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Der dritte Band der Pferdebuch-Erfolgsserie von Bestseller-Autorin Nele Neuhaus
Elena schwebt im siebten Himmel mit Tim. Ihre Liebe hat die alte Familienfeindschaft endgültig besiegt und auf dem Amselhof wendet sich alles zum Besseren. Doch dann ziehen dunkle Wolken auf. Tim versetzt Elena ausgerechnet auf dem großen Reiterball, auf den sie sich so gefreut hat, und beim großen Festhallenturnier beachtet er sie kaum. Stattdessen läuft sie dem gut aussehenden Reiter Niklas Schütze über den Weg, auf den die arrogante Ariane ein Auge geworfen hat. Plötzlich macht ein böses Gerücht die Runde und selbst Melike, Elenas beste Freundin, glaubt ihr nicht mehr. Eines scheint klar: Irgendjemand will Elena schaden. Nur warum? Als dann auch noch ihr Berittpferd Quintano nach Amerika verkauft wird und Tim mit ihr Schluss macht, bricht für Elena die Welt zusammen. Doch da ist ja noch Niklas. Und auf einmal wird alles anders …
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Seitenzahl: 306
Das Buch
Elena schwebt im siebten Himmel mit Tim. Ihre Liebe hat die alte Familienfeindschaft endgültig besiegt und auf dem Amselhof wendet sich alles zum Besseren. Doch dann ziehen dunkle Wolken auf. Tim versetzt Elena ausgerechnet auf dem großen Reiterball, auf den sie sich so gefreut hat, und beim großen Festhallenturnier beachtet er sie kaum.
Stattdessen läuft sie dem gut aussehenden Reiter Niklas Schütze über den Weg, auf den die arrogante Ariane ein Auge geworfen hat. Plötzlich macht ein böses Gerücht die Runde und selbst Melike, Elenas beste Freundin, glaubt ihr nicht mehr. Eines scheint klar: Irgendjemand will Elena schaden. Nur warum? Als dann auch noch ihr Berittpferd Quintano nach Amerika verkauft wird und Tim mit ihr Schluss macht, bricht für Elena die Welt zusammen. Doch da ist ja noch Niklas. Und auf einmal wird alles anders …
Die Autorin
© Felix Bruegemann
Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.
Mehr über Nele Neuhaus: www.neleneuhaus.de
Nele Neuhaus auf Facebook: www.facebook.com/nele.neuhaus
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Für Simone. Und für Zoé, sobald sie lesen kann.
»Elena!« Die Stimme meines Vaters klang ungeduldig. »Was brauchst du denn so lange? Es ist schon halb sieben!«
»Ich komm sofort!«, rief ich zurück. Ich hatte eine halbe Stunde gebraucht, um meine Fingernägel einigermaßen sauber zu kriegen und jetzt wurde die Zeit knapp. Mein Bruder Christian tauchte hinter mir im Badezimmer auf und vor Schreck rutschte mir der Eyeliner ab.
»Mist!«, fluchte ich und versuchte ungeschickt, mit einem Wattestäbchen den Schaden zu beheben.
»Was hast du denn heute noch vor?«, erkundigte sich Christian spöttisch. »Willst du irgendwen zu Tode erschrecken?«
»Ach, halt die Klappe«, erwiderte ich verärgert. Schminken war überhaupt nicht mein Ding, aber heute Abend würde ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Reiterball gehen und da wollte ich ganz besonders gut aussehen. Leider war momentan das absolute Gegenteil der Fall. Über und unter meinen Augen prangten dicke schwarze Balken, meine Wimpern sahen aus wie zusammengeklebte Spinnenbeine. Immer wenn ich mit dem Eyeliner einen schmalen Strich über das Augenlid malen wollte, begann meine Hand unkontrolliert zu zittern und meine Lider zuckten.
»Hier.« Christian hielt mir einen Waschlappen hin. »Mach’s lieber weg, bevor dich jemand so sieht. Ist ja peinlich.«
Ich funkelte meinen Bruder wütend an, schnappte die Dose mit Augen-Make-up-Entferner und rubbelte hektisch mit einem ölgetränkten Pad an meinen Augen herum.
»Warum hast du dich überhaupt so in Schale geworfen?«, fragte ich. »Ich dachte, du wolltest in Jeans gehen.«
»Ich hab’s mir anders überlegt. Schließlich werde ich heute Abend als Hessenmeister geehrt«, antwortete er und betrachtete sein Spiegelbild mit einem zufriedenen Lächeln. »Ich find, ich seh cool aus. Oder?«
Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und sogar eine Krawatte, seine dunklen Haare hatte er mit Gel nach hinten frisiert.
»Ja, total cool«, bestätigte ich, konnte mir aber eine kleine Spitze nicht verkneifen. »Wie Justin Bieber im Kommunionanzug.«
Sein Lächeln erlosch schlagartig. »Das stimmt nicht«, widersprach er. »Aber du siehst aus wie Winnetous Schwester auf dem Faschingsball.«
Mir kamen die Tränen, denn er hatte recht. Ich sah gruselig aus. Durch die Rubbelei hatten sich Wimperntusche und Eyeliner großflächig verteilt, meine Haut war fleckig und glühte dunkelrot und meine Augen brannten wie Feuer.
»Sag mal, wo bleibt ihr denn bloß?« Jetzt erschien auch Mama im Badezimmer. Ihr Blick fiel auf mein Gesicht im Spiegel. »Großer Gott, Elena! Was ist denn mit dir passiert?«
»Ich wollte mich doch nur ein bisschen schminken«, jammerte ich und hielt anklagend die Dose mit dem Abschminkkram hoch. »Ich dachte, das geht damit weg!«
»Das nützt nichts bei wasserfester Schminke.« Mama musste auch lachen. »Komm mit nach unten. Das kriegen wir wieder hin.«
»Warte noch einen Moment!«, gluckste Christian amüsiert, »lass mich noch schnell ein Erinnerungsfoto für Tim machen.«
»Untersteh dich!« Ich tastete mich halb blind die Treppe hinunter, vorbei an Papa, der schon mit dem Autoschlüssel in der Hand im Flur stand und mich mit offenem Mund anblickte.
»Zwei Minuten«, sagte Mama und zog mich ins Elternbadezimmer. »Setz dich auf den Klodeckel und mach die Augen zu.«
»Warum können das die Mädchen in meiner Klasse und ich nicht?«, beklagte ich mich, während sie mein verhunztes Gesicht mit einer Flüssigkeit abrieb.
»Weil die nichts Besseres zu tun haben, als stundenlang vor dem Spiegel zu stehen und zu üben«, erwiderte Mama. »Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob sie das wirklich können. Sich zu schminken, dass man ungeschminkt aussieht, ist nämlich eine echte Kunst. So, noch etwas Puder drauf, damit es nicht so glänzt. Und fertig!«
Ich schlug die Augen auf und erhob mich. Winnetous Schwester war verschwunden, aus dem Spiegel blickte mir wieder mein vertrautes Gesicht entgegen.
»Danke, Mama«, sagte ich erleichtert.
»Gern geschehen.« Sie grinste und schob mich aus dem Bad. »Du hast die Schminkerei gar nicht nötig. Aber wenn du willst, zeige ich dir mal ein paar Tricks.«
Zehn Minuten später saßen wir im Auto und Papa hielt noch einmal kurz an der Bushaltestelle am Rathaus, wo Melike auf uns wartete. Natürlich hatte Christian nichts Besseres zu tun, als meiner besten Freundin sofort von meinem fehlgeschlagenen Schminkversuch zu erzählen.
»Einer, der Justin Biebers Kommunionanzug auf dem Reiterball anzieht, sollte besser ganz still sein«, sagte ich. Melike kicherte und Christian kniff mich in den Arm und zischte: »Indianersquaw!«
Für Papa und Mama war es das erste Mal seit vielen Jahren, dass sie wieder auf den jährlichen Kreisreiterbund-Ball gingen. Diesmal gab es für unsere Familie ein paar erfreuliche Gründe, denn Christian und Papa waren im letzten Sommer in Eschwege Hessenmeister geworden und ich hatte im Herbst die Kreismeisterschaften meiner Leistungsklasse mit Quintano gewonnen. Wir würden also alle drei geehrt werden. Genau wie Tim als erfolgreichster Juniorenreiter Hessens, der bei den deutschen Meisterschaften Dritter geworden war.
Die Stimmung war prima und ich erinnerte mich an andere Autofahrten mit meinen Eltern vor noch nicht allzu langer Zeit, auf denen sich die beiden entweder gestritten oder angeschwiegen hatten. Viel war geschehen, seit dem unglückseligen Tag, an dem der Gerichtsvollzieher auf dem Amselhof aufgetaucht war und meine Eltern erfahren hatten, dass der Hof zwangsversteigert werden sollte, weil mein Opa einen Riesenhaufen Schulden bei der Bank gemacht hatte. Finanzielle Probleme hatten wie düstere Schatten über der Familie und dem Amselhof gehangen und es war für mich nicht einfacher geworden, als ich mich in Tim Jungblut verliebte. Tim war der einzige Junge, in den ich mich nicht hätte verlieben dürfen, denn er war der Sohn von Richard Jungblut, dem der Sonnenhof gehörte. Zwischen den Jungbluts und meiner Familie herrschte seit Ewigkeiten eine tief verwurzelte Feindschaft und Christian hatte Tim überdies noch dafür gehasst, dass der auf Turnieren oft besser war als er selbst. Papa und Mama hatten so lange gestritten, bis Mama ihren Koffer gepackt hatte und zu ihren Eltern gefahren war. Damals hatte ich befürchtet, wir müssten den Amselhof verkaufen, denn Papa hatte Opas Schulden übernehmen müssen. Mein einziger Lichtblick zu dieser Zeit war mein Hengst Fritzi gewesen, den ich heimlich mit Tim und Melike auf einer Waldwiese trainiert hatte. Aber dann wurde alles besser. Papa hatte sein bestes Pferd Lagunas gut verkaufen und damit einen großen Teil der Schulden abbezahlen können. Mama war zurückgekommen und seit der Hessenmeisterschaft in Eschwege im Sommer waren Christian und Tim Freunde, denn Tim hatte meinem Bruder das Leben gerettet. Ja, so viel hatte sich verändert! Tim konnte nun immer auf den Amselhof kommen und das tat er oft, denn auch bei ihm war alles anders geworden. Sein schrecklicher Vater saß seit dem vergangenen Sommer im Gefängnis und wartete auf seinen Prozess, weil er mit einer ganzen Bande überall in Deutschland Pferde gestohlen und andere schlimme Dinge getan hatte.
Mein Handy piepste, als wir auf den Parkplatz der Mehrzweckhalle in Griesheim fuhren, in der in diesem Jahr der Reiterball stattfinden sollte. Es war eine SMS von Tim. »Muss noch Heu geben und füttern und auf Gina aufpassen, bis meine Mom zurück ist. Wird später, sorry! Kuss, T.«
»Tim kommt erst später«, verkündete ich leicht enttäuscht. »Er muss noch füttern.«
»Was wird jetzt eigentlich aus dem Sonnenhof?«, fragte Melike.
»Keine Ahnung.« Ich zuckte die Achseln. »Tims Mutter kümmert sich wohl null um den Stall.«
»Gerade heute Nachmittag haben Engelbert Maiwald und Corinna Faist angerufen, dass sie gerne zurück auf den Amselhof kommen würden«, sagte Mama. »Ihnen gefällt es wohl nicht mehr auf dem Sonnenhof.«
»Bloß die nicht!«, rief Christian, der die ganze Fahrt über Nachrichten in sein Handy getippt hatte.
»Wir haben momentan sowieso keine Boxen frei«, erwiderte Papa. »Nicht zuletzt dank Lajos ist alles voll. Und bis der neue Stall fertig ist, wird es sicher Januar oder Februar.«
Dr.Lajos Kertéczy war Tierarzt und ein alter Freund von Papa und Mama. Auch er war in das dunkle Familiengeheimnis verwickelt, das zu der Feindschaft zwischen Tims und meiner Familie geführt hatte. Lange Jahre war Lajos im Ausland gewesen, bevor er ins alte Forsthaus mitten im Wald gezogen war, das Tims Opa Friedrich Gottschalk gehörte. Melike und ich hatten Lajos zuerst für einen Pferdedieb gehalten und uns mächtig blamiert, aber das hatte er uns nicht übel genommen. Im Forsthaus hatte Lajos nicht genug Platz für seine Pferdepatienten gehabt und es war meine Idee gewesen, ihn auf den Amselhof zu holen. In der Zeit, als es uns so schlecht gegangen war, hatten viele Leute mit ihren Pferden den Amselhof verlassen und so hatte es genug Platz für Lajos’ vierbeinige Patienten gegeben. Nicht zuletzt durch ihn waren neue Einsteller gekommen, unter anderem auch Kiki Denninger und ihr Bruder Fabian, Melikes Freund.
Mama hatte einen ganzen Tisch für die Leute vom Amselhof reserviert, damit wir alle zusammensitzen konnten. Ich war noch nie auf einem Reiterball gewesen und fand es irgendwie komisch, wie fremd und verkleidet all die Leute aussahen, die ich nur von Turnieren in Reithosen und Stiefeln kannte. Bei manch einem musste ich gar zwei Mal hinschauen, um ihn zu erkennen. Immer wieder blickte ich auf mein Handy und hoffte, dass Tim sich melden würde. Die Musik war zu laut und eindeutig für die Generation meiner Eltern gedacht; Papa und Mama amüsierten sich auf jeden Fall und verschwanden gleich nach dem Essen auf die Tanzfläche.
»Deine Eltern sind wie frisch Verliebte!«, schrie mir Melike ins Ohr.
Ich fand es ein bisschen peinlich, aber ich freute mich auch. Mama sah richtig glücklich aus und das hatte sie verdient, nach all dem Ärger der letzten Jahre. Mittlerweile lief alles super auf dem Amselhof. Die Zeiten, in denen die Worte »Gerichtsvollzieher« und »Zwangsversteigerung« zum täglichen Wortschatz meiner Eltern gehört hatten, waren glücklicherweise vorbei. Mit harter Arbeit, viel Energie und einer Portion Glück hatten Papa und Mama die finanzielle Krise, in die Opa den Amselhof vor zwei Jahren gestürzt hatte, bewältigt. Tims Großvater Friedrich Gottschalk, der beste Freund von meinem Opa, hatte Papa viele gute Ratschläge gegeben. Er besaß ein großes Bauunternehmen und kannte sich in finanziellen Dingen gut aus. Zuerst hatte er dafür gesorgt, dass Papa und Mama von der Bank, die Opa damals von heute auf morgen den Geldhahn zugedreht hatte, zu einer anderen Bank gewechselt waren, bei der sie nun günstigere Konditionen für ihr Darlehen bekamen. Darüber hinaus war noch ein großes Grundstück bis dahin mehr oder weniger wertlosen Ackerlandes zu Bauland geworden. Mit dem Verkaufserlös konnten die restlichen Schulden abbezahlt werden und es reichte sogar noch, um auf dem Amselhof eine zweite Reithalle mit einem zusätzlichen Stalltrakt zu bauen. Außerdem konnten endlich die kaputten Dächer, die maroden Wasserleitungen und der Hallenboden erneuert werden. Ja, die Zukunft sah für den Amselhof rosiger aus denn je und das war sicherlich mit ein Grund dafür, dass Papa und Mama so unbeschwert und fröhlich tanzten.
Ich hatte mich so hingesetzt, dass ich den Eingang des Saales im Blick behielt, und schaute abwechselnd von der Tür auf mein Handy. Es war heiß, die Luft war schlecht, Musik, Stimmengewirr und Gelächter waren so laut, dass Gespräche kaum möglich waren. Aber jedermann schien sich zu amüsieren – bis auf mich.
»Da kommt Fabian. Ich hau ab«, schrie Melike mir irgendwann zu. »Kommst du mit?«
»Ich komm nach«, schrie ich zurück. Melike verschwand eilig Richtung Tanzfläche. Ich nippte an meiner lauwarmen Cola und kontrollierte vergeblich mein stummes Handy. Allein am Tisch, der voll mit halb leer gegessenen Tellern, Gläsern, Flaschen und Blumengestecken war, fühlte ich mich so überflüssig wie ein vergessenes Mauerblümchen und wünschte mich weit fort. Christian hockte bei seinen Kumpels, meine Eltern tanzten, als wollten sie einen Rekord aufstellen, und alle anderen aus unserem Stall waren irgendwohin verschwunden. Schließlich ließ auch ich den Tisch im Stich und durchquerte das Foyer. Draußen, vor den Glastüren, standen die Raucher in Grüppchen beieinander. Ich stieß die Tür zur Damentoilette auf und wäre fast wieder rückwärts hinausgefallen. Die Wolke aus Haarspray, Parfüm und Schweiß, die mir entgegenschlug, nahm mir beinahe den Atem. Vor den Spiegeln drängten sich Mädchen und Frauen, zupften an ihren Haaren und malten an ihren Gesichtern herum. Ich reihte mich in die Warteschlange vor den Toiletten ein. Wo blieb bloß Tim? Um halb zehn sollte auf der Bühne des Ballsaals die Ehrung der Meister stattfinden, jetzt war es schon Viertel nach neun.
»Hey«, sagte plötzlich jemand neben mir.
»Hey, Kiki«, erwiderte ich. Seit dem letzten Sommer, als Fabian und sie mit ihren Pferden Carino und Whiteface auf den Amselhof gezogen waren, hatte Kiki sich sehr verändert. Damals hatte sie ganz kurzes, weißblond gefärbtes Haar gehabt und ein paar Piercings an Nasenflügel und Augenbrauen, jetzt war jedes Metall aus ihrem Gesicht verschwunden, sie trug das Haar kinnlang und naturblond. In dem schwarzen Korsagenkleid und mit ihren großen, himmelblauen Augen sah sie sehr hübsch aus. Sie knallte ihre Tasche auf den Rand eines Waschbeckens und kramte einen Beutel mit Schminkutensilien heraus.
»Sag mal, weißt du, was mit Melike los ist?«, fragte sie mich, während sie mit einer beneidenswerten Geschicklichkeit ihre Augen nachschminkte.
»Was meinst du?« Ich stellte mich dumm.
»Noch vor ein paar Tagen haben sie und Fabi zusammen geklebt wie Kaugummi. Aber jetzt muss irgendwas passiert sein. Sie tanzt mit uns und er hockt wie ein Trauerkloß in einer Ecke.«
»Von einem Streit hat sie mir nichts erzählt«, erwiderte ich ausweichend. Das stimmte auch. Es hatte keinen Streit gegeben, Fabian ging meiner besten Freundin einfach nur auf die Nerven.
»Na ja.« Kiki beugte sich nach vorne, betupfte ihr Gesicht mit Puder und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. »Wahrscheinlich übertreibt er es wieder mal mit seiner Anhänglichkeit. Ich hab ihm schon bei seiner letzten Freundin gesagt, er soll ihr mal etwas Luft zum Atmen lassen. Aber so ist er halt.«
Was sollte ich dazu sagen? Wollte sie mich aushorchen?
»Ich mische mich da nicht ein«, meinte ich also unbehaglich.
Toilettenspülungen rauschten, eine dicke Frau drängte sich an mir vorbei und streifte mich mit ihrem schweißfeuchten nackten Arm.
»Kommt Tim noch?«, fragte Kiki beiläufig und packte ihren Schminkkram wieder in die Tasche.
»Er hatte es vor«, antwortete ich.
»Bei euch ist aber alles klar, oder?«
»Ja. Wieso willst du das wissen?« Ich war erstaunt über diese Frage.
»Nur so.« Kiki grinste. »Bis gleich auf der Tanzfläche.«
Eine der sechs Toilettenkabinen wurde frei, ich war an der Reihe. Ich hatte es nicht besonders eilig, in den Ballsaal zurückzukehren. Meine Begeisterung für Bälle würde sich nach diesem Abend in Grenzen halten, das wusste ich mit Sicherheit. Plötzlich klingelte mein Telefon und ich kramte hektisch in dem kleinen schwarzen Handtäschchen, das Mama mir für heute Abend geliehen hatte. Da war es!
»Ja, Tim?«, rief ich, drückte mit der Schulter die Tür auf und verlor das Gleichgewicht, weil gleichzeitig jemand von draußen öffnete. Ich taumelte, das Handy glitt aus meiner Hand und landete auf dem Boden. Mich bewahrten die Arme eines Fremden vor demselben Schicksal.
»Hoppla!«, sagte eine dunkle Stimme. Ich blickte verwirrt in belustigte goldbraune Augen, dann fiel mein Blick auf Ariane Teichert.
»Bauerntrampel«, zischte sie und grinste spöttisch.
Sie sah mal wieder so perfekt aus wie ein Filmstar, trug ein raffiniertes knallrotes Kleid, das die Schultern und den halben Rücken freiließ, und Schuhe mit Absätzen, in denen ich keinen Schritt hätte tun können, ohne mir unweigerlich die Knöchel zu brechen. Mit meinem billigen dunkelblauen H&M-Kleidchen fühlte ich mich wie eine tollpatschige graue Ente neben einem makellosen Schwan.
»Äh, Entschuldigung«, stammelte ich.
»Kein Problem.« Der Junge bückte sich, hob mein Handy auf und reichte es mir. Er war etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt und sah unverschämt gut aus. Halblange dunkle Haare, ein dunkler Anzug, das weiße Hemd stand oben lässig offen.
»Hi Ariane.« Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
»Willst du uns nicht vorstellen?«, fragte der Junge und lächelte mich freundlich an.
»Das ist Elena«, sagte Ariane und musterte mich von oben herab wie ein ekliges Insekt. Eigentlich waren wir ungefähr gleich groß, aber mit ihren Absätzen war sie zehn Zentimeter größer als ich. Sie hakte sich bei dem schönen Fremden ein und gurrte: »Komm, Nick, lass uns reingehen. Die Ehrung fängt gleich an.«
»Ach, wirst du auch geehrt? Das wusste ich ja gar nicht.« Ich konnte mir diese spitze Bemerkung nicht verkneifen und erntete dafür einen wütenden Blick.
»Ich bin Niklas Schütze«, sagte der Junge und reichte mir die Hand.
»Freut mich«, erwiderte ich. Mein Handy klingelte wieder. »Sorry, da muss ich drangehen. Viel Spaß noch heute Abend!«
Ich nahm den Anruf entgegen und beeilte mich, nach draußen zu kommen. Niklas Schütze rührte sich nicht vom Fleck und blickte mir nach, ohne sich um Ariane zu kümmern.
»Ich schaff’s nicht mehr«, sagte Tim zu mir. Er klang niedergeschlagen. »Meine Mutter ist erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen und bei dem Sauwetter will ich nicht mit dem Moped bis nach Griesheim gurken. Kannst du mir meine Medaille mitbringen?«
»Klar«, erwiderte ich enttäuscht. Ich hatte mich so sehr auf diesen Abend gefreut!
Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Reiterinnen und Reiter vom Vorsitzenden des Kreisreiterbundes geehrt wurden. Zuerst waren die Voltigierer dran, dann die Distanz- und die Westernreiter, dann die Vielseitigkeits-, die Dressur- und erst zum Schluss die Springreiter. Es standen schon mindestens vierzig Leute mit Medaillen oder Erinnerungstellern aus Zinn in den Händen auf der Bühne, als ich endlich aufgerufen wurde. Hatten die Ballgäste am Anfang die Ehrung noch aufmerksam verfolgt und brav applaudiert, so ließ die Konzentration bald nach und mittlerweile hörte kaum noch jemand wirklich zu. Ich verpasste den Aufruf meines Namens auch und hätte meine Ehrung glatt verpennt, wenn Mama mir nicht auf die Schulter geklopft hätte. Ich stieg also die Treppe hoch, schüttelte ein paar wichtigen Herren die Hand und bekam einen hässlichen Zinnteller überreicht. Christian und Papa wurden aufgerufen, dann bekam ich noch einen zweiten Teller für Tim. Von hier oben hatte man einen super Ausblick in den ganzen Saal und ich bemerkte, dass Niklas, der gut aussehende Junge von vorhin, mit ein paar anderen jungen Leuten am Tresen der Sektbar stand und die ganze Zeit zu mir herüberschaute. Dicht neben ihm leuchtete Ariane in Gold und Rot wie ein Weihnachtsbaum.
»Kennst du den Typ, der links neben Ariane an der Sektbar steht?«, fragte ich meinen Bruder.
»Nee, keine Ahnung«, erwiderte Christian. »Wieso?«
»Ach, nur so. Ich bin eben mit ihm zusammengestoßen, als ich aus dem Klo kam. Er heißt Niklas Schütze.«
»Der Niklas Schütze? Was sollte der denn auf unserem irrsinnig aufregenden Reiterball wollen?«
»Also kennst du ihn doch!«
»Wenn es der ist, den ich meine, dann hab ich ihn schon reiten sehen.« Christian bemühte sich, im Halbdunkel des Saales auf die Entfernung Niklas’ Gesicht zu erkennen. »Er war letztes Jahr Europameister bei den Junioren und reitet für die Schweiz.«
Die Ehrung war beendet, stürmischer Applaus erklang. Wahrscheinlich waren alle froh, dass der öde offizielle Teil der Veranstaltung überstanden war. Die Musik setzte wieder ein, wir verließen im Gänsemarsch die Bühne. Christian verkrümelte sich Richtung Sektbar, Fabian saß am anderen Ende des Tisches und ich ging mit Melike und Kiki auf die Tanzfläche. Die Band, die zuvor diese entsetzliche Schrammelmusik gespielt hatte, war verschwunden, jetzt hatte ein DJ übernommen und spielte die aktuellen Hitlisten rauf und runter. Melike und Kiki fiel Niklas Schütze irgendwann auf, wahrscheinlich, weil Ariane so auffällig an ihm klebte. Es war wegen der Lautstärke der Musik nicht ganz leicht, Melike von unserem Zusammenstoß vor der Toilette zu erzählen.
»Er guckt die ganze Zeit zu dir«, informierte sie mich. »Lässt dich nicht aus den Augen!«
Mir war das unangenehm. Wie viel mehr Spaß hätte mir der ganze Abend gemacht, wäre Tim dabei gewesen! Leider machten Papa und Mama nicht den Eindruck, als hätten sie es besonders eilig, nach Hause zu kommen. Sie saßen mit Bekannten zusammen an einem Tisch fernab von den Lautsprechern der Musikanlage und amüsierten sich ganz offensichtlich prächtig. Christian und seine Kumpels waren natürlich viel zu cool um zu tanzen und so war die Tanzfläche fast nur voller Mädchen und junger Frauen.
»Das stinkt Ariane ganz schön, dass der Typ dich die ganze Zeit anstarrt«, schrie Melike mir ins Ohr. »Ui, jetzt geht er raus – und Ariane dackelt ihm nach! Wie peinlich ist das denn?«
»Ariane auf Beutefang!«, rief Kiki in mein anderes Ohr. »Ich glaub, sie hat einen im Tee, so wie sie läuft.«
Das interessierte mich alles nicht. Ich musste mich zwingen, nicht immer wieder auf mein Handy zu gucken. Wir tanzten und tanzten, weil Melike auf gar keinen Fall mit Fabian reden wollte, und es war weit nach Mitternacht, als meine Eltern endlich aufstanden. Kiki und Fabian waren vor einer Viertelstunde von ihrer Mutter abgeholt worden, die Luft war also rein.
»Puh!«, rief Melike. »Ich muss total dringend aufs Klo!«
»Ich komme mit.« Nach drei Stunden Tanzerei taten meine Füße weh und mir war heiß. Der Ballsaal hatte sich schon ziemlich geleert, nur an der Sektbar stand noch eine Traube von Leuten. Vor der Damentoilette herrschte Aufruhr.
»Was ist ’n hier los?«, erkundigte sich Melike.
»Ariane hockt seit Stunden in einem der Klos«, erklärte ein dunkelhaariges Mädchen, das ich schon ein paar Mal auf Reitturnieren gesehen hatte, und kicherte. »Sie ist wohl betrunken.«
»Ich dachte, sie ist längst weg.« Ich war überrascht. Seitdem Niklas Schütze den Ballsaal verlassen hatte, hatte ich auch Ariane nicht mehr gesehen.
»Von mir aus kann sie da drin übernachten«, sagte die Freundin der Dunkelhaarigen verächtlich. Melike konnte Ariane auch nicht sonderlich gut leiden, aber Ungerechtigkeit und Schadenfreude konnte sie erst recht nicht ausstehen.
»Ich check das«, beschloss sie deshalb. »Hilf mir mal hoch, Elena.«
Ich verschränkte meine Hände ineinander und machte ihr eine Räuberleiter.
»Und?«, keuchte ich.
»Sieht so aus, als ob sie Hilfe braucht.« Melike schwang sich trotz Kleid über die Trennwand und verschwand auf der anderen Seite, wenig später öffnete sie die Tür von innen. Ich sah Ariane, die auf dem Boden neben der Kloschüssel saß und gar nicht mehr perfekt aussah. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Make-up war völlig verschmiert, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Die anderen drängten sich sensationslüstern näher, jeder wollte einen Blick auf Ariane erhaschen.
»Ich hol meine Eltern«, sagte ich und quetschte mich durch die neugierige Menge nach draußen. Dabei schnappte ich ein paar schadenfrohe Bemerkungen auf.
»Hat wohl ’ne Abfuhr kassiert.« »Geschieht ihr ganz recht, der blöden Kuh!«
Papa und Mama verließen gerade mit ein paar Bekannten den Ballsaal, und Papa kam sofort mit, als ich ihm rasch erzählte, was passiert war.
Mama holte Jürgen Bergmann, den hessischen Juniorentrainer, bei dem Ariane mit ihrem Pferd Con Amore trainierte, seitdem Tims Vater im Gefängnis war. Sie war mit ihm und ein paar anderen Reitern aus seinem Stall auf den Reiterball gekommen.
»Wie kann sie nur so etwas tun!«, sagte er empört. »Ich habe ihren Eltern versprochen, dass ich ein Auge auf sie habe, aber ich kann ja auch nicht den ganzen Abend neben ihr stehen.«
»Am besten rufst du den Notarzt an«, riet Mama ihm.
Ariane war unterdessen wieder zu sich gekommen. Papa hatte sie aus der Toilette nach draußen getragen und im Foyer auf einen Stuhl gesetzt.
»Was hast du getrunken?«, wollte er von Ariane wissen.
»Zwei Sekt oder so. Überhaupt nicht viel«, lallte sie. »Ich will nach Hause!«
»Uh, ist ja gruselig.« Christian wandte sich angewidert ab. »Betrunkene Mädchen sind der totale Horror!«
»Kommt, Kinder, wir fahren«, sagte Mama. »Jürgen hat Arianes Eltern angerufen, die holen sie jetzt ab.«
»Ich kann nicht verstehen, dass man auf einer solchen Veranstaltung Jugendlichen Alkohol ausschenkt«, regte sich Papa während der Heimfahrt auf.
»Haben sie doch gar nicht«, erwiderte Christian. »Aber Ariane hat sich von ein paar Älteren immer wieder was zu trinken mitbringen lassen.«
»Außerdem isst sie seit ein paar Wochen kaum noch was«, ergänzte ich. »Sie meint nämlich, sie wäre zu fett!«
»Ist sie ja auch«, behauptete Christian.
»Unsinn!«, entgegnete Mama, die am Steuer saß, scharf. »Ariane ist doch gertenschlank!«
»Obenrum geht’s ja, aber sie hat einen dickeren Hintern als ihr Pferd.« Christian lachte boshaft.
»Also, ich würde mich an ihrer Stelle auf kein Turnier mehr trauen«, sagte ich. »Jeder hat sie da heute so liegen sehen. Das ist megapeinlich!«
»Ich glaube, das Mädchen hat Probleme«, bemerkte Mama.
»Die hat sie ganz sicher.« Melike schnaubte. »Sie hat sich’s ja bald wirklich mit jedem verdorben, so arrogant, wie sie sich immer aufführt.«
Im Auto wurde es langsam warm, ich saß gemütlich eingekuschelt zwischen Christian und Melike und merkte plötzlich, wie müde ich war. Ich bekam einen regelrechten Gähnanfall. Durch die Aufregung um Ariane hatte ich sogar vergessen, auf meinem Handy nachzuschauen, ob Tim mir noch eine Gute-Nacht-SMS geschickt hatte. Aber wahrscheinlich lag er schon längst im Bett und schlief tief und fest. Mir fielen die Augen zu. Doch dann machte Papa eine Bemerkung, die mich schlagartig wieder hellwach werden ließ.
»Die Gerüchte um den Sonnenhof überschlagen sich ja allmählich«, sagte er zu Mama. »Was die Leute so alles reden!«
»Ich gebe nichts auf das Gerede.« Mama schüttelte den Kopf. »Erinnere dich doch nur, was sie damals alles über uns geschwätzt haben.«
»Was reden sie denn?«, erkundigte ich mich und öffnete die Augen.
»Jemand hat erzählt, Linda habe vor, den Sonnenhof an Jürgen Bergmann zu verpachten«, berichtete Papa. »Andere behaupten, ein reicher Unternehmer sei der neue Pächter und Bergmann nur der Trainer. Und wieder andere haben gewusst, dass Teichert den Hof sogar kaufen will.«
»Davon hätte Tim mir doch sicher etwas erzählt!« Ich beugte mich vor.
»Wie gesagt: Das sind alles nur Gerüchte«, erwiderte Papa.
»Wo Rauch ist, ist auch Feuer«, mischte sich Melike ein. Manchmal konnte sie ganz schön altklug sein. »Irgendwas wird dran sein.«
»Es ist auf jeden Fall klar, dass Linda die Reitanlage in Zukunft nicht alleine bewirtschaften kann«, meinte Papa. »Und bis Richard wieder aus dem Gefängnis kommt, muss ja irgendetwas mit dem Hof passieren. Na ja, wir werden es erleben.«
Ich schwieg und versuchte mich zu erinnern, ob Tim mir in den letzten Tagen oder Wochen etwas über die Zukunft des Sonnenhofs erzählt hatte. Nein, hatte er nicht, abgesehen davon, dass er selbst momentan im Stall arbeiten und zwei Mal am Tag alle Pferde füttern musste, weil der letzte Pferdepfleger, den es auf dem Hof gegeben hatte, verschwunden war, nachdem er von Tims Mutter seinen Lohn bekommen hatte. Verschwieg Tim mir wohl etwas? Und wenn ja, weshalb?
Noch immer durchfuhr mich beim Anblick des dunkelgrünen Jeeps von Tims Vater ein Schreck, aber natürlich war nicht er es, der Tim und seine beiden Pferde am frühen Sonntagnachmittag zu uns auf den Amselhof brachte, sondern seine Mutter. Wenn Papa sonntags Zeit hatte, baute er in den Wintermonaten gerne nachmittags in der Reithalle einen Parcours auf. Die meisten Einsteller ritten vormittags und so konnten er und Jens, der Aknefrosch, trainieren ohne jemanden zu stören. Mit der zweiten Reithalle, die gerade zwischen Turnierstall und Scheune gebaut wurde, würde das anders werden, aber so lange hieß es noch Rücksicht nehmen auf die Kunden.
Seitdem Richard Jungblut im Gefängnis war, trainierte Papa Tim. Dank seiner tollen Turniererfolge im vergangenen Jahr hatte Tim für das große Reitturnier in der Frankfurter Festhalle übernächste Woche eine Starterlaubnis bekommen, er durfte sogar in der internationalen Tour gegen alle berühmten Weltklassereiter starten.
Das Auto mit dem Pferdeanhänger stoppte hinter dem Turnierstall. Fritzi streckte den Kopf aus dem Fenster seiner Box und wieherte laut. Er war sehr neugierig und beobachtete den lieben langen Tag, was sich auf dem Hof vor seinem Fenster tat.
»Hi!«, rief ich, als Tim ausstieg.
»Hi«, erwiderte er und ging zum Hänger, um die Klappe zu öffnen. Gina, seine jüngere Schwester, saß auf der Rückbank des Jeeps und starrte mürrisch vor sich hin. Ich klopfte an die Scheibe und winkte ihr, doch anstatt zurückzugrüßen, streckte sie mir die Zunge heraus.
Seitdem ihr Vater, an dem sie sehr hing, nicht mehr da war, betrat sie weder den Stall, noch kümmerte sie sich um ihr Pony.
Melike und ich halfen Tim, Juke Box und Tanot de Chardin abzuladen und sein Sattelzeug in die Putzhalle zu tragen.
»Ich hol dich dann gegen sechs wieder ab«, sagte Tims Mutter. »Viel Spaß!«
Linda Jungblut hatte bei ihrem Mann nicht viel zu lachen gehabt, sie war so gut wie nie mit auf Turniere gefahren. Lajos kam aus dem Stall und half ihr, den Pferdehänger vom Jeep abzuhängen. Dann tauchte auch Mama noch auf und die drei quatschten miteinander. Früher waren sie alle richtig gute Freunde gewesen, so wie Tim, Christian, Melike, Fabian, Kiki und ich heute. Sie hatten jede freie Minute auf dem Amselhof verbracht und waren an den Wochenenden zusammen auf Turniere gefahren. Irgendwann hatte sich Papa in Mama verliebt und Lajos in Linda, Tims Mutter. Doch dann war die Freundschaft zerbrochen, denn auf dem Rückweg von einem Turnier hatte Richard Jungblut einen schweren Unfall verursacht, bei dem Mamas Schwester Viola gestorben war. Richard hatte ein paar Bier zu viel getrunken und Lajos die Schuld an dem Unfall in die Schuhe geschoben. Lajos hatte deshalb ins Gefängnis gemusst, Richard hatte Linda geheiratet und das war der Grund gewesen, warum meine Eltern die Jungbluts nicht leiden konnten. Tim, Melike und ich waren erst vor einem Jahr hinter dieses tragische Familiengeheimnis gekommen, über das unsere Eltern niemals gesprochen hatten.