Schlaf nicht ein - Michelle Harrison - E-Book

Schlaf nicht ein E-Book

Michelle Harrison

4,5

Beschreibung

Du siehst nachts die Geister von Toten. Du bist ihnen hilflos ausgeliefert. Und einer der Toten will deine große Liebe für sich. Du siehst nachts die Geister von Toten. Du musst etwas tun - und du bist ganz allein. Seit Monaten versucht Elliot, sich mit allen Mitteln wachzuhalten. Denn nachdem er bei einem Unfall für einige Minuten klinisch tot war, passieren schaurige Dinge mit ihm, während er schläft: Er kann sich nicht rühren, spürt Schatten, die sich um ihn herum bewegen, oder er wandelt durchs Haus, während sein Körper schlafend im Bett liegt. Als er sich in Ophelia verliebt, wird es noch unheimlicher: Offenbar versucht ein Toter, Besitz von Elliots Körper zu ergreifen …

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Schlaf, des Todes Bruder

Vergil

Ich schlafe nicht … aber das heißt nicht,

Außerhalb

Es begann, wie es immer begann.

Ich setzte mich im Bett auf, weil mich irgendetwas geweckt hatte. Zuerst dachte ich, es sei die Familie im Stockwerk über uns, die erst vor Kurzem eingezogen war. Rowdys, hatte Dad sie genannt, und dazu noch einiges mehr. Sie waren noch keinen Monat hier und schon hatten sie alle gegen sich aufgebracht, weil sie zu jeder Tages- und Nachtzeit laut fluchend, schimpfend oder rülpsend die Treppe hinauf- und hinuntertrampelten.

Aber diesmal waren sie es nicht. Diesmal war da nur das Summen der Stille. In unserer Wohnung und auch im gesamten Wohnblock war alles ruhig. Abgesehen vom Licht draußen im Gang lag das Zimmer im Dunkeln. Seit einiger Zeit ließ Dad das Licht manchmal die ganze Nacht über brennen, aber keiner von uns verlor ein Wort darüber.

Draußen bewegte sich etwas und verdeckte den Lichtstrahl, der durch den Türspalt fiel. Eine Gestalt, die auf Dads Schlafzimmer zuging. Ich fragte mich, wie lange Dad schon vor der Tür gestanden und mich durch den schmalen Spalt beobachtet hatte und ob er vielleicht sogar in meinem Zimmer gewesen war, während ich schlief. Ich wusste ja, dass er nächtelang wach war und grübelte. Sich Sorgen machte. An mich dachte, und an Mum. An den Unfall und daran, wie es hätte kommen können. Wieder einmal beschlichen mich die vertrauten Schuldgefühle, und ehe ich michs versah, war ich aufgestanden und durchquerte das Zimmer. Ich fror in meinen Boxershorts, in der Wohnung war es eiskalt. Gegen das grelle Licht anblinzelnd, schlich ich in den Flur hinaus und tastete nach dem Schalter. Mit dieser kleinen Geste wollte ich Dad zeigen, dass ich in dieser Nacht okay war. Ich blickte zur Uhr am Ende des Gangs.

Drei Uhr nachts.

Spätestens da hätte ich es wissen müssen. Die Uhrzeit war das erste Anzeichen. Aber genau das war mein Problem. Ich begriff es immer erst dann, wenn es schon zu spät war.

Ich tastete nach dem Lichtschalter und im selben Moment berührten meine Zehen etwas Nasses. Meine Hand verharrte über dem Schalter. Auf dem Laminatboden waren Wasserflecken von der Größe eines Fußabdrucks, die alle in Richtung Badezimmer führten. Ich stand in einer dieser kleinen Pfützen und das Wasser war eisig kalt.

Die Tür am Ende des Gangs fiel mit einem Klicken ins Schloss. Mein Blick folgte den feuchten Fußabdrücken und meine Ohren fingen ein Geräusch auf, ein unterdrücktes Schluchzen, das aus dem Badezimmer kam, dazu das leise Tröpfeln von Wasser. Dann war meine Hand plötzlich nicht mehr über dem Lichtschalter, sondern vor mir ausgestreckt, um die Badezimmertür aufzustoßen, zu der die nasse Spur führte.

Ich wollte Dad fragen, warum er weinte – obwohl ich tief in mir die Antwort längst wusste. Beim Öffnen der Tür schlug mir eine dichte Dampfwolke entgegen. Sie war nicht warm, sondern kalt und ließ mich erneut frösteln. Geräuschlos ging die Tür weit auf und Dampf quoll heraus in den Gang und verflüchtigte sich.

Ich ging ins Bad. Feuchte Schwaden legten sich auf meine Haut. Das Tröpfeln kam von der Badewanne. Einer der Wasserhähne war etwas aufgedreht. Durch den Dunst hindurch sah ich einen Arm, der auf dem Wannenrand lag.

»Was treibst du hier so spät in der Nacht?«, fragte ich. »Und warum weinst du?«

Es kam keine Antwort. Erst da bemerkte ich, wie dünn der Arm war. Wie blass und unbehaart … weiblich. Unsicher ging ich noch einen Schritt weiter und erhaschte dabei unabsichtlich einen Blick auf mehr, als sich gehörte.

Die Frau in der Wanne sah mich nicht. Ihre Augen waren dumpf und leer und ihre langen Haare trieben wie Seetang in der Wanne. Das Wasser hatte eine rötliche Farbe und schwappte sanft gegen den Überlauf. Der stete, aber leichte Zufluss hielt das Wasser warm, ohne die Wanne zu überfluten.

Durch die offene Tür hatte sich der Dunst weitgehend verflüchtigt, daher war alles entsetzlich gut zu erkennen. Der Hauch von einem Lächeln auf den farblosen Lippen. Die Rasierklinge auf dem Badewannenrand. Die Schnitte an ihren Handgelenken, rot und höhnisch wie ein Grinsen.

Zu spät begriff ich. Zu spät erinnerte ich mich.

Das war schon einmal passiert. Und das bedeutete, dass …

Rasch drehte ich mich um und ging zurück in mein Zimmer, taumelnd wich ich der Katze aus und stieg über meine Turnschuhe. Dem Schrecken im Bad war ich entronnen, aber nun, da ich mich wieder erinnerte, wusste ich, dass in meinem Zimmer noch Schlimmeres auf mich wartete.

Das Licht des Gangs erhellte Zimmer und Bett. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich auf mein Bett fallen zu lassen und mich unter meine Decke zu vergraben, bis das Zittern aufhörte. Zwei Dinge hinderten mich daran.

Zum einen war da ein großer schmaler Schatten, der dunkler war als alle anderen Schatten im Zimmer und der menschliche Umrisse hatte. Er war gesichtslos, dennoch wusste ich genau, worauf sein Blick gerichtet war.

Nämlich auf die Gestalt, die in meinem Bett lag. Ich sah das kurze dunkle Haar auf dem Kissen. Aber ich wusste ohnehin, wer es war.

Dort lag – ich selbst. Tief und fest schlafend.

Ein klägliches Wimmern erstarb in meiner Kehle. Mir war klar, dass ich zu mir zurückkehren musste, in meinen Körper, aber der Schatten an der Bettseite war viel Furcht einflößender als die Frau in der Badewanne.

Langsam bewegte sich der Kopf. Der Schatten richtete seine Aufmerksamkeit nicht länger auf mich im Bett, sondern auf mich an der Tür. Blitzschnell hechtete ich seitwärts auf meinen Körper. Die Matratze gab nicht nach, ich war gewichtslos, leicht wie Luft.

Ich musste in mich hinein. Und zwar sofort.

Der Mund meines schlafenden Ichs stand offen. Ich hatte es schon einmal auf diese Weise gemacht. Ich beugte mich vor, öffnete den Mund noch etwas weiter und versuchte, meinen Kopf in die viel zu kleine Öffnung zu pressen. Ich spürte den Blick der Schattengestalt wie ein Prickeln auf meinem Rücken und ich fühlte, wie sie einen Schritt auf mich zumachte. Auf uns.

Verzweifelt umklammerte ich mein Gesicht und verstärkte meine Anstrengungen. Als ich fast schon aufgeben wollte, weil nichts zu helfen schien, passierte es. Ich spürte ein Kratzen, wie wenn man gegen etwas schrammt, dann ein überwältigendes Gefühl der Enge und dann …

Dann war ich wieder in meinem Körper – und diesmal wirklich wach. Mein Herz raste. Ich schnappte nach Luft, zitterte, schluchzte. Ich war wieder allein. Der Schatten war verschwunden. Geblieben war das beklemmende Gefühl und der Angstschweiß.

Ich sehnte mich danach, mich in meine Bettdecke zu verkriechen, aber zuvor musste ich noch etwas herausfinden. Leise stand ich auf und schlich hinaus. Aber diesmal war keine Frau im Bad. Es war leer – so wie auch mein Bett, als ich in mein Zimmer zurückkehrte.

Es hatte nicht nur angefangen wie immer, es endete auch so. Ich lag da, in meine Decke gehüllt, und verbrachte den Rest der Nacht damit, krampfhaft wach zu bleiben.

Spuren

»Gestern Nacht ist es wieder passiert.«

Dad stand am Wohnzimmerfenster und rauchte vermutlich bereits die fünfte seiner zwanzig Zigaretten am Tag. Mit der freien Hand hielt er den vom Nikotin vergilbten Vorhang an der Seite und gab so den Blick frei auf das Grün vor der Wohnanlage. Wobei man eigentlich nicht von Grün sprechen konnte: eine winzige Rasenfläche, ein einzelner Baum und ein deprimierendes »Ballspielen verboten«-Schild – umgeben von hohen Wohnblöcken, neben denen alles andere regelrecht zusammenschrumpfte.

Bei meinen Worten zuckte Dad zusammen. Er ließ den Vorhang fallen und wandte sich zu mir um. Ich setzte mich auf die Couch und schnippte Zigarettenasche von den Kissen.

»Wie wär’s mit Frühstück?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Keinen Hunger.« Der Schlafmangel erstickte meinen Appetit, außerdem war es schon nach elf.

»Dann eben nur Kaffee. Geh und wasch dich. Du siehst aus wie der leibhaftig auferstandene Tod.« Er schlurfte hinaus und hinterließ eine Aschespur auf dem Teppich.

Ich stand auf, ging ins Badezimmer und schloss die Tür gegen das Klirren und Klappern aus der Küche. Wie unter Zwang glitt mein Blick zur Wanne. Der leichte Dreckrand war viel niedriger als derjenige, den ich in der Nacht gesehen hatte oder zumindest geglaubt hatte zu sehen. Im kalten Morgenlicht war ich mir plötzlich nicht mehr so sicher. Ich beschloss, auf eine Dusche zu verzichten, denn ich hatte keine Lust, in die Wanne zu steigen. Außerdem spielte schon seit Wochen der Boiler verrückt, alle paar Minuten kam kaltes statt warmes Wasser – an besonders schlechten Tagen waren es sogar nur Sekunden –, aber keiner der von Dad beauftragten Klempner hatte herausgefunden, woran es lag. Ich hätte natürlich den Wasserkessel aufsetzen können, so wie Dad, aber die Kälte trieb mir wenigstens die letzte Schläfrigkeit aus.

Ich ging zum Waschbecken, ließ Wasser ein und spritzte eisiges Wasser auf Gesicht und Hals.

Während ich mich wusch, abtrocknete, meine Zähne putzte und mit Zahnseide reinigte, vermied ich es tunlichst, in den Spiegel zu schauen. Ich brauchte nicht erst mein Spiegelbild zu sehen, um zu wissen, dass Dad recht hatte. Ich sah aus wie der leibhaftige Tod. »Auferstanden« war dabei sogar noch geschmeichelt.

Mein Aussehen war früher eigentlich ganz okay gewesen: blaue Augen – und damit meine ich richtig blau –, dunkle, fast schwarze Haare, schöne Zähne. Aber das war früher. Jetzt bettelten meine blutunterlaufenen Augen geradezu nach Erholung. Mein Haar brauchte dringend einen Friseur und war meistens so fettig, dass es zum Frittieren von Pommes gereicht hätte. Nur meine Zähne waren noch in Ordnung, wenn auch etwas fleckig, weil ich zu viel Kaffee in mich hineinkippte, um wach zu bleiben. Sport hatte ich schon seit Monaten nicht gemacht. Seltsamerweise hatte ich aber nicht an Gewicht zugelegt, sondern abgenommen. Ich verbarg meinen mageren Körper unter Kleiderschichten, aber nur eine Maske hätte meine hohlen Wangen und die eingefallenen Augen überdecken können.

Ich wusste genau, wie ich aussah. Gehetzt, um nicht zu sagen verwahrlost. Aber darum sorgte ich mich gar nicht so sehr. Worum ich mir Sorgen machte, war, dass es mir im Grunde genommen egal war.

Dad klopfte an die Tür. »Elliott? Ich habe dir deinen Kaffee gebracht.«

Beim Hinausgehen wäre ich fast über den Kaffeebecher auf dem Fußboden gestolpert. Ich nahm ihn und ging zu Dad in die Küche. Der Geruch von verbranntem Toast stieg mir in die Nase. Ich setzte mich, nippte an dem bitteren Kaffee und fügte noch einen weiteren Löffel Zucker hinzu.

»Hast du heute Nacht nach mir gesehen?«, fragte ich Dad und rührte den Zucker um. »Als ich im Bett war?«

»Nein. Ich bin vor dir schlafen gegangen. Das weißt du doch.«

Er hatte recht, aber ich wollte die Hoffnung, dass die Gestalt an der Tür nicht Tess gewesen war, nicht so ohne Weiteres aufgeben.

»Ja, aber …«

»Ich habe das vorhin schon verstanden«, unterbrach er mich, »als du sagtest, dass es wieder passiert ist. Wer war es diesmal?«

Ich nippte an meinem Kaffee. Immer noch zu bitter.

»Das Mädchen in der Wanne.«

»Wieder so ein Außerhalb-des-Körpers-Zustand?«

Ich nickte. »Ich habe sie gesehen, Dad. Ich habe die feuchten Fußabdrücke im Korridor mit meinen Zehen berührt. Alles war wie … sonst auch. Das Blut im Wasser, der Schatten im Schlafzimmer.« Ich hielt inne. Dads Gesicht war inzwischen fast so grau wie sein Haar.

»Warum rufst du nicht Dr.Finch an?«, schlug er vor. »Vielleicht kann er dich heute oder morgen dazwischenschieben. Könnte doch sein, dass jemand einen Termin abgesagt hat.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Darüber zu reden, kann dir helfen.«

»Ich rede gerade darüber.«

Dad angelte sich eine Zigarette und zündete sie an. »Du weißt, was ich meine«, sagte er etwas ruhiger, nachdem er den ersten Zug genommen hatte. »Du solltest mit einem Profi darüber sprechen.«

»Das habe ich«, sagte ich. »Ich habe geredet und geredet. Ihm ist nichts Besseres eingefallen, als mir zu erklären, dass das alles nicht wirklich passiert und dass ich nur aus meinem REM-Schlaf hochgeschreckt bin.«

Dad machte einen tiefen Lungenzug und stieß den Rauch aus. »Dann solltest du besser auf ihn hören.«

»Vielleicht solltest du besser hören.«

»Das habe ich, Elliott. Und was du mir sagst, ist nicht neu. Was die Frau angeht, so wussten wir alle – du, ich, Adam, deine Mum –, was hier passiert ist. Deine Mum und ich haben es so lange wie möglich von dir ferngehalten, aber uns war klar, dass du es früher oder später erfahren würdest. Solche Dinge bleiben nicht auf Dauer verborgen.«

»Dass sich hier eine Frau umgebracht hat, wusste ich seit meinem ersten Jahr in der Highschool«, erwiderte ich. »Anfangs hat es mich beunruhigt, aber im Lauf der Zeit habe ich aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen. Ich hatte es beinahe schon vergessen. Bis mich plötzlich irgendetwas in die Lage versetzte, sie zu sehen.«

»Du denkst nur, du siehst sie.«

»Nein, ich –«

»Warum siehst du sie ausgerechnet dann, wenn sie im Bad stirbt? Das muss doch einen Grund haben, oder?«, unterbrach mich Dad. »Wenn die Leute über Tess Fielding reden, geht es immer um die Art und Weise, wie sie zu Tode gekommen ist. Falls sie also ein Geist ist und vorausgesetzt, du siehst sie tatsächlich, warum siehst du sie dann immer im Augenblick ihres Todes? Warum siehst du sie nie in einem anderen, früheren Moment ihres Lebens?«

Ich zuckte mit den Schultern und vermied es, ihn anzusehen. »Vielleicht weil es nicht die alltäglichen Momente sind, die Spuren hinterlassen, sondern die gewaltsamen.«

»Spuren?« Dad schüttelte den Kopf. »Wenn du die Bücher, die Finch dir gegeben hat, genauer gelesen hättest, statt dich mit diesem paranormalen Hokuspokus zu beschäftigen …« Er drückte seine Zigarette aus. »Es wundert mich nicht, dass deine Gedanken um den Tod kreisen, nach allem, was du erlebt hast. Deshalb bist du ja auch so fixiert auf Tess und ihr Schicksal. Dass du in ihrer Wohnung lebst, muss nichts heißen. Zumindest war es früher so. Aber jetzt spielt dir dein Verstand Streiche und da kommt die Sache mit Tess gerade recht.«

Ich stand auf und stellte meine Tasse ins Spülbecken.

»Wohin gehst du?«

»Zu Adam.«

Dad zog eine Augenbraue hoch. »In diesem Aufzug?«

Ich betrachtete meine zerrissene Jeans und das zerknitterte T-Shirt. »Na und?«

Er schüttelte den Kopf. »Findest du nicht, dass es Zeit ist, ans College zurückzukehren? Wenn es dir gut genug geht, bei Adam vorbeizuschauen, dann –«

»Lass gut sein, Dad. Ich sagte doch schon, dass ich noch nicht so weit bin.«

Ich griff nach dem Schlüsselbund. Das Schlagen der Tür hallte in meinen Ohren, als ich die drei Stockwerke hinunterging. Je weiter ich nach unten kam, desto stärker roch es nach Pisse. Ich beeilte mich rauszukommen und war froh, als ich endlich am Wagen angelangt war. Ich schloss auf und stieg ein.

Der Motor fing an zu schnurren, aber das Geräusch wurde sofort von einem kreischenden Kurt Cobain aus dem Lautsprecher überdeckt. Ich drehte die Musik nicht leiser, sondern umrundete die Grünfläche und bog in die Straße ein. Der Lärm würde mich wach halten.

Vor dem Unfall hatte mir das Autofahren Spaß gemacht. Unmittelbar nach meiner Fahrprüfung hatte ich die Straßen unsicher gemacht und die neu gewonnene Freiheit genossen. Mein Auto war zwar kein Ferrari, aber es war so weit ganz okay. Im Gegensatz zu den anderen Möchtegernrennfahrern hatte ich weder die Fenster geschwärzt noch einen dieser gigantischen Auspuffe montiert oder etwas ähnlich Bescheuertes gemacht. Ich hielt mich sogar ans Tempolimit. Deshalb war es ja auch so unfair, dass der Unfall ausgerechnet mir passiert war.

An der Ampel der Hauptstraße blieb ich stehen. Wie von selbst griff meine Hand in mein Haar. Die Finger tasteten über das Narbengewebe am Hinterkopf. Die Haut war straff und glatt. An dieser Stelle würden nie wieder Haare nachwachsen, aber das machte nichts, ich konnte sie mit den anderen Haaren überdecken.

Rechts vor mir erstreckte sich eine Ladenzeile. Einige Leute standen vor dem Postamt an und am Ende der Straße kamen Mädchen aus dem Imbiss, bliesen auf ihre Pommes frites und aßen sie direkt aus dem Einwickelpapier. Einige von ihnen erkannte ich. Juliets Freundinnen. Sie warfen ihre Haare zurück und kicherten. Ich sah mich nach Juliet um, konnte sie aber nirgends entdecken. Dann kam sie aus dem Shop und strich ihr dunkles Haar zurück.

Sie blickte sofort in meine Richtung, so als wüsste sie, dass ich sie beobachtete. Falls sie mich nicht wiedererkannte, was gut möglich war, dann erkannte sie zumindest das Auto. Vergangenes Jahr hatten wir ein paarmal zusammen etwas unternommen. Eigentlich hatte sie mich schon seit unserem ersten Jahr im College immer wieder mit ihren Blicken verfolgt.

Bei unserem letzten Date waren wir auf einer Party gewesen. Irgendjemand hatte seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Juliet hatte ein bisschen was getrunken, aber ich war nüchtern geblieben. Ich musste ja noch Auto fahren. Sie schlug vor, nach oben zu gehen. Ich sagte Nein, nicht auf einer Party, wo alle möglichen Leute reinplatzen konnten.

Ich brachte sie stattdessen zu Adam.

Danach habe ich sie nicht wieder angerufen. Nicht dass ich sie nicht gemocht hätte, aber ich wusste, wie das lief. Mit Mädchen ist das so eine Sache. Man kommt einander ein klein wenig zu nahe und sofort glauben sie, man wäre ihr Eigentum. Adam hatte mich immer wieder gewarnt, er hatte es schon viel zu oft bei seinen Freunden miterlebt. Gerade noch steckst du voller ehrgeiziger Pläne und im nächsten Moment hat deine Freundin ein Strampelbaby im Bauch und du sitzt in der Falle, einfach so. Nein danke, sag ich da nur.

Also habe ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet. Ich war ein Feigling. Als sie nachfragte, habe ich sie ziemlich unverfroren abgewimmelt. Damals hatte ich noch den Nerv für so etwas. Den Nerv und die Kaltschnäuzigkeit, die man braucht, um praktisch mit allem durchzukommen – mal wieder den Rückruf vergessen, dringende Abgabetermine für Schularbeiten und so weiter. Ich kannte sämtliche Ausreden und nutzte sie für meine Zwecke.

Ich ließ mir ein weiteres Mal ihre Telefonnummer geben. Es war wie ein Spiel. Als sie begriff, was ablief, sah sie mich mit ernsten Augen an und da wurde mir klar, dass sie mich durchschaut hatte.

»Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragte sie mich eines Tages an meinem Spind. »Ist es das? Ist das der Grund, warum du mich nicht anrufst?« Ihr Kinn zitterte und mich überfiel das scheußliche Gefühl, das einen immer überkommt, wenn Mädchen anfangen zu weinen und man nicht weiß, was man tun soll, damit sie wieder aufhören.

»Du hast nichts falsch gemacht. Ich … ich möchte einfach keine feste Beziehung.«

Ihre Freunde – und meine – beobachteten uns vom Ende des Gangs aus. Ich legte den Arm um sie. Sie zuckte zusammen und mir war klar, dass sie meinen Arm am liebsten abgeschüttelt hätte. Aber sie wollte keine Szene machen, deshalb ließ sie es zu. Langsam beugte ich den Kopf und küsste sie. Es war ein Abschiedskuss und sie wusste es.

»Wirst du es jetzt allen weitererzählen?«, fragte sie.

»So einer bin ich nicht.«

Ihre Augen verrieten, wie verletzt sie war. »Doch, das bist du. Du bist ein Arschloch.«

Ich ließ sie stehen und ging weg, denn sie hatte ja recht.

Aber zumindest hatte ich nicht gelogen. Ich war vielleicht ein Arschloch, aber ich hatte meine Grundsätze. Ich habe niemandem erzählt, dass ich mit ihr geschlafen habe.

Ich beobachtete Juliet aus dem Auto heraus und überlegte, ob ich mir Hoffnung auf ein Lächeln machen konnte. In den vergangenen Monaten war ihr Gesichtsausdruck mir gegenüber weicher geworden, statt zornig war er nur noch abweisend. Aber jetzt las ich in ihren Augen etwas anderes: Mitleid. Und das gefiel mir überhaupt nicht.

Ich spürte, wie sich mein Gesicht verzerrte, wie meine Miene abschätzig wurde und gemein.

Hinter mir hupten die Autos. Die Ampel war umgesprungen. Ich blinzelte und unterbrach den Augenkontakt mit Juliet, während das Hupkonzert anschwoll. Nach ein paar Sekunden schaffte ich es schließlich, den Gang einzulegen und die Kreuzung zu überqueren. Erst vor drei Wochen hatte ich die Erlaubnis erhalten, mich wieder ans Steuer zu setzen. Ich redete mir ein, dass ich nur etwas eingerostet war, aber es war ein weiterer Punkt auf der langen Liste von Dingen, die ich nicht mehr so gut konnte wie früher.

Die Fahrt zu meinem Bruder dauerte etwa zehn Minuten. Er lebte in einem Haus, das er sich mit seiner Freundin und einem weiteren Pärchen teilte. Nachdem ich geparkt hatte, ging ich die Auffahrt entlang und klopfte an das Küchenfenster.

Es dauerte nicht lange und die Vordertür ging auf. Adam, der nur seine Jeans anhatte, stand vor mir und bat mich herein. Ich schloss die Tür und setzte mich an den Küchentisch, während er wieder nach oben ging. Ich betrachtete seine breiten Schultern und seine nussbraune Haut und spürte, wie sich ein Knoten in meinen verkrampften Schultern löste.

Adams Wohnung war der einzige Ort, an dem ich mich entspannen konnte. Sie war vollgestopft mit den Habseligkeiten von vier Leuten, aber sie strahlte immer etwas Warmes und Herzliches aus, so, wie man es von einem Zuhause erwartet. Außerdem roch es gut, denn auf der Anrichte stand frisch gebrühter Kaffee.

Ich stand auf und holte eine Tasse aus dem Regal. »Ist es okay, wenn ich mir einen Kaffee nehme?«, rief ich.

»Wenn’s unbedingt sein muss.« Adam kam in die Küche zurück und war gerade dabei, sich ein Shirt über den Kopf zu ziehen. »Du weißt, dass er nicht gut für dich ist.«

»Ein paar Tassen am Morgen können nicht schaden.« Ich holte mir noch etwas Milch. »Nur später am Tag soll ich keinen mehr trinken. Egal, jedenfalls ist Dads Kaffee ein widerliches Gebräu. Ich muss hierher zu dir kommen, wenn ich was Anständiges haben will.«

Adams Nase zuckte. »Funktioniert der Boiler denn immer noch nicht?«

»Nein. Wieso fragst du?«

»Weil du mittlerweile wie ein Landstreicher riechst.«

Ich nahm einen großen Schluck Kaffee. »Ich habe mein Gesicht gewaschen.«

»Ich rede auch nicht von deinem Gesicht, sondern von deinen Achselhöhlen. Der Gestank schlägt mir schon von Weitem entgegen.«

Das liebte ich so an Adam. Er redete keinen Scheiß, sondern sprach Klartext.

Er zog Klamotten und ein Handtuch aus einem Stapel frischer Wäsche und schleuderte sie auf mich. »Geh und wasch dich.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Und beeil dich – ich mache den Laden um zwölf auf. Deinetwegen bin ich spät dran.«

»Kann ich nicht einfach –«, fing ich an, aber Adam schüttelte sofort den Kopf.

»Heute nicht. Amy kommt mittags nach Hause und muss lernen. Sie wäre nicht gerade begeistert, wenn du hier rumhängst.«

Ich verzog mich ins Badezimmer, drehte die Dusche auf und schälte mich aus meinen Klamotten. Ich schnüffelte an meiner Achselhöhle. Meine Augen fingen an zu tränen. Adam hatte recht. Ich verspürte ein merkwürdiges Gefühl, vielleicht so etwas wie Scham. Der heiße Wasserstrahl traf meine Haut, als ich in die Dusche stieg. Ich schloss die Augen. Hier hatte ich keine Angst, es zu tun, hier wartete kein totes Mädchen auf mich.

Zehn Minuten später verließ ich das Badezimmer in den Kleidern meines Bruders. So wie meine eigenen schlotterten sie an mir herum und zeigten mir, wie dünn ich geworden war. Eigentlich erinnerte mich alles an Adam daran, wie ich früher gewesen war. Der Altersunterschied zwischen uns beiden war nie aufgefallen – Adam war zwanzig, also drei Jahre älter als ich. Früher hatte jeder sofort erkannt, dass wir Geschwister waren. Wir hatten die gleichen Gesichtszüge und fast die gleiche Statur und Hautfarbe. Jetzt war ich nur ein müder Abklatsch von ihm. Ein schlecht gemachter Coversong. Die Worte kamen zwar alle vor, auch Reihenfolge und Melodie waren gleich, aber trotzdem klang es nicht annähernd so gut.

Adam nickte zufrieden und ich wusste nicht recht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte. Ich machte Anstalten, mir eine zweite Tasse Kaffee einzuschenken, denn er schmeckte wirklich gut, aber Adam zog bereits seine Jacke an.

»Keine Zeit. Schnapp dir deine Schlüssel, du kannst mich fahren.«

Noch aufgewärmt von der Dusche überlief mich ein Schauer, als ich ins Freie trat. Es war Mai, jene seltsame, wetterwendische Zeit des Jahres, in der es nicht mehr Frühling, aber auch noch nicht Sommer ist. Im Auto durchsuchte Adam meine CD-Sammlung und wechselte die CD im Player, dann bewegten sich seine Finger auf einem imaginären Gitarrenbund.

Als wir an die Kreuzung kamen, schweifte mein Blick in Richtung Schnellimbiss. Diesmal standen nur Arbeiter und Schulkinder davor.

»Ich habe heute Juliet gesehen.«

Adam hielt mitten im Spiel inne. »Juliet … ist das die Brünette, die du letztes Jahr abgeschleppt hast?«

Ich nickte. Ich hatte es nur Adam erzählt. Ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte. Wir hatten einen Ehrenkodex, er und ich. Na ja, eigentlich nur er. Adam wusste immer genau, was zu tun war, und fand immer die richtigen Worte. Er wusste, wie man mit Mädchen schlief, ohne sich gleich in eine Beziehung zu verstricken oder sie allzu grob abzuservieren. Und die erste Regel bei Letzterem lautete, auf keinen Fall herumzuprahlen.

»Du hättest mal sehen sollen, wie sie mich angeschaut hat.«

»Ich dachte, sie ist inzwischen drüber weg.«

»Das ist sie auch. Sie hat mich nicht so angesehen wie früher, als sie mich gehasst hat. Sie hat mich angesehen, als fände sie mich bedauernswert –«

»Das ist der Preis dafür, wenn du jemanden sitzen lässt.«

»Nein, ich hatte eher das Gefühl, dass ich ihr leidtue.«

Adam sagte ganz ruhig: »Das wird schon. Du brauchst noch etwas Zeit, bis du wieder ganz der Alte bist … so wie vorher. Du musst mehr auf dich achten. Lass uns wieder zusammen laufen gehen. Dann bist du bald wieder so wie früher und die Mädels schmeißen sich an dich ran.«

»Ich bin zu müde, um zu laufen«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen, denn ich konnte nur mit Mühe meine Gereiztheit verbergen. »Und Mädchen interessieren mich zurzeit nicht.«

Adam zuckte bei meinem scharfen Tonfall zusammen und für einen Augenblick war die dicke Luft zwischen uns beiden im Auto fast greifbar. Aber dann trat ein träumerischer Ausdruck in seine Augen. »Das habe ich auch gedacht – bis ich Amy traf.«

»Ja, schon gut …«

»Ich meine es ernst!« Sein Grinsen versetzte mir einen Stich. »Du hast nur noch nicht die Richtige getroffen. Wenn es so weit ist, wirst du es schon merken. Und dann wirst du garantiert keine falschen Spielchen treiben wollen.«

»Stimmt genau.« Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. »Da ist diese eine, die gelegentlich nackt im Badezimmer auftaucht, aber irgendetwas fehlt ihr … oh ja, jetzt hab ich’s. Ihr fehlt der Pulsschlag.«

Adams Lächeln war wie weggewischt. Er pfiff durch die Zähne und starrte aus dem Fenster. Für den Rest der Fahrt sagte keiner von uns beiden ein Wort.

Inzwischen tat es mir leid, die Fassung verloren zu haben. Adam schaffte es sonst immer, mich aufzumuntern. Ich wollte noch nicht weg und nach Hause wollte ich erst recht nicht. Dort wartete nur das Mittagsfernsehen auf mich und das Gefühl der Beklemmung, sobald ich das Badezimmer betrat.

Adam schien meine Gedanken von meinem Gesicht ablesen zu können, denn er sagte: »Komm doch noch mit rein, wenn du Lust hast.«

Ich blickte auf die abgedunkelten Fenster des Acorn. »Ich hab keine Lust, mit irgendjemand zu reden.«

Adams Hand ruhte auf dem Türöffner. »Jetzt ist nicht viel los. Es werden nur Stammgäste da sein und die lassen dich in Ruhe. Komm schon – du kannst mir dabei helfen, die Bar herzurichten.«

Er stieg aus und ich ertappte mich dabei, wie ich brav die Schlüssel abzog und ihm über den Parkplatz folgte. Ein einsamer Gast, ein Mann so um die sechzig, wartete darauf, eingelassen zu werden. Er tippte auf seine Uhr und neckte Adam, dass er wohl verschlafen habe. Mich beachtete er nicht und ich hielt stur den Kopf gesenkt. Die meisten Leute kannten mich ohnehin nur als den »Drake-Jungen, der den Unfall hatte«. Adam schloss die Türen auf und ging hinein, während der Gast und ich zurückblieben und darauf warteten, dass Adam die Alarmanlage ausschaltete.

Es stank nach Bier und muffigen Abtropfwannen, ein Geruch, bei dem man sich wie nach einer durchzechten Nacht fühlte, ohne einen Tropfen getrunken zu haben. Während Adam die Kassenschublade aus dem Büro holte, füllte ich die Eisbehälter und Wasserkrüge. Als er zurückkam, um die Kasse in Betrieb zu nehmen, war ich gerade dabei, Zitronen zu schneiden, während der Gast geduldig am Tresen wartete und Zeitung las.

»Das Übliche?«, fragte ihn Adam, wartete jedoch die Antwort gar nicht erst ab, sondern stellte ein Glas unter den Zapfhahn für das Guinness. Er füllte es zur Hälfte und ließ den Schaum dann setzen. Für sich schenkte er Orangensaft und für mich Pepsi ein. Eine Minute später kam ein zweiter Gast herein. Adam hatte den Drink für ihn fertig, noch ehe der alte Mann an der Theke stand, danach füllte er das halb volle Bierglas des ersten Gasts mit Guinness auf.

»Hängt dir dieser Job nicht langsam zum Hals raus?«, fragte ich ihn. »Dieselben Leute, dieselben Drinks, dieselben Gespräche. Tagein, tagaus.«

Adam zuckte mit den Schultern. »Manchmal schon. Aber es dauert nie lange – nur bis die Band zu spielen anfängt.« Er stieß einen Fluch aus, weil die Pumpe zu gurgeln anfing, und stellte sie sofort ab. »Das Fass ist leer.« Sein Blick glitt zur Tür, wo gerade weitere Gäste eintrudelten. »Meinst du, du kannst mir den Gefallen tun?«

Mit einem flauen Gefühl schnitt ich die letzte Scheibe Zitrone ab und legte das Messer beiseite. Ich wusste genau, wie man die Fässer wechselte. Adam hatte es mir vor einigen Wochen gezeigt, es war kinderleicht. Das Problem war, dass ich nicht in den Keller gehen wollte.

Ich trat ans Spülbecken und wusch den Zitronensaft von meinen Händen. »Okay, ich geh runter.«

Das Gebäude war dreigeteilt: die öffentliche Bar, in der zu dieser Tageszeit am meisten los war, die Saloon Bar mit Pool-Tisch, TV und Spielautomaten und ein Veranstaltungssaal im hinteren Teil. Den Keller betrat man durch eine kleine Tür in einer Ecke der Saloon Bar. Ich stieß die Tür auf. Die Luft, die mir entgegenschlug, war so kalt, dass sich mir die Härchen an den Armen aufstellten. Ich tastete nach dem Schalter und machte das Licht an, dann stieg ich die schmale Treppe hinunter.

Unten reihten sich Metallfässer, Zuläufe und Druckmesser an den Wänden. Zwei riesige Ventilatoren gaben ein monotones Summen von sich und sorgten für kühle Luft. Allein schon die ständige Kälte und die Beengtheit durch die niedrige Decke ließen ein Gefühl der Beklemmung aufkommen, aber wie die meisten alten Räume dieser Art hatte der Keller noch mehr Gruselfaktoren zu bieten. Und natürlich gab es die passende Geschichte dazu.

Mein Blick glitt die Reihen entlang, bis ich das leere Fass entdeckt hatte. In Sekundenschnelle hatte ich es von der Leitung abgetrennt und durch ein neues ersetzt. Jetzt musste ich nur noch den Zulauf aufdrehen und schon stieg der Druckmesser wieder an. Mehr war nicht zu tun. Ich erledigte alles mit dem Rücken zur Wand und sah dabei mehrmals rasch in die dunklen Ecken. Gerade wollte ich wieder Richtung Treppe gehen, da blendete mich ein silbriger Lichtblitz von oben.

Das Sonnenlicht drang durch die Ritzen der Anlieferluke, die aus zwei rechteckigen Holzklappen bestand, die sich auf die Straßen hinaus öffnen ließen. Genau hier war es passiert. In den Sechzigerjahren war ein Wirt namens Richard Stacker durch die Klappe gefallen. Der Sturz war nicht besonders tief gewesen, aber der Wirt war auf einige Fässer gefallen, bevor er auf dem Steinboden aufschlug, und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Seither spukte angeblich sein Geist durch den Pub und im Keller tauchte er besonders oft auf. Adam hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen, gab jedoch unumwunden zu, dass er den Keller nicht gerne betrat. Die Putzfrau, eine gläubige Katholikin namens Mary, weigerte sich strikt, einen Fuß in den Keller zu setzen, und bekreuzigte sich jedes Mal, wenn Stackers Name erwähnt wurde. Anscheinend hatte sie ihn einmal in der Kellertür stehen sehen.

Ich selbst hatte noch nichts dergleichen bemerkt, aber der Keller machte mich trotzdem nervös – erst recht so kurz nach einer meiner »Erscheinungen«. Das unangenehme Gefühl auf meinen Armen war wieder da, die Härchen stellten sich wie kleine Stacheln auf, obwohl ich schon ein Stück von den Ventilatoren entfernt war.

Rasch verließ ich den Ort und kehrte zurück in die Wärme und das Licht.

Adam grinste. »Na, hast du’s überlebt? Hat der alte Stacker sich gar nicht gezeigt?«

Ich nahm einen großen Schluck von meinem Glas. »Nicht dass ich wüsste.«

Adam holte einen Eimer und zapfte das neue Fass an. Ohne es zu wollen, starrte ich auf den Zeitungsausschnitt mit dem unscharfen Bild Stackers, das neben den Darts-Trophäen hing.

»Dabei fällt mir ein …«, begann Adam und kippte den Inhalt des Eimers aus. »Pete möchte eine Spuknacht veranstalten. Du weißt schon, so wie diese Sendungen im Fernsehen. Er hat einen Typen angeheuert, damit er nachts eine Séance abhält, und will Eintritt dafür verlangen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du wirklich, da kommen viele Leute?«

Adam deutete mit dem Kopf auf die Anschlagtafel neben dem Telefon. »Wirf einen Blick auf die Anmeldeliste. Wenn es so weitergeht, ist sie noch vor Ende der Woche voll.«

»Ziemlich krank, mit jemandem, der sich das Genick gebrochen hat, auch noch Geld zu machen.«

Adam zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist es ja nur eine geschlossene Veranstaltung mit ein paar gruseligen Extras und einem All-you-can-eat-Büfett. Komm doch auch. Ich reserviere dir ein Freiticket.«

»Wozu denn? Ich habe zu Hause genug Probleme.«

Adam beugte sich zu mir und senkte die Stimme. »Das ist es ja. Wenn du eine Nacht woanders verbringst, dann erfährst du vielleicht, ob die Sachen daheim … na ja, ob sie echt sind oder nicht. Denk mal drüber nach – wenn du tatsächlich Erscheinungen siehst, dann müsstest du sie auch hier sehen!«

Ich schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Die Leute reden ohnehin schon über mich. Was, wenn ich in Gegenwart anderer total ausflippe? Das würde alles nur noch schlimmer machen.«

Adam nickte. »Ja, kann sein. War auch nur so ein Gedanke.« Er ging zur Bar, um einem Gast nachzuschenken, und ich blieb zurück und starrte weiter auf das Foto des toten Wirts.

Denn trotz meiner Absage dachte ich über Adams Vorschlag nach. Ich überlegte es mir allen Ernstes. Obwohl eine Gespensterjagd oder eine Séance oder was auch immer hier direkt vor meiner Haustür niemals infrage kam, ließ mich die Idee an sich nicht mehr los. Mit Geisterspuk wurde ein dickes Geschäft gemacht, es gab genug andere Orte, die weiter weg waren und wo mich niemand kannte. Wo es keine Rolle spielte, falls irgendetwas passierte und ich mich zum Narren machte. Wo ich ein für alle Mal herausfinden konnte, ob das, was ich sah, wirklich war oder ob ich einfach nur den Verstand verloren hatte.

Der alte Stacker grinste zurück, unscharf und vergilbt. Ich hob mein Glas, prostete ihm zu und dankte ihm schweigend. Zum ersten Mal seit sechs Monaten hatte ich einen Plan – und ein kleines bisschen Hoffnung.

Fahrerflucht

Vielleicht sollte ich erklären, wie es überhaupt so weit mit mir kommen konnte.

Ich hätte mir nie vorstellen können, jung zu sterben. Ich dachte überhaupt nie an den Tod. Ich dachte an all die Dinge, an die Siebenzehnjährige eben so denken: die Nächte durchmachen, durch die Gegend fahren, Mädchen, Sex und wie man an Alkohol kommt, ohne den Personalausweis vorzeigen zu müssen. Wenn ich überhaupt je über meine Zukunft nachdachte, dann ging es darum, meinen Abschluss zu machen und eines Tages vielleicht zur Universität zu gehen. Aus diesem Grund dachte ich gelegentlich auch über Kunst nach. Aber seit ich mein Auto hatte, überlagerten meine Freizeitaktivitäten alles andere. Zugegeben, ich verbrachte meine Zeit mit sinnlosem Abhängen, aber es war mir egal. Ich hatte jede Menge Spaß dabei.

Der Unfall schaffte es in sämtliche Lokalzeitungen und sogar in ein paar überregionale Blätter. »TÖDLICHER ZUSAMMENSTOSS: JUNGE IN KRITISCHEM ZUSTAND« und »MYSTERIÖSER UNFALLVERURSACHER BEGING FAHRERFLUCHT«, so lauteten zwei der Schlagzeilen, an die ich mich noch erinnerte. Ich weiß genau, wie sich das jetzt anhört. Jugendlicher, der gerade erst den Führerschein gemacht hat. Fährt viel zu schnell, vermutlich weil er ein Mädchen oder seine Freunde beeindrucken will. So etwas passiert doch andauernd, nicht wahr?

Aber ich saß gar nicht am Steuer. Ich saß nicht einmal im Auto. Wie ich schon sagte, ich war kein Raser und ich fuhr auch sonst nicht wie ein Idiot. Ich mochte mein Auto und wollte, dass es – und ich auch – in einem Stück blieb.

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