Eine Studie in scharlachroter Frau - Sherry Thomas - E-Book

Eine Studie in scharlachroter Frau E-Book

Sherry Thomas

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Beschreibung

Die #1- Bestseller Serie aus den USA Lady Sherlock erstmals auf Deutsch. Wegen ihres wissbegierigen Verstandes hat sich Charlotte Holmes nie mit der Sittsamkeit wohl gefühlt, die in der Oberschicht vom schönen Geschlecht erwartet wird. Aber selbst sie hätte nie gedacht, dass sie einmal eine gefallene Frau sein würde, die sich auf den Straßen Londons durchschlagen muss. Als die Stadt von drei unerwarteten Todesfällen heimgesucht wird und der Verdacht auf ihre Schwester und ihren Vater fällt, ist Charlotte verzweifelt bemüht, die wahren Schuldigen zu finden und den Namen der Familie reinzuwaschen. Dabei helfen ihr neue und alte Freunde – eine gutherzige Witwe, ein Polizeiinspektor und ein Mann, der sie schon lange liebt. Doch am Ende wird es Charlotte sein, die unter dem Decknamen Sherlock Holmes, die Erwartungen der Gesellschaft in Frage stellen und sich mit einem im Verborgenen arbeitenden kriminellen Genie messen muss. Band 1 der Lady Sherlock Reihe von Sherry Thomas. weitere Bände erhältlich.

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Ähnliche


Sherry Thomas

LADY SHERLOCK

Eine Studie in scharlachroter Frau

Inhalt

Impressum

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

VorschauImpressum

Deutsche Erstausgabe ©2023

Englische Originalausgabe: Sherry Thomas - A Study in Scarlet Women

Verlag und Vertrieb: LAUSCH medien, HamburgÜbersetzung aus dem Englischen: Meike Bogmaier

Covergestaltung und Buchsatz: Catrin Sommer | rausch-gold.com

Coverabbildung: shutterstock | IrinaKorsakova, Songquan Deng

Prolog

Devonshire, England 1886

Hätte jemand dem ehrenwerten Harrington Sackville erzählt, dass die Ermittlungen zu seinem Tod den Namen Sherlock Holmes im ganzen Land bekannt machen würden, hätte Mr. Sackville gelacht.

Er hatte noch nie etwas von Sherlock Holmes gehört. Aber was noch wichtiger war, er verachtete die Vorstellung vom Tod. Seinem Tod, um genau zu sein – andere konnten sterben, wie sie wollten.

Fast ebenso sehr verabscheute er das Altern: diesen langen, abscheulichen Verfall in die Hilflosigkeit, welcher nur durch den letzten Atemzug beendet werden konnte, der wie die Klinge einer Guillotine herabstürzte.

Und doch fiel es ihm neuerdings angesichts seines Spiegelbildes immer schwerer sich einzureden, dass er noch immer ein junger Mann war. Er war ein sportlicher Mann, ein gutaussehender Mann, aber die Haut unter seinem Kiefer wurde schlaff. Tiefe Furchen zogen sich durch die Seiten seines Mundes. Sogar seine Augenlider hingen herunter, schwer vom Lauf der Zeit.

Angst durchzuckte ihn, kalt und scharf. Jeder Mann hatte Angst vor etwas. Für ihn war der Tod schon lange der ultimative Schrecken. Eine Dunkelheit mit Reißzähnen.

Er wandte sich vom Spiegel ab – und von den unerwünschten Gedanken, die in diesen Tagen immer einige Zentimeter unter der Oberfläche brodelten. Es war Sommer. Der Glanz von Dämmerlicht erfüllte das Haus. Von seiner Position aus konnte er sehen, wie die Bucht im Licht der untergehenden Sonne glühte. Ein Hauch von Salz lag in der Brise, die hierher wogte; die Hauptnote der parfümierten Luft war Tuberose, deren Zwiebeln er aus Grasse in Südfrankreich importiert hatte.

Aber ein Gewitter zog auf; dunkle Wolken sammelten sich am Rande des Himmels...

Er atmete tief ein. Nein, er durfte seine Gedanken nicht wieder an düstere Orte schweifen lassen. Die letzten Wochen waren schwierig gewesen – die Ereignisse in London waren besonders erschütternd – aber mit der Zeit würde es besser werden. Er hatte noch viele gute Jahre vor sich, um das Leben zu genießen und über den Tod und seinen noch weit entfernten Griff zu lachen.

Keinerlei Vorahnungen gingen ihm durch den Kopf, dass der Tod ihn schon am nächsten Morgen ereilen würde.

Doch der Tod würde ihn kriegen – und zuletzt lachen.

Eins

London

An dem Tag, an dem Mr. Harrington Sackville der Dunkel­heit mit Reißzähnen begegnete, bereiteten sich gewisse Eingeweihte auf einen großen Skandal vor – erwarteten ihn gar sehnlichst-, in den das jüngste Mitglied der Familie Holmes verwickelt sein würde.

Lord Ingram Ashburton teilte diese Vorfreude nicht. Der Gedanke, dass es zu einer derartigen Katastrophe kommen könnte, verfolgte ihn schon seit Tagen. Er wusste noch nicht, dass Holmes bereits dem Untergang geweiht war, aber ein Gefühl des Grauens war in ihm gewachsen, das mit tumorartigem Gewicht auf seiner Lunge lag. Er starrte auf den Umschlag, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

Mr. Sherlock Holmes,

General Post Office,

St. Martin’s Le Grand,

London.

Jeder Idiot konnte sehen mit welch einer Frustration die Feder geführt worden war – an mehreren Stellen hatte die Spitze das Leinenpapier fast zerrissen.

Die Schrift auf der Notiz, die neben dem Umschlag lag, war ebenso aufgewühlt.

Holmes, Tun Sie es nicht.Und wenn Sie müssen, dann nicht mit Roger Shrewsbury. Sie werden es gnadenlos bereuen.Dieses eine Mal in Ihrem Leben, hören Sie auf mich.

Er ließ seine Stirn in die linke Handfläche sinken. Es würde nichts nützen. Holmes würde tun, was Holmes gefiel, getragen von jener Unbeschwertheit, die von außergewöhnlichen Fähigkeiten und günstigen Umständen herrührte.

Bis die Katastrophe hereinbrach.

Du brauchst es nicht zuzulassen, sagte eine Stimme in ihm. Du kannst dazwischen gehen. Du gibst Holmes, was Holmes will.

Und was dann? Dann mache ich weiter und tue so, als wäre es nie passiert?

Er starrte aus dem offenen Fenster. Der sonst uneingeschränkte Blick auf den Himmel erschien ihm heute, wie durch eine Linse, die mit einem schmutzigen Finger verschmiert worden war – ein verschmutztes Blau, ein schöner Tag für London. Aus dem kleinen Park unter ihm drang ein unbändiges Lachen – das Lachen seiner Kinder, ein Geräusch, das ihm an jedem anderen Tag ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hätte.

Er nahm seinen Stift in die Hand.

Tun Sie nichts, ohne mich vorher noch einmal zu konsultieren. Ich bitte Sie.

Würde er einwilligen? Würde er alle Vorsicht über Bord werfen – und damit auch alle Prinzipien?

Er versiegelte den nicht unterschriebenen Brief im Umschlag und verließ sein mit Büchern bedecktes Arbeitszimmer, den Umschlag in der Tasche. Am Abend sollte er einen archäologischen Vortrag halten. Aber zunächst wollte er noch etwas Zeit mit seiner Tochter und seinem Sohn verbringen, ungestüme Kinder, die auf dem Gipfel ihrer fröhlichen Unschuld standen.

Danach würde er entscheiden, ob er den Brief abschicken oder ins Feuer werfen würde, wie die Dutzend anderen, die ihm vorausgegangen waren.

Die Haustür öffnete sich und seine Frau kam herein.

»Guten Tag, Madam«, sagte er höflich.

»Mylord.« Sie nickte, ein seltsames kleines Lächeln auf dem Gesicht. »Wie ich sehe haben Sie noch nicht gehört, was mit Ihrer liebsten Lady geschehen ist.«

»Meine liebste Lady ist meine Tochter. Stimmt etwas nicht mit ihr?« Er blieb kühl, konnte aber nicht verhindern, dass sich seine Nackenhaare aufrichteten: Lady Ingram sprach nicht über ihr Kind.

»Lucinda geht es gut. Ich spreche von ...« Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich. »Ich beziehe mich auf Holmes. Ihre Holmes.«

*****

»Wie kannst du es wagen, mich auf diese Weise zu demütigen?« Mrs. Shrewsbury ließ Schläge auf ihren Mann niederprasseln. »Wie kannst du es wagen?«

Der bemalte französische Fächer, zusammengefaltet, war eine überraschend starke Waffe – eine Mischung aus einem Seidenfaden und einem Polizeiknüppel. Roger Shrewsbury wimmerte.

Es war ihm ein Rätsel wie ihr Verstand funktionierte.

Nun gut, er hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen: In der Nacht zuvor war er derart betrunken gewesen, dass er seine Frau mit Mimi, seiner Geliebten, verwechselt und ihr erzählt hatte, was er heute Nachmittag mit Charlotte Holmes vorhatte. Aber wenn Mrs. Shrewsbury nicht gewollt hatte, dass er Miss Holmes entjungferte, warum hatte sie ihm dann nicht gleich eine Ohrfeige verpasst und ihm verboten, etwas Derartiges zu tun? Oder sie hätte zu Miss Holmes gehen und ihr eine Ohrfeige geben können, weil sie ihr Jungfernhäutchen nicht höher schätzte.

Stattdessen hatte sie ein Regiment von Schwestern, Cousinen und Freundinnen zusammengetrommelt, seine Mutter an die Spitze des ganzen Unternehmens gesetzt und die Bastille gestürmt, gerade als er sich mit Miss Holmes einließ. Wie konnte sie ihn also beschuldigen, sie zu demütigen, wo sie doch selbst dafür gesorgt hatte, dass ein gutes Dutzend anderer Frauen ihren Mann in flagrante delicto sahen?

Er wusste es besser, als seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Nach sechsundzwanzig Jahren als Sohn von Lady Shrewsbury und drei Jahren als Ehemann von Anne Shrewsbury hatte er gelernt, dass er sich immer irrte. Je weniger er sagte, desto besser.

Die Gattin schlug ihn weiter. Er schlang die Arme um seinen Kopf, machte sich so klein wie möglich und versuchte, in einer schönen Erinnerung zu verschwinden, in eine Zeit und an einen Ort, an dem er nicht, vierundzwanzig Stunden am Tag und dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr, ein Unmensch war.

*****

Lady Shrewsbury betrachtete die junge Frau, die ihr gegenüber in der Kutsche saß, mit einem strengen Blick. Charlotte Holmes war still, ihr Gesicht blass, aber gefasst.

Unheimlich gefasst, wenn man bedenkt, dass sie jetzt völlig ruiniert war.

So gefasst, dass Lady Shrewsbury, die auf jede Form von hyste­rischem Schluchzen und verzweifeltem Flehen vorbereitet war, allmählich verunsichert wurde – ein Gefühl, das sie seit Jahren nicht mehr durchlebt hatte.

Lady Shrewsbury war diejenige gewesen, die ein Laken über das Mädchen geworfen hatte. Dann hatte sie ihrem Sohn befohlen, mit seiner Frau nach Hause zu gehen, und den übrigen Frauen, sich zu zerstreuen. Miss Holmes hatte sich nicht zitternd in eine Ecke verkrochen und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Sie hatte auch nicht wie betäubt auf den Boden gestarrt. Stattdessen hatte sie das Geschehen beobachtet, als wäre sie nur eine Zuschauerin, deren eigenes Schicksal nicht im Geringsten eine unvorstellbare Wendung genommen hatte. Als Roger von seiner Frau hinausgeschoben wurde, blickte Miss Holmes ihn an, ohne Zorn, Abscheu oder irgendeiner Form von Widerschein seiner Hilflosigkeit in ihrem Ausdruck.

Es war ein mitfühlender und entschuldigender Blick gewesen, wie ihn die Anführerin einer Bande widerspenstiger Kinder einem ihrer Gefolgsleute zuwerfen würde, nachdem sie diesen in grenzenlose Schwierigkeiten gebracht hatte.

Lady Shrewsbury hatte fest damit gerechnet, dass sich diese Überheblichkeit in Luft auflösen würde sobald die anderen weg waren. Sie war berühmt für ihre Unerbittlichkeit. Wann immer Roger mit ihr allein war, geriet er ins Schwitzen, selbst wenn sie nicht vorhatte, ihn zu fragen, was er in letzter Zeit mit sich selbst getrieben hatte.

Aber ihre beeindruckend furchtbare Präsenz hatte keine Wirkung auf Charlotte Holmes. Als die Schar der Augenzeugen abreiste, um die anzügliche Geschichte in den Salons ganz Londons zu verbreiten, zog sich Miss Holmes, anstatt in Tränen auszubrechen, an und bestellte ein beachtliches Teegedeck.

Dann vertilgte sie unter Lady Shrewsburys zunehmend ungläu­bigem Blick einen Teller mit Pflaumenkuchen, einen Teller mit Kirschtörtchen und einen Teller mit Sardinen und Toast. All das, ohne ein einziges Wort zu sagen oder Lady Shrewsbury auch nur eines Blickes zu würdigen.

Lady Shrewsbury beherrschte ihre Verärgerung. Schweigen war eine ihrer besten Waffen und sie würde sich nicht dazu verleiten lassen, diesen strategischen Vorteil aufzugeben. Leider hatte ihr herrliches Schweigen keine Wirkung auf Charlotte Holmes, die dinierte, als wäre sie eine Königin und Lady Shrewsbury ein niederer Lakai, der nicht einmal eines kurzen Blickes würdig war.

Als das Mädchen bereit war zu gehen, lief sie einfach hinaus und zwang Lady Shrewsbury, sie einzuholen. Wieder schien sie keine strenge Sittenwächterin zu sein, die eine gefallene Frau zu ihrer Strafe begleitete, sondern eine einfältige Magd, die hinter ihrer Herrin herhuschte.

Die Stille in der Kutsche hielt an. Miss Holmes betrachtete die anderen Kutschen, die die Straße verstopften – glänzende, lackierte Stadtkutschen, die inmitten langer Schlangen von Droschken um einen Platz rangen. Von Zeit zu Zeit fiel ihr Blick auf Lady Shrewsbury, und diese hatte dann das deutliche Gefühl, dass von ihnen beiden, Miss Holmes Lady Shrewsbury für das weitaus seltsamere Exemplar hielt.

»Haben Sie nichts zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«, schnauzte sie, unfähig, die Stille noch eine Sekunde länger zu ertragen.

»Für mich selbst, nein«, sagte Charlotte Holmes leise. »Aber ich hoffe, Sie werden nicht zu streng mit Roger sein. Er ist nicht schuld an der Sache.«

*****

Inspektor Robert Treadles von der Metropolitan Police machte immer gerne einen Ausflug ins Burlington House, vor allem um Lord Ingrams Vorlesungen zu besuchen. Sie hatten sich über ihre gemeinsame Begeisterung für Archäologie kennengelernt – Lord Ingram hatte Treadles‘ Eintritt in die Londoner Society of Antiquaries gesponsert.

Doch an diesem Abend war sein Freund nicht er selbst.

Für den flüchtigen Beobachter schien seine Lordschaft den Sitzungssaal der Society of Antiquaries zu beherrschen, gründlich in seinem Wissen, wortgewandt in seiner Präsentation und geschickt mit einem Hauch von trockenem Humor – sein Vergleich eines antiken Familienstreits, der durch die unterschiedliche Größe und Verzierung der juwelenbesetzten Broschen eines jeden Mitglieds verursacht worden war, mit dem modernen Neid, der durch die Schönheit einer neuen Brougham eines Verwandten geweckt wurde, entlockte dem Publikum schallendes Gelächter.

Für Inspektor Treadles hatte Lord Ingrams Vortrag jedoch wenig von seinem üblichen Elan. Es war ein Kampf. Ein vergeblicher Kampf, noch dazu: Sisyphos, der den riesigen Felsbrocken den Berg hinaufstößt, wohl wissend, dass er kurz vor dem Gipfel von ihm wegrollen und ihn dazu verdammen würde, ad infinitum noch einmal von vorne zu beginnen.

Was könnte er für Probleme haben? Lord Ingram war der Spross einer herzoglichen Familie, ein Old Etonian und einer der besten Polospieler der Welt. Natürlich wusste Inspektor Treadles, dass niemand hinter verschlossenen Türen ein perfektes Leben führte, aber welche Turbulenzen Lord Ingram in seinem Privatleben auch immer durchlebte, sie waren noch nie in seinem öffentlichen Auftreten sichtbar geworden.

Nach dem Vortrag, nachdem sich die Menge der Bewunderer zerstreut hatte, trafen sich die beiden Männer in einer mit Büchern ausgekleideten Ecke der hoch aufragenden Bibliothek der Gesellschaft.

»Ich hatte gehofft, wir könnten zusammen zu Abend essen, Inspektor«, sagte Lord Ingram. »Aber ich fürchte, ich muss mich sehr bald von Ihnen verabschieden.«

Treadles war enttäuscht und erleichtert zugleich, denn er glaubte nicht, dass er Lord Ingram in dessen derzeitigem Zustand viel Trost spenden konnte.

»Ich hoffe, Ihre Familie ist wohlauf.«, sagte er.

»Das sind sie, danke. Ich muss kurzfristig einen Besuch machen, das ist alles.« Lord Ingrams Worte waren ruhig, und doch lag eine gewisse Hohlheit in seinem Ton. »Ich hoffe, wir werden in nicht allzu ferner Zukunft das Vergnügen eines gemütlicheren Treffens haben.«

»Gewiss, mein Herr.«

Inspektor Treadles wollte seinen Freund nicht aufhalten, aber in diesem Moment erinnerte er sich an seinen anderen Grund, heute Abend im Burlington House zu sein. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht, Sir, darf ich Sie bitten, Holmes eine Nachricht zu übermitteln? Ich bin ihm sehr dankbar für seine Hilfe im Fall Arkwright und habe ein paar Zeilen in diesem Sinne geschrieben.«

»Ich fürchte, das ist unmöglich.«

Inspektor Treadles wich fast einen Schritt zurück, als er den Gesichtsausdruck seines Freundes sah: ein Aufflackern von Wut, das an Zorn grenzte.

»Ich weiß, dass Sie heute Abend beschäftigt sind, Mylord«, erklärte Treadles zögernd. «Meine Nachricht erfordert keine Eile und muss nur dann weitergeleitet werden, wenn es Eurer Lordschaft passt.»

»Ich fürchte, ich habe mich nicht klar ausgedrückt«, sagte Lord Ingram. Jeder Anflug von Wut war aus seiner Miene gewichen. Seine Augen waren leer, sein Kiefer hart. »Weder ich noch sonst jemand kann Holmes irgendwelche Notizen übermitteln. Nicht mehr.«

»Ich, ich weiß nicht, das ist –« stotterte Treadles. »Ist etwas Schreckliches passiert?«

Lord Ingrams Kiefer arbeitete. »Ja, etwas Schreckliches.«

»Wann?«

»Heute.«

Inspektor Treadles blinzelte. »Ist ... ist Holmes noch am Leben?«

»Ja.«

»Gott sei Dank. Dann haben wir ihn noch nicht ganz verloren.«

»Doch das haben wir«, sagte Lord Ingram langsam und unerbittlich. »Holmes mag am Leben sein, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass Holmes jetzt völlig außerhalb meiner Reichweite ist.«

Treadles‘ Verwirrung wuchs weiter an, aber er verstand, dass er keine weiteren Einzelheiten erfahren würde. »Es tut mir sehr leid, das zu hören.«

»Und mir tut es Leid, dass ich Überbringer solcher Nachrichten sein muss.« Lord Ingrams Stimme war leise, fast unhörbar.

Treadles verließ Burlington House wie benommen, verfolgt von Dutzenden unglücklichen Mutmaßungen. War Holmes mit nichts als einem unzuverlässigen Fallschirm ausgestattet aus einer gefährlichen Höhe gesprungen? Hatte er zu Hause explosive Experimente durchgeführt? Oder hatte ihn sein brillanter, aber ruheloser Verstand dazu gebracht, die falsche Frau zu verführen, was in einem illegalen Duell und einer Kugel gipfelte, die irgendwo lähmend, aber nicht sofort tödlich war?

Was war mit dem schwer fassbaren und außergewöhnlichen Sherlock Holmes geschehen?

So eine Tragödie.

So eine Verschwendung.

So eine Schande.

Zwei

Die Schande. Oh, die Schande!« kreischte Lady Holmes.

Aus ihrer geduckten Position vor dem Schlüsselloch der Stubentür blickte Livia Holmes das junge Dienstmädchen an, das um die Ecke lugte. Geh zurück an deine Arbeit, schimpfte sie.

Das Mädchen floh, aber nicht ohne vorher hörbar zu kichern.

Verstand denn niemand mehr das Konzept der Privatsphäre? Wenn es inmitten eines Skandals um Rufschädigung etwas auszuspionieren gab, sollte man das einem Familienmitglied überlassen.

Livia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Treiben im Salon. Ihr Blick durch das Schlüsselloch war durch den Rock ihrer Mutter versperrt, einen grässlichen Wulst aus heliotropfarbener Seide, der vor Lady Holmes‘ Empörung bebte.

»Wie oft habe ich Ihnen gesagt, Sir Henry, dass Ihre Nachsicht mit dem Mädchen ihr Verderben sein würde? Wie oft habe ich gesagt, dass sie schon vor Jahren hätte verheiratet werden sollen? Haben Sie darauf gehört? Nein! Niemand hat auf mich gehört, als ich davor gewarnt habe, dass es sie für die Ehe und die Mutterschaft untauglich machen würde, wenn sie einen vollkommen geeigneten Mann nach dem anderen abweist.«

Ihr mächtiger Busen schwankte von einer Seite zur anderen, als sie sich nach vorne beugte. Sie hob den Arm und ließ die Hand sinken. Ein explosives Klatschen ertönte. Livia wich zurück.

Sie und Charlotte, die Empfängerin dieser schallenden Ohrfeige, hatten sich einmal über die Talente ihrer Mutter unterhalten, oder über deren Mangel an eben solchen. Livia war der Ansicht, dass ein Teil der Bevölkerung von Natur aus mittelmäßig begabt sei. Charlotte, die eine eher wohltätige Gesinnung hatte, glaubte, dass selbst diejenigen, die unheilbar unscheinbar wirkten, einige verborgene Fähigkeiten oder Begabungen besitzen mussten.

Livia, die nicht überzeugt war, hatte Lady Holmes als Beispiel für völlige Mittelmäßigkeit angeführt, eine Person, die in jeder Hinsicht unauffällig war. Charlotte hatte gekontert: »Aber sie hat eine außergewöhnliche Technik beim Schlagen, besonders bei der Rückhand.

Und genau dieses Talent nutzte Lady Holmes jetzt, eine dramatische Rückhand, deren Wucht den Spitzenbesatz ihres Rocks ins Wanken brachte. »Das Schlimmste ist geschehen. Niemand wird sie heiraten und sie kann sich nie wieder in der Gesellschaft blicken lassen.«

Es war das elfte Mal an diesem Abend, dass sie diese Zeilen ausspuckte. Livias Hals schmerzte von der Anstrengung, so lange vor dem Schlüsselloch zu kauern. Wie viele Wiederholungen noch, bis Charlotte in ihr eigenes Zimmer fliehen durfte?

»Du hast nicht nur deinen eigenen Ruin verursacht, Charlotte. Du hast uns auch für den Rest unseres Lebens zum Gespött gemacht.« Lady Holmes schimpfte noch immer den Rest ihrer Tirade, obwohl ihre Stimme schon heiser war. »Du hast ein Verbrechen gegen Livias Chancen auf eine anständige Ehe begangen. Hätte Henrietta sich nicht bereits ihren Mr. Cumberland gesichert, hätten wir nichts als eine Reihe von unverheirateten Töchtern.«

Die Verachtung in Lady Holmes‘ Stimme, – alte Jungfern könnten genauso gut diebische Huren sein. Livia lebte täglich mit dieser Verachtung, eine Frau von siebenundzwanzig Jahren, acht Saisons auf dem Buckel und ohne jegliche Heiratsaussichten. Trotzdem zuckte sie zusammen.

Wenn diese Tirade wie die letzten ablaufen würde, stürmte Lady Holmes gleich dorthin, wo ihr Mann saß, und beschimpfte ihn weiter. Dann würde die ganze Schimpflitanei von vorne beginnen.

Schwerfällig marschierte Lady Holmes weiter und machte so die Sich vom Schlüsselloch zu Charlotte frei.

*****

Es erstaunte Livia immer wieder, dass sie, obwohl sie Charlotte schon ihr ganzes Leben lang kannte, manchmal immer noch von der Erscheinung ihrer Schwester überrascht war. Vor allem in Momenten wie diesem. Nun, einen solchen Moment hatte es zwar noch nie gegeben, aber Charlotte hatte ihre Familie schon so lange verblüfft, wie Livia sich erinnern konnte.

Als Livia sechs und Charlotte vier Jahre alt waren, entdeckten sie an einem kalten, aber klaren Samstagnachmittag bei einem Familienspaziergang durch die Grünanlagen des Dorfes eine Zeichnung, die an das Schwarze Brett gepinnt worden war. Auf dem Blatt Papier waren vier Bilder zu sehen: ein Brunnen, ein Hufeisen, die Jungfrau Maria und ein Kätzchen, das nur halb so groß war wie die anderen Bilder, mit einem runden, neugierigen Kopf, der auf der oberen Hälfte des Papiers schwebte.

Lady Holmes hatte geschnieft. »Wie seltsam.«

»Ziemlich interessant, würde ich sagen«, antwortete ihr Mann.

»Aber was ist das?«, fragte Henrietta, das älteste der Holmes-Mädchen, mit hoher, weinerlicher Stimme.

»Es ist natürlich eine Nachricht«, sagte Livia ungeduldig. »Es muss etwas über die Weihnachtsfeier der Kinder sein.«

»Was ist mit dieser Party? Ich verstehe nicht, wie das zusammenhängen kann.«

Livia hatte keine Ahnung, wie jemand zehn Jahre alt werden und immer noch so dumm sein konnte. »Die Jungfrau hat das Jesuskind an Weihnachten geboren. Die anderen Zeichnungen sind Spiele, die dort stattfinden werden.«

Henrietta schaute zweifelnd. »Was für Spiele?«

Bevor Livia ihre Vermutungen aufzählen konnte, sagte Char­lotte laut und deutlich: »Es geht hier nicht um Spiele. Es ist ein Antrag.«

Alle Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf sie.

Charlotte sprach nicht. Tatsächlich hatte ihre Mutter schon seit einiger Zeit befürchtet, dass Charlotte genauso werden könnte wie Bernadine, das zweitälteste Holmes-Mädchen. Als Bernadine neun Jahre alt war, wurde sie nicht mehr auf Familienausflüge mitgenommen: Sie war zu beunruhigend geworden, ein liebes Kind, das niemandem und nichts Beachtung schenkte. Wenn sie überhaupt einen Gedanken hatte, teilte sie ihn mit keinem einzigen Menschen.

Charlotte ähnelte ihr sehr mit den blonden Locken und den großen blauen Augen. Aber während Bernadine spindeldürr war – nichts von dem, was die Köchin zubereitete, schmeckte ihr –, war Charlotte ein Pummelchen, mit vollen Wangen, runden Gliedern und bezaubernden, pummeligen Händen.

Ein putzmunteres Mädchen, das so still war wie die frühen Morgenstunden. Sie nickte, schüttelte den Kopf und zeigte auf etwas, wenn es nötig war. Die Köchin bestand darauf, dass das Mädchen einmal auf die Frage »Wie viele Stückchen Apfelkuchen möchten Sie, Miss Charlotte?« ein schön formuliertes »Zwölf« gegeben hatte. Aber niemand sonst hatte sie je so viel sagen hören wie Mama.

Einmal hatte Livia gehört, wie Lady Holmes darüber weinte, dass ihre Familie verflucht sei. Ich kann nicht nur keine Söhne gebären, sondern die Hälfte meiner Töchter sind Schwachköpfe! Livia war einerseits erleichtert, dass sie selbst nicht schwachsinnig war, und andererseits untröstlich, dass Charlotte, die sie so lieb und lustig fand und bei deren Anblick sie immer lächelte, wenn sie ihr Essen verschlang, eines Tages so unerreichbar werden könnte wie Bernadine.

Aber jetzt hatte Charlotte ihre ersten vollständigen Sätze gesprochen. Livia wäre entrüstet gewesen, wenn jemand anders sie so kurzerhand korrigiert hätte, aber Charlotte hatte gesprochen und Livia hatte keine Schmetterlinge, sondern eine ganze Herde Gnus in ihrem Bauch. Während alle anderen immer noch sprachlos waren, schüttelte sie Charlottes fäustlingsbewehrte Hand, die sie in ihrer eigenen hielt, und fragte: »Meinst du einen Heiratsantrag, Charlotte?«

»Mach dich nicht lächerlich, Livia«, spottete Lady Holmes. »Sie kann nicht wissen, was das ist.«

»Ja, ein Heiratsantrag, Mama«, antwortete Charlotte. »Ich weiß, was das ist. Das ist, wenn ein Gentleman eine Dame bittet, seine Frau zu werden.«

Wieder herrschte fassungsloses Schweigen.

Sir Henry ging auf die Knie, mit einem fiebrigen Glanz in den Augen. »Charlotte, meine Liebe, wie kommst du darauf, dass diese Bilder einen Heiratsantrag darstellen?«

Charlotte warf einen kritischen Blick auf das Bild, ihr Ausdruck war amüsierend erwachsen. »Es ist kein sehr guter, oder?«

»Vielleicht nicht, Püppchen. Aber warum sagst du überhaupt, dass es ein Antrag ist?«

»Weil da steht: Will you marry me. Eigentlich steht da: »Well, u mary me.«

»Ich kann sehen, dass der Brunnen für das Well steht. Und ich kann sehen, dass das Hufeisen sich öffnet und wie ein U aussieht. Und die Jungfrau heißt Mary«, sagte Sir Henry. »Aber wie kann die Katze ‚mich‘ sein?«

»Genau«, schloss sich Henrietta an. »Das macht keinen Sinn.«

Am liebsten hätte Livia einen Schneeball tief in Henriettas Kutte geschoben. Aber Charlotte schien das nicht zu stören. »Die Katze ist mitten im Miauen. Aber da es nur eine halbe Katze ist, ist es ein halbes Miau. Und ein halbes Miau ist ‚me‘. »

Henrietta schmollte. »Woher weißt du, dass ein halbes Miauen nicht ‚au‘ ist?«

»Henrietta, sei still.« Sir Henry legte seine Hände auf Charlottes rosige Wangen. »Das ist bemerkenswert, Püppchen. Absolut bemerkenswert.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Lady Holmes. »Sie könnte sich etwas ausdenken und–«

»Lady Holmes, halten Sie bitte auch den Mund.«

»Nun!« stotterte Lady Holmes. Aber sie war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen wie Henrietta. »Aber Sie müssen Charlotte sagen, dass sie, da sie sprechen kann, nicht mehr so unhöflich schweigen darf.«

Sir Henry seufzte. »Hörst du deine Mutter, Püppchen?«

»Aber Papa, warum soll ich reden, wenn ich nichts Wichtiges zu sagen habe?«

Sir Henry brüllte vor Lachen. »Ja, in der Tat. Du bist weiser als dein Alter vermuten lässt, mein liebes Püppchen. Und du hast meinen Segen, so still zu sein, wie du willst.«

Dies sagte er mit einem Blick auf Lady Holmes, deren Mund­winkel sich entschieden nach unten zogen. Mit einer übertriebenen halben Verbeugung bot Sir Henry seiner Frau seinen Arm an; sie schürzte die Lippen noch mehr, nahm ihn aber an. Henrietta ergriff seinen anderen Arm. Livia und Charlotte gingen wieder Hand in Hand weiter.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach der Predigt verkündete der Pfarrer von der Kanzel, dass Miss Tomlinson ihn zu einem sehr glücklichen Mann gemacht habe, indem sie eingewilligt habe, seine Frau zu werden. Bald verbreitete sich im ganzen Dorf die Nachricht, dass die seltsamen Bilder an der Anschlagtafel der Heiratsantrag des Pfarrers gewesen seien, denn er und Miss Tomlinson liebten beide Rätsel und vor allem Rebusse.

Sir Henry tänzelte durch das Haus und sah erfreut und selbstgefällig aus. Livia freute sich für Charlotte, war ein wenig eifersüchtig, dass sie nicht diejenige war, die die Nachricht entzifferte, und seltsam verzweifelt. Sie würde lange brauchen, um zu begreifen, dass das erstickende Gefühl in ihrer Brust nichts mit Charlotte und nur mit ihren Eltern zu tun hatte.

*****

Sir Henry verachtete seine Frau, so wie Lady Holmes ihre Töchter verachtete. Sie waren nicht glücklich miteinander, aber Lady Holmes war die weitaus unglücklichere von ihnen.

Für Livia war es erschreckend gewesen, als sie dies begriff. Ihre Mutter war ihr ungeheuer mächtig erschienen, eine olympische Figur, die durch ihr schönes Landhaus schritt und Befehlsgewalt und Überlegenheit ausstrahlte. Aber sie war ohnmächtig gegenüber der Verachtung ihres Mannes.

Schließlich war sie auch nicht die Art von Autoritätsperson im Haushalt, die Livia zunächst angenommen hatte. Die Kon­trolle, die Lady Holmes ausübte, war weitgehend illusorisch und wurde nur zaghaft und mit häufigen Wutausbrüchen und Gewalttätigkeiten aufrechterhalten, so dass ihre außergewöhnliche Schlagtechnik nicht ohne fleißiges Üben zustande gekommen war. Die Dienerschaft verachtete sie, Livia duldete sie kaum, und Bernadines Zustand verschlechterte sich immer, wenn sie in der Nähe war. Die einzige, mit der sie sich verstand, war Henrietta, die ihr gerne schmeichelte und sie sogar nachahmte.

Ab und zu sah Livia diese häusliche Despotin allein in einer Ecke des Salons sitzen und blass und verloren aussehen. Aber dann sah Lady Holmes sie und schrie sie an, weil sie eine unangenehme Heimlichtuerin war, die nie wusste, wann sie unerwünscht war, und Livias Mitgefühl verflog, während die Demütigung brannte.

Sie war zwölf, als ihr klar wurde, dass ihr das Gleiche passieren könnte. Dass auch sie einen gutaussehenden, beliebten Mann heiraten und trotzdem unglücklich werden konnte.

Noch in derselben Woche machte Charlotte ihre Bemerkung über Mrs. Gladwell.

Mrs. Gladwell war die Witwe von Sir Henrys Cousin, eine elegante, temperamentvolle Frau in den späten Dreißigern. Sie lebte zwanzig Meilen entfernt und besuchte gelegentlich den Haushalt der Holmes. Lady Holmes mochte sie nicht. Sie rümpfte die Nase, wenn Mrs. Gladwells Name erwähnt wurde, und bezeichnete sie als »gewöhnlich«. »Vulgär« sogar, manchmal. Sir Henry bestand jedoch immer darauf, dass Mrs. Gladwell willkommen geheißen werden sollte, da sie zur Familie gehörte.

Mrs. Gladwell verbrachte einen Teil des Jahres in Torquay, einem milden Badeort. Nach ihrer Rückkehr besuchte sie die Holmes-Mädchen stets mit Geschenken im Gepäck. Aus diesem Grund konnte selbst Henrietta, sonst eine zuverlässige Verbündete von Lady Holmes, Mrs. Gladwell nicht ernsthaft ablehnen.

Bei diesem Besuch erhielt Henrietta, die Kleidung liebte, einen schicken neuen Stroh Boater. Mrs. Gladwell schenkte Livia, die ausgiebig in ihr Tagebuch schrieb, ein hübsches Tagebuch mit einem Bild der Devonküste auf dem Einband und ein Fläschchen mit neuer Tinte in einem wunderschönen Fliederton. Und Charlotte, deren einzige wahre Liebe das Essen war, auf deren Ernährung Lady Holmes aber sorgfältig achtete, weil sie befürchtete, dass sie zu einer inakzeptablen Größe aufblähen würde, bekam ein Sammelalbum mit konserviertem Seetang, mit Dutzenden von zarten federartigen Exemplaren, die von blassgrün bis kräftig kastanienbraun reichten.

An diesem Abend waren die Mädchen mit ihrer Erzieherin allein zu Hause, da Sir Henry und Lady Holmes zum Abendessen bei Squire Holyoke waren. Während Miss Lawton Bernadine bei ihrem Bad beaufsichtigte – Bernadine litt unter gelegentlichen Anfällen und konnte nicht allein in einer Wanne mit Wasser gelassen werden –, hatte Charlotte Livia an der Hand genommen und in Sir Henrys Arbeitszimmer gezogen.

»Wir sollten nicht hier sein!« hatte Livia geflüstert, ihr Herz klopfte wie wild. Sie mochte eine kleine Dosis des Verbotenen genauso wie jedes andere Mädchen, aber Henrietta war zu Hause und Henrietta lebte, um zu petzen.

»Henrietta zieht sich gerade um«, sagte Charlotte.

»Dann ist das wohl in Ordnung.« Henrietta, sechzehn Jahre alt, aß mit ihren Eltern, wenn diese zu Hause waren, und ansonsten allein am großen Tisch. Sie liebte das Ritual, ihr Abendkleid anzuziehen, und man konnte sich darauf verlassen, dass sie ewig damit verbrachte, ihr Haar zu frisieren und verschiedene Unterröcke anzuprobieren, bis sie einen fand, der am besten zur Form des Kleides passte. »Aber warum sind wir hier? Was willst du mir zeigen?«

Charlotte hob einen Briefbeschwerer von Sir Henrys Schreib­tisch und hielt ihn Livia entgegen.

»Den habe ich schon gesehen.« Auch Livia schnüffelte manchmal in Sir Henrys Arbeitszimmer herum. »Er hat ihn von dem Ort in Norfolk, den er auf der Reise mit seinen Klassenkameraden besucht hat.«

Zweimal im Jahr unternahm Sir Henry einen Herrenausflug mit den alten Jungs aus Harrow. Von dem letzten war er vor drei Tagen zurückgekehrt, und Livia hatte einen Blick auf den Briefbeschwerer geworfen, als er noch in einer Schachtel lag, auf der stand: »Ein Geschenk für Sie aus Cromer«.

»Sieh genauer hin«, sagte Charlotte.

Charlotte war nicht mehr von der stummen Sorte, von der sie einmal gewesen war, aber sie sprach immer noch nicht viel mehr als das Nötigste. »Guten Morgen, Vikar« und gelegentlich ein »Guten Tag wie geht es Ihnen?« für Leute, die sie zum ersten Mal traf. Wenn sie also sprach, hörte Livia gut zu.

Sie blickte auf das Foto am Boden des Briefbeschwerers aus Glas, das ein großes, mehrstöckiges Gebäude zeigte. »Ist das nicht das Hotel, in dem er wohnte, als er in Cromer war?«

Charlotte holte eine Postkarte aus der Tasche ihres blauen Kleides. »Das habe ich in dem Buch mit den konservierten Algen gefunden.«

Das Bild auf der Postkarte war mit dem des Briefbeschwerers nahezu identisch. The Imperial Hotel, Torquay, lautete die Beschriftung. Livia sog den Atem ein. Dass Mrs. Gladwell eine solche Postkarte besaß, war kaum verwunderlich, da sie dort Urlaub gemacht hatte. Aber dass Sir Henry von seiner Reise mit einem Erinnerungsstück zurückkam, das an Devon erinnerte, obwohl er mehrere hundert Meilen entfernt an der Nordseeküste hätte sein sollen ...

»Woher hat er ein Souvenir aus Torquay?«

»Entweder bekam er es von jemandem, der dort gewesen ist, oder er war selbst dort.«

»Warum hat er es in eine Schachtel gelegt, auf der stand, dass es aus Cromer stammt?«

»Warum lügt Henrietta, wenn sie behauptet, ein Band in ihrem Koffer gefunden zu haben, obwohl sie es gekauft hat?«

Livia drehte sich der Magen um: Es lag daran, dass Henrietta wusste, dass sie etwas tat, was sie nicht tun sollte.

»Aber was hat Papa in Torquay gemacht? Und warum hat er uns nicht dorthin mitgenommen?« Die Erkenntnis schoss mit der Wucht einer Explosion in Livias Kopf. »Du meine Güte! Er war mit Mrs. Gladwell dort.«

Charlotte schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. Livia erkannte, dass ihre Schwester bereits zu diesem Schluss gekommen war und, dass sie Livia deshalb die Beweise zeigen wollte.

»Du darfst es Mama nicht sagen, Charlotte. Hast du verstanden?«

»Ich werde nichts sagen, aber ich glaube, Mama weiß es. Oder vermutet es zumindest. Du weißt, dass sie auch Papas Arbeits­zimmer durchwühlt, wenn er nicht zu Hause ist.«

Livia starrte auf Charlottes rundes Gesicht mit den rosigen Wangen, das so lieblich wie immer war. War das der Grund, warum Lady Holmes Mrs. Gladwell so ablehnend gegenüberstand? Und lieber Gott, hatte Sir Henry vor, diesen Briefbeschwerer dort stehen zu lassen, wo Lady Holmes ihn mit Sicherheit sehen würde, um dann eine Postkarte mit genau demselben Bild ins Haus zu bringen, die das Mädchen, das sie fand, wahrscheinlich in ihrem Zimmer ausstellen würde, um seiner Frau so seinen Urlaub mit seiner Geliebten am Meer unter die Nase zu reiben?

War es das, was Charlotte Livia hatte sagen wollen?

»Glaubst du, dass er in Mrs. Gladwell verliebt ist?«

Livia konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war: dass ihr Vater eine andere liebte oder dass er ihrer Mutter mit einer Frau untreu war, die er nicht einmal liebte.

»Nein«, sagte Charlotte entschlossen. »Komm her.«

In der untersten Schublade von Sir Henrys Schreibtisch befand sich ein Kästchen, das mit einem dunkelbronzenen, seltsam anmutenden Schloss gesichert war und von dem Livia annahm, dass es sich um eine chinesische Antiquität handelte. Es hatte die Form eines Fasses, das aus fünf sich drehenden Scheiben bestand, die chinesische Schriftzeichen trugen, die einst mit Goldlack bemalt worden, jetzt aber fast bis zur Unleserlichkeit verblasst waren.

Livia kannte das Kästchen. Sie hatte instinktiv verstanden, dass sich das Schloss öffnen würde, wenn sie die richtigen Zeichen aneinanderreihte. Aber als sie es schon einmal versucht hatte, als ihre Eltern nicht im Haus waren, hatte sie nach Dutzenden von Fehlversuchen frustriert aufgegeben.

Charlotte jedoch schaute sich das Schloss an und drehte die Scheiben eine nach der anderen mit großem Vertrauen.

»Hast du es oft genug versucht, um die richtige Kombination herauszufinden?« Livia war erstaunt.

»Nein. Papa kann genauso wenig Chinesisch lesen wie wir. Wenn man sich das Schloss bei starkem Licht ansieht, kann man um einige der Schriftzeichen herum Bleistiftflecken erkennen. Und wenn man die aneinander reiht...«

Charlotte zog den Stift zurück, legte das Schloss beiseite und hielt Livia die nun offene Schachtel hin.

Das erste, was Livia sah, war ein Zeitungsausschnitt, in dem Sir Henrys Verlobung mit einer gewissen Lady Amelia Drummond angekündigt wurde.

Als nächstes kam eine Hochzeitseinladung. »Aber das kann nicht stimmen. Die Hochzeit war an dem Tag, an dem Mama und Papa geheiratet haben. Du glaubst doch nicht, dass Mama insgeheim Lady Amelia Drummond ist?«

Charlotte schüttelte den Kopf und wies Livia an, die Einladung aufzuheben. Ganz unten in der Schachtel lag ein kleines Foto, das einen jungen Sir Henry und eine gut aussehende und sehr vornehm wirkende junge Dame zeigte, die ganz sicher nicht Lady Holmes war.

Livia starrte das Bild an. »Hat diese Lady Amelia Papa einen Korb gegeben? Und hat er am ursprünglichen Hochzeitstag eine andere geheiratet, um sie zu ärgern?« Charlotte schloss das Kästchen wieder und legte es sorgfältig zurück. Dann ging sie zur Tür, spähte hinaus und winkte Livia, ihr zu folgen. Nachdem sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgestiegen waren, saß Livia auf dem Bett, den Kopf in die Hände gestützt, und versuchte, die Enthüllungen des Tages zu verarbeiten.

»Meinst du, Mama hat herausgefunden, dass er sie an dem Tag geheiratet hat, an dem er Lady Amelia heiraten sollte?«

»Ja.«

»Vorher oder nachher?«

Charlotte dachte eine Minute lang nach. »Danach.«

Das machte Sinn. Lady Holmes‘ Eltern waren respektabel, aber knapp bei Kasse; ohne die Mittel, sich eine Saison für ihre Tochter leisten zu können, hätten sie vielleicht nicht mit der Flut der Heiratsnachrichten aus London Schritt halten können.

Ganz zu schweigen davon, dass Lady Holmes nicht so desillusioniert wäre, wenn sie von Anfang an gewusst hätte, worauf sie sich einlässt.

»Ich frage mich, warum Mamma nicht das Äquivalent einer Mrs. Gladwell hat. Meinst du, sie will das?«

Auf Charlottes besonnene Frage hin richtete sich Livia auf. »Eine Affäre haben? Ich weiß nicht, ob sie das will, aber ich bin mir sicher, dass Papa sehr verärgert wäre, wenn sie es tun würde.«

»Warum? Er tut es. Und er scheint sich nicht im Geringsten dafür zu schämen.«

»Ich kann es nicht erklären. Ich weiß nur, dass er wütend sein würde.«

Charlotte dachte darüber nach, ihr Gesicht so heiter wie das eines Engels auf einer Weihnachtskarte. »Das ist nicht fair, oder?«

»Natürlich ist es ungerecht, aber so ist es nun mal.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht. Ich hasse es. Aber wir müssen damit leben.«

Charlotte war still. Unten auf dem Gang öffnete sich Henriettas Tür. Die Absätze ihrer Abendschuhe klackten kräftig, als sie zum Abendessen hinunterstieg.

»Müssen wir?«, fragte Charlotte.

Diese Frage schockierte Livia irgendwie mehr als die vorangegangenen. Sie warf die Postkarte auf den Rost und zündete sie an. »Ja, das müssen wir. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als damit zu leben.«

*****

Die romantischen Beziehungen von Sir Henry und ihre Auswir­kungen auf Lady Holmes wurden erst zwei Jahre später wieder erwähnt, als sich die achtzehnjährige Henrietta noch vor Ende ihrer ersten Saison verlobte.

Kurze Zeit später trafen Livia und Charlotte auf Mr. Cumberland, ihren Verlobten. Mit dem letzten Rest an Selbstbeherrschung schaffte es Livia, während der Begegnung nicht mit den Augen zu rollen. Mr. Cumberland war nicht annähernd so unausstehlich wie Henrietta, aber dieser Mann war wirklich dumm wie Bohnenstroh.

»Dieser arme Idiot«, sagte sie zu Charlotte, sobald sie allein waren.

Charlotte öffnete die Schublade ihres Nachttisches und nahm ihre Schmuggelware heraus, ein großes Stück Pflaumenkuchen, das sie aus der Küche gemopst hatte. »Finde ich auch.«

Livia schnaubte: »Jeder, der Henrietta heiraten will, muss ein Idiot sein.«

Charlotte nickte abwesend und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Kuchen. Lady Holmes war unglücklich darüber, dass Charlotte trotz aller Einschränkungen bei ihrer Ernährung nicht abgenommen hatte. Früher hatte Livia mit Vergnügen Brötchen und Pudding für Charlotte geschmuggelt, sowohl um ihrer Mutter zu trotzen als auch um Charlottes unaussprechliche Freude zu genießen, wenn sie ihre Zähne in verbotene Früchte versenkte. Doch in letzter Zeit bekam Livia Gewissensbisse wegen ihrer Rolle als Charlottes Helfershelferin und Beschafferin: Die vorherrschende Mode war unerbittlich und Charlotte würde sich in diesen Korsetts mit Walfischknochen und Stahlrippen, deren einziger Zweck es war, den Körper einer Frau in eine Wespentaille zu verwandeln, schrecklich unwohl fühlen.

Nun, vorausgesetzt, Charlotte ließe sich eines Tages dazu überreden, ihre Hingabe an ihr blaues Tuchkleid aufzugeben, das einzige Kleid, das sie seit Jahren trug und das alle achtzehn Monate oder so geändert wurde, um ihrer wachsenden Körpergröße Rechnung zu tragen.

»Nun, stürz dich nicht nur auf deinen Kuchen«, fuhr Livia fort. »Sag mir, warum du Mr. Cumberland für einen Idioten hältst.«

Heutzutage war es möglich, ein kleines Gespräch mit Charlotte zu führen, wenn man bereit war, sie bei jeder Gelegenheit dazu aufzufordern. Charlotte schien es nicht zu stören, wenn man sie zum Sprechen aufforderte, obwohl sie sich oft freiwillig meldete, um Henriettas Schicht bei Bernadine zu übernehmen: Wenn man mit Bernadine zusammensaß, brauchte man nichts zu sagen. Im Gegenteil, je weniger man versuchte, mit Bernadine zu reden, desto weniger frustrierend waren diese Sitzungen.

»An Geld mangelt es ihm nicht«, sagte Charlotte, »aber die Passform seiner Kleidung ist schrecklich, er weiß offensichtlich nicht, wie man einen Schneider auswählt. Und er glaubt, ein auffälliger Knoten in der Krawatte mache schlechte Schuhe und zu kurze Hosen wett. Außerdem nimmt ihn sein Kammerdiener völlig aus.«

»Was?«

»Der Diamant auf seiner Anstecknadel ist aus Kleister. Wenn er keine Anstecknadel aus Paste gekauft hat, dann hat sein Diener wahrscheinlich das Original verkauft und eine billige Nachbildung eingesetzt.«

Livia hatte sich halb auf ihr Bett gelegt. Sie sprang auf den Boden. »Sollten wir Henrietta nicht sagen, dass er einen Dieb anstellt?«

»Henrietta war diejenige, die mir gezeigt hat, wie man einen echten Diamanten von Kleister unterscheidet«, sagte Charlotte, so gelassen, wie sie immer war, wenn sie diese bahnbrechenden Beobachtungen machte. »Sie weiß es. Sie wird dafür sorgen, dass der Kammerdiener bald weg ist.«

»Aber wissentlich einen Antrag von diesem Idioten anzunehmen, tut mir fast leid für Henrietta.«

»Nicht doch. Er ist genau das, wonach sie gesucht hat. Henrietta ist nicht dumm. Sie wird nicht jemanden wie Papa heiraten. Sie will jemanden, den sie kontrollieren kann, und jetzt hat sie einen.«

Livia zog eine Grimasse. »Sind wir sicher, dass er über ausreichende Mittel verfügt? Nicht so wie wir – nur Schein.«

Charlotte hatte ein Jahr zuvor als Erste darauf hingewiesen, dass Cook nicht mehr die richtige Menge Butter in ihren Pfundskuchen getan hatte, was zu der Entdeckung führte, dass der Zuschuss, den Cook für den Einkauf von Zutaten hatte, erheblich gekürzt worden war. Aber es war Livia, die den kühnen Schritt wagte, für Sir Henry einen Brief seiner Bank zu öffnen, und so fanden sie heraus, dass das Haus mit einer hohen Hypothek belastet und ihre Eltern hoch verschuldet waren.

(Etwa zur gleichen Zeit wurde Bernadines Kindermädchen entlassen und die Aufgabe, auf sie aufzupassen, fiel ihren Schwestern zu, deren Gouvernante ebenfalls von ihren Pflichten entbunden wurde, da Lady Holmes erklärte, die Mädchen seien alt genug, um keine mehr zu brauchen).

Livia, die bereits von ihren Eltern enttäuscht war, hielt noch weniger von ihnen: Wenn sie schon ihre Ehe zum Gespött machen müssen, könnten sie dann nicht wenigstens verantwortungsvoll mit ihren Finanzen umgehen?

»Henrietta war vorsichtig«, sagte Charlotte. »Erinnerst du dich an die zweitägige Reise, die sie und Mama unternahmen, um Mamas kranke Tante zu besuchen, wie sie sagten? Ich habe gelochte Fahrkarten von ihrer Reise gefunden, und die Reiseziele waren nirgendwo in der Nähe von Mamas Verwandten. Aber Mr. Cumberland erwähnte all diese Orte, die heute als Standorte für die Betriebe seiner Familie dienen. Das haben Mama und Henrietta getan, sie haben diese Besitztümer vor Ort untersucht, um sicherzugehen, dass sie in gutem Zustand sind.«

»Hm. Ich habe Henrietta nicht genug Anerkennung entgegengebracht.«

»Henrietta war schon immer klug, wenn es um ihre eigenen Interessen ging.«

»Aber sie heiratet trotzdem einen Idioten«, sagte Livia und ließ sich wieder auf das Bett fallen. »Aber ich nehme an, es ist besser, einen Idioten zu heiraten als jemanden, der einen für einen Idioten hält.«

Charlottes Aufmerksamkeit kehrte zu ihrem Kuchen zurück. Livia starrte an die Decke und wurde von pessimistischen Gedanken überschwemmt. Sie war erschrak, als Charlotte wieder das Wort ergriff und zwar sowohl durch die Tatsache, dass diese ihr Gespräch fortsetzen wollte, als auch durch Charlottes eigentliche Frage.

»Du wirst doch keinen Idioten heiraten, oder?«, fragte Charlotte.

»Das hoffe ich nicht«, antwortete Livia mürrisch. »Oder zumindest mit offenen Augen, wenn ich es schon tue. Was ist mit dir?«

»Ich will nicht heiraten.«

»Aber wie willst du leben? Du weißt, dass das Geld nicht ausreicht, um uns als alte Jungfern zu halten.«

»Ich kann Geld verdienen. Wenn ich ein Junge wäre und es gäbe kein Geld in der Familie, würde man dann nicht von mir erwarten, dass ich einen Beruf ausübe?«

»Ja, aber du bist kein Junge. Mama würde einen Anfall bekommen, wenn sie sich vorstellen müsste, dass eine ihrer Töchter ... arbeitet.«

»Mama muss nicht zustimmen.«

Livia seufzte. »Du machst dir etwas vor, wenn du glaubst, dass Papa das tut.«

Sie war Sir Henry gegenüber unsentimental, denn Sir Henry hatte keine Verwendung für sie. Aber Charlotte war seine Lieblingstochter und er amüsierte sich köstlich über ihre Kombination aus großer Intelligenz, großer Seltsamkeit und großer Stille. Er ging regelmäßig mit ihr spazieren, nur sie beide. Er kaufte insgeheim Süßigkeiten für sie. Und er las ihr seine Lieblingsgedichte vor und freute sich, dass sie sie ihm sofort vortragen konnte.

»Wie kommst du darauf, dass er es nicht tut?«, fragte Charlotte.

»Aus demselben Grund, aus dem ich glaube, dass er in Rage gerät, wenn er herausfindet, dass Mamma eine Affäre hat. Er mag sympathisch wirken, aber er ist keineswegs liberal in seinem Denken. Behalte das im Hinterkopf.«

Charlotte nickte und blickte etwas traurig auf den leeren Teller vor sich.

Es war das letzte Mal, dass Livia sah, wie Charlotte eine solche Menge Kuchen – oder überhaupt etwas Essbares – in einer Sitzung verzehrte.

*****

Die nächsten Jahre brachten für Charlotte eine Reihe unvorhergesehener Veränderungen mit sich. Zum einen begann sie, sich aktiv für ihre Garderobe zu interessieren – sie studierte Modetafeln, probierte verschiedene Kombinationen von Unterröcken und Strümpfen an und begleitete Lady Holmes bei der Auswahl von Spitze und Federn.

In der Folge achtete sie viel mehr auf ihre Figur und hörte auf so viel zu essen, bis sie keinen Bissen mehr herunterschlucken konnte. An dem Tag, als sie um eine zweite Portion Karotten bat und auf den Pudding am Ende der Mahlzeit verzichtete, zog Livia sie zur Seite und fragte, ob sie krank sei. Charlotte schüttelte den Kopf.

Sehr zur Erleichterung von Lady Holmes bemühte sich nun auch ihr jüngstes Kind heldenhaft um Smalltalk. Anstatt Besucher mit Bemerkungen wie »Ich sehe, Sie schreiben nicht mehr in Ihr Tagebuch« oder »Es tut mir leid, dass die Reise nach Bath nicht so erfolgreich war, wie Sie gehofft hatten« zu erschrecken und zu verunsichern, lernte sie zu lächeln, zu nicken und über das Wetter zu plaudern.

Letzteres ging nicht ohne Fehlversuche und Irrtümer vonstatten. Anfangs neigte sie dazu, Ausrufe alter Herren wie »So viel Regen hatten wir nicht mehr, seit ich ein Junge in kurzen Hosen war« mit konkreten Daten aus den Kirchenbüchern zu korrigieren, die belegten, dass es vor nur fünf Jahren weitaus mehr Niederschläge gegeben hatte. Nach einiger Übung und vielen Unannehmlichkeiten begriff sie schließlich den Sinn dieser Persiflage, die nur dazu diente, das Schweigen der Menschen zu vermeiden, die sich nichts zu sagen hatten.

Die unangenehme Stille, mit anderen Worten. Aber da es für Charlotte keine unangenehme Stille gab, war es für sie so schwer zu verstehen, wie für einen Mann mit Schwindelgefühlen, die Wiener Polka zu tanzen.

Manchmal, wenn Livia neben ihr stand, für sie schwitzte und sich bemühte, die richtige Antwort per Telepathie zu übermitteln, fiel ihr auf, wie sehr Charlotte einem Ausländer glich, der die einheimischen Sitten und Gebräuche verwirrend und gelegentlich geradezu lächerlich fand. Einmal, als sie mitten in der Lektüre eines Zeitschriftenartikels über die Möglichkeit von Leben auf dem Mars steckte, kam Livia der Gedanke, dass Charlotte eher einem interplanetarischen Alien glich: Es waren nicht nur die Gewohnheiten und Konventionen der Engländer, die sie verwirrten, sondern die der gesamten Menschheit.

Aber schließlich überwand Charlotte diese Hürde. Sie lernte nicht nur den starken Unterschied zwischen der Frage nach der Erkältung einer alten Dame und ihrem Inkontinenzproblem, sondern wurde auch geschickt darin, diese ehemals tückischen Untiefen zu umschiffen, auch wenn Livia manchmal merkte, dass sie eine Situation mit einem inneren Algorithmus berechnete und versuchte, eine angemessene Reaktion zu erzeugen.

Aber im Großen und Ganzen schien ihre Verwandlung abgeschlossen zu sein. Das kleine Mädchen, das Jahr für Jahr darauf bestanden hatte, das gleiche Kleid zu tragen, war durch eine junge Dame mit Rüschen und Federkleid ersetzt worden. Statt der Encyclopedia Britannica las sie nun Burke‘s Peerage und das Cornhill Magazine. Und obwohl sie nie zu einer eleganten Schlankheit abgespeckt hatte, sondern immer noch eine Andeutung eines Doppelkinns hatte und die Knöpfe ihres Mieders immer Gefahr liefen, aufzuspringen, passte ihre Tendenz zur Molligkeit sehr gut zu ihren großen Augen und rosigen Wangen.

Sie war nicht schön, aber sie war liebenswert. Die Leute reagierten auf sie wie auf eine erwachsene, lebendig gewordene Kinderliedfigur. Jungen und junge Männer waren wie hypnotisiert, ihre Augen wanderten eifrig von ihren rosafarbenen, weichen Lippen zu ihren festen Brüsten.

Livia war halb neidisch auf diese Reaktion, die ihre kleine Schwester bei den Herren hervorrief, und halb ... traurig. Wer war dieses in Volants gehüllte Mädchen, das sich Honig ins Gesicht und Kokosnussöl in die Haare schmierte? Was war aus der Charlotte geworden, an die sich Livia erinnerte, diese bekannte kauzige Ente, die die einzige Person war, bei der sich Livia wohl fühlte, die einzige Person, der Livia vertraute?

Und dann, am Tag vor ihrer Abreise nach London für ihre erste gemeinsame Saison, sagte Charlotte zu Livia: »Ich habe heute mit Papa gesprochen«.

Sie waren auf den Feldern am Rande des Dorfes unterwegs. Der Tag war sonnig, aber immer noch kühl. Die Landschaft war von einem frischen, leuchtenden Grün. Und Charlottes cremefarbenes Kleid, zierlich mit Spitze und Passepartout, bot einen unglaublich hübschen Kontrast vor diesem Hintergrund der hell erleuchteten Natur.

Livia war niedergeschlagen angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass die neue Charlotte bis zum Ende der Saison in Anträgen schwimmen würde. Livias Chancen auf dem Heiratsmarkt waren bei weitem nicht so günstig. Sie war eine Misanthropin – selten gab es einen Mann oder eine Frau, die sie nicht zutiefst enttäuschte. Das war schon schlimm genug für eine junge Dame, aber zu allem Überfluss war sie auch noch eine Misanthropin, die nicht wusste, wie sie so tun sollte, als wäre sie keine.

Sollte Charlotte einen Antrag annehmen, würde Livia ganz allein zu Hause bleiben.

Sie seufzte. »Worüber hast du mit Papa gesprochen?«

»Erinnerst du dich an den Tag, als wir Mr. Cumberland trafen? Ich sagte, ich wolle nicht heiraten.«

»Du hast Papa heute gesagt, dass du nicht heiraten willst, kurz bevor wir nach London aufbrechen?«

»Nein, ich habe mit ihm am Tag nach unserer Begegnung mit Mr. Cumberland gesprochen.«

Livia blinzelte. Das wäre vor fünf Jahren gewesen.

»Ich sagte ihm, dass ich nicht glaube, dass die Institution der Ehe sehr gut zu mir passen würde. Ich sagte, ich wolle mich nach anderen Möglichkeiten umsehen, meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Und was hat er gesagt?«

»Er sagte, dass ich seiner Meinung nach zu jung sei, um irgendwelche endgültigen Entscheidungen zu treffen. Er ermutigte mich, mich mit Aspekten des Mädchenseins zu befassen, die ich damals noch nicht erforscht hatte, z. B. Mode. um den traditionellen Weg einer Frau besser kennenzulernen, bevor ich ihn gänzlich ablehnte.«

Das klang erschreckend vernünftig und weise, und Livia konnte kaum glauben, dass diese Worte von Sir Henry stammen sollten.

»Ich habe getan, was er wollte. Es hat sich herausgestellt, dass Mode ziemlich unterhaltsam ist. Und es macht auch Spaß, mit Leuten zu reden – erstaunlich, wie viel sie einem erzählen, wenn man nur nachfragt. Und ich kann mir vorstellen, dass eine Londoner Saison auch etwas Interessantes zu bieten hat. Aber nichts davon hat meine Meinung über die Ehe geändert, denn nichts davon hat die wirtschaftliche und politische Gleichung, die die Ehe darstellt, verändert. Mir gefällt der Gedanke nicht, die Nutzung meines Fortpflanzungssystems gegen die Unterstützung eines Mannes einzutauschen, weil ich keine andere Wahl habe.«

Livias Augen weiteten sich. Die alte Charlotte war nirgendwohin gegangen; man hatte sie lediglich mit feinem Musselin und einen kecken, schräg sitzenden Hut gepolstert! Livia schämte sich, dass diese einfache Tarnung sie so vollständig getäuscht hatte.

»Und das hast Du ihm gesagt?«

»Das weiß er bereits. Was ich ihm heute gesagt habe, ist, dass ich mich für einen Beruf entschieden habe: Ich glaube, ich würde eine gute Direktorin an einer Mädchenschule sein. Wenn ich diese Position an einer angesehenen Schule erreiche, kann ich bis zu fünfhundert Pfund im Jahr verdienen.«

Livia holte tief Luft. »So viel?«

»Ja. Aber ich kann nicht von heute auf morgen Direktorin werden. Ich muss die Schule besuchen, die erforderliche Ausbildung absolvieren und mich dann hocharbeiten. Ich habe Papa gebeten, die Kosten zu übernehmen, bis ich es ihm zurückzahlen kann.«

»Und ist er dafür empfänglich?«

»Wir haben vereinbart, dass ich warten werde, bis ich fünfundzwanzig bin. Wenn ich bis dahin immer noch niemanden gefunden habe, den ich heiraten möchte, dann wird er mir die Ausbildung finanzieren.

Livia war verblüfft. »Ich kann es nicht glauben.«

»Er gab sein Wort als Gentleman.«

Das Wort eines Mannes war keine Kleinigkeit, doch Livia schüttelte den Kopf. Sie musste jetzt wohl glauben, dass Sir Henry ein ernsthaftes Versprechen gegeben hatte. »Aber es wird noch lange dauern, bis du fünfundzwanzig wirst, fast acht Jahre. In der Zwischenzeit könnte alles Mögliche passieren. Du könntest dich verlieben.«

»Darauf zählt Papa, kein Zweifel. Aber die romantische Liebe ist ... Ich will nicht sagen, dass die romantische Liebe selbst ein Betrug ist, ich bin sicher, dass die Gefühle, die sie hervorruft, echt genug sind, wenn auch nur vorübergehend. Aber die Art und Weise, wie sie als diese unverfälschte, immerwährende Freude dargestellt wird, nach der jede Frau streben sollte, während die Liebe in Wirklichkeit eher wie Rindfleisch ist, das auf Kühlschiffen aus Argentinien herübergebracht wird: Unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen mag es eine Weile frisch bleiben, aber früher oder später werden seine Qualitäten nachlassen. Die Liebe ist im Großen und Ganzen eine verderbliche Ware, und es ist bedauerlich, dass von jungen Menschen verlangt wird, inmitten einer kurzlebigen Euphorie unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen, bis der Tod sie scheidet.«

Livia blieb der Kiefer offen stehen. Auch sie hatte Zweifel an der Liebe und an der Ehe, aber sie drehten sich hauptsächlich um ihre Angst, auf potenzielle Bewerber arrogant und abstoßend zu wirken, und um die Frage, ob sie in der Lage sein würde, besser zu wählen als Lady Holmes. Es war ihr noch nicht in den Sinn gekommen, sich ein umfassendes Urteil über das gesamte System zu bilden.

»Aber was ist mit den Cummingses? Sie sind seit dreißig Jahren verheiratet und immer noch glücklich miteinander.«

»Und es gibt auch die Archibalds und die Smalls. Aber wir dürfen nicht sentimental werden, wenn es um den Erfolg dieser Ehen geht. Wir müssen es mathematisch betrachten, die Zahl der langjährig glücklich verheirateten Paare im Verhältnis zu allen verheirateten Paaren. Nach meiner Schätzung sind das weniger als zwanzig Prozent in unserem Bekanntenkreis. Würdest du auf solche Quoten wetten?«

Livia blinzelte einige Male. »Ich nehme an, du nicht.«

»Das wären keine schlechten Chancen, wenn wir bei einem Pferderennen wären. Und sie sind auch gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass der Preis eine jahrzehntelange, zufriedene Partnerschaft ist. Mein Problem ist der Einsatz, den ich leisten soll: mein ganzes Leben. Ganz zu schweigen davon, dass ich nur einmal spielen kann, es sei denn, ich beerdige meinen Mann oder lasse mich von ihm scheiden. Und wenn ich mich von meinem Mann scheiden lasse, können sich meine Eltern natürlich nirgendwo mehr blicken lassen, denn dann habe ich sie ja gedemütigt. Also, nein. Angesichts der exorbitanten Kosten und Zwänge bin ich nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.

Sie zerrte an Livia. Mit Verspätung bemerkte Livia, dass sie vor einiger Zeit angehalten hatten und dass sie einem entgegenkommenden Dogcart im Weg stand. Sie ließ sich von Charlotte an den Rand des Feldweges führen und nickte mechanisch dem vorbeifahrenden Dorfarzt zu, der seinen Hut lüftete.

»Ich nehme an, du hast vor, deinen 25. Geburtstag abzuwarten und dann deine Nase über die Gesellschaft zu rümpfen und zur Schule zu gehen«, sagte sie, als sie wieder weitergingen.

»Mehr oder weniger. Papa hat mich gebeten, mich in gutem Glauben von einem Mann mitreißen zu lassen, und ich habe zugestimmt. Aber ich weiß nicht, warum er glaubt, dass ich die Faktoren, die dazu beitragen, anders gewichten werde, wenn ich mitgerissen bin. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich daraus schließen muss, dass Papa mich überhaupt nicht kennt.«

Das war eine Schlussfolgerung, die keines Kommentars bedurfte. Livia war der Meinung, dass Sir Henry Charlotte immer noch als amüsante Kuriosität betrachtete oder zumindest hoffte, sie würde wieder zu einer solchen werden, wenn er ihr radikales Denken lange genug ignorierte. Und es war sicher nicht hilfreich, dass Charlotte so aussah, wie sie aussah, so betont, man könnte sogar sagen, extravagant weiblich, rundlich und weich, ohne einen einzigen scharfen Winkel.

»Nun«, sagte Livia, »ich habe gehört, dass das Küssen das Denken einer Dame beeinflusst.«

»Ich bin geküsst worden. Es ist sehr schön, aber ich –«

»Was? Wer hat dich geküsst? Wann? Und wo?«

»Es ist mehrere Jahre her. Aber ich habe geschworen, den Namen des Herrn nicht preiszugeben, was bedeutet, dass ich dir auch nicht sagen kann, wo der Kuss stattgefunden hat, da dies die Liste der möglichen Kandidaten einschränken würde.«

Vor einigen Jahren? Charlotte muss damals erst dreizehn oder vierzehn gewesen sein. »Du hast nie etwas gesagt!«

»Du hast nie gefragt.«

»Ich-« Livia beschloss, lieber den Mund zu halten, bevor sie damit herausplatzte, dass sie sich wohl kaum fragen konnte, ob Charlotte Jungs küsste, wenn sie schon halb vermutete, dass Charlotte vom Mars geschickt worden war, um die kulturellen Gepflogenheiten der Erdlinge zu untersuchen. »Wie ist das passiert? Hat er dich überrumpelt?«

»Ganz und gar nicht. Ich habe es in Gang gesetzt.«

»Charlotte! Warst du verliebt?«

»Nein, ich wollte wissen, wie es sich anfühlt.«

»Aber wie hast du den Jungen ausgewählt? Du hast doch sicher keinen Namen aus einem Hut gezogen.« Livia schnappte nach Luft. »Oder hast du?«

»Das habe ich nicht getan. Aber ich kann die Umstände, die mich dazu gebracht haben, ihn auszuwählen, nicht preisgeben, denn das würde auch Hinweise auf seine Identität geben.«

Livia versuchte es noch ein paar Mal, aber Charlotte blieb freundschaftlich wortkarg. Livia gab auf. »Sieh dich an. Du hattest einen ‚sehr schönen‘ Kuss und du hast einen Plan für dein Leben. Da komme ich mir völlig ziellos vor.«

»Normalerweise fühlt man sich ziellos, weil man noch nicht weiß, was man will, bis man es weiß, kann man keine richtige Strategie entwickeln.« Charlotte betrachtete Livia einen Moment. »Aber in deinem Fall ist es möglich, dass du genau weißt, was du willst, aber du hast Angst, es zu wollen, geschweige denn es zu verfolgen.«