht notwendig.«

Lisi schnaubte. »Wie heißt er eigentlich – mit richtigem Namen?«

»Keine Ahnung.« Es war Katie wirklich nicht wichtig. Was Lisi gewiss niemals verstehen würde. »Was hat dich heute aufgehalten?«

Der Ablenkungsversuch schlug fehl. Das Einzige, was er bewirkte, war eine kurze Augenbrauen-La-Ola, die Katie nicht richtig einschätzen konnte.

»Der Neue hat schon einen Namen von uns bekommen und wir wissen … nichts über ihn?« Lisis Augenbrauen schoben sich zusammen. »Zahlt er nicht mit Karte?«

Katie hatte es geahnt. Fragen über Fragen.

»Er zahlt wenigstens.« Katie schenkte Lisi einen Filterkaffee ein und schäumte dann die Milch für seine Melange zischend auf.

»Wir zahlen mit unserer ausgesuchten Anwesenheit, liebe Katie. Erwin rechnet unseren Kaffee garantiert als Mitarbeiterinnen-Motivation ab. Ich wette, auf seinem Steuerzettel steht so mancher Kaffee- und Quiche-Posten für Teamsitzungen, die er nie hält. Glaub mir, der ist gewieft, der verschenkt nichts. – Gönnst du mir auch etwas Milchschaum?«

Katie kratzte den Rest aus dem Aufschäumbecher über Lisis und Elenas Kaffee aus. Ein Hauch von Bestechung.

»Ich serviere jetzt und ihr benehmt euch!«

Vielleicht hätte sie das konkretisieren sollen, überlegte Katie, als sie El Sol die Melange brachte.

»Danke. Ich zahle auch schon«, sagte er und zog seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Das Portemonnaie war, welch Wunder, aus schwarzem Leder, das weich und rundgesessen war. Er legte 3,50 Euro auf den Tisch. Seine Fingernägel waren kurz geschnitten. Ob er Gitarre spielte? Katie mochte es sehr, wenn Männer Saiten zupfen und spontan ein paar Akkordabfolgen improvisieren konnten. Das hatte sie schon mit 14 Jahren beeindruckt. Und das würde wohl nie aufhören …

Katie sammelte die Münzen vom Tisch. »Dann einen schönen Tag.«

»Ihnen auch.« Erneut sein flüchtiger Blick, der nicht ganz ihre Augen erreichte.