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Der Auftakt der Taunus-Krimireihe von Bestsellerautorin Nele Neuhaus! »Ein perfekt zu lesender Krimi mit überraschenden Wendungen, viel Zwischenmenschlichem und einer guten Portion Ironie und Humor!« buchtips.net Der erste Fall für das berühmte Ermittlerpaar Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff! Eine Ladung Schrot aus dem eigenen Jagdgewehr beschert dem Frankfurter Oberstaatsanwalt ein schnelles, wenn auch sehr hässliches Ende. Die schöne junge Frau, die tot am Fuß eines Aussichtsturms im Taunus liegt, ist viel zu unversehrt, um an den Folgen eines Sturzes gestorben zu sein. Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein und seine neue Kollegin Pia Kirchhoff sind sich einig: Der erste Todesfall war ein Selbstmord, der zweite jedoch ein Mord. Bald häufen sich sowohl die Motive als auch die Verdächtigen. Doch was hat den Staatsanwalt in den Tod getrieben? *** Packend von der ersten bis zur letzten Seite. Ein Muss für alle Krimi-Fans! ***
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Seitenzahl: 555
Eine unbeliebte Frau
Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und, unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg, Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.
Von Nele Neuhaus sind in unserem Hause bereits erschienen:In der Serie »Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi«: Eine unbeliebte Frau · Mordsfreunde · Tiefe Wunden · Schneewittchen muss sterben · Wer Wind sät · Böser Wolf · Die Lebenden und die Toten · Im Wald · MuttertagAußerdem: Unter Haien
An einem Sonntagmorgen im August wird in den Weinbergen bei Hochheim eine Leiche gefunden. Es handelt sich eindeutig um einen Selbstmord: Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Dr. Joachim Hardenbach hat sich mit dem Jagdgewehr in den Mund geschossen. Kaum eine Stunde später werden Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein und seine neue Kollegin Pia Kirchhoff vom Hofheimer K11 zu einem weiteren Leichenfund gerufen. Unterhalb eines Aussichtsturms im Taunus liegt eine tote junge Frau. Doch diesmal sieht es nur auf den ersten Blick nach Selbstmord aus; in Wirklichkeit handelt es sich um einen eiskalt geplanten Mord. Die Ermittlungen führen Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff auf die noble Reitanlage Gut Waldhof. Dort erfahren sie, dass Isabel Kerstner, die schöne junge Frau des Pferdetierarztes, zu Lebzeiten alles andere als beliebt war; sie betrog ihren Ehemann nach Strich und Faden und war ein intrigantes Biest, lautet die allgemeine Aussage. An Verdächtigen mit dem Mordmotiv Eifersucht herrscht kein Mangel. Aber Isabel Kerstner kannte auch den toten Oberstaatsanwalt – ein bisschen zu gut, wie ein pikantes Video beweist. Der Fall bekommt eine neue Dimension
Nele Neuhaus
Der erste Fall für Bodenstein und Kirchhoff
Kriminalroman
Ullstein
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Dieses Buch ist ein Roman.Alle Figuren und Ereignisse sind frei erfunden.
Erweiterte Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009Umschlaggestaltung: www.zero-media.netTitelabbildung: Getty Images / © W.gj Zuurmond / EyeEm (Vögel);© Liam Grant/stocksy (Bäume, Blätter)Autorenfoto: © Felix BrüggemannE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2204-9
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Sonntag, 28. August 2005
Montag, 29. August 2005
Dienstag, 30. August 2005
Mittwoch, 31. August 2005
Donnerstag, 1. September 2005
Freitag, 2. September 2005
Samstag, 3. September 2005
Sonntag, 4. September 2005
Montag, 5. September 2005
Dienstag, 6. September 2005
Mittwoch, 7. September 2005
Donnerstag, 8. September 2005
Freitag, 9. September 2005
Samstag, 10. September 2005
Sonntag, 11. September 2005
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Sonntag, 28. August 2005
Liebe Leserinnen und Leser,
zehn Jahre sind vergangen, seitdem mich im Januar 2008 die Mail einer Lektorin des Ullstein-Verlages erreichte. Eine Vertreterin hatte von ihrer Frühjahrsreise durch die Buchhandlungen mein Buch »Mordsfreunde« mitgebracht, die Lektorin hatte es gelesen und war zu meiner Freude so angetan, dass sie bei mir nachfragte, ob ich nicht einen weiteren Band der Krimis um Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein schreiben wollte.
Die Mail, die ich bis heute auf meinem Computer gespeichert habe, erreichte mich zu einem Zeitpunkt, als ich mich fast damit abgefunden hatte, meine Bücher selbst herauszugeben und zu vermarkten. Jahrelang hatte ich vergeblich einen Verlag gesucht, um schließlich meinen Erstling »Unter Haien«, den ersten Taunuskrimi »Eine unbeliebte Frau« und dann auch den zweiten Taunuskrimi »Mordsfreunde« mit Unterstützung eines Book-on-Demand-Dienstleisters selbst zu veröffentlichen. Es war eine anstrengende, aber auch aufregende und lehrreiche Zeit, die Bücher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu layouten, mithilfe meiner Schwestern und Freundinnen zu lektorieren und schließlich zu vertreiben. Ich war damals schon sehr glücklich über den wachsenden Erfolg meiner Bücher in meiner Heimat, dem Taunus. Aber dann kam eben diese Mail. Ich überlegte nicht lange, denn mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich mit meiner Art des Selbstverlegens an meine Grenzen gestoßen war. Tatsächlich bekam ich einen Verlagsvertrag und schrieb für Ullstein (und natürlich für Sie, meine lieben Leser!) den dritten Taunuskrimi: »Tiefe Wunden«.
Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, jeder neue Autor ist ein Risiko, der zuerst einmal einen Vertrauensvorschuss bekommt. Ullstein übernahm zu meiner Freude auch meine ersten beiden Taunuskrimis in die sogenannte »Backlist«, obwohl niemand wissen konnte, ob meine Bücher auf der großen Bühne bestehen würden. Die einzige Bedingung war, sie um 80 bis 100 Seiten zu kürzen. Man versicherte mir, dass dies keine inhaltlichen Gründe habe, sondern – ganz prosaisch – rein wirtschaftliche: Die Bücher sollten unter 9 Euro kosten und durften deshalb nicht dicker sein als maximal 400 Seiten. Ich akzeptierte, auch wenn mich jeder gestrichene Satz schmerzte.
Dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sind meine Krimis mit Pia und Oliver unfassbar erfolgreich geworden. Und als Dankeschön für zehn großartige gemeinsame Jahre macht mir mein Verlag ein wundervolles Geschenk und bringt zum Jubiläum die ungekürzten Originalversionen von »Eine unbeliebte Frau« und »Mordsfreunde« heraus.
Wenn Sie diese Sätze lesen, haben Sie sich dazu entschlossen, die ganze Geschichte zu lesen, selbst wenn Sie bereits die gekürzte Version kennen. Dafür danke ich Ihnen und wünsche Ihnen ganz viel Vergnügen mit Pia, Oliver und ihren Kollegen vom K11 in Hofheim.
Mit herzlichen Grüßen,
Nele Neuhaus
Für meine Eltern
Bernward und Carola Löwenberg.
Danke. Für alles.
Pia-Luise Kirchhoff lehnte am Zaun der Koppel. Sie hatte die Arme auf die oberste Stange gelegt und beobachtete zufrieden ihre beiden Pferde, die durch das taufeuchte Gras schritten, hin und wieder ein Maul voll abrupften, jedes für sich auf der Suche nach der Stelle, an der das Gras am saftigsten war. Die aufgehende Sonne ließ die Tautropfen glitzern und das Fell der Pferde schimmern. Pia sah lächelnd zu, wie die beiden Pferde mit gesenktem Kopf über die große, mit hohen Bäumen bestandene Koppel zogen, und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Die schmerzliche und unschöne Trennung von Henning hatte, im Nachhinein betrachtet, nur Gutes gehabt. Nach sechzehn Jahren in der Stadt, in schicken und luxuriösen Altbauwohnungen im Frankfurter Westend und Sachsenhausen, nach sechzehn Jahren, in denen sie die Rolle der Ehefrau des Dr. Henning Kirchhoff gespielt hatte, war sie nun mit achtunddreißig Jahren ganz sie selbst. Glückliche Umstände hatten sie den kleinen Hof direkt an der A 66 Richtung Wiesbaden finden lassen, auf dem sie mit ihren beiden Pferden leben konnte. Statt eines BMW Cabrio fuhr sie jetzt einen Geländewagen. Die Designerkleider, in denen sie sich nie wohlgefühlt hatte, hatte sie gegen Jeans, Pullover und Arbeitsschuhe eingetauscht. Ihre Freizeit verbrachte sie damit, den kleinen Hof auf Vordermann zu bringen, die Pferdeboxen auszumisten, Stroh- und Heuballen zu stapeln und das Haus zu renovieren. Ein abgebrochener Fingernagel war längst keine Katastrophe mehr. Seit einem Monat arbeitete sie wieder in ihrem alten Beruf bei der Kriminalpolizei. Es war eine ebenso glückliche Fügung wie der Erwerb des Birkenhofs in Unterliederbach, dass sie eine Stelle beim erst vor zwei Jahren eingerichteten K11 der Hofheimer Kriminaldirektion bekommen hatte. Eigentlich hätte an diesem Wochenende ihr Kollege Frank Behnke Bereitschaftsdienst gehabt, aber als er sie gefragt hatte, ob sie den Dienst übernehmen könnte, hatte sie Ja gesagt. Es war Viertel nach sieben, als ihr die Leitstelle mitteilte, dass ein Winzer aus Hochheim eine halbe Stunde zuvor die Leiche eines Mannes in seinem Weinberg gefunden habe. Pia verschob das Stallausmisten auf später, tauschte die Jeans gegen eine saubere, streute den Hühnern und Enten Futter hin und fuhr die geschotterte Auffahrt des Birkenhofes hinunter. Ein letzter zufriedener Blick auf die beiden Pferde, die Gras, Wasser und ausreichend Schatten hatten, dann konzentrierte sie sich auf den ersten eigenen Fall in ihrem neuen Job.
Es wäre das erste Mal gewesen, dass Cosima vor dem Abflug nicht irgendetwas Lebenswichtiges in ihrem Büro vergessen hätte. Deshalb war Oliver von Bodenstein auch nicht sonderlich überrascht, als seiner Frau morgens um halb acht siedend heiß die Frachtpapiere für die Kameraausrüstung einfielen, die noch im Tresor in den Räumen ihrer Firma lagen. Das bereits vorbereitete ausgiebige Abschiedsfrühstück wurde gestrichen, und der Abschied von Tochter und Hund fand zwischen Tür und Angel statt.
»Wo ist dein Bruder?«, fragte Cosima ihre siebzehnjährige Tochter, die mit zerzausten Haaren und glasigen Augen gähnend auf der untersten Treppenstufe saß, unsanft mitten aus dem sonntagmorgendlichen Tiefschlaf gerissen. Eine überstürzte Abreise der Mutter in irgendein fernes Land und ihre wochenlange Abwesenheit war sie von Kindesbeinen an gewohnt.
»Der liegt wahrscheinlich noch im Koma«, Rosalie zuckte die Schultern, »seine Schnalle hat zur Abwechslung mal ihm den Laufpass gegeben. Das hat ihn ziemlich fertiggemacht.«
Die schnell wechselnden Freundinnen ihres älteren Bruders waren ihr ebenfalls schon zur Gewohnheit geworden, regelmäßige, auf eine leidenschaftliche Verliebtheit folgende Trennungen nach etwa vier bis sechs Monaten waren im Hause Bodenstein längst kein Gesprächsthema mehr.
»Kein Grund, seiner Mutter nicht wenigstens Auf Wiedersehen zu sagen«, bemerkte Bodenstein im Vorbeigehen. »Wo ist er denn?«
»Frag mich was Leichteres.«
Gefolgt vom aufgeregt hechelnden Hund, schleppte er die letzten beiden Reisetaschen Richtung Auto.
»Soso«, Cosima musste beinahe grinsen. »Mona hat mit Lorenz Schluss gemacht? Nicht zu fassen.«
»Die blöde Ziege«, Rosalie gähnte wieder. »Die konnte ich eh nicht leiden.«
»Wir müssen los, Cosima«, Bodenstein erschien in der Haustür. »Es muss nur noch etwas dazwischenkommen, dann fliegt das Flugzeug ohne dich nach Ecuador.«
»Bolivien«, verbesserte Cosima und zauste ihrer Tochter liebevoll das Haar. »Pass auf dich auf, meine Kleine. Und geh in die Schule, auch wenn ich nicht da bin.«
»Klar doch«, Rosalie verdrehte die Augen und stand auf, um ihre Mutter zum Abschied zu umarmen. »Guten Flug. Pass du auch auf dich auf. Ich komm hier schon klar.«
Mutter und Tochter sahen sich an und lächelten ein wenig gezwungen. Sie waren sich zu ähnlich, um sich wirklich gut zu verstehen.
Es war ein trockener goldener Spätsommermorgen. Der blaue Himmel wölbte sich wolkenlos über dem Taunus, die Sonne löste die dünnen Schleier des Morgennebels auf und versprach einen warmen Tag.
»Lorenz hat Liebeskummer«, sagte Cosima und klang halb belustigt, halb mitleidig. »Das hätte ich niemals für möglich gehalten.«
Bodenstein warf seiner Frau einen Blick zu. Cosima war eine aparte Frau mit klaren Gesichtszügen, faszinierend grünen Augen und tizianrotem Haar. Sie besaß ein leidenschaftliches Temperament, einen präzisen Verstand und eine großzügige, wenn auch oft zynische Weltsicht. Noch immer, nach all den Jahren, erfüllte ihn bei ihrem Anblick ein tiefes Glücksgefühl. Vielleicht lag es daran, dass sie durch Cosimas Beruf häufig für längere Zeit getrennt waren, vielleicht hatte es etwas mit der Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere zu tun – aber irgendwie war es ihnen trotz der Kinder und ihrer anstrengenden Berufe gelungen, den kostbaren Funken der Verliebtheit zu bewahren, der in anderen Beziehungen oft sehr schnell der Trivialität des Alltags zum Opfer fiel.
»Kenne ich seine letzte Freundin überhaupt?«, erkundigte Bodenstein sich bei seiner Frau.
»Solltest du eigentlich«, Cosima lächelte. »Mona. So eine Große, Stille. Rosalie behauptet, sie sei stumm. Ich habe sie auch nie ein Wort reden hören.«
»Zum Schlussmachen wird sie den Mund schon aufgemacht haben.«
»Oder sie hat ihm eine SMS geschickt.« Cosima grinste. »So funktioniert das heute doch.«
»Hm.« Bodenstein war in Gedanken ganz woanders. Die Herzensangelegenheiten seines zweiundzwanzigjährigen Sohnes interessierten ihn im Augenblick nicht besonders. In der letzten Nacht hatte er kaum geschlafen. Wie jedes Mal, wenn Cosima zu einer ihrer abenteuerlichen Filmexpeditionen aufbrach, verspürte er das verzweifelte Bedürfnis, sie festzuhalten, und er kam sich wie eine Seemannsbraut vor, die ihren Mann an den Hafen begleitet und ihm nachblickt, wie er in eine ungewisse Zukunft davonsegelt. Erst um halb fünf war Cosima in seinen Armen eingeschlafen, aber er war wach geblieben, hatte sie betrachtet und versucht, sich jede Linie ihres Gesichts einzuprägen. Er war froh, dass Sonntag war und er sie selbst zum Flughafen bringen konnte.
Sie fuhren aus Fischbach hinaus Richtung Ruppertshain. Vor ein paar Jahren hatte Cosima in dem kleinen Ort im Taunus für ihre Filmproduktionsgesellschaft eine neue Bleibe gefunden, nachdem die Räumlichkeiten in Frankfurt nach einer dritten Mieterhöhung in kurzer Zeit einfach zu teuer geworden waren. In dem imposanten, denkmalgeschützten Gebäudekomplex der ehemaligen Lungenheilstätte, die vor ein paar Jahren in den prestigeträchtigen »Zauberberg« mit Eigentumswohnungen, Künstlerateliers, Arztpraxen, Büroräumen und Restaurant verwandelt worden war, waren die Mieten für dreihundert Quadratmeter noch erschwinglich. Nicht zuletzt deshalb war Oliver von Bodenstein die Entscheidung, sich vor gut zwei Jahren freiwillig als Leiter des neu gegründeten K11 von Frankfurt in den Main-Taunus-Kreis versetzen zu lassen, nicht schwergefallen. Im Zuge der Umstrukturierung der hessischen Polizei war ein eigenes Dezernat für Gewaltkriminalität bei der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim entstanden, und er hatte den Wechsel in die Provinz nach über zwanzig Jahren in der hektischen Großstadt nicht bereut. Zwar hatte er als Kriminalhauptkommissar in Hofheim nicht viel weniger Arbeit als früher in Frankfurt, aber die Arbeitsbedingungen hatten sich bedeutend verbessert. Bodenstein bog auf den leeren Parkplatz des Zauberbergs ein.
»Wir könnten noch am Flughafen zusammen frühstücken«, schlug er vor, als er den BMW anhielt. »Bis du einchecken musst, haben wir noch jede Menge Zeit.«
»Gute Idee.« Cosima lächelte und stieg aus. »Bin gleich zurück.«
Bodenstein stieg auch aus, lehnte sich an den Kotflügel seines Autos und genoss für einen Moment die sensationelle Aussicht über das Rhein-Main-Gebiet. In diesem Moment summte sein Handy.
»Guten Morgen, Chef«, erklang die Stimme seiner neuen Kollegin Pia-Luise Kirchhoff an seinem Ohr. »Tut mir leid, dass ich so früh störe.«
»Kein Problem«, erwiderte er, »ich bin schon auf den Beinen.«
»Das ist gut, wir kriegen nämlich Arbeit«, sagte Pia Kirchhoff. »Ein Winzer aus Hochheim hat heute Morgen die Leiche eines Mannes in seinem Weinberg gefunden. Ich bin schon dort. Es handelt sich um Selbstmord.«
»Aha. Wozu brauchen Sie mich dann?«, fragte Bodenstein.
»Bei dem Toten handelt es sich um jemanden, den Sie kennen«, Pia Kirchhoff senkte die Stimme, »nämlich um Oberstaatsanwalt Joachim Hardenbach.«
»Wie bitte?« Bodenstein richtete sich auf und spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. »Sind Sie sicher?«
Dr. Joachim Hardenbach war der wohl bekannteste Verbrecherjäger der Frankfurter Staatsanwaltschaft, gefürchtet als unbarmherziger und humorfreier Hardliner mit beträchtlichem politischen Ehrgeiz. Es war kein Geheimnis, dass er im Falle eines Wahlsieges der CDU bei der Bundestagswahl im September und dem damit verbundenen Umzug des derzeitigen hessischen Justizministers nach Berlin dessen Nachfolge antreten sollte. Bodenstein war fassungslos.
»Ja, das bin ich«, sagte Pia Kirchhoff. »Er hat sich mit einem Jagdgewehr in den Mund geschossen.«
Bodenstein sah Cosima, die mit schnellen Schritten über den Parkplatz auf ihn zukam.
»Ich bin in einer halben Stunde da«, sagte er zu seiner neuen Kollegin. »Wo finde ich Sie?«
»Was gibt’s?«, erkundigte sich Cosima, als er das Gespräch beendet hatte, und blickte ihren Mann neugierig an. »Ist etwas passiert?«
»Allerdings.« Bodenstein öffnete ihr die Beifahrertür. »Oberstaatsanwalt Hardenbach hat sich erschossen. Unser Abschiedsfrühstück fällt leider aus.«
Auf der Fahrt nach Hochheim war Bodenstein schweigsam und versuchte sich auszumalen, welche Konsequenzen der Freitod des designierten hessischen Justizministers haben würde. Er kannte Hardenbach seit mehr als zwanzig Jahren, hatte in seiner Frankfurter Zeit regelmäßig mit dem Mann, der als überkorrekt und gnadenlos galt, zu tun gehabt. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Hardenbach eine Frau und vier Kinder. Wie entsetzlich!
Trotz der frühen Stunde hatten sich an der Stelle, die Pia Kirchhoff ihm genannt hatte, bereits einige Schaulustige eingefunden. Mehrere Streifenwagen standen am Rande der Weinberge, und die uniformierten Kollegen hatten den Fundort der Leiche bereits weiträumig abgesperrt. Bodensteins Herz klopfte. Er war schon unzählige Male am Schauplatz von Verbrechen gewesen, hatte zahlreiche Leichen in allen Formen der Verstümmelung und allen Stadien der Verwesung gesehen, aber jedes Mal beschlich ihn dieses eigentümliche Gefühl. Er fragte sich zum wiederholten Mal, ob er eines Tages abgebrüht oder fatalistisch genug sein würde, um nichts mehr dabei zu empfinden, wenn er zum Fundort einer Leiche gerufen wurde.
Pia Kirchhoff sprach gerade mit dem Leiter der Spurensicherung, als sie ihren Chef mit unbewegter Miene den Weg zwischen den Weinstöcken herunterkommen sah, wie immer von Kopf bis Fuß korrekt gekleidet. Gestreiftes Hemd, Krawatte, heller Leinenanzug. Sie war mehr als gespannt darauf, wie es sein würde, mit ihm gemeinsam an einem Fall zu arbeiten. Bisher hatte sie kaum zehn Sätze mit ihm gewechselt.
»Guten Morgen«, sagte sie. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen den Sonntag verderbe, aber ich dachte, es wäre in diesem speziellen Fall besser, wenn Sie die Leitung der Ermittlung selbst übernehmen.«
»Guten Morgen«, erwiderte Bodenstein, »das ist schon in Ordnung. Ist es denn wirklich Hardenbach?«
Pia war mit knapp eins achtundsiebzig ziemlich groß, aber zu ihrem Chef musste sie aufblicken. Oliver von Bodenstein hätte bis zum tödlichen Flugzeugabsturz von JFK junior vor ein paar Jahren problemlos als dessen Double auftreten können.
»Ja«, sie nickte. »Von seinem Gesicht ist zwar nicht mehr viel übrig, aber er hatte seine Brieftasche bei sich.«
Bodenstein ging weiter, um sich die von einer Ladung Schrot grausam entstellte Leiche des Staatsanwalts anzusehen, die man bereits mit einem Tuch abgedeckt hatte. Die Kollegen von der Spurensicherung waren dabei, den Leichenfundort Zentimeter um Zentimeter zu untersuchen und zu fotografieren.
»Sind Sie Frau Kirchhoff?«, hörte Pia eine Stimme hinter sich und drehte sich um. Vor ihr stand eine schlanke Rothaarige und blickte sie neugierig an. Pia nickte.
»Cosima von Bodenstein.« Die Frau lächelte und hielt ihr die Hand hin. Pia ergriff sie überrascht. Sie war der Frau ihres Chefs bisher noch nicht begegnet, aber nach den Erzählungen ihrer Kollegen hatte sie sich Frau von Bodenstein als zickig und arrogant vorgestellt. Angeblich stammte Cosima von Bodenstein aus reicher Familie und schlug die meiste Zeit ihres Lebens mit irgendwelchen exotischen Weltreisen tot. Diesen Eindruck machte die Frau, die ihr jetzt in Jeans und T-Shirt gegenüberstand, allerdings überhaupt nicht.
»Freut mich, dass wir uns kennenlernen«, sagte Pia und fragte sich, was Frau von Bodenstein wohl um diese Uhrzeit am Fundort einer Leiche machte.
»Mich auch«, erklärte diese. »Leider muss ich gleich wieder weg, ich fliege um zehn nach Südamerika. Wir waren gerade auf dem Weg zum Flughafen, als Sie angerufen haben. Meinen Sie, ich kann auch mal kurz einen Blick auf die Leiche werfen?«
Pia musste sich anstrengen, damit sie die Frau nicht wie eine debile Zwölfjährige mit offenem Mund anstarrte. Offenbar war die Frau ihres Chefs ganz und gar nicht das vornehme Geschöpf, als das man sie ihr geschildert hatte. Cosima von Bodenstein bemerkte Pias Erstaunen und grinste amüsiert.
»Ich habe schon jede Menge Leichen gesehen«, erklärte sie. »Früher, als ich noch fest beim Fernsehen war, gehörte das zu meinem täglichen Brot. Blutige Körperteile auf der Autobahn und im Straßengraben verteilt. Einmal habe ich selbst den Kopf eines Toten gefunden, nach einem Motorradunfall oben am Feldberg.«
Pia war sprachlos.
»So habe ich übrigens meinen Mann kennengelernt«, verriet Cosima von Bodenstein. »Quasi zu Füßen eines Selbstmörders, der sich in seinem Büro aufgehängt hatte.«
Sie kicherte bei der Erinnerung.
»Ich war mit meinem Kamerateam da, und mein Mann war ganz frisch bei der Polizei. Es war seine erste Leiche, und er musste sich übergeben. Ich habe ihm ein Kleenex gereicht.«
Pia revidierte ihre vorgefasste Meinung über Frau von Bodenstein in Sekundenbruchteilen. Da kam Bodenstein zurück.
»Und?«, fragte seine Frau. »Ist es wirklich Hardenbach?«
»Ja, leider«, erwiderte Bodenstein und verzog das Gesicht. »Kannst du ein Taxi zum Flughafen nehmen? Das wird hier eine größere Sache.«
»Natürlich«, Cosima von Bodenstein warf einen Blick auf die Uhr. »Ich rufe dich an, bevor ich ins Flugzeug steige, okay?«
Pia entfernte sich diskret, damit ihr Chef von seiner Frau Abschied nehmen konnte. Es war ihr egal, dass ihr Oberstaatsanwalt Joachim Hardenbach mit seinem Drang, von eigener Hand aus dem Leben zu scheiden, den Sonntag ruiniert hatte. Das kurze Gespräch mit Cosima von Bodenstein wog alles auf. Ihr bisher so unnahbar wirkender Chef war also auch nur ein Mensch, der sich beim Anblick seiner ersten Leiche übergeben hatte. Diese Schwäche machte ihn in Pias Augen plötzlich sympathisch.
Die Witwe von Oberstaatsanwalt Joachim Hardenbach war nicht in der Lage, mit Bodenstein und Pia zu sprechen, nachdem diese ihr die schreckliche Nachricht vom Freitod ihres Mannes so einfühlsam wie möglich überbracht hatten. Sie hatten auch keine Zeit mehr, darauf zu warten, dass die Frau ihren ersten Schock überwinden würde, denn kurz darauf klingelte Bodensteins Telefon. Unterhalb des Atzelbergturmes in Ruppertshain war die Leiche einer Frau gefunden worden.
Sie ließen Frau Hardenbach und ihre schluchzenden Kinder in der Obhut einer Nachbarin und eines befreundeten Arztes zurück und machten sich auf den Weg in den Taunus. Während der Fahrt telefonierte Bodenstein mit Kriminaldirektor Nierhoff, seinem direkten Vorgesetzten, versorgte diesen mit den notwendigen Details zum Fall Hardenbach und bat ihn, die für ein Uhr anberaumte Pressekonferenz im Frankfurter Polizeipräsidium zu leiten.
»Ich kann auch alleine nach Ruppertshain fahren«, bot Pia an, als Bodenstein das Gespräch beendet hatte. »Die Pressekonferenz ist doch sicherlich wichtiger …«
»Nein, nein«, unterbrach Bodenstein sie schnell. »Der Kriminaldirektor und ich haben in Fällen wie diesen klare Arbeitsteilung vereinbart. Im Gegensatz zu mir mag er das Rampenlicht und macht so etwas gerne. Gerade bei so prominenten … Kunden.«
»Kunden?«
Die Andeutung eines Lächelns flog über Bodensteins angespanntes Gesicht.
»Hört sich doch netter an als ›Leiche‹, oder?«
Etwa eine halbe Stunde später erblickten Bodenstein und Pia kurz vor der Ortseinfahrt von Eppenhain einen Streifenwagen am Straßenrand. Ein uniformierter Beamter lehnte am Kotflügel des grün-weißen Opel, um die unvermeidlichen Neugierigen fernzuhalten, die auftauchen würden, sobald die Nachricht von der Toten erst die Runde gemacht hatte. Bodenstein ließ die Scheibe herunter.
»Guten Morgen«, sagte er zu dem Beamten, der ihn mit einem energischen Kopfschütteln am Weiterfahren hindern wollte. »Kripo Hofheim.«
»Ach so. Hallo. Immer geradeaus über den Parkplatz. Ist nicht zu verfehlen.«
Nach einer kurzen Fahrt durch den Wald erreichten sie die Lichtung mit dem Turm, an dessen Fuß ein Streifenwagen und ein Mercedes Cabrio standen. Bodenstein und Pia stiegen aus.
»Ah, der Herr Hauptkommissar«, begrüßte sie einer der Uniformierten, ein großer Mann mit Michael-Schumacher-Kinn und Aknenarben im Gesicht. »Sie hätten sich den Morgenausflug sparen können. Das war ein Selbstmord.«
»Hallo, Schöning.« Bodenstein kannte die Bereitschaft zahlreicher Kollegen, einen Todesfall vorschnell als einen Suizid oder Unfall abzutun, aus eigener Erfahrung. »Wo liegt die Leiche?«
»Kommen Sie mit.« Polizeihauptmeister Schöning zuckte die Schultern. »Da entlang.«
Im Schatten der hohen Bäume war es kühl. Das kniehohe Gras war noch feucht vom Tau der Nacht.
»Was wissen wir bis jetzt?«, erkundigte Bodenstein sich.
»Zwei junge Leute haben die Tote gegen halb sieben entdeckt. Sie waren auf dem Turm.« Schönings Stimme bekam einen spöttischen Beiklang. »Angeblich um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Als sie wieder hinunterstiegen, sahen sie die Leiche im Gras liegen.«
»Warum kam die Meldung erst jetzt?«
»Sie haben Angst gekriegt und sind erst mal abgehauen«, sagte Schöning. »Dann haben sie es sich anders überlegt. Sie sitzen da drüben.«
Er wies mit dem Kinn Richtung Grillhütte.
»Guten Morgen«, sagte Bodenstein zu dem Arzt, der neben der Leiche im Gras kniete und den Gruß mit einem knappen Nicken erwiderte. Die Frau lag auf dem Rücken im Gras, den linken Arm unter dem Körper, die Beine angewinkelt. Das helle Haar breitete sich wie ein Fächer um das bleiche Gesicht, sie hatte die Augen weit geöffnet, ihr Blick war gebrochen. Bodenstein hob den Kopf und blickte den Turm hinauf. Es war ein massives Holzbauwerk, das sich weit über die Kronen der Bäume erhob. Fünfundzwanzig bis dreißig Meter über ihnen befand sich eine Aussichtsplattform, aber ein Sturz hätte auch von jeder anderen Stelle des Turmes erfolgen können, denn es handelte sich um ein sehr luftiges Bauwerk. Pia stemmte die Arme in die Seiten und betrachtete die Tote im hohen Gras eingehend.
»Ziemlich wenig Blut zu sehen«, stellte sie fest. »Man sollte doch meinen, dass jemand, der aus dieser Höhe auf dem Boden aufschlägt, wie eine reife Tomate aufplatzt.«
Sie hob den Kopf und begegnete dem schockierten Blick von Schönings jüngerem Kollegen.
»Sollte man meinen«, sagte Bodenstein, dann wies er den Beamten an, den gesamten Fundort der Leiche mit Absperrband zu sichern. Der junge Mann nickte und entfernte sich, nicht ohne Pia noch einen verstörten Blick zuzuwerfen.
»Selbstmord?«, fragte sie zweifelnd und blickte zu dem Arzt hinüber, der sich wieder über die tote Frau gebeugt hatte.
»Ich weiß nicht.« Bodenstein schüttelte den Kopf.
»Keine Jacke, keine Handtasche, dafür zehn Zentimeter hohe Absätze«, bemerkte Pia. »Kein besonders passendes Schuhwerk für einen Waldspaziergang.«
»Ist ein Selbstmord«, beharrte Schöning impertinent. »Klarer Fall.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Pia. »Selbstmörder stoßen sich intuitiv ab, wenn sie irgendwo hinunterspringen, und landen dann ziemlich weit entfernt. Aber diese Leiche hier liegt beinahe direkt unter dem Turm. Die Frau ist nicht gesprungen.«
Schöning hob eine Augenbraue, sein überhebliches Grinsen wurde grimmig.
»Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Bodenstein bei dem Arzt.
»Schlecht«, erwiderte der. »Sie ist tot.«
»Ist ja nicht zu fassen«, versetzte Pia kühl. »Ist das etwa alles, was Sie herausgefunden haben?«
Der Arzt warf ihr einen gekränkten Blick zu. Er erhob sich, und Bodenstein stellte fest, dass er seiner Kollegin kaum bis zum Kinn reichte. Ob er mit seinen unpassend witzigen Bemerkungen seine geringe Körpergröße zu kompensieren versuchte?
»Weibliche Leiche, ungefähr Mitte zwanzig«, sagte er, als er merkte, dass seine Art von Humor nicht ankam. »Genickbruch, diverse Verletzungen, die wohl durch den Aufprall aus dreißig Meter Höhe verursacht wurden. Rigor mortis voll ausgeprägt. Das bedeutet, dass die Frau seit mindestens zehn Stunden tot ist, denn man sagt, dass …«
»Leichenflecken?«, unterbrach Pia ihn. Auf einen rechtsmedizinischen Exkurs konnte sie verzichten.
»Noch gut wegzudrücken«, der Mediziner war jetzt angesäuert. »Sie ist nicht länger als vierundzwanzig Stunden tot. Ich schätze, sie ist gestern Abend zwischen zwanzig und dreiundzwanzig Uhr verstorben.«
»Ziemlich wenig Blut zu sehen«, bemerkte Pia.
»Wahrscheinlich ist sie innerlich verblutet.« Er kämpfte mit seinen Latexhandschuhen. »Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.«
»Können Sie Hinweise auf Fremdeinwirkung feststellen?«, mischte sich Bodenstein ein.
»Nein.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sieht wie ein Suizid aus. Wäre ja nicht das erste Mal. Hier stürzen sich immer wieder Leute runter.«
Schöning nickte selbstgefällig.
»Alkohol? Drogen?« Bodenstein hielt den Blick auf das Gesicht der Toten gerichtet und versuchte sich vorzustellen, wie sie im Leben ausgesehen hatte. Ihre Haut war fein wie Porzellan, sie hatte ausgeprägte Wangenknochen und eine zierliche Nase. Selbst der gewaltsame Tod hatte der perfekten Symmetrie ihres Gesichts nichts anhaben können. Sie trug eine hautenge, helle Jeans und ein knappes Oberteil. Ihr Bauchnabel war gepierct, und oberhalb des Nabels befand sich eine Tätowierung in Form eines Delfins. Er beugte sich tiefer über die Leiche. Am Handgelenk trug sie eine billige Tchibo-Armbanduhr, aber ein teuer aussehendes Goldarmband, die dazu passende Goldkette befand sich an ihrem Hals, der in einem unnatürlichen Winkel zum Rest ihres Körpers stand.
»Wenn sie Alkohol getrunken hat, dann in unerheblichem Ausmaß.« Der Arzt blickte demonstrativ auf seine Uhr. »Zu Drogen kann ich nichts sagen.«
Pia hockte sich hin und betrachtete den Schuh am linken Fuß der Frau.
»Manolo Blahnik«, stellte sie fest. »Sie hatte einen exklusiven Geschmack.«
Sie richtete sich wieder auf und streifte durch das Gras rings um die Leiche.
»Was ist?«, fragte Bodenstein.
»Der zweite Schuh fehlt.«
»Können wir?«, fragte einer der Männer des Bestattungsinstitutes, die Polizeiobermeister Schöning herbeordert hatte.
»Nein. Noch nicht«, sagte Bodenstein und betrachtete nachdenklich die Leiche. »Was ist mit dem Schuh?«
»Was für ein Schuh?«, erwiderte Schöning unwirsch.
»Sie hat nur einen an«, bemerkte Pia. »Und sie ist ja wohl kaum mit nur einem Schuh hierhergelaufen, oder?«
»Wie ist sie überhaupt hierhergekommen?«, fügte Bodenstein hinzu. »Vor zehn Stunden war es zweiundzwanzig Uhr und schon ziemlich dunkel. Steht irgendwo in der Nähe ein geparktes Auto, mit dem sie durch den Wald gefahren ist?«
»Allerdings«, triumphierte Schöning, denn diese Neuigkeit schien seine Selbstmordtheorie zu untermauern. »Auf dem Parkplatz am Landsgraben steht ein Porsche Cabrio. Abgeschlossen.«
Bodenstein nickte nachdenklich, dann wandte er sich an die wartenden Polizeibeamten.
»Alle verlassen sofort den Fundort. Schöning, Sie lassen das Kennzeichen des Porsche überprüfen, und Frau Kirchhoff, Sie fordern die Spurensicherung an.«
»Wenn Sie meinen, Herr Hauptkommissar.« Schöning konnte seine Verärgerung kaum noch verhehlen.
»Ich schreibe in den Totenschein, dass die Todesursache ungeklärt ist«, sagte der Arzt zu Bodenstein. »Ist das okay?«
»Wenn Sie dieser Auffassung sind, dann sollten Sie das tun«, erwiderte dieser sarkastisch. »Oder denken Sie, die Frau ist eines natürlichen Todes gestorben?«
Der Arzt lief rot an.
»Sie sitzen ganz schön auf dem hohen Ross!«, fauchte er.
»Ich arbeite nicht gerne mit Dilettanten«, entgegnete Bodenstein scharf, und Pia musste sich ein Grinsen verkneifen. Ihr erster Job in der Provinz besaß einigen Unterhaltungswert.
»Dem haben Sie das Wort zum Sonntag gesagt«, bemerkte sie belustigt, als der Arzt außer Hörweite war. Bodenstein blickte dem Mann nach und lächelte frostig.
»Ich kann es nicht leiden, wenn man sich seine Arbeit zu leicht macht«, sagte er und zog zwei Paar Latexhandschuhe aus der Tasche seines Jacketts, von denen er eines seiner Kollegin reichte. Sie knieten sich neben die Leiche und begannen vorsichtig, die Taschen der Jeans zu durchsuchen. In der Gesäßtasche fand Pia ein Bündel Geldscheine und ein paar Zettel. Sie reichte das Geld ihrem Chef und faltete vorsichtig die Zettelchen auseinander.
»Und?«, erkundigte Bodenstein sich.
»Eine Tankquittung«, verkündete sie und blickte hoch. »Gestern um sechzehn Uhr fünfundfünfzig hat sie an der Aral-Tankstelle an der A 66 Richtung Wiesbaden getankt, außerdem hat sie drei Päckchen Zigaretten, Eis und Red Bull gekauft.«
»Das ist doch schon mal ein Anhaltspunkt.« Bodenstein erhob sich und zählte das Geld.
»Fünftausend Euro«, staunte er. »Nicht schlecht.«
»Hier haben wir noch einen Abholschein von einer Reinigung in Bad Soden mit Datum vom 23. August.« Pia griff in die vorderen Hosentaschen der Jeans. »Und hier ist ein Autoschlüssel.«
Sie reichte den Schlüssel mit dem Porsche-Emblem ihrem Chef.
»Ich glaube immer weniger an Selbstmord«, sagte Bodenstein. »Wenn jemand mit fünftausend Euro in der Hosentasche sein Auto volltankt, drei Päckchen Zigaretten kauft und Kleider in die Reinigung bringt, dann hat er nicht vor, sich umzubringen.«
»Ich laufe mal nach oben.« Pia Kirchhoff wartete auf den Stufen, die zum Turm führten. »Kommen Sie mit?«
Bodenstein kämpfte kurz mit seiner ausgeprägten Höhenangst, aber sein Stolz verbot es ihm, diese Phobie seiner Kollegin gegenüber zuzugeben.
»Natürlich«, sagte er, als sei nichts dabei. Mit weichen Knien erklomm er die einhundertfünfzig Treppenstufen, allerdings längst nicht so leichtfüßig wie Pia Kirchhoff, die keine Konditionsprobleme zu haben schien, obwohl sie rauchte wie ein Schlot. Oben angekommen, zwang er sich, nicht mit offenem Mund nach Luft zu ringen.
»Herrlich!«, rief Pia beeindruckt. »Was für eine Aussicht!«
Bodenstein nickte nur stumm und wartete mit einer Antwort, bis er wieder einigermaßen bei Atem war. Die Aussicht war wirklich fantastisch. Das kleine Örtchen Ruppertshain schmiegte sich talabwärts an die waldigen Hänge des Taunus, und man blickte weit ins Rhein-Main-Gebiet bis nach Frankfurt und zum Flughafen. Bodenstein riskierte einen vorsichtigen Blick über das Geländer, während seine Kollegin sich leichtsinnig weit darüber lehnte. Schon beim bloßen Zusehen wurde ihm übel.
»Ich glaube nicht an einen Selbstmord«, sagte Pia und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sie müsste mit ihren hohen Absätzen hier hochgeklettert sein, das ist schon am helllichten Tag eine reife Leistung. Aber im Stockdunkeln? Niemals.«
»Vielleicht war sie nicht alleine hier oben«, überlegte Bodenstein laut. »Vielleicht waren sie zu zweit hier, haben sich gestritten, haben gekämpft – und dann ist sie hinuntergefallen.«
Pia runzelte zweifelnd die Stirn.
»Es war Abend.« Sie lehnte sich wieder über die Brüstung. »Es war kühl und dunkel. Sie hatte nur ein dünnes Top an. Und nur einen Schuh.«
Sie wandte sich zu ihrem Chef um, wollte etwas sagen, verstummte aber.
»Was ist mit Ihnen?«, erkundigte sie sich.
»Ich kann das nicht sehen, wie nahe Sie am Geländer stehen«, gab Bodenstein zu. »Ich kann nicht mal auf eine Leiter steigen, ohne dass mir schwindelig wird.«
Pia lächelte, ein wenig spöttisch, wie es Bodenstein vorkam.
»Dann schauen Sie bloß nicht nach unten, wenn Sie wieder runtergehen«, sagte sie dann. »Man kann durch die Stufen gucken.«
Und schon war sie wieder auf der Treppe nach unten.
»Herzlichen Dank für den Tipp«, murmelte Bodenstein und biss die Zähne zusammen, als er ihr folgte. Auf dem sicheren Erdboden angekommen, wandte er sich den soeben eingetroffenen Kollegen von der Spurensicherung zu und sprach kurz mit dem Fotografen, dann ging er mit Pia zu den parkenden Autos.
»Das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen MTK-IK 182«, verkündete Polizeiobermeister Schöning, »ist auf eine Isabel Kerstner zugelassen. Wohnt in Kelkheim. Feldbergstraße 128.«
»Danke«, sagte Bodenstein, »das ist sie. Sie hatte einen Porsche-Schlüssel in der Hosentasche.«
»Na also«, begann Schöning, aber Bodenstein ließ ihn nicht weiterreden.
»Wir fahren gleich mal hin«, sagte er. »Außerdem rufe ich den diensthabenden Staatsanwalt an. Wir brauchen auf jeden Fall eine Obduktion der Leiche.«
Die Nachricht vom Freitod des Oberstaatsanwalts Joachim Hardenbach war die Top-Meldung bei allen Radiosendern und schaffte es sogar in den Newsticker von n-tv. Auf der Pressekonferenz hatte Kriminaldirektor Nierhoff nicht viel mehr als die Tatsache mitgeteilt, dass Hardenbach nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen durch eigene Hand aus dem Leben geschieden war, aber wie Bodenstein es nicht anders erwartet hatte, ergingen sich die Medien sofort in den wildesten Spekulationen.
Das Haus in der Feldbergstraße 128 in Kelkheim war ein schmuckloses Gebäude aus den Fünfzigerjahren mit einem Windfang aus Glasbausteinen, dem man durch den Anbau eines Erkers und eines Wintergartens eine individuelle Note zu geben versucht hatte. Unter dem Carport aus hellem Kiefernholz standen nur ein Mountainbike und zwei Mülltonnen. Der Vorgarten, der von einer wild wuchernden Thujahecke umgeben war, wirkte ungepflegt. Der Rasen war lange nicht mehr gemäht worden, und in den Blumenbeeten hatte das Unkraut ungehindert eine Vormachtstellung erobern können. Vor der Haustür standen ein Kinderfahrrad und mehrere Schuhpaare. Bodenstein und Pia stiegen aus und blieben vor dem Holztor stehen, an dem die weiße Farbe abblätterte. ›Dr. Michael Kerstner‹ stand auf einem bronzenen Schildchen neben der Klingel und der schmiedeeisernen Zeitungsrolle, darunter klebte ein gelber Zettel, der verkündete, dass Reklamesendungen unerwünscht waren. Bodenstein zog die Post aus dem Briefkasten, einen ganzen Stapel Briefe und die Kelkheimer Zeitung samt Amtsblatt, ein Zeichen dafür, dass zumindest am Vortag niemand mehr die Post hereingeholt hatte. Bereits das zweite Mal an diesem sonnigen Tag hatte er die unerfreuliche Pflicht, das Leben ahnungsloser Menschen ohne Vorwarnung durch eine schlimme Nachricht tief zu erschüttern.
»Bringen wir’s hinter uns«, sagte er entschlossen und drückte auf die Klingel. Nichts regte sich im Haus, auch nach einem zweiten und dritten Klingeln nicht.
»Da brauche Se net zu schelle.« Eine Stimme ließ sie herumfahren. »Die sin beide net da.«
Hinter der Hecke im benachbarten und penibel gepflegten Vorgarten tauchte das Gesicht einer älteren Frau auf, in deren Augen gleichermaßen Neugier und Misstrauen standen. Die Frau, eine dürre Person mit schütterem grauen Haar und einem faltigen Koboldgesicht, zwängte sich durch eine Lücke in der Hecke und schüttelte missbilligend den Kopf, als sie das Unkraut und den ungepflegten Garten sah.
»Die sind nie dahaam«, sagte sie. »Wisse Se, der Herr Doktor, der fährt morgens in aller Herrgottsfrühe fort, und haam kimmt der oft erst nach Mitternacht. Mein Mann, der Kalleinz, der hat gleisch gesaacht, so was macht ’ne Frau wie die net lang mit. Und so isses dann ja auch gekomme, gell? Seit die fort is mit dem Mädsche, is der Herr Doktor gar net mehr dahaam. Na ja, so siehts hier ja aach aus. E Schand’ is des!«
»Seit wann isse denn fort, die Frau Kerstner?« Pia wechselte mühelos in die hessische Mundart, und Bodenstein musste ein amüsiertes Grinsen unterdrücken.
»So genau kann man des net saache.« Die Alte bückte sich, um ein Unkraut neben ihren Füßen auszuzupfen. »Die war ja oft taachelang net dahaam. Der Herr Doktor, der hat sisch mehr um des Kind gekümmert wie die.«
Es war eindeutig, wo die Sympathien der Nachbarin lagen.
»Nackisch auf der Terrass hat se gern geleesche, wenn se net grad bei ihrem Gaul oder auf der Juchee war.« Sie schnaubte verächtlich. »Und der arme Mann, der hat sich für se abgerackert, Taach und Nacht.«
»Wissen Sie, wo wir Herrn Dr. Kerstner jetzt finden können?«, fragte Bodenstein höflich.
»Ei, in seiner Klinik, denk ich. Da isser doch immer. So ein fleißischer, netter Mensch, der Herr Doktor«, setzte die Nachbarin zu einer neuerlichen Tirade an, die Bodenstein aber rasch abwürgte.
»Klinik?«, erkundigte er sich erstaunt.
»Ja, die Pferdeklinik. In Ruppsch obbe. Dr. Kerstner ist Tierarzt.« Erst in diesem Moment schien sich die Frau zu fragen, wer diese Leute überhaupt waren, die an einem Sonntagvormittag nach den Nachbarn fragten, aber da waren Bodenstein und Pia schon auf dem Weg zum Auto.
»Was wolle Se eigentlisch von dem?«, rief die Nachbarin noch, aber sie bekam keine Antwort mehr.
Bodenstein fuhr durch Fischbach, um ein drittes Mal an diesem Morgen hoch nach Ruppertshain zu fahren. Gerade als er die Aral-Tankstelle passierte, summte sein Handy. Cosima! Er nahm den Hörer seines Autotelefons ab, aber viel mehr als »Guten Flug« und »Pass auf dich auf« konnte er nicht sagen, nicht in Anwesenheit seiner neuen Kollegin. Das vertraute Gefühl der Verlassenheit war wieder da, genauso wie sein Wunsch, Cosima möge eines baldigen Tages die Lust an diesen strapaziösen Abenteuern verlieren. Bodenstein hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sie darum zu bitten, die Filmexpeditionen sein zu lassen. Er wusste nur zu gut, wie sehr sie ihre Arbeit liebte und darin aufging. Dennoch fiel es ihm immer schwerer, wochenlang ohne sie zu sein.
»Wir hätten uns nach der Adresse dieser Tierklinik erkundigen sollen, bevor wir uns jetzt durchfragen müssen«, holte Pia ihn in diesem Moment aus seinen Gedanken.
»Ich weiß, wo sie ist«, erwiderte Bodenstein.
»Ach?« Pia warf ihrem Chef einen erstaunten Blick zu.
»Ich bin hier ganz in der Nähe aufgewachsen«, erklärte er ihr. »Auf Hofgut Bodenstein. Das kennen Sie vielleicht. Es liegt zwischen Fischbach und Kelkheim.«
»Ja, klar. Das kenne ich«, bestätigte Pia, die allerdings bisher noch keine Parallele zwischen dem historischen Hofgut und dem Namen ihres Chefs gezogen hatte.
»Bei uns auf dem Hof gab es immer Pferde«, fuhr Bodenstein fort. »Mein Vater hat früher Reitunterricht gegeben, und natürlich war Dr. Hansen aus Ruppertshain unser Tierarzt. Er ist vor ein paar Jahren tödlich verunglückt, seitdem leitet seine Tochter Inka die Pferdeklinik.«
»Das ist ja interessant.« Pia betrachtete ihren Chef neugierig. »Ich habe auch Pferde.«
»Tatsächlich?« Bodenstein lächelte überrascht.
»Ich wette, Sie sind früher Fuchsjagden geritten«, sagte Pia.
»Wie kommen Sie denn auf Fuchsjagden?«
»Na ja.« Pia zuckte die Schultern. »In Ihren Kreisen macht man doch so was, oder nicht?«
»In welchen Kreisen?«
»Gräfin Soundso lädt Herzog Sowieso zur Jagd auf den Fuchs ein.«
»Also wirklich, Frau Kirchhoff!« Bodenstein schüttelte lachend den Kopf. »So ein Unsinn! Was sind denn das für altertümliche Klischees? Mein Vater ist zwar ein Graf, aber ein ziemlich verarmter. Er und mein Bruder leben von dem, was Reitstall, Hotel, Restaurant und Landwirtschaft abwerfen.«
»Reiten Sie heute auch noch?«
»Nein.« Bodenstein verlangsamte die Fahrt und setzte direkt hinter dem Ortseingang von Ruppertshain den Blinker rechts. »Schon lange nicht mehr.«
Nach fünfhundert Metern zweigte ein schmaler asphaltierter Weg nach rechts ab, dort stand ein sehr diskretes Schild mit der Aufschrift »Pferdeklinik«.
»Gut zu wissen, dass es in diesem Nest so eine Klinik gibt«, sagte Pia. »Das hätte ich gar nicht erwartet.«
»Wieso nicht?«, erwiderte Bodenstein. »Es gibt hier in der Gegend genug Pferde und vor allen Dingen genug gut betuchte Pferdebesitzer. Die Reitanlage hinten am Wald gehört übrigens Ingvar Rulandt. Vielleicht haben Sie den Namen schon mal gehört.«
»Ingvar Rulandt?« Pia staunte. »Der berühmte Springreiter? Ach was!«
»Doch«, bestätigte Bodenstein mit einem Nicken. »Er hat vor drei oder vier Jahren den alten Aussiedlerhof seiner Eltern in eine Reitanlage umgebaut und lebt nach zwanzig Jahren wieder in Ruppertshain.«
»Nicht zu fassen.« Pia war beeindruckt.
Auf dem Parkplatz stand an diesem frühen Sonntagmorgen nur ein einziger Pferdetransporter mit herabgelassener Verladerampe. Das große, grün gestrichene Hoftor war weit geöffnet, aber im Hof herrschte kein Betrieb. Im Vorbeigehen las Pia auf einem Messingschild Fachklinik für Pferde. Dres. med. vet. Inka Hansen, Michael Kerstner, Georg Rittendorf.
»Gleich drei Tierärzte«, bemerkte sie. »Das Geschäft scheint gut zu laufen.«
Sie betraten einen großen Hof, der von einer gewaltigen Kastanie beherrscht wurde. Links und rechts befanden sich Pferdeboxen mit grün gestrichenen Türen, deren obere Hälften geöffnet waren. Bodenstein fühlte sich jäh in die Vergangenheit zurückversetzt. Es mochte an die fünfundzwanzig Jahre her sein, dass er das letzte Mal hier gewesen war, und plötzlich erinnerte er sich sogar an das Pferd, das er damals in die Klinik von Dr. Hansen gebracht hatte. Doch nur der Hof war derselbe geblieben, alles andere hatte sich vollkommen verändert. An das alte Stallgebäude schloss sich dort, wo früher eine große Scheune gestanden hatte, ein moderner, zweckmäßiger Flachbau an. Hinweisschilder verrieten, dass sich darin Anmeldung, OP, Labor, Röntgenraum und die Untersuchungsräume A und B befanden.
In dem Augenblick trat eine untersetzte, sommersprossige Frau mit einem brandroten Haarschopf und einem Mopsgesicht aus einer der Pferdeboxen und baute sich vor ihnen auf.
»Wir haben heute keine Sprechzeit«, bellte sie. »Oder sind Sie Patientenbesitzer?«
»Guten Tag.« Bodenstein hielt ihr seine Polizeimarke vor die Nase. »Mein Name ist Bodenstein, Kriminalpolizei Hofheim. Das ist meine Kollegin, Frau Kirchhoff. Wir möchten Herrn Dr. Kerstner sprechen.«
»Kriminalpolizei?« Die Frau musterte Bodenstein und Pia scharf. »Der Doktor ist gerade im OP. Ein Notfall. Das kann dauern.«
»Vielleicht ist es Ihnen möglich, Dr. Kerstner von unserer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen«, insistierte Bodenstein höflich. »Es ist sehr dringend.«
Die Frau starrte ihn an.
»Kommen Sie mit«, sagte sie dann im Befehlston und marschierte vor ihnen her auf eine Tür am Kopfende des neuen Gebäudes zu.
»Die sieht ja aus wie Frankensteins Gesellenstück«, murmelte Pia.
»Na, na.« Bodenstein grinste und ließ seiner Kollegin den Vortritt in eine nüchterne, vier Meter hohe Eingangshalle mit weiß gestrichenen Wänden und einem hellen Fliesenboden. In der Mitte des Raumes befand sich ein halbrunder Empfangstresen, über die beiden Computerbildschirme flimmerten Bildschirmschoner. Durch die großen Fenster hinter dem Tresen hatte man einen guten Ausblick über den ganzen Hof. An den Wänden hingen blau gerahmte Diplome, in der Mitte ein großes Foto mit sechs fröhlich dreinblickenden Menschen. Bodenstein blieb stehen und betrachtete das Bild. Er lächelte, als er Inka Hansen in der Mitte erkannte. Die beiden Männer links und rechts von ihr mussten Dr. Kerstner und Dr. Rittendorf sein.
»Sie können da drin im Wartezimmer Platz nehmen.« Der rothaarige Mops deutete auf eine der Türen. »Kaffee gibt’s am Automaten.«
»Danke.« Bodenstein schenkte ihr ein freundliches Lächeln, das seine Wirkung aber völlig verfehlte. Im Wartezimmer saßen ein älterer Mann und ein junges Mädchen mit verweinten Augen, die aufsprangen, als die Tür aufging. Beiden stand die Nervosität ins Gesicht geschrieben. Das mussten die Besitzer des Notfalls sein. Schlichte IKEA-Stühle standen an den Wänden, es gab einen Tisch, auf dem sich Pferdezeitschriften und veterinärmedizinische Fachliteratur stapelten – und den Kaffeeautomaten.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Pia ihren Chef, der sich den zahlreichen gerahmten Fotografien an den Wänden zugewandt hatte.
»Gerne. Schwarz.«
Sie holte einen schwarzen Kaffee und reichte ihn Bodenstein. Dann studierte auch sie die Fotos von springenden, bockenden und galoppierenden Pferden, die wohl belegen sollten, wie gesund die ehemaligen Patienten dank der tüchtigen Tierärzte waren, dazu die glücklichen und dankbaren Kommentare ihrer Besitzer. In dem Moment ging die Tür auf. Die Besitzer des Notfall-Pferdes sprangen wieder wie elektrisiert auf, diesmal zu Recht. Im Türrahmen stand der Mann, den Bodenstein eben auf dem Foto gesehen hatte, nur dass er über Jeans und Sweatshirt einen grünen Kittel voller Blutspritzer trug und wenig fröhlich dreinblickte. Dr. Kerstner schien nicht gerade davon angetan, bei seiner Arbeit von der Polizei gestört zu werden. Auch sonst hatte sich der Arzt ziemlich verändert, seitdem das Foto gemacht worden war. Auf Bodenstein wirkte der Mann entweder krank oder völlig überarbeitet. Sein hageres Gesicht war unnatürlich blass und ausgezehrt, unter seinen geröteten Augen lagen dunkelblaue Schatten. Aber dann machte Bodenstein sich bewusst, dass Dr. Kerstner wahrscheinlich seit ein paar Stunden damit beschäftigt war, ein Pferd zu operieren, womöglich war er die halbe Nacht bei anderen Pferdepatienten gewesen. Zudem hatte ihn, wenn man der schwatzhaften Nachbarin Glauben schenkte, seine Frau mit dem gemeinsamen Kind verlassen. Gerade als Bodenstein sich vorstellen wollte, schoss das verweinte Mädchen an ihm vorbei.
»Was ist mit Kira?«, rief es mit schriller Stimme. »Wie geht es ihr?«
Kerstner starrte sie verwirrt an und schien ein paar Sekunden zu brauchen, um sich daran zu erinnern, wer Kira war.
»Sie hat die Operation gut überstanden«, sagte er dann. »Wir haben sie in den Aufwachraum gebracht. Der Blinddarm war verstopft, und ich musste ein Stück vom Dünndarm entfernen, das schon abgestorben war. Aber es sieht so aus, als ob sie wieder gesund werden könnte.«
Das Mädchen begann vor Erleichterung zu schluchzen und fiel dem älteren Mann um den Hals.
»Herr Dr. Kerstner?« Bodenstein zog seine Polizeimarke aus der Tasche. »Mein Name ist Bodenstein, Kripo Hofheim, das ist meine Kollegin Frau Kirchhoff. Wir würden gerne einen Moment mit Ihnen sprechen.«
Kerstner warf einen flüchtigen Blick auf die Marke, dann einen fragenden auf die Gesichter der beiden Beamten.
»Ja, natürlich.« Er nickte und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Sie durchquerten den noch immer unbesetzten Empfangsraum und gingen gegenüber in eine Art Aufenthaltsraum, in dessen Mitte ein wuchtiger Bauerntisch mit acht schlichten Holzstühlen stand. In einer Ecke des Raumes befanden sich ein Bett, ein Fernseher und eine alte Couch, auf der zwischen ein paar abgeschabten Kissen ein alter Hund lag, der nur kurz den Kopf hob, dann aber wieder desinteressiert die Augen schloss. Kerstner ging um den Tisch herum und ergriff die Lehne eines Stuhles. Entweder war er nicht der Mann, der sich mit Höflichkeitsfloskeln aufhielt, oder er war einfach zu erschöpft. Pia ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Sie konstatierte Regale voller Aktenordner und Bücher, gerahmte Fotografien und Urkunden und dazwischen ein altertümlich anmutendes Wappen auf einem schweren Holzbrett. Etwas Ähnliches hatte sie schon in Studentenkneipen gesehen. Zwei griechische Buchstaben, die in zwei ineinander verschlungene Hände übergingen. Ein Schwert durchbohrte die Hände. Sehr martialisch. Den Satz darunter konnte sie nicht entziffern.
»Herr Dr. Kerstner«, begann Bodenstein. »Sind Sie der Ehemann von Frau Isabel Kerstner?«
»Ja«, erwiderte der Tierarzt überrascht und richtete sich unwillkürlich auf. »Warum fragen Sie das? Ist etwas passiert?«
Seine Hände umklammerten die Lehne des Stuhles so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Fährt Ihre Frau einen silbernen Porsche Boxster?«, fragte Bodenstein.
Kerstner starrte ihn mit undurchdringlicher Miene an, ohne sich zu rühren. Seine Kiefermuskulatur spannte sich an.
»Wieso wollen Sie das wissen? Hatte sie einen Unfall?«
»Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?«
Der Tierarzt reagierte nicht auf die Frage.
»Was ist denn passiert?«
»Heute Morgen wurde die Leiche einer jungen Frau aufgefunden.« Bodenstein ließ die Details absichtlich aus, denn irgendetwas an Kerstners Verhalten machte ihn misstrauisch. »In ihrer Hosentasche wurde ein Autoschlüssel gefunden, der zu einem silbernen Porsche Boxster passt. Und dieser Porsche mit dem Kennzeichen MTK-IK 182 ist auf Ihre Frau zugelassen.«
Das Gesicht des Mannes wurde noch eine Spur blasser. Er starrte Bodenstein wie betäubt an, und das Ausbleiben jeglicher Reaktion ließ Bodenstein zuerst annehmen, sein Gegenüber habe ihn nicht verstanden.
»Kann es sein, dass es sich um Ihre Frau handelt?«, fragte Pia nun leise. Der Tierarzt fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dann ließ er sich auf den Stuhl sinken und legte seine Hände vor sich auf die Tischplatte, beinahe so, als ob er an einer Séance teilnehmen würde.
»Ja«, sagte er schließlich, ohne aufzublicken. »Das kann sein.«
»Die Frau hat eine Tätowierung oberhalb des Bauchnabels.«
»Einen Delfin«, murmelte Kerstner tonlos. »Oh Gott.«
Bodenstein und Pia wechselten einen raschen Blick.
»Wären Sie so freundlich, uns nach Frankfurt zu begleiten, um Ihre Frau zu identifizieren?«, fragte Pia den Tierarzt.
Es dauerte wieder ein paar Sekunden, so als ob er das Gehörte erst einmal begreifen müsste. Dann erhob er sich abrupt und ging mit unsicheren Schritten zur Tür. Im Gehen zog er den grünen Kittel aus und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. In dem Augenblick öffnete die Rothaarige mit dem Mopsgesicht die Tür, ohne vorher angeklopft zu haben.
»Micha, ich …«, begann sie, verstummte aber, als sie die versteinerte Miene ihres Chefs sah. Ihr Blick flog zu Bodenstein und seiner Kollegin hinüber und wurde grimmig. Sie und der Doktor schienen miteinander auf vertrautem Fuß zu stehen.
»Ich muss weg«, sagte Kerstner. »Isabel ist tot.«
»Das kann doch wohl nicht sein!«, rief der Mops, was Bodenstein zunächst für einen Ausdruck ihres Mitgefühls hielt. Aber ihre nächsten Worte belehrten ihn eines Besseren.
»Du kannst doch jetzt nicht einfach wegfahren! Das Pferd ist noch nicht aus der Narkose aufgewacht, und …«
»Ruf Georg an«, unterbrach Kerstner sie schroff und ging zur Tür hinaus.
Dr. Michael Kerstner sprach während der Fahrt von Ruppertshain bis zum Rechtsmedizinischen Institut in Sachsenhausen kein Wort, saß nur blicklos und stumm da.
Das Zentrum der Rechtsmedizin befand sich in einer stattlichen Villa aus dem 19. Jahrhundert an der Kennedyallee, und Bodenstein sah schon von Weitem den Auflauf der Presse mit Übertragungswagen und Massen neugieriger Reporter. Die sterblichen Überreste von Oberstaatsanwalt Hardenbach waren offenbar auch bereits eingetroffen.
»Fahren Sie zum Kundeneingang«, sagte Pia und erntete dafür einen erstaunten und belustigten Blick ihres Chefs, als er verstand, was sie mit dieser Anspielung gemeint hatte. »Gleich die nächste links bis zu dem grünen Tor. Da lassen Sie mich raus.«
Mit irgendeinem geheimen Sesam-öffne-dich-Passwort gelang es Pia, das Tor zu öffnen und Bodenstein die Einfahrt in einen Hinterhof zu ermöglichen, in dem nur drei Autos und ein Leichenwagen parkten. Wenig später betraten sie unbehelligt das Gebäude. Kerstner folgte Bodenstein und Pia stumm die Treppe hinunter in den Keller, wo sich die beiden Sektionsräume befanden. In der Mitte des ersten Raumes stand eine Bahre mit einer Leiche, die von einem grünen Laken verdeckt wurde. Ein Mitarbeiter der Rechtsmedizin erschien im Türrahmen. Auf seinem Gesicht breitete sich ein erfreutes Lächeln aus.
»Hi, Pia«, sagte er. »Lange nicht mehr gesehen!«
Bodenstein warf seiner Kollegin angesichts der vertrauten Begrüßung einen erstaunten Blick zu, den diese nicht bemerkte.
»Hey, Ronnie«, entgegnete sie mit gesenkter Stimme zu dem Rechtsmediziner. »Ist das die junge Frau aus dem Taunus? Ihr Ehemann ist hier, um sie zu identifizieren.«
Ronnie nickte Bodenstein und Kerstner grüßend zu, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Das ist der, wegen dem die Pressefritzen den Belagerungszustand ausgerufen haben. Kommt mit.«
Er ging vor ihnen her in den zweiten Sektionsraum. Dort wartete eine zweite abgedeckte Bahre. Bodenstein warf Kerstner einen kurzen Blick zu. Auch jetzt blieb dessen Gesicht ausdruckslos und ohne alle Emotionen. Bodenstein hatte schon häufiger, als ihm lieb war, Angehörige von Toten in diese Räumlichkeiten begleitet, Menschen, die vom Tode eines Partners, Freundes oder Verwandten bereits erschüttert waren und hier noch zusätzlich durch die nüchterne Atmosphäre, die der einer Großküche nicht unähnlich war, schockiert wurden. Die bis unter die Decke reichenden Metallschränke, in deren Kühlfächern die Toten übereinandergestapelt gelagert wurden, das unbarmherzige Neonlicht, die gefliesten Wände und abwaschbaren Böden – all das raubte dem Tod und dem Toten die Würde, die den Lebenden so wichtig war. Ein Besuch in der Rechtsmedizin war immer ein unschönes Erlebnis.
»Können wir?«, fragte Bodenstein leise, woraufhin Kerstner nickte. Bodenstein gab Ronnie ein Zeichen, und dieser entfernte das grüne Laken vom Gesicht der Leiche. Kerstner betrachtete die Tote ein paar Sekunden, ohne auch nur die Andeutung einer Gefühlsregung zu zeigen.
»Das ist sie«, sagte er und wandte sich ab. »Das ist Isabel.«
Bodenstein ließ sich nicht anmerken, wie eigenartig er die emotionslose Reaktion des Mannes fand.
»Kommen Sie«, sagte er zu Kerstner und nickte Pia zu. Der Mitarbeiter der Rechtsmedizin zog gleichmütig das Tuch hoch, löste die Feststellbremse der Bahre und schob die Leiche zu einem der Metallschränke hinüber. Kerstner schauderte, als sich die Tür des Schrankes mit einem Klicken öffnete und ein Schwall kalter Luft in den Raum drang, dann folgte er Bodenstein mit schnellen Schritten hinaus auf den Gang.
Eine Dreiviertelstunde später nahm Kerstner auf einem der beiden Stühle vor Bodensteins Schreibtisch in dessen Büro in der Hofheimer Kriminalinspektion Platz, seine Finger umklammerten die Tasse mit Kaffee, die Pia ihm eingeschenkt hatte. Er war einverstanden, dass ein Aufnahmegerät mitlief, machte die notwendigen Angaben zu seiner Person und wartete dann schweigend und mit gesenktem Kopf, während Bodenstein erklärende Bemerkungen über Uhrzeit, Anwesende und die Ermittlungssache auf Band sprach.
»Es tut mir leid, dass wir Ihnen einige Fragen stellen müssen«, wandte Bodenstein sich an den Tierarzt. »Sicher wäre es Ihnen lieber, wenn man Sie mit Ihrem Schmerz eine Weile in Ruhe ließe, aber es handelt sich bei dem Tod Ihrer Frau womöglich um Mord.«
»Was ist überhaupt geschehen?« Kerstners Blick wanderte langsam hoch zu Bodensteins Gesicht. »Wie ist sie … gestorben?«
»Sie lag am Fuße des Atzelbergturmes in Ruppertshain«, erwiderte Bodenstein. »Auf den ersten Blick sah es aus, als sei sie vom Turm gesprungen, aber es gibt gewisse Indizien, die gegen einen Selbstmord sprechen.«
»Selbstmord?« Kerstner schüttelte den Kopf. »Warum hätte Isabel sich umbringen sollen?«
»Erzählen Sie uns etwas über Ihre Frau«, forderte Pia den Mann auf. »Sie war beträchtlich jünger als Sie, nicht wahr?«
Kerstner zögerte eine Weile mit einer Antwort, seine Augen schweiften in die Ferne.
»Neunzehn Jahre.«
Er räusperte sich.
»Sie war die Schwester eines meiner besten Freunde.«
Kerstner trank einen Schluck Kaffee, wobei seine Hand so stark zitterte, dass er die Hälfte verschüttete.
»Entschuldigung«, murmelte er.
»Macht nichts«, Bodenstein betrachtete aufmerksam das Gesicht seines Gegenübers, aber alles, was er sah, war eine beherrschte Fassade, die keine Gefühle erahnen ließ.
»Ich war gerade aus Amerika zurückgekehrt«, sagte Kerstner, »und im Begriff, meine langjährige Verlobte zu heiraten. Aber dann kam Isabel dazwischen.«
»Wann war das?«
»Im Herbst 1998. Drei Monate später haben wir geheiratet, weil Isabel schwanger war.«
Kerstner versank in Erinnerungen, und Bodenstein und Pia warteten, bis er weitersprach.
»Isabels Vater war froh über unsere Ehe, denn bis dahin hatte sie ein ziemlich unstetes Leben geführt. Alles schien geradezu perfekt zu sein, aber kurz nach der Geburt unserer Tochter begannen die Probleme.«
»Probleme?«, fragte Pia nach.
»Isabel stellte sich das Leben so vor, wie sie es von zu Hause gewohnt war«, sagte Kerstner. »Eine große Villa, genug Geld für Urlaub, Pferde, Shopping. Aber ich investierte mein Geld lieber in unsere Zukunft. Inka, also Frau Dr. Hansen, suchte damals noch einen zweiten Teilhaber für ihre Pferdeklinik, die sie nach dem Tod ihres Vaters übernommen hatte. Ich bekam den Kontakt zu Inka Hansen durch meinen Freund und Studienkollegen Georg Rittendorf. Wir wurden uns schnell einig. Dr. Hansen hatte – ähnlich wie ich – viele Jahre in Amerika studiert und gearbeitet, und die Chemie stimmte sofort zwischen uns dreien.«
Er machte eine Pause.
Bodenstein und Pia warteten schweigend darauf, dass Kerstner weitersprach.
»Isabel lehnte es von Anfang an ab, in der Klinik mitzuarbeiten«, fuhr er nach einer Weile fort. »Wir mussten kostspielige Anschaffungen und Umbauten vornehmen. Inka hatte zwar aus der Lebensversicherung ihres Vaters Geld bekommen, aber das reichte bei Weitem nicht für das, was wir vorhatten. Um unsere Mittel nicht zu sehr zu strapazieren, hatten wir beschlossen, am Personal zu sparen. Inkas Mutter machte die Buchhaltung, Georgs Frau arbeitete als Tierarzthelferin, und Isabel hätte den Empfang machen sollen.« Kerstner stieß einen Seufzer aus. »Daran war nicht zu denken.«
»Wieso denn nicht?«, fragte Pia.
»Sie konnte Georg nicht ausstehen«, antwortete Kerstner. »Er sie übrigens auch nicht. Vor allen Dingen aber hatte sie sich wohl in finanzieller Hinsicht sehr viel mehr von mir versprochen.«
»Inwiefern?«, wollte Bodenstein wissen.
»Wie ich schon sagte: Sie kam aus einem wohlhabenden Elternhaus und hatte hohe Ansprüche«, erklärte Kerstner und rieb sich die müden Augen. »Aber ich hatte meine gesamten Ersparnisse in den Aufbau der Klinik gesteckt. Ich muss oft fünfzehn, sechzehn Stunden am Tag arbeiten, auch an den Wochenenden, da bleibt keine Zeit für Party, Disco und Urlaub. Das wollte sie nicht verstehen.« Er verzog gequält das Gesicht. »Ich habe lange um sie gekämpft. Auch, als ich immer deutlicher spürte, wie gleichgültig ich ihr war. Dauernd gab es Krach, meistens wegen Geld. Sie verließ mich, kam wieder, verließ mich wieder … es war die Hölle.«
Er brach ab, und es schien, als kämpfte er plötzlich mit aller Macht gegen die aufsteigenden Tränen. Die Qual des Mannes ließ Bodenstein nicht unberührt, er bot Kerstner an, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen.
»Nein, nein«, Kerstner fuhr sich mit einer hilflosen Handbewegung über die Augen. »Es geht schon.«
»Wann hat Ihre Frau Sie verlassen? Und warum?«
»Vielleicht, weil ich sie irgendwann nicht mehr zurückgehalten habe.« Kerstner zuckte die Schultern. »Ich hatte keine Kraft mehr. Ende Mai packte sie endgültig ihre Koffer, und als ich abends nach Hause kam, war sie weg. Mit Sack und Pack.«
»Und Ihre gemeinsame Tochter hat sie mitgenommen?«, fragte Pia.
»Nein, zuerst nicht«, sagte Kerstner leise. »Aber sie hat sie vor ungefähr vierzehn Tagen vom Kindergarten abgeholt, und seitdem habe ich auch Marie nicht mehr gesehen.«
Bodenstein beobachtete den Mann scharf und versuchte zu analysieren, was er sah. Kerstner war am Boden zerstört, aber war es wirklich der Tod seiner Frau, der ihm die Tränen in die Augen trieb?
»Wo wohnte Ihre Frau, seitdem sie Sie verlassen hatte?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und Ihre Tochter? Wo ist sie jetzt?«
Kerstner blickte auf. In seinen Augen stand blanke Verzweiflung. Er wandte sein Gesicht sogleich wieder ab und starrte auf seine Hände.
»Das … das weiß ich auch nicht.«
»Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?«, wollte Pia wissen.
»Gestern.« Kerstner flüsterte fast. »Am späten Nachmittag. Sie tauchte plötzlich in der Klinik auf.«
Pia richtete sich auf und warf ihrem Chef einen raschen Blick zu.
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Bodenstein.
»Es muss ungefähr Viertel vor sechs gewesen sein«, erwiderte Kerstner, ohne aufzublicken. »Ich hatte eine komplizierte Operation beendet und kam gerade aus dem OP, als sie auf mich zustürzte und sagte, sie müsse mit mir reden.«
»Und was wollte sie von Ihnen?«
Der Mann schüttelte nur stumm den Kopf.
»Herr Dr. Kerstner«, sagte Pia sanft, aber nachdrücklich, »wir wissen, dass Ihre Frau um halb fünf nachmittags ihr Auto betankt hat, danach war sie bei Ihnen in der Klinik, und ein paar Stunden später muss sie gestorben sein. Sie waren womöglich der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Bitte antworten Sie auf die Frage.«
Kerstner starrte stumm vor sich hin.
»Haben Sie sich gestritten? Um was ging es? Sie hatten sie eine Weile nicht gesehen, und plötzlich tauchte sie auf, also muss sie ja irgendetwas von Ihnen gewollt haben.«
Schweigen.
»Wo waren Sie gestern Abend?«, fragte Bodenstein. Plötzlich hatte sich die Situation völlig verändert. Vor seinen Augen war aus dem schockierten Witwer ein möglicher Mordverdächtiger geworden. Es gab ein Motiv, mehrere sogar. Zurückgewiesene Liebe, Enttäuschung, Eifersucht.
»Sie müssen uns nichts sagen, was Sie belasten könnte. Möchten Sie einen Anwalt anrufen?«
Da hob der Mann ungläubig den Blick.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, ich hätte Isabel …?«
»Sie haben sie nur wenige Stunden vor ihrem Tod gesehen«, antwortete Bodenstein. »Ihre Frau hatte Sie mit Ihrer gemeinsamen Tochter verlassen. Sie wussten nicht, wo sie sich aufhielt. Wahrscheinlich waren Sie wütend und eifersüchtig.«
»Nein, nein! Das stimmt nicht!«, unterbrach Kerstner ihn heftig. »Ich war nicht wütend auf sie und auch nicht eifersüchtig … nicht mehr.«
»Wieso – nicht mehr?«
»Weil«, begann er, besann sich aber und verstummte.
»Sagen Sie uns doch einfach, was Ihre Frau gestern von Ihnen wollte.«
Kerstner biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Plötzlich fing er an zu weinen. Es war das gequälte Schluchzen eines Verzweifelten, und er machte keinen Versuch, die Tränen, die ihm über das Gesicht strömten, abzuwischen.