Eine Prise Magie (Bd. 1) - Michelle Harrison - E-Book

Eine Prise Magie (Bd. 1) E-Book

Michelle Harrison

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Beschreibung

Seit vielen Generationen lastet ein Fluch auf der Familie von Betty, Fliss und Charlie, der sie auf der Insel Krähenstein gefangen hält. Um den Fluch zu brechen, brauchen die drei Schwestern nicht nur all ihren Mut, sondern auch drei magische Gegenstände, die sie von ihrer Großmutter erben. Wird es den Mädchen gelingen, alles zum Guten zu wenden, oder geraten sie in noch viel größere Gefahr? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn sobald die Sonne aufgeht, nimmt das Schicksal seinen Lauf … Mit Quiz im Anhang: Welche der drei Schwestern bist du?

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Seitenzahl: 437

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Michelle Harrrison

Eine Prise Magie

Aus dem Englischen von Mareike Weber

© Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten

© Michelle Harrison 2019

Aus dem Englischen von Mareike Weber

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

A Pinch of Magic bei Simon & Schuster UK Ltd, London

Lektorat: Sophie Härtlin, Hamburg

Coverillustration: Melissa Castrillón

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-544-6

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

In liebevoller Erinnerung an Elizabeth May Harrison, 1943–2017

Die kühnste, mutigste Betty, die es je gab.

Liebe Leser,

 

ist »Widdershins« nicht ein großartiges Wort? Ich bin darauf gestoßen, als ich alles Mögliche über Hexen recherchiert habe (für die Arbeit natürlich)! Es bedeutet, sich in die falsche Richtung bewegen oder gegen den Uhrzeigersinn, und es wird mit Unglück in Verbindung gebracht. Deshalb habe ich die Familie in diesem Buch so genannt. 

Mithilfe dreier magischer Gegenstände machen sich die Widdershins-Schwestern Betty, Fliss und Charlie daran, einen tödlichen Familienfluch zu brechen. Doch werden die Gegenstände sie zu den Antworten führen, die sie brauchen, oder womöglich nur in weitere Gefahr?

Solange ich denken kann, haben mich Geschichten über verzauberte Gegenstände fasziniert. Ob es der Kamm ist, der in der Schneekönigin Gerdas Erinnerungen stiehlt, oder das Gemälde, das in Hexen hexen das kleine Mädchen gefangen hält – die Idee, dass alltägliche Gegenstände versteckte Kräfte haben können, macht Magie etwas greifbarer. Und in diesem Buch findet sich jede Menge Magie, zusammen mit einer Ratte namens Hopsi, einer Katze namens Pfui und einem Gefängnisausbruch, der überhaupt nicht nach Plan verläuft!

Ich hoffe, die Widdershins und die neblige Marsch von Krähenstein werden eure Fantasie genauso in den Bann ziehen wie meine. Folgt nur nicht den Irrlichtern …

 

Ein nebliges, magisches Leseerlebnis wünscht euch

 

Michelle Harrison

Prolog

Die Gefangene starrte aus dem Fenster. Es gab vier davon im Krähensteinturm, diesem hohen, steinernen Käfig, in dem man sie eingesperrt hatte.

Wenn sie hier stand und den Blick nach oben richtete, konnte sie so tun, als würden die Gefängnismauern darunter nicht existieren, als würde sie die Welt von einer Burg aus betrachten, oder vielleicht von einem Berg.

Doch heute hatte sie endgültig genug davon, sich vorzugaukeln, es wäre alles ein Traum oder jemand würde kommen, um sie zu retten. Das Mädchen schlang die Arme fester um seinen Körper, versuchte sich gegen den unbarmherzigen Wind zu schützen, der durch die offenen Fenster pfiff. Er roch nach der Marsch: brackig, mit einem Hauch von Fisch. Es war Ebbe, und vor ihr erstreckte sich eine endlose Schlicklandschaft. Dazwischen konnte sie Möwen erkennen, die an gestrandeten Fischen herumpickten, Büschel von Sumpfgras und ein verlassenes zerschelltes Ruderboot. Eine Locke ihrer langen rotbraunen Haare wehte ihr zwischen die Lippen. Sie zog sich die Strähne aus dem Mund, schmeckte Salz und beugte sich über den zerkratzten Steinsims, so weit sie es wagte.

Die Fenster hatten keine Gitter. Das brauchten sie auch nicht. Die Höhe des Turms war Abschreckung genug. Der Lärm der dort draußen kreisenden Krähen hörte nie auf. Am Anfang hatte sie in den Vögeln Freunde gesehen, die ihr mit ihrem Gekrächze Gesellschaft leisteten. Manchmal landete eine von ihnen auf dem Fenstersims. Pickte, lauerte, beäugte sie mit starrem Blick. Das Krächzen klang bald nicht mehr so freundlich. Vorwurfsvoll, spöttisch klang es. Moorhexe, schienen die Krähen mit den Stimmen der Dorfbewohner zu krächzen. Aus dem Moor kam sie, drei von uns fanden den Tod durch sie.

Sie hatte nie jemandem etwas zuleide tun wollen.

Die Kerben im Stein erstreckten sich über den ganzen Fenstersims, eine für jeden Tag, den sie gefangen gewesen war. Einst hatte sie gewusst, wie viele es waren, aber jetzt zählte sie nicht mehr.

Sie ging eine Runde durch das Turmzimmer und fuhr mit den Fingern über den Stein. Da waren noch weitere Kerben in der Maueroberfläche: einige zu zornigen Wörtern geformt, andere tiefe Furchen, wo sie Dinge gegen die Wand geworfen hatte. Sie hatte den Stein zum Bröckeln gebracht, doch befreien konnte sie sich nie.

Ein blasser roter Mond war gestern am Himmel erschienen und hatte unter den Wärtern für viel Gerede gesorgt. Es war immer ein schlechtes Omen, wenn der Mond bei Tageslicht zu sehen war, aber ein roter Mond war noch schlimmer. Ein roter Mond war ein Blutmond, ein Zeichen, dass Böses im Gange war.

Das Mädchen suchte die rauen Steine ab, bis sie die kleine Lücke im Mörtel fand, die sie entdeckt hatte, als sie noch nicht lange im Turm gewesen war und die Wände nach möglichen Trittlöchern abgetastet hatte. Als sie noch Hoffnungen gehabt hatte, fliehen zu können. In diesen Spalt hatte sie ein abgebrochenes Mauerstück geklemmt und vor den Gefängniswärtern versteckt. Der Mauerbrocken war zu klein, um als Waffe zu taugen, aber die Wärter würden ihn ihr mit Sicherheit wegnehmen, wenn sie davon wüssten.

Sie hebelte den Stein heraus und hielt ihn in der Hand. Sie erkannte ihre eigenen Finger kaum wieder. Ihre einst gebräunte Haut war dreckig und grau, ihre Nägel rissig. Sie nahm den Stein und kratzte damit auf der Wand, als würde sie mit Kreide schreiben. Sie schrieb ein einziges Wort: einen Namen … den Namen des Menschen, der ihr unrecht getan hatte. Mit jedem Buchstaben bündelte sie ihre dunklen Gedanken, bis sie den Stein aus ihren Fingern fallen ließ. Sie brauchte ihn nicht mehr. Dies war das Letzte, was sie schreiben würde.

Sie starrte hinüber nach Krähenstein. Zur Mittagsstunde sollte ein Boot sie über das Wasser bringen, zum Platz an der Wegkreuzung. Dort wurde in diesem Moment der Galgen aufgestellt. Es würde ihre erste und letzte Reise zur Hauptinsel sein. Ihre letzte Reise irgendwohin.

Dort würde sie hingerichtet werden.

Sie fragte sich, wie den Wärtern wohl bei dem Gedanken zumute war, eine vermeintliche Hexe über die Marsch zu transportieren. Natürlich würde man sie in Ketten legen, was Hexen angeblich wehrlos macht, aber selbst der furchtloseste Wärter würde ein mulmiges Gefühl haben, in ihrer Nähe zu sein, sobald sie nicht mehr im Turm war. Besonders, wenn ein Blutmond am Himmel stand.

Ihr Blick schweifte hinaus über die Marsch, wo alles begonnen hatte, auf einem kleinen Boot, in einer stürmischen Nacht. Als drei Menschen ihr Leben verloren hatten.

»Ich wollte nie jemandem etwas zuleide tun«, flüsterte sie. Ihre tauben Finger klammerten sich an den Fenstersims. Es stimmte, damals hatte sie niemandem etwas antun wollen, aber jetzt war Rache das Einzige, woran sie denken konnte.

Und Rache würde sie bekommen, auch wenn sie wusste, dass sie das nicht retten würde.

Kapitel 1

Süßes oder Saures

Der Tag, an dem Betty Widdershins von dem Familienfluch erfuhr, war ihr Geburtstag. Es war ihr dreizehnter, für manche eine Unglückszahl, aber Betty war zu vernünftig veranlagt, um an solchen abergläubischen Unsinn zu glauben, auch wenn sie damit aufgewachsen war.

Es war ein Samstagabend; da war immer viel los in der Gaststätte, die Bettys Zuhause war. Im Wildschütz trafen sich die Raufbolde der Insel Krähenstein. Die Gaststätte war schon seit Generationen im Besitz der Familie Widdershins. Jetzt gehörte sie ihrer Großmutter, die auch Betty hieß, aber von allen Granny oder Bunny genannt wurde, um Verwechslungen zu vermeiden. Sie wohnten dort mit Bettys Schwestern, Felicity (genannt Fliss), dem ältesten der Mädchen, und der sechsjährigen Charlotte, die nur auf »Charlie« reagierte.

Wie es der Zufall gewollt hatte, fiel Bettys Geburtstag außerdem auf Halloween. Als sie und Charlie in ihren wehenden Kostümen die Treppe hinunterstürmten, kamen sie sich ganz verwegen vor. Tatsächlich fühlte sich Betty in ihrer Verkleidung richtig wagemutig, und das war auch gut so, denn sie und Charlie waren kurz davor, das wichtigste Verbot ihrer Großmutter zu brechen. Nur, dass Charlie davon noch nichts wusste.

Als sie die Tür zur Bar aufrissen, drang warme, bierdunstige Luft durch die Löcher in Bettys Totenkopfmaske. Sie hob Grannys Lieblingshufeisen auf, das scheppernd auf den Boden gefallen war, und hängte es wieder über den Türrahmen. Charlie stieß zur Begrüßung ihr bestes Hexengekicher aus und schwang ihren Umhang. Sie schnappte sich Grannys Besen aus der Ecke und begann, um die verschrammten Tische und zusammengewürfelten Stühle herumzutanzen und zu singen, während ihre Augen aus ihrem grün geschminkten Gesicht hervorblitzten.

»Süßes oder Saures … das Moor ist neblig, der Zucker ist klebrig!« Sie drehte sich und hopste wie ein Kobold, während die Stammgäste sie amüsiert beobachteten.

»Pass auf, Charlie!«, rief Betty und sah den herumwirbelnden Umhang ihrer Schwester schon im Kamin Feuer fangen. Sie selbst hatte vorhin das Feuer angezündet, nachdem sie und Charlie Kürbislaternen geschnitzt hatten. Sie zupfte ihren langen schwarzen Mantel zurecht und winkte ungeduldig zur Bar hinüber, wo Granny gerade den Tresen abwischte.

»Wir gehen jetzt los, Granny«, sagte sie und war froh, dass ihr Gesicht unter der Maske verborgen war. Sie hatte diesen Abend seit Wochen geplant und dabei nichts als Aufregung empfunden, aber jetzt, wo es so weit war, den Plan in die Tat umzusetzen, konnte sie ihre eigene Ungehorsamkeit kaum fassen. Sie hoffte, ihre Großmutter würde das Zittern in ihrer Stimme der Aufregung zuschreiben und nicht dem Muffensausen, das in ihrem Innern herumschwirrte wie ein Schwarm Sumpffliegen.

Granny stampfte mit schwerem Schritt auf sie zu. Sie stampfte überall hin, statt zu gehen, knallte Türen, statt sie zu schließen, und brüllte meistens, statt zu sprechen.

»Schnorren gehen wollt ihr?«, rief sie und pustete sich das graue Haar aus der Stirn.

»Das ist kein Schnorren«, korrigierte Betty sie. »An Halloween machen das doch alle.«

»Pah!«, machte Granny. »Ich weiß sehr gut, was alle machen, vielen Dank. Und für mich ist das Schnorren, wenn ihr euch doch hier nützlich machen könntet.«

»Ich hab mich den ganzen Tag nützlich gemacht«, murmelte Betty schnippisch. Ihr wurde heiß unter der Maske, und ihre struppigen Haare kitzelten sie am Hals. »So viel zum Thema Geburtstag.«

Granny schnaubte. Geburtstag hin oder her, alle Widdershins mussten in der Gaststätte mit anpacken, sogar Charlie.

»Ihr geht nur einmal um den Park herum«, befahl Granny. »Weiter nicht, hört ihr? Und spätestens zum Abendbrot –«

»Sind wir zurück«, beendete Betty den Satz. »Ich weiß.«

»Nun, dann haltet euch auch daran – vergesst nicht, was letztes Jahr passiert ist.« Grannys Stimme wurde sanfter. »Und nachher gibt es Geburtstagskuchen.«

»Oooh!«, rief Charlie und unterbrach bei der Erwähnung von Essen ihren Koboldtanz.

Als Granny an die Bar gerufen wurde, um einen Gast zu bedienen, warf Betty einen Blick zu Fliss.

»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Betty mit einem flehenden Tonfall in der Stimme. Es hatte immer so viel Spaß gemacht, wenn sie sich alle drei an Halloween verkleidet hatten. »Ohne dich ist es nicht das Gleiche.«

Fliss schüttelte den Kopf und warf ihr dunkles, glänzendes Haar über die Schultern. Auf ihrer perfekten Stupsnase war ein kleiner Klecks grüner Farbe zu erkennen, mit der sie Charlies Gesicht geschminkt hatte. »Ich bin zu alt für so was. Außerdem werde ich hier gebraucht.«

»Vielleicht willst du es ja nur nicht verpassen, wenn Will Turner vorbeikommt?«, witzelte Betty. »Oder ist es diese Woche Jack Humble? Wer bekommt den nächsten Fliss-Kuss? Ich komm nicht mehr hinterher, Flissy-Kissy.«

Fliss funkelte sie wütend an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst!«

Betty verdrehte die Augen und beschloss, den Farbklecks auf der Nase ihrer Schwester nicht zu erwähnen. Seit ihrem Geburtstag war Fliss nicht mehr sie selbst. Sie war schweigsam, manchmal auch launisch und verschloss sich, sobald Betty fragte, was sie bedrückte.

»Betty?«, sagte Fliss mit einem wachsamen Blick zu Granny. »Ihr bleibt wirklich beim Park, nicht wahr?«

Betty verzog unter ihrer Maske das Gesicht. Sie kreuzte unter den Falten ihres Mantels die Finger und flunkerte: »Ja, wir bleiben beim Park.«

Fliss blickte mit undurchdringlicher Miene an Betty vorbei zum Fenster. »Es ist ohnehin besser, wenn ihr in der Nähe bleibt. Sieht etwas neblig aus da draußen. Eine Fähre über die Marsch zu nehmen könnte gefährlich sein.« Sie wandte sich ab, als ein hochnäsiger Stammgast namens Queenie ungeduldig auf den Tresen klopfte.

Betty sah ihrer Schwester nach und verdrehte die Augen. »Dies dürft ihr nicht, das könnt ihr nicht«, murmelte sie. Was war nur seit ihrem Geburtstag mit Fliss passiert? Sicher, sie war so eitel wie immer und starrte oft gedankenverloren in einen alten Meerjungfrau-Spiegel, den Granny ihr geschenkt hatte, aber all ihre Heiterkeit war mit den Kerzen auf ihrem Kuchen weggepustet worden. Im Grunde klang sie allmählich genau wie Granny.

Betty hatte das Gefühl, dass ihr Leben im Wildschütz ein Korsett war, das sie mehr und mehr einzwängte. An der einen Schnur zog Granny, und an der anderen zerrte jetzt Fliss, sodass sie kaum noch Luft bekam. Heute Abend war Betty entschlossen, diese Schnüre zu kappen, wenn auch nur für eine kurze Weile.

Sie rief nach Charlie, die ein paar Gäste beim Domino-Spiel unterbrochen hatte, um ihnen stolz die Lücke zu zeigen, wo ihr Schneidezahn herausgefallen war. Gemeinsam bahnten sich die beiden ihren Weg zur Tür, vorbei an Tischen mit Gesichtern, die Betty so vertraut waren wie ihr eigenes. Sie waren schon fast an der Tür, als sich Charlies Fuß in Bettys Mantel verfing. Sie stolperte und fiel gegen einen Tisch, an dem ein griesgrämiger Kerl namens Fingerty saß. Er stieß einen unfreundlichen Laut aus, irgendetwas zwischen einem Grunzen und einem Knurren, und machte ein mürrisches Gesicht, als das Bier in seinem Glas schwappte.

»’tschuldigung«, murmelte Betty und hastete an ihm vorbei.

Eiskalte Luft strich um ihre Knöchel, als sie sich an weiteren Gästen vorbeidrängten, die in die Gaststätte strömten. Dann waren sie draußen in der frostigen Nacht. Aber, ach – was für eine Nacht … Freiheit! Zumindest, sobald sie in ein paar Minuten auf der Fähre sitzen würden. Betty jubelte innerlich. Sie zitterte vor Erwartung ebenso wie vor Kälte. Aber sie spürte auch einen Anflug von Angst. Fliss hatte recht: Es sah tatsächlich etwas neblig aus hier draußen. Soweit Betty wusste (denn das hatte sie überprüft), war kein Nebel vorhergesagt. Doch sie wusste auch, dass die Marsch unberechenbar war und dass die Vorhersagen manchmal falsch waren.

Charlie störte die Kälte nicht. Sie stieß weiße Atemwölkchen aus, während sie vorausrannte und mit ihrem kleinen Hexenkessel schlenkerte, in dem sie Süßigkeiten sammeln wollte. Betty eilte ihr nach und ließ ihren Blick die Straße entlangschweifen. Ein paar weitere kostümierte Kinder gingen von Haus zu Haus, und sie zählte fünf Kürbisse, die auf den Türschwellen leuchteten. Die meisten Häuser am Nestleinpark jedoch lagen im Dunkeln. Viele Leute hatten keinerlei Bedürfnis, sich von maskierten Fremden stören zu lassen – aus gutem Grund.

Im letzten Jahr hatte der Halloween-Spaß ein plötzliches Ende gefunden, als die Glocke von Krähenstein zu läuten begann. Es war ein Warnsignal und bedeutete, dass auf der anderen Seite der Marsch der Alarm im Gefängnis ausgelöst worden war. Die »Süßes oder Saures«-Rufe waren verstummt, und stattdessen schrien alle »Gefangene auf freiem Fuß! Geht alle ins Haus und schließt eure Türen!«. Betty und ihre Schwestern waren zurück zur Gaststätte gerannt und hatten oben in Bettys Zimmer ihre Nasen am Fenster platt gedrückt. Während Fliss nervös an den Nägeln kaute und Charlie den entgangenen Süßigkeiten nachtrauerte, war Betty ganz zappelig vor Aufregung gewesen und hatte im Stillen gehofft, dass die Gefangenen erst in ein paar Tagen gefasst würden, nur damit auf Krähenstein einmal etwas los wäre. Ausbrüche waren selten, und wenn man wie sie im Schatten des Gefängnisses aufwuchs, konnte man fast vergessen, wie nah es war – und wie gefährlich es sein konnte. Die Mädchen hatten aus dem Fenster geguckt und gewartet, aber abgesehen von zwei Gefängniswärtern, die mit Laternen die Straßen absuchten, sahen sie niemanden. Beim Frühstück war die Aufregung bereits vorbei, denn sie hatten gehört, dass die Verbrecher in der Marsch gefasst worden waren. Betty hatte solche Fluchtgeschichten schon immer mit Interesse verfolgt, manchmal fühlte sie sich nämlich selbst wie eine Gefangene. Unglücklicherweise hatte der Vorfall der ausgebrochenen Häftlinge Granny nur einen weiteren Vorwand geliefert, den Mädchen jedes Herumstromern zu verbieten.

Betty riss sich aus ihren Erinnerungen und warf einen Blick zurück zum Wildschütz. Fliss hatte das Gebäude einmal als müde alte Brieftaube beschrieben, mit losen Dachziegeln und klappernden Fensterläden, die herunterhingen wie zerrupfte Federn. So hockte das Haus am Rande des Parks, seine verwitterten Ziegelsteine ein Flickwerk der vielen Jahre. Es war, als hätte die Zeit dem Haus einen Ellbogenstoß versetzt, und jetzt neigte sich das ganze Gebäude wie betrunken zur Seite. Aus den Fenstern leuchtete bernsteinfarben das Licht, unterbrochen von Gestalten, die drinnen umherhuschten, und ein paar Hühnergöttern und anderen Glücksbringern, die Granny aufgehängt hatte. Niemand war draußen, niemand ahnte etwas.

Gut. Die Möglichkeit, von einer wutentbrannten Granny zurück nach Hause gezerrt zu werden, war beängstigend und erniedrigend zugleich. Sicher, Granny hatte ein übellauniges Temperament, aber es waren die Konsequenzen, vor denen Betty am meisten Angst hatte. Wenn Granny herausfände, was sie geplant hatte, würde sie Betty nie wieder allein mit Charlie aus dem Haus lassen … und jede Chance auf ein Abenteuer wäre dahin. Die Riemen des Korsetts würden nur noch fester gezurrt werden und ihr die Luft endgültig abschnüren.

Schon hatte Charlie an der ersten Haustür geklopft und trällerte »Süßes oder Saures!«. Die ersten Gaben wurden in ihren Hexenkessel geworfen. Charlie hüpfte zurück zu Betty, während sie eine klebrige Karamellkrähe von Hubbard auspackte, dem Süßigkeitenladen. »Hast du denn gar nichts mitgebracht, wo du deine Süßigkeiten reintun kannst?«

»Nee, ich schnapp mir einfach ein paar von dir«, sagte Betty und fingerte in Charlies Hexenkessel herum, bis sie ihr Lieblingskonfekt fand: eine Marschwaffel. Eine Wolke von Puderzucker stieg auf, während sie sich die Waffel in den Mund stopfte und durch die knusprige Hülle in das schaumige Innere biss. Sie warf einen Blick auf die Turmuhr, als sie sich der alten Feldsteinkirche näherten. Noch sieben Minuten. Unter der Maske prickelte der Schweiß auf ihren Schläfen, und ihr Puls begann zu rasen. Wir dürfen nicht erwischt werden … nicht jetzt, wo wir so nah dran sind. Mit einem weiteren Blick zurück zur Gaststätte griff sie nach Charlies Ärmel und zog sie ungeduldig die Gasse hinunter. »Hier entlang. Ich hab eine Überraschung für dich.«

»Eine Überraschung?« Charlie sah mit großen Augen zu ihr auf. »Aber du hast Granny doch gesagt, dass wir in der Nähe bleiben. Du hast gesagt –«

»Ich weiß, was ich gesagt hab.« Betty lotste Charlie die Straße hinunter. »Aber du und ich gehen jetzt gleich auf ein kleines Abenteuer. Es ist ein Geheimnis, das du für dich behalten musst. Kannst du das?«

Charlie hörte auf zu kauen und nickte ihr mit einem schelmischen, zahnlückigen Grinsen zu. Ihre Zöpfe hüpften auf und ab. »Was denn für ein Abenteuer?«

»Wir wollen nach Marschweiler.«

»Heiliger Krähenfuß!« Charlies große grüne Augen wirkten auf einmal noch riesiger. »Marschweiler? Aber da … da muss man doch auf die Fähre!«

»Ganz genau.« Betty befühlte ihre Jackentasche. Sie spürte das Gewicht der drei Münzen. Wochen hatte sie gebraucht, um das Geld für die Hin- und Rückfahrt zusammenzukratzen, zum Preis von einem silbernen Raben für jeden. Dazu hatte sie die kleine Summe Taschengeld gespart, die Granny ihnen zugestand, und alles zur Seite gelegt, was sie fand, wenn sie in der Gaststätte den Fußboden kehrte. Sie hatte heimlich jede Münze gesammelt: ob nun Krähen oder Federn. Schließlich hatte sie den Fahrpreis zusammengehabt, und jetzt, da Fliss nicht mitkam, war sogar noch Geld übrig.

»Aber Betty, wir werden bestimmt erwischt!«

»Diesmal nicht.«

»Das sagst du immer, bevor etwas schiefgeht.«

Da hatte Charlie nicht ganz unrecht, aber Betty ließ sich nicht von ihrem Plan abbringen.

»Ich habe das alles durchdacht.« Sie war sich ihrer Sache so sicher, dass sie sogar ein neues Motto erfunden hatte, aber das behielt sie noch für sich.

»Was, wenn Granny das rausfindet?«, flüsterte Charlie, halb freudig und halb ängstlich. »Dann können wir aber was erleben!«

»Sie wird es nicht rausfinden«, sagte Betty. »Warum, meinst du, habe ich mir den heutigen Abend ausgesucht? Alle werden verkleidet sein oder Masken tragen. Das ist doch perfekt! Wenn uns niemand erkennt, kann uns auch niemand bei Granny verpfeifen.«

»Und was gibt es in Marschweiler?«, fragte Charlie. »Größere Häuser? Mehr Süßigkeiten?«

»Besser als das.« Betty scheuchte Charlie weiter die dunkle Gasse hinunter. »Da ist ein Jahrmarkt. Spiele wie Apfeltauchen, Seelenbrot und andere Leckereien und ein Preis für das beste Kostüm … und Zuckerwatte!« Und ein Abenteuer, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu. Es war ihr egal, wohin sie sich davonmachten – Hauptsache, sie kamen raus aus Krähenstein. Marschweiler war weit genug entfernt, um ihre Lust auf Neues und Abenteuer zu befriedigen, und gleichzeitig nah genug, um ungeschoren davonzukommen. Sich jetzt heimlich ins Unbekannte aufzumachen fühlte sich an, als hätte sie ihr Leben lang einen Juckreiz gehabt und dürfte endlich kratzen.

»Zuckerwatte!«, sagte Charlie atemlos. Seit sie ihren Schneidezahn verloren hatte, klang ihre süße Stimme leicht lispelnd. Sie schob ihre heiße, klebrige Hand in Bettys. »Aber es ist so weit weg. Was, wenn wir es nicht rechtzeitig zum Kuchenessen zurückschaffen?«

»Bis dahin sind wir allemal zurück«, sagte Betty. »Ich hab alles durchgeplant. Und meinen Geburtstagskuchen werden sie bestimmt nicht ohne mich essen! Aber jetzt beeil dich – wir haben nur noch ein paar Minuten, bis die Fähre ablegt.«

Sie huschten weiter die Gasse hinunter und bogen um die Ecke. Unter ihrer Maske grinste Betty triumphierend. Ihr Herz schlug wild. Sie würden es wirklich tun! Sie würden endlich zu sehen bekommen, wie das Leben außerhalb Krähensteins aussah, und das war alles ihr zu verdanken.

Betty lockerte ihren Mantelkragen, und sie fingen an zu rennen. Neben ihr zählte Charlie die Kürbisse und Laternen in den Fenstern und zeigte auf einen Kürbis vor der Schule, den sie gestern geschnitzt hatte. Die Lichter begleiteten sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen wie Geister, die sie zur Marsch führten.

Hier gab es immer weniger Häuser, und bald kam die Wegkreuzung in Sicht, wo gar keine Häuser mehr standen. Stattdessen waren in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Marsch mehrere Reihen winziger Kerkerfenster zu sehen, die wie wachsame Augen in der Dunkelheit leuchteten. Noch weiter oben flackerte ein anderes Licht in einem allein stehenden Turm, der den Rest des Gebäudes überragte.

Charlie verlangsamte ihren Schritt, und sie traten zur Seite, um ein paar Leute vorbeizulassen, die zur Fähre eilten. »Wie lange ist Vater jetzt schon da drinnen?«, fragte sie.

»Charlie!«, schimpfte Betty und hoffte, dass die Leute vor ihnen nichts gehört hatten. Sie senkte die Stimme. »Zwei Jahre und acht Monate.« Sie ging in Gedanken die Daten durch und sagte nach einer Pause: »Und vier Tage.«

»Und wie lange noch, bis er rauskommt?«

Betty seufzte. Wie immer löste der Gedanke an ihren Vater eine Mischung von Gefühlen in ihr aus: Traurigkeit, Wut, Enttäuschung. Ähnlich wie der Tod ihrer Mutter hatte seine Abwesenheit Betty und Fliss härter getroffen als Charlie. Auch wenn Barney Widdershins ein – um mit Grannys Worten zu sprechen – armseliger Nichtsnutz war, konnte Betty nicht anders, als eine gewisse Loyalität ihm gegenüber zu empfinden, obwohl er kein guter Vater war. »Zwei Jahre, drei Monate und sechsundzwanzig Tage«, antwortete Betty schließlich.

»Warum flüsterst du?«, fragte Charlie. Sie war erst drei gewesen, als sie ihren Vater festnahmen, und da sie seitdem keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte, empfand sie keine besondere Bindung, sondern einfach nur Neugier. »Du sagst doch immer zu Fliss, es gibt keinen Grund, sich zu scharnieren, weil er im Gefängnis sitzt.«

»Genieren«, korrigierte Betty sie. Wenn sie irgendwo anders wohnten, würde sie sich dafür schämen, aber nicht hier. Schließlich war nahezu jeder, der in der Nähe des Gefängnisses wohnte, mit jemandem dort drinnen verwandt. »Das stimmt schon. Aber hör auf, über persönliches Zeug zu plappern, wenn wir nicht erkannt werden wollen. Man weiß nie, wer zuhört. Und jetzt nimm die Beine in die Hand, die Fähre wartet schon.«

»Oh!« Charlie grinste und zog ihren Hexenhut tiefer ins Gesicht. Es machte ihr sichtlich Spaß, etwas auszuhecken.

Betty rannte voraus, die hüpfende Charlie im Schlepptau, den Blick auf das Gefängnis geheftet. Welche Zelle wohl die ihres Vaters war? Es war unmöglich, das von hier zu erkennen. Häftlinge wurden oft verlegt. Er war vielleicht nicht einmal mehr in derselben Zelle, woher sollte Betty das wissen. Es war sechs Monate her, dass Granny Fliss und Betty zuletzt zu einem Besuch mitgenommen hatte. Angeblich hatte ihr Vater behauptet, er fühle sich zu elend und schäme sich zu sehr, um seinen Töchtern unter die Augen zu treten oder wenigstens auf ihre Briefe zu antworten.

Bettys Blick verfinsterte sich. Das hätte er sich mal überlegen sollen, bevor er sich einbuchten ließ. Sie warf dem Gefängnis einen letzten zornigen Blick zu und wandte sich entschlossen ab. Sie würde es nicht zulassen, dass ihr Vater ihr diesen Abend verdarb, so, wie er alles andere verdorben hatte. Sie rannten die letzten Schritte bis zum Anleger. Offensichtlich gab es keine Nebelwarnung, denn der Fährmann schien sich nicht an den feinen Schwaden zu stören, die um das Boot waberten. An Bord saßen schon eine Handvoll kostümierter Leute, die offenbar auch zum Halloween-Jahrmarkt wollten. Betty bezahlte das Fahrgeld und quetschte sich dann auf den schmalen Sitz neben Charlie.

Glücklich blickte sie den Weg zurück. Waren sie wirklich unbemerkt und ohne weitere Schwierigkeiten davongekommen? Trotzdem wippte sie ungeduldig mit dem Fuß, bis der Fährmann das Boot abstieß, und dann glitten sie auch schon über das Wasser.

»Dem Wagemutigen winkt das Abenteuer!«, flüsterte Betty aufgeregt. Sie hatte sich schon den ganzen Tag darauf gefreut, ihr neues Motto laut auszusprechen.

Charlie beeindruckte das wenig. »Was meinst du, welche Farbe hat die Zuckerwatte?«

»Grün vielleicht, oder orange …«, antwortete Betty gedankenverloren. Sie starrte zurück zum Ufer. Ein Stück vom Fähranleger entfernt war der Hafen. Irgendwo zwischen den anderen Booten lag ihr eigenes, ein zusammengezimmertes Gebilde aus morschem Holz. Ihr Vater hatte es bei einer Wette gewonnen und seitdem immer wieder vorgehabt, es auszubessern und wieder seetauglich zu machen – ohne Erfolg. Vielleicht würde er das nie auf die Reihe bekommen. Doch in diesem Moment war es Betty egal. Sie brauchte ihren Vater oder sein Boot nicht, um Abenteuer zu erleben. Hier, auf dem Wasser, in der Nacht, war sie nicht mehr nur die mittlere Widdershins-Schwester: plump und unattraktiv gegenüber Fliss mit ihrer Schönheit und ihrem Charme, und zu vernünftig im Vergleich zur niedlichen, verschmitzten Charlie. Hier war sie Betty, die Kühne; Betty, die Abenteurerin! Sie konnte machen, was sie wollte, sie konnte gehen, wohin sie wollte!

Alles sah jetzt anders aus, gruseliger und geheimnisvoller, und in der Ferne konnte sie seltsame flackernde Lichter sehen, wie magische Leuchtkugeln, die über der Wasseroberfläche schwebten. Die Leute nannten sie Irrwische. Manche sagten, es wären die Seelen derer, die in der Marsch umgekommen waren, andere hielten sie für boshafte Wassergeister, die versuchten, Reisende auf Irrwege zu führen.

Sie starrte hinüber zum Gefängnis. Die Festung befand sich auf der Insel der Sühne, einer der drei nahe gelegenen Inseln in der Marsch; dort würden sie zuerst vorbeikommen. Die zweite, kleinere Insel war bekannt als Insel der Klagen, wo alle Toten Krähensteins begraben waren. Betty war nur zweimal dort gewesen, zuletzt als ihre Mutter kurz nach Charlies Geburt gestorben war. Eine tiefe Traurigkeit überkam sie, als sie daran zurückdachte. Eine Wunde, die noch immer nicht verheilt war.

Die letzte der Inseln hieß Insel der Qualen. Sie war unzugänglich für jene, die auf der Hauptinsel lebten. Die Bewohner dieser Insel waren Verbannte: Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen worden waren, aber noch ihre Strafe verbüßten, indem man sie nicht auf das Festland zurückkehren ließ. Oder jene, deren Verbrechen nicht schwerwiegend genug waren, um eine Haftstrafe zu fordern, aber ernst genug, um eine Verbannung zu rechtfertigen. Zusammen wurden die drei kleineren Inseln als Inseln des Jammers bezeichnet und gehörten zu Krähenstein. Neben der Hauptinsel waren diese Inseln alles, was die Mädchen je kennengelernt hatten – niemals war eine von ihnen weiter gereist.

Heute Abend, nach all der Zeit der Sehnsucht, würde sich das ändern. Es war ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst, hatte Betty beschlossen. Ein Schritt in die Richtung des Lebens, das sie wollte, ein Leben voller Möglichkeiten und Abenteuer; eines, in dem sie keinen Kohlestaub mehr unter den Fingernägeln hätte, sondern goldenen Sand.

Das Boot war noch nicht weit gefahren, als Betty merkte, dass etwas vor sich ging. Der berüchtigte Nebel der Marsch machte seinem Ruf alle Ehre: Die Gefängnislichter waren verschwunden. Stattdessen konnte man nur noch dichten grauen Dunst sehen. Der wabernde Nebel strich um sie herum und fuhr ihnen in die Knochen. Bettys Kopfhaut fing vor Angst an zu kribbeln. Eine Mutter, die ihnen gegenübersaß, zog ihren kleinen Sohn näher an sich heran und murmelte beunruhigt vor sich hin.

»Betty?« Charlie zupfte sie am Ärmel. »Was, wenn das Boot sich verirrt oder wir nachher den Weg zurück nicht finden können …«

Betty schluckte. Granny hatte über die Jahre viele Ausreden gehabt, sich mit den Mädchen nicht weit von zu Hause wegzubewegen, und jetzt schossen ihr all diese Ermahnungen wieder in den Kopf. »Wir könnten die Fähre zurück verpassen … in der Marsch sind schon viele Boote auf Felsen gelaufen und gesunken … man munkelt, dass es in dieser Gegend noch Sklavenhändler gibt, die nur darauf warten, Menschen zu entführen und zu verkaufen …« Plötzlich fühlte sich Betty gar nicht mehr so scharfsinnig oder mutig, sondern ziemlich töricht und ängstlich.

»Man sieht ja kaum noch was!«, rief die Frau mit dem kleinen Jungen dem Fährmann zu.

»Stimmt«, grunzte er. »Is’ vielleicht nur ein kleines Nebelfeld. Doch wenn’s nicht gleich aufklart, müssen wir umkehren.«

Charlies Unterlippe begann zu zittern. »A-aber meine Zuckerwatte …«

Betty antwortete nicht. Sie versuchte krampfhaft, ruhig zu bleiben, ihrer Schwester zuliebe. Vielleicht war Granny gar nicht übervorsichtig gewesen. Vielleicht hatte sie recht gehabt, sich zu fürchten …

Beängstigend schnell wurde das Boot von dichtem Nebel eingehüllt, und die Temperatur fiel nun merklich. Das war kein kleines Nebelfeld. Sie waren vollkommen von undurchsichtigem Dunst umgeben. Der Fährmann hörte auf zu rudern und hob seine Laterne. Betty spürte, wie Charlies kleine Hände nach ihr griffen. Sie legte ihrer Schwester einen Arm um die Schultern und hob die andere Hand vor ihr Gesicht. Ihre Finger berührten schon fast ihre Nase, als sie die Hand endlich sehen konnte.

Da erschütterte ein dumpfer Schlag das Boot. Die Leute hielten vor Angst den Atem an, und einige schrien, als das Boot gefährlich ins Wanken geriet.

»Was war das?« Charlies Stimme klang schrill vor Angst. Ihre Finger gruben sich schmerzhaft in Bettys Arm.

»Ich weiß nicht!«, stieß Betty aus und klammerte sich am Bootsrand fest. Eiskaltes Wasser schwappte bis zu ihrem Ellbogen. »Vielleicht sind wir gegen einen Felsen gestoßen?«

»Ich will nach Hause!«, jammerte Charlie. Kein Gedanke mehr an Zuckerwatte.

Das Boot schwankte noch einmal, und plötzlich baute sich eine vertraute Gestalt über den Mädchen auf. Betty stieß einen überraschten Laut aus, als ein Gesicht dicht vor ihrem auftauchte und sie fast mit der Nase anstieß.

»Gut!«, sagte Granny. »Denn genau dort geht es jetzt hin: nach Hause!«

Kapitel 2

Gefangene

Für einen Moment saß Betty vor Schreck und Verwirrung stocksteif da. Auch Charlie neben ihr rührte sich nicht und klammerte sich an Bettys Arm.

Granny war nicht an Bord gewesen, als das Boot abgelegt hatte, davon war Betty überzeugt – aber jetzt bekam sie Zweifel. Konnte es sein, dass Granny sich verkleidet hatte? Sonst hätte sie doch wohl nicht an Bord kommen können, ohne dass die Mädchen sie bemerkt hätten … aber warum hätte sie dann überhaupt zugelassen, dass die Fähre mit ihnen ablegte? Das ergab doch keinen Sinn.

»Granny?«, flüsterte Betty fassungslos. Sie wollte es noch nicht glauben, doch sie wusste schon, was das bedeutete. Jedes Fünkchen Hoffnung auf zukünftige Freiheiten war erloschen und so unmöglich geworden, wie den wabernden Nebel zu erhaschen. »Wie bist du … wo bist du hergekommen?«

»Das lasst mal meine Sache sein!« Granny starrte mit finsterem Blick auf sie herab. Sie sah beinahe wie eine Verrückte aus mit ihrem wirren grauen Haar, das sich aus dem Knoten gelöst hatte, ihrem schäbigen Mantel, dem Schultertuch und den abgetragenen Gummistiefeln. Und zu all dem hatte Granny noch diese hässliche alte Reisetasche mitgebracht, die sie ständig mit sich herumschleppte, auch wenn kein Mensch wusste, warum. Betty war auf einmal dankbar für den Nebel. Immerhin war er eine Schutzwand gegen neugierige Blicke. Kein Zweifel: Das Einzige, was ihrem Wagemut nun winkte, waren Peinlichkeit und Verwirrung, nicht Abenteuer. Sie brauchte ein neues Motto.

»Steuern Sie dieses Boot zurück!«, befahl Granny. »Wir steigen aus!«

»Das versuche ich ja schon«, blaffte der Fährmann, ohne den Blick von der Kompassrose abzuwenden, über die er sich gebeugt hatte.

Die Blicke der anderen Passagiere huschten über Grannys seltsame Erscheinung oder das, was sie davon erkennen konnten. Sie blinzelten, als versuchten sie herauszufinden, welche Art von Halloween-Kostüm es wohl sein sollte. Betty verzog das Gesicht.

»Beeilung, bitte!«, wiederholte Granny laut. »Dies ist kein Ort für Kinder!«

»Na, Sie ha’m se doch selbst hergebracht!«, sagte der Fährmann unmutig. Dann runzelte er die Stirn. »Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege, ich hab Sie gar nich’ an Bord kommen seh’n …«

»Unsinn. Ich war die ganze Zeit hier!«

Aber das kann nicht stimmen!, dachte Betty verwirrt. Sonst hätte Granny sicher schon früher etwas gesagt. Sie unterdrückte ein mürrisches Knurren. Der ganze Aufwand, die ganze Heimlichtuerei – für nichts und wieder nichts! Sie fühlte sich überhaupt nicht mehr wie eine große Abenteurerin. Sie fühlte sich wie ein dummes kleines Mädchen. Und das Schlimmste daran war: Sie war sogar ein winziges bisschen erleichtert, denn vor Grannys Auftauchen hatte sie in all dem Nebel richtig Angst gehabt.

»Aber Granny«, wisperte Charlie. »Du warst nicht hier!«

»Still jetzt!«, sagte Granny ganz und gar nicht leise.

Der Fährmann musterte Granny genauer. »Ich hab die Mädels an Bord gehen seh’n, aber Sie nich’. Sie ha’m nich’ bezahlt!«

»Aber sicher habe ich das.« Grannys ohnehin schon kalter Tonfall kühlte sich noch um ein paar Grad ab. »Oder wollen Sie etwa behaupten, dass ich bekleidet hier rübergeschwommen und wundersamerweise ganz und gar trocken an Bord geklettert bin?« Sie kniff die Augen zusammen. »Und werden Sie mir mal nicht frech, junger Mann. Ich kenne Ihren Vater!«

Das schien dem Fährmann einen größeren Schrecken einzujagen als zuvor der Nebel.

»Jetzt ist er aber dran«, sagte Charlie leise.

»Nein«, blaffte Granny. »Ihr zwei seid dran, wenn wir zu Hause sind. Und diesmal könnt ihr euch auf etwas gefasst machen.«

Betty schluckte. Sie hätte wissen müssen, dass es unmöglich war, Granny auszutricksen – schließlich war es ihr noch nie gelungen. Und jetzt stand ihnen ganz offensichtlich eine besonders unliebsame Überraschung bevor, als wäre Bettys Geburtstag nicht schon genug ruiniert. »Was soll denn das jetzt heißen?«

Granny antwortete nicht. Stattdessen wandte sie sich in einem noch strengeren Tonfall an den Fährmann: »Und nun schlage ich vor, Sie hören auf, herumzureden, und bringen diese frierenden nassen Leute zurück in Sicherheit. Ich schätze, viele von ihnen werden wissen wollen, warum die Fähre überhaupt ablegen durfte, wenn Nebel vorhergesagt war.«

»A-aber es war ja gar kein …«, widersprach der Fährmann.

»Dann müssen Sie aber furchtbar unerfahren sein«, sagte Granny. »Oder zu geldgierig.« Sie wandte demonstrativ den Blick ab.

Der Fährmann hörte auf zu protestieren, warf noch einen Blick auf die Windrose und begann gehorsam zu rudern. Auf der ganzen Fahrt zurück ans Ufer sagte niemand mehr ein Wort, aber Betty konnte spüren, wie die Anspannung in ihrer Großmutter wuchs. Im Augenblick mochte sie still sein, aber sobald sie wieder an Land wären, würde sie zweifellos eine Menge zu sagen haben. Betty allerdings auch. Etwas Merkwürdiges war hier passiert, und weder Grannys Zorn noch ihre Strafen würden Betty davon abhalten, Fragen zu stellen.

Wie war Granny bloß auf dieses Boot gekommen? Sicher, sie hatte schon immer eine unheimliche Gabe dafür gehabt, die Mädchen aufzuspüren. Wenn sie für irgendwelche Besorgungen zu lange brauchten oder beim Pilzesuchen zu tief in den Wald liefen, amüsierten sie sich immer darüber, dass Granny plötzlich auftauchte wie ein Spürhund. Aber dieses Mal fand Betty überhaupt nichts Lustiges daran. Stattdessen beschlich sie ein unbehagliches Gefühl – wie hatte Granny das gemacht?

Als sie anlegten, zitterten Betty und Charlie, und das lag nicht nur an der kalten Luft, die um ihre Beine strich. Der Schrecken, erwischt worden zu sein, steckte ihnen in den Gliedern. Granny hingegen kochte regelrecht vor Wut. Mit schnellen Atemstößen blies sie fast wie ein Drache Nebelwölkchen in die Luft. Sie befahl ihnen zu warten, bis alle anderen von Bord gegangen waren, dann kletterten sie an Land und machten sich auf den Rückweg zum Wildschütz. Betty warf einen Blick zurück zur nebelverhangenen Marsch. Manchmal zog der Nebel den ganzen Weg hinauf an Land und schlängelte sich durch die Straßen. Heute Abend jedoch verharrte er an den Uferrändern und schwebte dort wie ein unheimliches Marschwesen, das sein Versteck bewachte. Als die anderen Passagiere weitergegangen waren, begann Betty zu sprechen.

»Wie hast du das gemacht, Granny? Wie bist du auf dieses Boot gekommen, ohne dass wir dich gesehen haben? Das ist doch nicht möglich.«

»Ich war die ganze Zeit an Bord«, antwortete Granny knapp. »Ihr wart nur so mit eurem kleinen Abenteuer beschäftigt, dass ihr mich nicht gesehen habt.«

Betty musterte Grannys Gesicht und versuchte, irgendetwas daraus abzulesen. Alles, was sie darin erkennen konnte, war Wut, und das hielt sie normalerweise davon ab, zu viele Fragen zu stellen oder Granny zu widersprechen – aber heute Abend war nichts normal. All ihre Hoffnungen und Pläne waren zerschlagen worden. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, wenn sie ihre Gedanken offen aussprach, auch auf die Gefahr hin, mit zusätzlicher Hausarbeit bestraft zu werden. »Das glaube ich dir nicht. Dann hättest du schon früher etwas zu uns gesagt.«

»Ich wollte sehen, ob ihr es tatsächlich wagt«, sagte Granny gereizt, aber ganz ehrlich klang sie immer noch nicht. »Oder ob du zur Vernunft kommen und umkehren würdest.«

»Zur Vernunft kommen?« Betty wurde heiß im Gesicht, als der Zorn in ihr aufstieg – oder vielleicht waren es auch Grannys harsche Worte, die sie trafen.

»Charlie hierher mitzunehmen war dumm und unverantwortlich. Da hätte alles Mögliche passieren können!«

»Genau«, zischte Betty. Sie schob das nagende Gefühl der Scham beiseite. Jetzt, wo sie angefangen hatte, musste sie weiterreden. »Womöglich hätten wir sogar Spaß gehabt.«

Granny ignorierte sie und zog ihr Tuch fester um den Körper. Dann bohrte sie einen Finger zwischen Bettys Schultern und schob sie vor sich her die Gasse entlang. »Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen, Betty Widdershins. Ich dachte, ich könnte dir vertrauen, aber da habe ich mich wohl getäuscht.«

»Das ist nicht fair!« Bettys Stimme klang jetzt laut durch die Nacht. »Gut, ich hätte das nicht hinter deinem Rücken machen sollen. Komm schon, Granny! Ein klein bisschen Freiheit zu wollen – das ist doch kein Verbrechen, und du weißt, ich würde nie zulassen, dass Charlie etwas zustößt …«

»Das denkst du«, warf Granny ein. »Aber du bist dreizehn Jahre alt! Du weißt nichts von der Welt. Es gibt so vieles da draußen, das euch zustoßen könnte – Dinge, von denen du nichts weißt …«

»Ich werde auch nie darüber Bescheid wissen, wenn du mich nicht lässt.« Betty sprach jetzt ganz ruhig, doch mit so viel Trotz, wie sie es wagte. Grannys grimmige Art reichte normalerweise bereits, um sie von frechen Widerworten abzubringen, und dazu kam das Gefühl, nicht noch eine größere Belastung sein zu wollen als ohnehin schon. Und trotzdem: Genug war genug. Sie wartete auf den üblichen Protest ihrer Großmutter, die üblichen Versprechungen, mit den Mädchen Ausflüge oder Urlaubsreisen zu unternehmen – aber diesmal schwieg Granny. Sie sah jetzt furchtbar müde aus und noch älter als sonst.

Das schlechte Gewissen saß wie ein Kloß in Bettys Hals. Granny war immerhin diejenige gewesen, die sich um Betty und ihre Schwestern gekümmert hatte. Wenn sie nicht da gewesen wäre, um sie aufzunehmen, wären die Mädchen im Waisenhaus gelandet oder, schlimmer noch, getrennt worden und bei Fremden untergebracht. Sie schob den Gedanken beiseite. Dankbar zu sein sollte sie nicht davon abhalten, Antworten zu verlangen. »Du sagst, du kannst mir jetzt nicht mehr vertrauen, aber du hast mir noch nie vertraut – zumindest nicht, wenn es darum ging, sich aus Krähenstein wegzubewegen.«

Granny stampfte über das Kopfsteinpflaster. »Hör auf, Betty. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt oder der richtige Ort.« Sie ging schnellen Schrittes weiter. Mit der einen Hand hielt sie ihr Tuch fest, in der anderen trug sie die Reisetasche.

Betty griff nach Charlies Hand und eilte Granny hinterher, entschlossen, sich nicht so schnell abwimmeln zu lassen. »Wie hast du herausgefunden, wo wir sind?«

»Das Flugblatt«, sagte Granny knapp.

Am Nachmittag war Betty das Flugblatt aus der Manteltasche gefallen, und Fliss hatte es stirnrunzelnd aufgehoben.

»Was ist denn das? Ein Halloween-Jahrmarkt in Marschweiler?«

»Oh«, hatte Betty mit klopfendem Herzen gesagt. »Ich hab gefragt, ob wir da hingehen können, aber Granny hat natürlich Nein gesagt.«

»Natürlich«, hatte Fliss wiederholt und das Flugblatt einen Augenblick zu lang in der Hand gehalten.

»Dann hat Fliss uns also verpfiffen?«, fragte Betty, kochend vor Wut. »Oder hat sie das Flugblatt absichtlich rumliegen lassen, damit du es findest?«

Granny wich der Frage aus. Sie beugte sich kurz hinunter, um einen Strumpf hochzuziehen, und sagte nur: »Es ist ein Glück, dass ihr eure Spuren nicht besser verwischt habt.«

»Ein Glück?« Betty blieb mitten auf der Straße stehen. Als Glück empfand sie es nun wirklich nicht, dass Granny ihr Abenteuer durchkreuzt hatte. Wieso wollte Fliss der täglichen Schinderei nicht ebenso entkommen wie sie, und warum schien es sie nicht mehr zu stören, dass Granny sie ständig kontrollierte?

Granny blieb ebenfalls stehen und schimpfte: »Hört auf zu trödeln!«

»Komm schon, Betty«, bettelte Charlie. »Mir ist kalt!«

Betty ließ die Hand ihrer Schwester los und ballte ihre eigene langsam zur Faust. Das Flugblatt für den Halloween-Jahrmarkt mitzunehmen war leichtsinnig gewesen, und jetzt würde es schwieriger werden als je zuvor, irgendwelche geheimen Ausflüge zu planen, denn Granny würde sie von nun an auf Schritt und Tritt bewachen. Aber Pläne würde sie trotzdem schmieden, und nächstes Mal würde sie keinen Fehler machen. Ach was, nächstes Mal würde sie vielleicht gar nicht mehr zurückkommen.

Schritte klangen durch die Stille, als Granny sie überholte und plötzlich vor ihr stand.

»Hör auf zu schmollen. Und ich will keinen Streit, wenn wir zurückkommen. Fliss hat absolut keine Schuld an dieser Sache.«

»Nein.« Betty lockerte ihre Fäuste. »Du hast Schuld.«

»Wie bitte?«, fragte Granny. Ihre gedämpfte Stimme klang unheimlich, doch Betty ließ nicht locker. All ihr aufgestauter Ärger, all ihre Enttäuschung und die vielen Ermahnungen, immer in der Nähe von zu Hause zu bleiben, die Art, wie Fliss sie in letzter Zeit ausgeschlossen hatte – all das brach aus ihr heraus.

»Früher wollte Fliss auch Abenteuer erleben, so wie ich«, sagte Betty. Sie zog sich die Maske vom Gesicht, und die kalte Luft traf auf ihre Wangen. »Sie hat immer von all den Orten gesprochen, die sie sehen wollte … aber jetzt nicht mehr. Dabei ist sie sechzehn! Sie sollte überall hingehen dürfen. Dass sie aufgegeben hat, ist allein deine Schuld.«

Da wich auf einmal die Wut aus Granny, und sie schien in ihrer Kleidung zusammenzuschrumpfen. »Das ist nicht gerecht.«

»Nein, das ist es nicht.« Tränen brannten in Bettys Augen. »All deine Geschichten und das ständige Was-wäre-wenn haben Fliss entmutigt. Du hast ihr die Abenteuerlust ausgetrieben. Ich werde nicht zulassen, dass mir oder Charlie das auch passiert.«

Granny schüttelte den Kopf, und es sah aus, als würde sie selbst auseinanderfallen wie die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Knoten lösten. »So ist es nicht.«

»Dann erklär es mir«, sagte Betty und konnte selbst kaum glauben, welche Worte da aus ihr herausplatzten. »Warum all die gebrochenen Versprechen und Ausreden? Du tust immer so knallhart, aber vielleicht bist du ja diejenige, die Angst hat, Krähenstein zu verlassen!«

Granny wich Bettys Blick aus und sah zu Boden. »Wir waren schon oft woanders. Du warst nur zu klein, um dich zu erinnern.«

»Das glaube ich dir nicht«, sagte Betty. Ihre Stimme wurde fester, als sie sich ihrer Sache sicherer wurde. Jetzt, wo sie richtig darüber nachdachte, war schon immer etwas Merkwürdiges daran gewesen, dass Granny sie nie irgendwo hingehen ließ. Und ihr Griff schien nicht lockerer zu werden, je älter die Mädchen wurden – im Gegenteil. Es fühlte sich einfach alles falsch an. »Ich müsste mich doch an etwas erinnern können, zum Beispiel an besondere Ausflüge. Aber da ist nichts!«

Granny schwieg.

»Betty«, wisperte Charlie. »Bitte hör auf. Ich will nach Hause.«

»Warum?«, fragte Betty verbittert. »Wozu die Eile? Zu Hause sind wir doch schließlich immer!« Sie fuchtelte mit dem Finger in Richtung des Gefängnisses. »Wir sind auch nicht besser dran als die Gefangenen da drinnen.« Wütend ließ sie ihren Blick durch die kleinen, verwinkelten Gassen streifen. »Es mag vielleicht nicht heute Abend passieren, aber ich werde diesem Ort entkommen. Es gibt noch mehr im Leben als Krähenstein.«

»Nein, gibt es nicht«, sagte Granny mit gequältem Blick. »Es gibt keinen Weg aus diesem Ort. Nicht für uns.« Ihre Worte waren wie kleine scharfe Nadelspitzen. Charlie begann zu weinen.

»N-nicht für uns?«, wiederholte Betty. Bestimmt versuchte Granny nur wieder, sie einzuschüchtern. Warum sollten sie Krähenstein nicht verlassen können?

»Bist du sicher, dass du bereit für die Wahrheit bist?«, fragte Granny niedergeschlagen.

Betty erwiderte hilflos ihren starren Blick. Sie war nicht sicher – nicht, nachdem Granny im Grunde zugegeben hatte, dass Betty die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Aber sie konnte nicht anders, als zu nicken.

»Also gut.« Granny senkte zustimmend den Kopf. »Ich werde es dir erzählen. Schluss mit den Geheimnissen.« Sie trat schwerfällig näher und legte eine Hand auf Bettys Wange. »Aber ich warne dich: Es ist nichts Gutes.«

Charlie schmiegte sich näher an sie und weinte noch heftiger. Bettys Mund wurde ganz trocken. Hatte das alles irgendwie mit ihrem Vater zu tun? Wollte man sie wegen ihm bestrafen und ihnen deshalb wie den Menschen auf der Insel der Qualen verbieten, fortzugehen? Anders konnte sie es sich nicht erklären.

»Was meinst du? Sag schon!«

»Nicht hier.« Granny ließ ihre Hand sinken. Ihre alten Wangen wabbelten, als sie den Kopf bewegte und sich nervös umsah.

»Es wird nur eine kurze Reise, aber ihr müsst jetzt voll bei der Sache sein. Wir dürfen nicht gesehen werden.«

»Nicht gesehen werden? Granny, ich verstehe nicht …«

»Du musst auch nichts verstehen, halt dich einfach fest.« Granny schob ihren Arm unter Bettys. Die Reisetasche baumelte an ihrem Handgelenk. »Hak dich bei Charlie unter. So ist es richtig – haltet euch schön fest. Was auch immer euch geschieht, lasst nicht los.«

Betty fragte sich, ob ihre Großmutter jetzt endgültig verrückt geworden war. Warum sonst würde sie sich so sonderbar verhalten? »Granny, du machst mir Angst …«

»Nun ja, ich kann nicht anders. Und früher oder später hättet ihr es sowieso herausgefunden.« Granny hielt Bettys Arm noch etwas fester. Ihr vertrauter Geruch nach Tabak und Bier wirkte wärmend in der frostigen Luft. »Seid ihr bereit?«

»Für was?«, fragte Betty verwirrt, als Granny ihre Tasche öffnete.

Ihre Großmutter antwortete nicht. Stattdessen griff sie in die riesige Reisetasche, stülpte sie um und sagte mit klarer Stimme: »Wildschütz!«

Betty spürte einen ungeheuren Ruck in ihrem Inneren, als würde sie aus großer Höhe fallen. In ihren Ohren rauschte es, und ein gewaltiger Stoß eiskalter Luft fegte an ihr vorbei, sodass sie die Augen zukneifen musste und mit den Füßen jeden Halt verlor. Sie hörte, wie Granny nach Luft schnappte und Charlie ein seltsames kleines Stöhnen ausstieß, aber sie hielt sich entschlossen an beiden fest. Dann verlor sie ihr Gleichgewicht, und ihre Füße traten ins Leere.

»Granny!«, jammerte sie und riss die Augen auf, während sie stürzte. Unsanft landete sie auf dem Boden, ihre Großmutter und Charlie noch immer untergehakt. Unter ihrem Po spürte sie harte Pflastersteine, und der pfeifende Wind war von lärmenden Stimmen und Lachen abgelöst worden. Betty sah verblüfft auf und erkannte, dass sie alle drei vor der Eingangstür zum Wildschütz saßen.

»Nicht gerade eine meiner besseren Landungen, das gebe ich zu, aber ich bin auch keine Passagiere gewohnt.« Granny ließ Bettys Arm los und stand auf. »Uff, meine Hüften.« Nachdem sie sich den Staub von der Kleidung geklopft hatte, überprüfte sie ihre Reisetasche und ließ dann mit einem Nicken die Schnalle zuschnappen. »Wir sind zu Hause.«

Kapitel 3

Die drei Gaben

Hopp, hopp, weiter geht’s!«, sagte Granny. Sie spähte von dem dunklen Hauseingang hinaus auf den verlassenen Park. »Gut – niemand hat uns gesehen.«

Starr vor Schreck rappelte Betty sich auf und zog Charlie neben sich hoch. Beide starrten ihre Großmutter an. Auch wenn Betty noch zu benommen war, um zu sprechen, quoll ihr Kopf doch über vor Fragen. Was zum Raben war da gerade passiert … wie war so etwas überhaupt möglich? Und wie konnte Granny so tun, als wäre das alles ganz selbstverständlich? Charlie hatte aufgehört zu weinen, aber auf ihrem dreckverschmierten Gesicht waren noch Tränenspuren zu sehen. Ihr kleiner Körper zitterte.

»Kommt schon.« Granny schob sie auf die Tür zu. »Rein mit euch, raus aus der Kälte.«

Warme Luft, fröhliches Stimmengewirr und Musik strömten aus der Gaststätte. Betty trat ein, den Arm fest um Charlies Schultern gelegt. Drinnen war es schummrig, und der Schein der Kürbislaternen tauchte alles und jeden in ein goldenes Licht. Es war schwierig, sich zwischen all den Leuten zu bewegen, aber Granny schubste und drängelte, um sich einen Weg zur Bar zu bahnen, wo Fliss und ein anderes Mädchen, Gladys, einen Drink nach dem anderen ausschenkten.

Granny drückte Betty die Reisetasche in die Hand. »Nimm die mit hoch in die Küche. Und setzt schon mal Teewasser auf.«

Betty hielt die Tasche auf Armeslänge von sich. Sie hatte Angst, von dem Ding verschluckt und an irgendeinem unbekannten Ort wieder ausgespuckt zu werden.

»Heiliger Krähenfuß!« Granny riss die Reisetasche wieder an sich und klemmte sie sich unter den Arm. Sie nahm ein Glas von der Theke und schenkte sich einen großen Whisky ein. »Fliss!«, rief sie. »Nach oben.«

»Jetzt?«, platzte Fliss überrascht heraus.

»Jetzt.«

Die beiden sahen sich an, und Fliss machte auf einmal ein ganz ernstes Gesicht. Sie nickte, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und warf Betty einen Blick zu. Betty starrte zurück, und da entdeckte sie etwas, was aus der Schürzentasche ihrer Schwester ragte. Fliss versuchte hastig, es zurückzustopfen, aber Betty hatte es sofort erkannt: Es war eine Ecke des Jahrmarkt-Flugblatts, die da herauslugte. Fliss hatte sie also tatsächlich verraten. Doch all das, was gerade passiert war, hatte Bettys Wut abkühlen lassen und dafür nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Wusste Fliss, was Grannys alte Reisetasche wirklich konnte und was für ein großes Geheimnis ihre Großmutter ihnen erzählen wollte? Ungewohnte Gefühle von Eifersucht versponnen sich wie feine Fäden zu einem fremdartigen Muster. Früher waren es immer Betty und Fliss gewesen, die Geheimnisse geteilt hatten; jetzt war sie diejenige, die ausgeschlossen war.

»Wo wollt ihr denn hin?«, kreischte Gladys. »Ich stehe hier knöcheltief im Bier! Das schaffe ich nicht allein!«

»Wir brauchen nicht lang, und ich zahl dir heute Abend doppelten Lohn.« Granny trank den Whisky in einem einzigen Schluck und schenkte sich dann gleich einen zweiten ein.

»Das wird nicht helfen«, sagte Fliss.

»Du warst ja noch nie betrunken, woher willst du das also wissen?«, sagte Granny ärgerlich und drehte sich dann zu Betty um. »Hatte ich euch beiden nicht gesagt, ihr sollt nach oben gehen?«

Wie betäubt legte Betty ihre Hände auf Charlies Schultern und schob sie in Richtung Treppe. Als sie die Stufen hinaufstiegen, versuchte Betty, sich auf normale, alltägliche Dinge zu konzentrieren, betrachtete die abgeblätterte Tapete und den ramponierten Teppich. Das hier war ihre Welt, nicht eine, in der muffige alte Reisetaschen Leute von einem Ort zum anderen beförderten. Vielleicht war ja Schnupftabak in der Tasche gewesen, überlegte sie. Etwas, was sie vorübergehend benebelt hatte. Das war die einzige vernünftige Erklärung.

Sobald sie in der Küche waren, setzten sich Betty und Charlie an den Tisch. Charlie zog ihre Knie an und lugte über sie hinweg wie eine verängstigte kleine Maus, die Augen weit aufgerissen. Granny zog einen Stuhl hervor und verscheuchte schimpfend eine zerzauste schwarze Katze, die darauf gesessen hatte.

»Verschwinde!«, blaffte sie das fauchende Tier an. Die Katze hasste jeden, nur Charlie versuchte immer wieder, sich mit ihr anzufreunden. Sie war eines Tages einfach ins Haus spaziert (auch wenn Betty vermutete, dass Charlie sie mit Essensresten angelockt hatte), und jetzt wurden sie die Katze nicht mehr los. Granny hatte strenge Anweisung erteilt, ihr keinen Namen zu geben, und jedes Mal, wenn die Katze Anstalten machte, Charlie zu kratzen, rief sie »Pfui!« und fuchtelte mit dem Besen, aber die Katze kam immer wieder zurück und machte, was sie wollte. Und dank Charlie hatte sie nun doch einen Namen.

»Arme Pfui«, murmelte sie, als die Katze die Treppe hinunterschlich.

Fliss füllte die Teekanne. Granny setzte sich an den Kopf des Tisches, nahm ihre Pfeife hervor und stopfte sie mit Tabak.

Eine Minute später stellte Fliss jedem eine Tasse Tee auf den Tisch und rührte haufenweise Zucker hinein. »Das hilft, wenn man unter Schock steht.«

»Nicht so gut wie Whisky«, brummte Granny und griff wieder nach ihrem Glas.

Fliss schnaubte missbilligend. Dann fing Charlie an zu schluchzen.