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Ein grausiges Verbrechen und nur ein Kind als Zeuge.
Neben der Leiche von Marissa Fordham wird ihre kleine Tochter gefunden – schwer verletzt, aber wenigstens noch am Leben. Detective Tony Mendez und die Kinderanwältin Anne Leone tauchen in das Verbrechen ein. Detail um Detail aus Marissas Leben kommt ans Licht, bis sie auf ein Geheimnis stoßen, das sie unmittelbar ins Visier des Killers manövriert. Denn was er zu verbergen sucht, ist die Tatsache, dass es in Wirklichkeit nie eine Marissa Fordham gab …
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Seitenzahl: 680
Ein grausiges Verbrechen und nur ein Kind als Zeuge …
Neben der Leiche von Marissa Fordham wird ihre kleine Tochter gefunden – schwer verletzt, aber wenigstens noch am Leben. Detective Tony Mendez und die Kinderanwältin Anne Leone tauchen in das Verbrechen ein. Detail um Detail aus Marissas Leben kommt ans Licht, bis sie auf ein Geheimnis stoßen, das sie unmittelbar ins Visier des Killers manövriert. Denn was er zu verbergen sucht, ist die Tatsache, dass es in Wirklichkeit nie eine Marissa Fordham gab …
Über Tami Hoag
Tami Hoag (* 20. Januar 1959 in Cresco, Iowa) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.1988 machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf und verfasste ihr erstes Buch. Zunächste verfasste sie Liebesromane und widmetee sich später dem Schreiben von Thrillern. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Mann auf einer Pferderanch in Virginia, bevor sie nach Los Angeles, Kalifornien umzog.
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Tami Hoag
Eine verräterische Spur
Thriller
Deutsch von Andrea Stumpfund Gabriele Werbeck
Mit Dank und Respekt für Brian Tart, Ben Sevierund die gesamte Mannschaft von Dutton.
Danke, dass ihr versteht, was ich tue und wie ich es tue.
Inhaltsübersicht
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Kapitel 4
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Kapitel 8
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Kapitel 10
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Kapitel 48
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Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
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Kapitel 68
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Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Anmerkung der Autorin
Impressum
November 1986
Das halb hinter großen Eichen verborgene Haus stand ein Stück von der Landstraße zurückversetzt auf dürrem, gelbem Rasen. Es war in einer Mischung verschiedener Stile gebaut – teils spanisch, teils Ranch-Style –, und der ehemals weiße Anstrich war so stark verwittert, dass es fast mit seiner natürlichen Umgebung verschmolz, so als hätte die Erde es hervorgetrieben und es würde genauso hierhergehören wie die hundertjährigen Bäume.
Die Szenerie schien einem impressionistischen Landschaftsbild entlehnt: das goldene Gras, die dunkelgrünen Bäume, im Hintergrund die schwarz-lila Berge und der eisblaue Himmel mit den hingetupften rosafarbenen Wolkenbändern und schließlich im Vordergrund das kleine weiße Haus mit dem alten Ziegeldach. Jenseits der Berge versank die Sonne langsam im Meer. Der Tag schien einen Moment innezuhalten und sich an seiner eigenen Vollkommenheit zu ergötzen. Wie verzaubert lag die Landschaft in völliger Stille da.
Nichts deutete auf das hin, was sich in dem Haus verbarg.
Die Zufahrt bestand aus einem Schotterweg, in dessen Mitte Gras und Unkraut wucherten wie die Mähne eines Wildponys. Windschiefe Zäune in der Farbe von Treibholz grenzten den Weg gegen das Weideland ab, wo früher einmal Vieh und Pferde gegrast hatten.
Ein Kombi, der seine besten Tage schon lange hinter sich hatte, war vor einem offenen Schuppen mit verrosteten Landmaschinen abgestellt. Vor der Veranda stand ein roter Spielzeuganhänger, in dem eine rot getigerte Plüschkatze saß und darauf wartete, herumkutschiert zu werden. Auf der Veranda spielten zwischen Töpfen mit vertrockneten Geranien und Küchenkräutern zwei Kätzchen Fangen. Eine andere stemmte sich gegen die Fliegengittertür und starrte ins Haus, dann gab sie ein lautes Maunzen von sich, machte einen Satz und rannte mit steil in die Höhe gerecktem Schwanz davon.
Im Haus bewegte sich nichts außer ein paar Fliegen.
Auf den Terrakotta-Fliesen in der Küche war ein grauenerregendes Stillleben ausgebreitet.
Eine Frau lag tot da, ihre Haare umgaben ihren Kopf wie eine dunkle Wolke. Ihre Haut hatte die Farbe von Milch. Ihre Lippen waren rosenrot angemalt – so rot musste auch ihr Blut gewesen sein, als es aus den klaffenden Wunden floss.
Sie lag da wie eine ausrangierte Puppe – zurechtgemacht, zerfetzt, beiseitegeworfen. Die braunen Augen trüb und starr.
Neben ihr lag eine kleinere Puppe – ihr Kind –, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, das Blut der Mutter auf dem Gesicht verschmiert.
Die Fliegen brummten. Über der Spüle tickte die Wanduhr.
Der Telefonhörer mit dem blutigen Abdruck einer Kinderhand baumelte knapp über dem Boden. Die letzten Worte, die jemand in die Sprechmuschel gesagt hatte, waren ein Flüstern gewesen, das noch immer in der Luft hing: »Mein Daddy hat meiner Mommy wehgetan …«
»Das Opfer heißt Marissa Fordham, achtundzwanzig, alleinerziehend. Künstlerin.«
Detective Tony Mendez ratterte die Daten herunter, als wäre er völlig ungerührt von dem, was er gerade in dem Haus gesehen hatte. Nichts hätte der Wahrheit ferner liegen können. Kurz nachdem er am Tatort angekommen war, hatte er sich entschuldigt und war aus der Fliegengittertür getreten, um sich unter einem der Bäume zu übergeben.
Er war der Zweite am Tatort gewesen. Es war nur eine kurze Fahrt von seinem Haus bis hierher. Der Erste – ein junger Deputy – hatte sich unter demselben Baum übergeben. Mendez hatte noch nie so viel Blut gesehen. Der Geruch saß ihm in der Kehle wie eine Faust. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er die Opfer wie Bilder aus einem Horrorfilm vor sich.
Erneut stieg Übelkeit in ihm auf.
»Du hast gesagt, dass es zwei Opfer gibt?«
Vince Leone, neunundvierzig, ehemaliger Special Agent bei der legendären Behavioral Sciences Unit des FBI und davor Detective beim Chicagoer Morddezernat, war gerade am Tatort eingetroffen. Sie gingen langsam zum Haus und atmeten die kühle, eukalyptusgeschwängerte Luft.
»Die vierjährige Tochter der Frau«, sagte Mendez. »Sie hatte nur noch einen schwachen Puls. Man bringt sie ins Krankenhaus. Ich glaube nicht, dass sie durchkommt.«
Leone fluchte leise.
Mit seinen knapp eins neunzig und den dichten, von grauen Strähnen durchzogenen schwarzen Haaren war er eine imposante Erscheinung. Ein Schnurrbart lenkte von der kleinen, glänzenden Narbe ab, die von der Eintrittsstelle der Kugel, an der er eigentlich hätte sterben müssen, zurückgeblieben war. Stattdessen steckte das Ding nach wie vor in seinem Kopf, eine Operation war zu riskant.
»Wenn es um ein Kind geht, ist es immer am schlimmsten.«
»Da hast du recht. Was kann eine Vierjährige schon getan haben, um so etwas zu provozieren?«
»Sie ist eine Zeugin.«
»Sie kannte den Täter.«
»Oder er ist einfach ein fieses Arschloch.«
»Das ist er in jedem Fall«, sagte Mendez.
Sie traten durch das kleine Tor in den Garten und folgten dem Schotterweg um das Haus herum, an einem alten betonierten Springbrunnen vorbei, der unbeeindruckt von dem grauenhaften Geschehen vor sich hin plätscherte.
»Wer hat den Mord gemeldet?«
»Ein Freund, der zufällig vorbeigekommen ist.«
Leone blieb stehen und starrte ihn an. »Um diese Zeit? Es ist noch nicht mal richtig hell!«
Genauer gesagt war es 7 Uhr 29. Die Sonne war gerade aufgegangen.
»Stimmt«, sagte Mendez. »Aber warte erst mal ab, bis du ihn kennengelernt hast. Komischer Typ.«
»Inwiefern komisch?«
»Komisch im Sinne von verdächtig. Wer schneit schon um sechs Uhr morgens bei seiner Nachbarin rein?«
»Ist er hier?«
»Bill kümmert sich um ihn.«
Detective Bill Hicks, Mendez’ Partner. Hicks wirkte beruhigend auf die Leute.
»Kommt Cal auch?«, fragte Leone.
Cal Dixon, der Sheriff und Vorgesetzte von Mendez.
»Schon unterwegs.«
»Ich möchte niemandem ins Gehege kommen.«
»Ich habe ihn gefragt«, sagte Mendez. »Er ist einverstanden.«
»Gut.«
An der Küchentür blieben sie stehen. Mendez deutete zu dem Baum.
»Da haben der Kollege und ich schon hingekotzt. Nur falls du plötzlich auch das Bedürfnis verspüren solltest.«
»Gut zu wissen.«
Der Tatort erschütterte Mendez beinahe ebenso sehr wie beim ersten Mal. Das lag an den Kontrasten, überlegte er – und am Geruch. Die Kontraste waren brutal. Die Küche wirkte wie aus einer anderen Epoche: altertümliche, bemalte Schränke, eine gusseiserne Spüle, karierte Vorhänge, Geräte wie aus den Fünfzigern.
Eine Küche, in der eine tüchtige Farmersfrau den Kochlöffel schwingen sollte. Stattdessen machten sich Tatortermittler darin zu schaffen, stäubten hier etwas mit Rußpulver ein, machten dort ein Foto und bewegten sich mit den präzisen, knappen Bewegungen von Köchen um den aufgeblähten, wächsernen Leichnam der ermordeten Frau auf dem blutigen Fliesenboden.
Leone betrachtete die Szenerie mit finsterer Miene, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Sie ist schon länger tot.«
»Ein paar Tage, würde ich sagen.«
»Da sind bereits Maden«, bemerkte Leone. »Ist sie bewegt worden?«
»Nein. Ich habe den Sanitätern gesagt, dass sie sie nicht anfassen sollen. Dass sie tot ist, steht ja außer Frage.«
Die Kehle der Frau war mit solcher Kraft aufgeschlitzt worden, dass der Täter sie beinahe enthauptet hätte. Jemand hatte ihr die Lippen mit ihrem eigenen Blut angemalt.
»Und wo war das Mädchen?«
»Sie lag neben ihr, den Kopf auf ihrer Schulter«, sagte Mendez.
»Was ist mit ihr? Hat sie auch Stichwunden?«
»Konnte ich nicht genau erkennen. Sie war über und über mit Blut beschmiert. Keine Ahnung, ob es ihres oder das der Mutter war. Sie könnte allerdings gewürgt worden sein. Da waren blutige Fingerabdrücke an ihrem Hals.«
Leone zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, um es sich vor Mund und Nase zu halten, als er sich der Leiche näherte, wobei er darauf achtete, nicht in die Blutlachen zu treten. Er ging in die Hocke.
Die Brüste der Frau waren abgeschnitten worden. Sie waren nirgends zu sehen. Der Mörder musste sie mitgenommen haben. Ein makabres Souvenir. In den klaffenden Wunden wimmelte es von Fliegenlarven.
Die Frau lag mit weit ausgebreiteten Armen da und starrte mit offenen Augen an die Decke. Sie war nackt. Arme, Beine und Rumpf waren mit Wunden übersät. Ihr Bauch war so heftig mit einem Messer traktiert worden, dass er nur mehr eine blutige Masse war.
Aus ihrer Vagina ragte die Klinge eines Tranchiermessers.
Leone zog eine Augenbraue hoch. »Das nenne ich ein Statement.«
»Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte Mendez.
»Nur mit der Messerklinge nach innen. Auf die Art noch nie. Fällt dir dazu etwas ein?«
Leone sah ihn fragend an, einmal Lehrer, immer Lehrer. Bestimmt hatte er sich längst eine Meinung gebildet. Der Mann war eine Legende. Wahrscheinlich hatte er im Kopf bereits in Umrissen ein Täterprofil angelegt, und bis zur nächsten Kaffeepause würde er zu dem Schluss gekommen sein, dass der Täter stotterte und ein Bein nachzog.
Leone wollte, dass Mendez selbst dachte, den Tatort las, sich die Fälle ins Gedächtnis rief, die er studiert hatte, und alles, was er an der National Academy und in seiner bisherigen Laufbahn gelernt hatte.
»Meiner Meinung nach sagt es mehr über das Opfer aus als über den Täter«, erklärte Mendez.
Leone nickte. »Das glaube ich auch.«
Er richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam wanderte sein Blick durch das Zimmer und registrierte dabei jedes Detail. Man hörte, wie vor dem Haus ein Motor abgestellt und eine Autotür zugeschlagen wurde.
»Er hatte das Messer nicht bei sich«, sagte er und deutete auf einen Messerblock auf der Arbeitsplatte. »Das große Messer fehlt.«
»Für eine spontane Tat ist da aber reichlich viel Gewalt im Spiel gewesen«, sagte Mendez.
Leone summte leise vor sich hin. »Deutet was auf einen Einbruch hin?«
»Ich habe vorhin schnell eine Runde durch das Haus gedreht. Es gibt keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen. Ein paar der Zimmer sind durchwühlt worden, keine Ahnung, warum. Auf ihrer Kommode liegt Schmuck, der wertvoll aussieht. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Elektrogeräte geklaut worden sind.«
»Drogen?«
»Keine Utensilien. Außerdem ist das Haus zu sauber für einen Junkie. Sieht mir nicht nach Drogen aus.«
»Nein«, stimmte Leone zu. »Das war etwas Persönliches. Keine Frage. Die Frau hat dreißig oder vierzig Stichwunden.«
Die Fliegengittertür sprang auf, und Cal Dixon trat in die Küche. Dixon war vierundfünfzig, grauhaarig, durchtrainiert. Seine Uniform sah stets wie frisch gebügelt aus. Mit seinen durchdringend blauen Augen blickte er zuerst auf das Opfer, dann wandte er sich Leone und Mendez zu. Alle Farbe war aus seinem grimmigen Gesicht gewichen.
»Was ist nur aus der Welt geworden?«
»Der erste Mord seit einem Jahr, Chef«, sagte Mendez, als wäre das ein echter Glanzpunkt in ihrer aller Leben.
Dixon stellte sich neben die beiden Männer, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Gestern ist in der Zentrale ein Notruf eingegangen«, sagte er. »Am frühen Morgen. Eine Kinderstimme, die sagte, dass Daddy Mommy wehgetan hätte. Mehr nicht. Keine Adresse. Kein Name. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Die Telefonistin meldete es mir, aber was hätte ich denn machen sollen? Ich kann doch nicht jedes Haus in der Umgebung durchsuchen lassen, nur weil irgendwo möglicherweise ein Verbrechen begangen wurde.«
»Ich habe gelesen, dass Orange County über das verbesserte Notrufsystem verfügt«, sagte Mendez. »Wenn es klingelt, tauchen automatisch sämtliche Informationen zu der Nummer auf dem Bildschirm auf. Name, Adresse, solche Sachen.«
»Ich habe schon stapelweise Antragsformulare ausgefüllt, aber wann da was passiert, weiß kein Mensch«, sagte Dixon. »Außerdem ist dieses System schweineteuer.«
Der Fortschritt kroch eben im Zeitlupentempo auf Oak Knoll zu, statt kühn auszuschreiten. Mendez blickte auf den Leichnam von Marissa Fordham, der vor zwei Tagen zu verwesen begonnen hatte und wie ein offenes Abflussrohr an einem heißen Sommertag stank. »Für sie ist es so oder so zu spät.«
Vince Leone entschuldigte sich, ging schnurstracks zu dem Baum und übergab sich. Während seiner Zeit beim FBI hatte er die entsetzlichsten Dinge gesehen. Er verdiente mit der Untersuchung von Morden seinen Lebensunterhalt. Um für das FBI Informationen zu sammeln – Munition für die Jagd auf menschliche Raubtiere –, war er drei Jahre lang kreuz und quer durchs Land gefahren, von einem Hochsicherheitsgefängnis zum nächsten, und hatte Männer befragt, die einige der grausamsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit begangen hatten. Die Tatorte, die er besichtigt hatte, waren einer blutiger und grauenerregender als der andere gewesen. Er hatte so viele Leichen in so vielen unterschiedlichen Stadien der Verwesung gesehen, dass er schon vor langer Zeit gelernt hatte, dieses Bild mit keinem anderen Gefühl als Abscheu vor dem Verbrechen zu verbinden.
Auch dieses Mal hatte nicht das Bild die Übelkeit ausgelöst.
Es war die Kugel in seinem Kopf.
Er lebte nun bereits seit anderthalb Jahren damit und hatte sich an die Streiche gewöhnt, die sie ihm spielte. Der Schmerz kam und ging. Manchmal raste er wie ein Sturm durch seinen Schädel, manchmal war er wie ein schlafender Drache knapp unter der Oberfläche seines Bewusstseins.
Es gab keine medizinische Literatur über die Nebenwirkungen einer Kugel vom Kaliber.22. Da die allermeisten Menschen es nicht überlebten, wenn sie aus nächster Nähe getroffen wurden, gab es verständlicherweise nicht viele Berichte darüber. Die Ärzte hatten meistens nur eine Antwort parat, wenn Vince ihnen von seinen Symptomen berichtete: hm.
Eine der angenehmeren Nebenwirkungen war eine sich hin und wieder einstellende plötzliche Sinnesschärfung. Dann erschienen ihm die Farben so satt, das Licht so grell, und er sah so scharf, dass seine Augäpfel zu schmerzen anfingen. Manchmal hallte das leiseste Geräusch mit einer solchen Lautstärke in seinem Kopf wider, dass er sich die Ohren zuhalten musste. Dann wieder wurde – wie jetzt – sein Geruchssinn dermaßen empfindlich, dass jedes einzelne Geruchsmolekül anzuschwellen schien und er es buchstäblich schmecken konnte.
Es war nicht das Bild, das ihn überwältigt hatte. Es war der Geruch gewesen.
Wie jedes tote Lebewesen war der Leichnam von Marissa Fordham in das trostlose Stadium der Verwesung eingetreten. Die Natur war gnadenlos und kannte keinen Anstand – und sie machte niemals eine Ausnahme. Der Tod war eine nüchterne, pragmatische Angelegenheit. Sobald das Herz zu schlagen aufhörte, fuhren alle Systeme herunter, und chemische Veränderungen setzten ein, die das höchststehende Wesen in der Nahrungskette in Nahrung für andere Lebewesen umwandelten.
Das dauerte nicht lange. Besonders bei den im Moment herrschenden Temperaturen. Der Seele beraubt, werden die Augen glasig und flach, die Haut verliert an Farbe, die Körpertemperatur sinkt. Wie auf Befehl kommen die Schmeißfliegen und legen ihre Eier in Wunden und Körperöffnungen. Ein paar Stunden nach dem letzten Atemzug setzt die Leichenstarre in Kiefer und Nacken ein und breitet sich von dort nach und nach im Körper aus. Bakterien, die in den Eingeweiden wüten, bilden Gase, blähen die Leiche auf, und der Geruch wird stärker.
Es war der Geruch, der ihn überwältigt hatte.
Vince kramte ein Päckchen Pfefferminzkaugummi aus seiner Tasche, wickelte zwei Streifen aus und steckte sie in den Mund, um den Gallegeschmack loszuwerden.
Er fühlte sich schwach und schwindlig. Für beides hatte er keine Zeit. Um den Kopf wieder freizubekommen, dachte er an die Frau, mit der er seit fünf Monaten verheiratet war und die sich heute Morgen in ihrem gemeinsamen Bett die Decke über den Kopf gezogen hatte, als er sich angezogen hatte, um zu dem Tatort zu fahren. Sogleich breitete sich ein Gefühl der Ruhe in ihm aus, und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
»Willst du mit dem Nachbarn reden?«
Mendez war aus der Küchentür getreten und atmete tief ein und aus. Rund um das Haus standen Tontöpfe mit Geranien, Tagetes und Küchenkräutern. Auch Vince Leone sog noch einmal die frische Morgenluft ein.
Mendez, Mitte dreißig, hochintelligent und ehrgeizig, war ein guter Kandidat für das FBI gewesen. Als Vince Leone vor einem Jahr nach Oak Knoll gekommen war, um das Büro des Sheriffs bei den Sekundenklebermorden zu unterstützen, gehörte das mit zu seinen Zielen – Mendez für das FBI zu rekrutieren. Der begabte junge Mann hätte es ohne weiteres in die Investigative Support Unit – eine Unterabteilung der Behavioral Sciences – geschafft, er hätte nur ein paar Fortbildungsseminare besuchen und praktische Erfahrung sammeln müssen. Während seiner Zeit an der National Academy hatte er genügend Interesse und Talent bewiesen. Aber der Fall hatte den jungen Detective nicht losgelassen – genau wie Vince Leone selbst. Mendez arbeitete nach wie vor daran und half der Staatsanwaltschaft dabei, eine lückenlose Beweisführung gegen den Mann aufzubauen, der mindestens drei Frauen aus der näheren Umgebung ermordet hatte – vermutlich sogar mehr, wie Leone meinte.
»Ja, klar«, sagte Leone. »Wo ist er?«
Sie gingen zur Vorderseite des Hauses, wo Bill Hicks auf einer Holzbank saß, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, und mit dem Mann sprach, der das Verbrechen gemeldet hatte. Hicks, rote Haare, groß, schlaksig, war in seiner Freizeit Cowboy. Man übertrug ihm gerne solche Zeugenvernehmungen, weil er den Leuten mit seiner lockeren Art etwas von der Spannung nahm, die sich unweigerlich einstellte, sobald die Polizei anrückte.
Hicks sah auf und lächelte. »Hallo, Vince. Freut mich, Sie zu sehen. Wie bekommt Ihnen das Eheleben?«
Vince setzte sich auf einen alten Metallstuhl. »Phantastisch. Und wie geht es Ihnen, Bill?«
»Kein Grund zur Klage.« Hicks blickte zu dem Nachbarn. »Darf ich vorstellen? Das ist Mr Zahn. Er hat heute Morgen diese grausame Entdeckung machen müssen.«
Vince streckte dem Mann, der neben Hicks auf der Bank saß, die Hand hin. Zahn starrte sie einen Moment lang an, dann blickte er auf. Sein Gesicht war seltsam ausdruckslos.
»Entschuldigung«, sagte er mit atemloser, leiser Stimme. Er faltete die Hände im Schoß, fing dann aber sofort wieder an, sie zu kneten. »Ich gebe niemandem die Hand. Ich … Ich … Ich habe ein Problem damit. Entschuldigung.«
Zahn war vollständig ergraut, obwohl er vermutlich erst Ende dreißig, Anfang vierzig war. Wie eine feine Wolke standen ihm die Haare vom Kopf ab. Er hatte ein kantiges, schmales Gesicht, seine großen Augen waren von einem hellen, durchscheinenden Grün und wirkten nach innen gewandt, so als würde er in seinem Inneren mit einer schrecklichen Erinnerung konfrontiert.
»Mein Beileid«, sagte Vince ruhig. »Ich nehme an, Miss Fordham war eine Freundin von Ihnen, nachdem Sie bereits zu dieser frühen Stunde bei ihr vorbeigeschaut haben.«
»Ja«, sagte Zahn. »Marissa und ich waren Freunde.«
»Warum eigentlich so früh?«, fragte Mendez. Er stand gegen einen Pfosten gelehnt da, die Arme vor der Brust verschränkt.
Zu forsch, dachte Vince. Es fehlte seinem Protégé noch an Einfühlungsvermögen. Zahn war ohnehin schon nervös. Bei dem Tonfall des Detective zuckte er zusammen.
»Daran ist nichts Schlimmes«, sagte Zahn. »Marissa steht immer so früh auf. Sie mag das Morgenlicht.«
»Waren Sie schon lange miteinander befreundet?«, fragte Vince.
»Seit sie hier lebte. Und seit ich hier lebe. Vier Jahre vielleicht«, sagte er in fragendem Ton, als wüsste Vince Leone besser darüber Bescheid.
»Vielleicht können Sie uns ja weiterhelfen, Mr Zahn«, sagte Leone. »Was können Sie uns über Miss Fordham erzählen? War sie verheiratet? Geschieden?«
»Single. Sie war Single.«
»Was ist mit ihrer kleinen Tochter?«
»Haley. Bitte sagen Sie mir nicht, dass Haley tot ist«, sagte Zahn mit flehender Stimme. »Wenn Haley verletzt oder tot wäre, würde ich das nicht ertragen.«
»Man hat sie ins Krankenhaus gebracht«, beruhigte Vince Leone ihn. »Sie lebt.«
»Oh Gott. Danke.«
»Was ist mit Haleys Vater? Wohnt er auch in der Nähe?«
»Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wer er ist. Marissa war sehr diskret.«
»Wissen Sie, ob irgendwelche Verwandten von ihr hier in der Gegend leben?«
»Nein.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie hatten nichts mehr miteinander zu tun. Sie sprach nie von ihnen.«
»Wissen Sie, woher sie stammte?«
»Von der Ostküste, glaube ich. Gewiss aus einer guten Familie.«
»Mr Zahn …«
»Nennen Sie mich Zander, bitte. Von Alexander. So nennen mich alle von klein auf. Bitte nennen Sie mich Zander.«
»In Ordnung, Zander. Ich heiße Vince. Das ist Tony«, sagte Leone und deutete mit dem Daumen auf Mendez. »Bill kennen Sie ja schon.«
»Vince und Tony«, murmelte Zahn und knetete seine Hände. »Vince und Tony.«
»Wissen Sie, ob Miss Fordham Streit mit jemandem hatte?«, fragte Mendez. »Ist sie in letzter Zeit belästigt oder bedroht worden? Hatte sie Angst vor jemandem?«
»Marissa hatte niemals Angst. Angst war ihr völlig fremd. Sie war dem Leben zugewandt. Immer. Ich kenne niemanden, der couragierter war als sie.«
Zahns Gesicht fing an, wie von innen zu leuchten, wenn er von der Toten sprach, so als habe er einen Engel gesehen.
»Gibt es jemanden, der eine Bedrohung für sie dargestellt haben könnte?«, fragte Mendez.
»Alle, die ihre Kunst verunglimpft haben«, sagte Zahn ernst, »stellten eine Bedrohung für ihre Kreativität dar.«
»Ich meinte eher eine körperliche Bedrohung«, verbesserte sich Mendez.
Für dieses geduldige Nachhaken bekam er einen Punkt, dachte Vince. Zahn schien Schwierigkeiten zu haben, eine Frage direkt zu beantworten. Der Mann war sozial inkompetent, sprach gestelzt, wiederholte sich. Er schien Blickkontakt zu vermeiden, und wenn er ihn denn herstellte, starrte er sein Gegenüber an. An sich wäre er ein interessantes Studienobjekt, wenn sie nicht jetzt zu Beginn ihrer Ermittlungen schnelle Antworten bräuchten.
Zahn blickte auf seine Schuhe. »Nein«, antwortete er, aber Vince hatte den Eindruck, dass er etwas anderes meinte.
»War Marissa Künstlerin?«, fragte Vince.
»Aber ja. Kennen Sie sie denn nicht? Sie war ziemlich bekannt. Es erstaunt mich, dass Sie noch nie von ihr gehört haben.«
»Ich lebe noch nicht lange hier«, erwiderte Vince.
Zahn nickte. »Ziemlich bekannt. Das war sie.«
»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt, Zander?«
Er schien über seine Antwort nachzudenken, bevor er sagte: »Ich bin Künstler wie Marissa. Mein Leben ist meine Kunst.«
»Sie mögen wie sie den Morgen, nicht wahr?«, fragte Vince mit einem vertraulichen Lächeln.
»Ja. Ich meditiere dann. Ich meditiere sehr früh. Und danach gehe ich zu Marissa und Haley. Wir trinken einen Mimosa. Haley natürlich nicht«, fügte er schnell hinzu. »Marissa ist eine sehr gute Mutter.«
»Aber heute Morgen gab es keinen Mimosa«, sagte Vince. »Erzählen Sie doch mal, wie das heute Morgen war, Zander. Was Sie sahen, als Sie herkamen, und was Ihnen unterwegs aufgefallen ist.«
»Erzählen …«, sagte Zahn und schien in den Tiefen seines labyrinthischen Verstands darüber nachzudenken. Die Vorstellung gefiel ihm. »Ich meditierte bis 5 Uhr 23, und dann brach ich auf.«
»Wo wohnen Sie?«, fragte Mendez.
»Auf der anderen Seite des Hügels. An der Dyer Canyon Road.«
»Das ist ein langer Spaziergang.«
»Ich gehe gerne spazieren.«
»Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt, als Sie sich dem Haus näherten?«, fragte Mendez.
»Nein, nichts. Es war noch ziemlich dunkel.«
»Was haben Sie getan, als Sie hier eintrafen?«
»Ich bin zur Küchentür gegangen. Sie stand wie immer offen. Ich rief nach Marissa. Die Kaffeemaschine lief nicht. Ich roch keinen Kaffee, aber dafür roch ich etwas anderes … Und dann sah ich sie.«
Zahn erhob sich so unvermittelt, dass alle zusammenzuckten.
»Jetzt bin ich mit Erzählen fertig. Das andere kann ich nicht erzählen«, sagte er aufgeregt und rieb sich mit den Händen über die Oberschenkel, so als versuche er, irgendeinen Schmutz wegzuwischen. »Ich gehe jetzt. Ich muss gehen. Das ist sehr verstörend. Das alles regt mich sehr auf.«
Vince erhob sich und streckte Zahn eine Hand hin, als wollte er ihn stützen, achtete aber darauf, ihn nicht zu berühren.
»Das ist völlig in Ordnung. Sie haben einen Schock erlitten«, sagte er ruhig. »Einer meiner Kollegen wird Sie nach Hause fahren. Wir reden ein andermal weiter.«
»Das alles regt mich sehr auf«, sagte Zahn. »Ich würde lieber zu Fuß gehen, danke. Auf Wiedersehen.«
Sie sahen ihm nach, wie er den Garten durchquerte, um zu dem Weg zu gelangen, der ihn nach Hause führte. Er ging sehr schnell, die Arme steif an den Körper gepresst, als wären sie festgebunden.
»Das alles regt ihn sehr auf«, sagte Vince.
Mendez verdrehte die Augen. »Ja, mich auch.«
»Wie geht es dir heute, Dennis?«
»Ich hasse diesen Scheißladen. Die sind alle furzblöd hier.«
Anne reagierte nicht auf die Obszönitäten, mit denen er sie nur provozieren wollte. Dennis Farman war ein schwer gestörtes Kind. Er starrte sie an, als sie sich ihm gegenüber an den Tisch im Besucherzimmer setzte. Mit dem Schopf hellroter Haare und den ein wenig zu niedrig sitzenden Ohren sah er irgendwie merkwürdig aus. Je nach Stimmung war in seinen kleinen blauen Augen nichts als Wut oder Leere zu sehen. Dazwischen gab es kaum etwas.
Er war jetzt zwölf. Anne hatte ihn 1985 zu Schuljahresanfang kennengelernt, als sie die fünfte Klasse der Grundschule in Oak Knoll übernommen hatte.
Vom ersten Tag an hatte sie gewusst, dass Dennis Probleme machen würde. Seine Lehrerin von der vierten Klasse hatte sie vorgewarnt. Dennis hatte die dritte wiederholt und war daher größer als die anderen Jungs in der Klasse und wirkte einschüchternd – wobei er nicht nur so wirkte. Allerdings hatte sie damals keine Ahnung gehabt, wie gestört Dennis Farman tatsächlich war.
»Hasst du heute eine bestimmte Person?«
Er reckte das Kinn vor. »Ja, Sie.«
»Warum hasst du mich?«, fragte sie ruhig. »Ich bin die Einzige, die dich besuchen kommt.«
»Sie können wieder gehen. Ich nicht«, sagte er und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich muss bei diesen Scheißspinnern bleiben.«
»Das tut mir leid.«
»Warum?«, fragte er barsch. »Sie glauben doch, dass ich auch spinne.«
»Das habe ich nie gesagt.«
Anne hielt sich nicht für naiv. Sie wusste, dass nicht alle Kinder in idealen Verhältnissen aufwuchsen. Aber niemand hatte auch nur geahnt, wie schrecklich Dennis’ Leben gewesen war. Man hatte ihn körperlich und seelisch schwer misshandelt, und vor einem Jahr war er durch den Mord an seiner Mutter und den Selbstmord seines Vaters, eines Deputy aus dem Büro des Sheriffs, zur Waise geworden.
Wenige Stunden vor dem Selbstmord seines Vaters hatte Dennis einen Klassenkameraden mit einem Messer niedergestochen, einen kleinen Jungen, der sein einziger Freund gewesen war. Cody Roache hatte sich wieder erholt. Es blieb abzuwarten, ob Dennis sich jemals so weit erholen würde, dass er ein halbwegs normales Leben führen konnte.
Vince glaubte das nicht. Seiner Erfahrung nach konnte man Kindern, die so kaputt waren wie Dennis, nicht mehr helfen. Anne hoffte, dass er unrecht hatte.
Vielleicht war sie doch ein bisschen naiv.
Sie sagte lieber hoffnungsvoll dazu.
Übergangsweise hatte man Dennis in das psychiatrische Bezirkskrankenhaus eingewiesen. Das war zum Teil ihre Schuld, dachte Anne. Sie war diejenige gewesen, die ihn vor einer Jugendstrafe zu bewahren versuchte, indem sie ins Feld führte, dass er krank sei und Hilfe brauche.
Unter anderem wegen Dennis Farman hatte sie ihre Stelle an der Schule aufgegeben, um ihren Abschluss in Kinderpsychologie nachzuholen. Seinetwegen hatte sie einen Lehrgang besucht, um sich vom Gericht als Verfahrenspflegerin für Kinder bestellen lassen zu können. Er brauchte einen Fürsprecher und jemanden, der ihm erklärte, was mit ihm passierte.
Mochte er auch gestört sein, mochte er auch schuldig sein, er war in erster Linie ein kleiner Junge, der niemanden mehr auf der Welt hatte, der sich für ihn einsetzte. Anne hatte sich dazu entschlossen, diese Aufgabe zu übernehmen.
Nicht, dass sie diese Aufgabe unbedingt gewollt hätte. Nicht, dass sie Dennis Farman mochte. Man konnte ihn nicht mögen. Das Verbrechen, das er begangen hatte, war schrecklich und grausam. Sie konnte nur einfach nicht dabei zusehen, wie man ein Kind für alle Zeiten abschrieb.
Vince war nicht gerade glücklich darüber. Er machte sich Sorgen, dass die Aussichtslosigkeit des Unterfangens sie irgendwann frustrieren würde oder es ihr das Herz brach. Da ihr Mann einer der weltweit führenden Experten war, was das Denken und die Motivation von Verbrechern anging, Anne dagegen nur dieses eine wütende Kind kannte, hatte sie ihm wenig entgegenzusetzen.
Es bestand kein Zweifel daran, dass Dennis das typische Verhalten eines Soziopathen zeigte, der nicht imstande war, Empathie für andere zu empfinden. Er war voller Wut über sein Schicksal. Anne vermutete, dass er Cody angegriffen hatte, damit ein anderer unter ebenso großen Schmerzen litt wie er selbst. Und um das Bild von ihm noch verworrener und komplizierter zu machen, wurde Dennis schon seit langem von finsteren, sexuell gefärbten Phantasien heimgesucht – was bei einem so jungen Menschen besonders beunruhigend war.
»Sie denken, dass ich spinne. Das weiß ich ganz genau. Das denken alle. Alle hassen mich.«
»Ich hasse dich nicht, Dennis. Niemand hasst dich. Die Leute sind nur aufgebracht über das, was du Cody angetan hast.«
Er blickte sie finster an, dann sah er auf den Tisch und zeichnete mit seinem Daumen Figuren darauf. Anne fragte sich, was ihm durch den Kopf ging. Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie die Bilder in Dennis’ Heft entdeckt hatte, Zeichnungen nackter Frauen mit Messern in der Brust. Da hatte sie das erste Mal begriffen, was die Wendung »das Blut gefriert einem in den Adern« wirklich meint.
»Er lebt doch noch«, sagte Dennis. »Was soll die Aufregung?«
»Was würdest du denken, wenn er gestorben wäre?«
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, was sie erschreckt hätte, hätte sie dieses Gespräch nicht schon öfter mit ihm geführt. »Warum hast du das getan, Dennis?«, fragte sie.
Dennis verdrehte die Augen. »Das fragen Sie mich dauernd. Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt: einfach so. Ich wollte einfach mal ausprobieren, wie das ist.«
Sie hatte ihn nie gefragt, wie es war, wenn man seinem einzigen Freund ein Messer in den Bauch rammte. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«, fragte sie.
»Warum?«, erwiderte er aufmüpfig. »Stecken Sie mich sonst ins Gefängnis? Oder in die Klapse?«
»Ich werde gar nichts tun. Aber willst du etwa die fünfte Klasse wiederholen, wenn du hier rauskommst?«
Sie hatte es freiwillig übernommen, ihn zu unterrichten. Niemand sonst hatte sich dazu bereit erklärt.
»Ich komm hier sowieso nicht mehr raus«, sagte er. »Oder ich gehe ins Gefängnis. Gefängnis ist vielleicht ganz cool.«
»Warum glaubst du das?«
»Weil da Mörder drin sind.«
Anne stützte das Kinn in die Hand und saß einen Moment schweigend da. Die Situation erinnerte sie an ein Schachspiel. Woher sollte sie wissen, ob sie den richtigen Zug machte? Sie hatte das Gefühl, der Sache nicht gewachsen zu sein.
»Findest du Mörder cool?«, fragte sie. »Warum?«
Etwas wie Begeisterung blitzte in seinen Augen auf. Annes Magen krampfte sich zusammen.
»Weil die jemanden einfach umbringen, wenn sie ihn nicht mögen«, antwortete er. »Dann müssen sie ihn nie wiedersehen.«
Was sollte sie darauf erwidern? Dass es falsch war, jemanden umzubringen? Wen würde er denn umbringen wollen? Sie versuchte, sich von ihm nicht in die Falle locken zu lassen, weil sie überzeugt war, dass er solche Dinge nur sagte, um sie zu schockieren. Was aber, wenn sie falschlag? Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Dennis hatte sich weggedreht und saß nun seitwärts auf dem Stuhl, beobachtete sie aus dem Augenwinkel.
»Ich würde Tommy Crane umbringen«, sagte er.
Anne reagierte nicht. Sie war nicht überrascht. Das hatte er schon öfter gesagt.
»Ich weiß, dass du Tommy nicht magst«, sagte sie. »Du glaubst, dass er das tollste Leben hat, aber das stimmt nicht, Dennis. Sein Vater wird ins Gefängnis gehen.«
»Stimmt. Er ist ein Mörder. Das ist echt cool.«
So wie dein Vater, lag Anne auf der Zunge. Was würde er dann machen? Wie würde er reagieren? Würde die harte Schale zerbrechen? Würde er zu weinen anfangen?
Dennis war schon immer auf Tommy Crane eifersüchtig gewesen und hatte ihn schikaniert. Nach außen hin schien Tommy in einer Bilderbuchfamilie zu leben. Sein Vater war ein angesehener Zahnarzt mit einer Praxis in der Fußgängerzone von Oak Knoll. Seine Mutter war Immobilienmaklerin. Sie wohnten in einem schönen Haus in einem schönen Viertel. Nur war Tommys Leben nicht schön gewesen.
Tommys Vater saß mittlerweile in Untersuchungshaft und wartete auf seinen Prozess. Er wurde verdächtigt, der Sekundenklebermörder zu sein, wobei man ihn bislang wegen keinem der Morde angeklagt hatte. Zunächst würde er sich wegen Körperverletzung und versuchten Mordes verantworten müssen … an Anne Navarre Leone.
»Tommy wohnt nicht mehr in Oak Knoll« war alles, was sie sagte. Sie erhob sich von dem Plastikstuhl und nahm ihre Handtasche. »Ich muss kurz raus«, sagte sie. »Wenn ich zurückkomme, möchte ich dich über deinen Rechenaufgaben sehen. Du wirst hier so lange sitzen, bis du sie gemacht hast.«
Der Junge sah zu ihr hoch und wirkte ein wenig erschrocken, weil sie plötzlich so streng war.
»Ich versuche dir zu helfen, Dennis«, sagte sie. »Aber du musst auch deinen Teil dazu beitragen.«
Anne verließ den Raum und ging den Flur hinunter, vorbei an einem Mann im Schlafanzug, der sich mit dem Feuermelder unterhielt. Sie machte am Stationszimmer nicht Halt für einen kleinen Plausch, obwohl sie die Schwestern und Pfleger mittlerweile gut kannte. Sie wollte allein sein. In ihrer Brust baute sich ein ihr mittlerweile nur allzu bekannter Druck auf. Sie konnte kaum atmen. Sie spürte wieder, wie sich die Hand um ihren Hals schloss.
Sie drückte auf den Türöffner und trat ins Freie.
Die Sonne brannte schon jetzt vom Himmel. Es würde wieder ein wunderschöner Tag werden. Anne war in Oak Knoll aufgewachsen. Sie war zum Studium nach Los Angeles gegangen, obwohl ihr Vater Professor an dem renommierten College in Oak Knoll war – vielleicht aber auch genau deswegen. Sie hatte nicht vorgehabt zurückzukehren, aber da hatte ihr das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie setzte sich auf eine der Betonbänke, die vor dem Gebäude standen, und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, als die Gefühle sie übermannten. Posttraumatische Belastungsstörung: Das kannten nicht nur Kriegsveteranen. Auch Opfer von Gewaltverbrechen litten darunter.
Erinnerungsbilder blitzten in ihr auf: Hände um ihren Hals, die sie würgten; Fäuste, die auf sie einschlugen; Füße, die sie traten, ihr die Rippen brachen, ihre Lunge zum Kollabieren brachten.
Noch ein Jahr nach der Entführung und dem Mordversuch war das erste und stärkste Gefühl, das sie überkam, wenn sie daran dachte, Angst. Ungefilterte Angst. Gefolgt von Wut – rasender Wut. Schließlich ein überwältigendes Verlustgefühl.
Ihre Therapeutin hatte gesagt, sie solle die Gefühle wie eine Woge kommen und über sich hinwegrollen lassen und sich nicht dagegen wehren. Je schneller sie die Gefühle akzeptierte, desto schneller würde sie sie loslassen können.
Das war leichter gesagt als getan. Die Angst, in dieser Woge zu ertrinken, war groß, das Gefühl des Kontrollverlustes übermächtig, die Wut über das, was sie verloren hatte, vernichtend.
Sie rang nach Atem. Ihre Brust fühlte sich an, als hätten sich Stahlbänder darum geschlossen.
»Hallo, Schönste«, hörte sie eine vertraute tiefe Stimme neben sich sagen. Eine große Hand strich über ihre Haare und blieb auf ihrer Schulter liegen. Sie lehnte sich an ihn, als er sich neben sie setzte, drehte ihm das Gesicht zu, schmiegte sich an seine Schulter.
»Sie sehen genau wie meine Frau aus«, sagte er leise und nahm sie in die Arme. »Nur ist meine Frau immer glücklich. Dafür sorge ich.«
Sie sah ihn an und brachte mühsam hervor: »Wo-woher wusstest du, dass ich dich brauche?«
Er strich mit dem Daumen eine Träne von ihrer Wange. »Ganz einfach, ich denke mir einfach, dass du mich jede Minute des Tages brauchst«, sagte er mit glänzenden dunklen Augen.
Anne schniefte und brachte ein kleines Lächeln zustande. »Womit du ja auch recht hast.«
Er beugte sich vor und gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen.
Anne war überzeugt, dass sie in den Augen von Fremden ein merkwürdiges Paar abgaben. Vince war mit seinen neunundvierzig Jahren ein weltläufiger, hartgesottener Mann, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, das Böse zu begreifen. Und Anne, neunundzwanzig, war eine ehemalige Grundschullehrerin, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Kinder zu begreifen.
Dennoch erschien ihr ihre Beziehung als die selbstverständlichste Sache der Welt. Schon als Kind war Anne ihrem Alter voraus gewesen. Sie hatte sich nie für junge Männer interessiert. Vince war reif, stark, durch und durch integer, ein Mann, der wusste, was er wollte. Ein Mann, der die zweite Chance, die ihm das Leben bot, nicht ungenutzt verstreichen lassen würde.
»Na, war das kleine Monster mal wieder schlecht drauf?«, fragte er.
»Sag jetzt nicht, dass du mich gewarnt hast.«
Vince schüttelte den Kopf. »Ich verstehe ja, dass du es versuchen willst. Klar. Es passt mir nicht, aber ich verstehe es.«
»Danke.«
»Willst du darüber reden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist immer dasselbe. Dennis sagt etwas … Ach, ich musste einfach kurz raus. Es ist gleich wieder in Ordnung.«
Er strich ihr die dunklen Haare aus dem Gesicht. »Du bist eine tapfere Frau.«
»Wenn es sein muss.«
»Es muss aber nicht sein.«
»Ich weiß«, sagte sie und wechselte schnell das Thema. »Warum hat dich Tony heute so früh angerufen?«
»Ein Mord«, sagte er und setzte auf, was Anne sein Cop-Gesicht nannte – eine undurchdringliche Miene, die nichts preisgab.
»Das weiß ich«, sagte sie mit einer Spur Ärger in der Stimme. »Schlimm?« Dumme Frage. Vince Leone wurde nicht gerufen, wenn es um eine Kneipenschlägerei ging, bei der am Schluss ein Idiot einem anderen Idioten den Schädel einschlug. Er bekam mitten in der Nacht Anrufe von Kriminalbeamten aus Budapest, FBI Agents aus New York und von Polizeibehörden auf der ganzen Welt, die seinen sachkundigen Rat zu den schrecklichsten, verzwicktesten Fällen suchten. Wenn Tony Mendez vor dem Morgengrauen anrief, war es etwas Schlimmes.
»Kennst du eine Frau namens Marissa Fordham?«
»Nein«, sagte Anne, »aber der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Sie war Künstlerin.«
Anne überlegte. »Ja, richtig. Sie hat letztes Jahr für das Thomas Center ein Plakat gestaltet. Es war toll.«
In dem Moment wurde ihr klar, dass Marissa Fordham tot war. Sie würde die Frau nie kennenlernen. Es würde von ihr keine schönen Kunstwerke mehr geben, die Geld für wohltätige Zwecke einbrachten.
»Was ist passiert?«
»Ein Nachbar hat sie in ihrem Haus gefunden. Sie und ihre Tochter. Das Mädchen ist im Mercy General.«
»Wie alt?«
»Vier.«
»Oh Gott. Was …«
Sie unterbrach sich. Wollte sie wirklich wissen, was ein krankes Schwein einem vierjährigen Kind angetan haben könnte?
»Der Tatort sah schlimm aus«, fuhr Vince fort. Er strich ihr erneut die Haare aus dem Gesicht. »Ich brauchte dich ebenso sehr wie du mich. Ich wusste, dass du hier sein würdest.«
»War es ein aus dem Ruder gelaufener Einbruch, oder glaubst du, dass der Täter sie kannte?«
Anne hätte nicht sagen können, was schlimmer war. Eine spontane Tat versetzte alle in einen Zustand der Panik. Besser, der Mörder war jemand, der es gezielt auf das Opfer abgesehen hatte. Es sei denn, dieser Jemand entpuppte sich als ein Mann wie Peter Crane. Der freundliche Nachbar als Serienmörder.
»Sieht aus, als wäre es etwas Persönliches gewesen«, sagte Vince.
Wie Peter Cranes erster Mord auch … Bis er den nächsten beging und den übernächsten.
»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus zu dem kleinen Mädchen«, sagte er. »Ich bin nur schnell hier vorbeigefahren, weil ich dich sehen wollte.«
Weil er nach ihr sehen wollte. Unter den Folgen eines Verbrechens litt nicht nur das Opfer. Was ihr passiert war, hatte auch bei Vince Spuren hinterlassen. Er war eine Stunde, nachdem sie entführt worden war, zu ihr nach Hause gefahren. Wenn er nur früher gekommen wäre. Wenn er das Rätsel nur früher gelöst hätte. Er war einer der Besten auf diesem Gebiet. Warum hatte er nicht verhindern können, dass es passierte?
All diese Gedanken quälten ihn seither. Deswegen ließ er sie kaum aus den Augen, deswegen wollte er immer wissen, wohin sie ging und wen sie traf. Er hielt es immer noch kaum aus, nicht bei ihr zu sein.
Sie hatten beide Blessuren davongetragen. Zum Glück konnten sie aufeinander zählen. Nicht alle Opfer konnten mit dem Verständnis von jemandem rechnen, der ihnen so nahestand.
Anne umarmte ihren Mann und drückte ihn einen Moment lang an sich. Vince hielt sie fest und küsste sie auf den Scheitel.
»Ich sollte wieder reingehen«, sagte sie. »Sonst fühlt sich Dennis noch mehr vernachlässigt.«
»Ich muss auch weiter.«
Keiner von beiden rührte sich.
»Was hast du danach vor?«, fragte Vince.
»Um halb zwei habe ich ein Seminar, dann muss ich zur Staatsanwältin. Später bin ich mit Franny zu einem Glas Wein im Piazza Fontana verabredet. Spätestens um halb sieben bin ich zu Hause.«
»Dann werde ich auch da sein«, sagte er. Er strich mit den Lippen über ihr Ohr. »Und nach dem Abendessen werde ich jeden Quadratzentimeter deines Körpers mit Küssen bedecken, Mrs Leone … Denk einfach daran, wenn du dich das nächste Mal ein wenig verspannt fühlst.«
Anne lächelte ihn an. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«
Er schüttelte den Kopf und grinste. »Ich schätze mal, das wirst du mir später genauer erklären müssen.«
»Versprochen.«
Vince brachte sie zum Eingang der Klinik und küsste sie zum Abschied. Anne sah ihm nach, wie er zu seinem Auto ging, dann betrat sie das Gebäude, bereit für die zweite Runde mit Dennis Farman.
Als der Leichenwagen mit der Leiche von Marissa Fordham davonfuhr, war Mendez bei seiner fünften Tasse Kaffee angelangt. Es war kurz nach zehn. Er war jetzt seit mehr als drei Stunden am Tatort.
Dixon hatte die Arbeiten hier überwacht, hatte um zusätzliche Fotos und um Videoaufnahmen von jedem Zimmer des Hauses gebeten. Es entsprach keineswegs seiner Gewohnheit, die Leitung einer Tatortermittlung zu übernehmen, aber in einem solchen Fall stand es außer Frage. Er hatte jahrelang für das Sheriff’s Department von L.A. County gearbeitet. Er hat in mehr Mordfällen ermittelt, als Mendez je erleben wollte.
Der Kampf war offenbar im Schlafzimmer des Opfers ausgebrochen. Lampen lagen auf dem Boden, und Möbel waren verschoben und umgeworfen. Schubladen der Kommode waren herausgerissen worden, der Inhalt auf den Boden gekippt.
Ein großer Blutfleck hatte sich auf der geblümten Bettwäsche ausgebreitet. Blutspritzer an der Decke ließen auf die Wucht schließen, mit welcher der Täter zugestochen hatte.
Ein Teil des Inhalts der Schubladen verdeckte das Blut auf dem Boden.
»Er ist noch mal zurückgekommen und hat nach etwas gesucht«, murmelte Dixon und wies den Deputy mit der Kamera an, eine Nahaufnahme zu machen.
»Für einen Einbruch ist da jemand ziemlich ausgerastet«, bemerkte Bill Hicks.
»Er hat sie zuerst umgebracht«, sagte Mendez. »Alles andere geschah danach. Er hat sich so viel Zeit mit dem Mord gelassen, dass es ihm vornehmlich darum gegangen sein muss.«
»Und er hat den Schmuck zurückgelassen«, sagte Dixon und deutete auf ein paar wertvoll aussehende Stücke, die verstreut auf der Kommode lagen. »Er muss nach etwas ganz Bestimmtem gesucht haben.«
»Ich frage mich, ob er es gefunden hat«, sagte Hicks.
»Keine Ahnung, aber jedenfalls hat er sich gesäubert, bevor er sich auf die Suche machte. Auf den Sachen aus den Schubladen ist kein Blut zu sehen. Das heißt, er hat sich die Hände gewaschen.«
»Ziemlich kaltblütig«, sagte Mendez. »Das kleine Mädchen liegt halb tot da, während er sich in aller Ruhe wäscht und umsieht.«
»Vielleicht hielt er sie ja für tot. Keine Augenzeugen, kein Grund, schnell abzuhauen.«
Dixon ordnete an, alles zu sichern, was in den Abflusssieben in den Badezimmern und der Küche zurückgeblieben war, vielleicht fanden sich Spuren darin, die man später einem Verdächtigen zuordnen könnte.
Mendez war überzeugt, dass eines Tages die DNA-Identifizierungsmuster sämtlicher verurteilter Verbrecher in einer riesigen Datenbank aufbewahrt werden würden. Dann müsste man nur die DNA von einem am Tatort hinterlassenen Haar, einem Hautpartikel oder dem Blut des Mörders bestimmen, und nach einem Abgleich würde die Datenbank den Namen des Täters ausspucken.
Nur leider befanden sie sich im Jahr 1986, und bis zu diesem Tag war es noch lange hin. Inzwischen würden sie Beweismittel sammeln und hoffen, dass sie sie einem Verdächtigen zuordnen konnten, wenn sie denn einen hatten.
Irgendwie hatte das Opfer es aus dem Schlafzimmer geschafft, gefolgt von einer Spur der Verwüstung: Blut, umgeworfene Möbel, zerbrochene Gegenstände.
Mendez drängte sich unwillkürlich das Bild einer heftig blutenden, um ihr Leben kämpfenden Marissa Fordham auf. Ihre Hände in Blut gebadet, als hätte sie verzweifelt versucht, den Blutstrom aus ihren Wunden zu stoppen. Ihr Herz hatte gerast. Wahrscheinlich hatte sie vor Angst keine Luft bekommen.
Wo war während dieser Zeit ihre Tochter gewesen? Hatte sie das Geschehen beobachtet? War sie von dem Lärm aufgewacht? War sie mit verschlafenen Augen aus ihrem Zimmer getappt und hatte mit angesehen, wie ihre Mutter um ihr Leben kämpfte?
Was für ein schrecklicher Anblick für ein kleines Kind.
Bei seinem letzten Anruf im Krankenhaus hatte das Mädchen noch gelebt. Würde sie als Zeugin auftreten können?
Die Telefonistin, die den Notruf entgegengenommen hatte, hatte es Dixon gemeldet. »Mein Daddy hat meiner Mommy wehgetan.« Wenn es so war, müssten sie nur den Vater des Mädchens suchen. Zander Zahn mochte seinen Namen nicht kennen, aber irgendjemand würde sicher wissen, wer er war. Solche Geheimnisse behielten Frauen nicht für sich. Marissa Fordham hatte sich bestimmt einer Freundin anvertraut. Sie mussten diese Freundin nur finden.
Der Deputy, der als Erster am Tatort gewesen war, trat durch die Küchentür und sah Mendez an. »Da ist eine Frau, die eine Verabredung mit dem Opfer hatte.«
Mendez folgte ihm nach draußen zur Eingangstür.
Die lokale Presse war gleich nach Vince am Tatort eingetroffen. Eine Stunde später war ein Fernsehübertragungswagen aus Santa Barbara dazugekommen. Schlechte Nachrichten verbreiteten sich immer schnell.
Die Deputys hatten dafür gesorgt, dass sie in respektvoller Entfernung am Anfang der Zufahrt blieben. Nur dem blauen Chrysler Minivan hatten sie erlaubt weiterzufahren. Die Frau hinter dem Lenkrad starrte Mendez an, als er näher kam.
Sara Morgan.
Er erkannte sie sofort. Die kornblumenblauen Augen, die blonde Mähne einer Meerjungfrau. Ihre Tochter Wendy war eines der vier Kinder gewesen, die die Leiche von Lisa Warwick entdeckt hatten, eines der Mordopfer in dem Fall aus dem letzten Jahr.
Sie beobachtete mit argwöhnischem Blick, wie er auf sie zuging. Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt. Vermutlich hätte sie es am liebsten wieder geschlossen, das Auto gewendet und wäre davongefahren.
»Mrs Morgan.«
Sie blieb im Auto sitzen. »Was ist los? Ist etwas passiert? Ist Marissa da? Geht es ihr gut?«
»Sind Sie mit Marissa Fordham verabredet?«, fragte er. »Worum geht es bei der Verabredung?«
»Wo ist Marissa?«, fragte sie noch einmal, verärgert und verängstigt jetzt. »Bitte beantworten Sie meine Frage, Detective.«
»Miss Fordham ist tot«, sagte er ohne Umschweife und sah, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.
»Gab es einen Unfall?«, fragte sie mit leiser Stimme, während sie mit den Händen das Lenkrad umklammerte. »Hatte sie einen Unfall?«
»Nein, Ma’am«, erwiderte Mendez.
Sara Morgan sah an ihm vorbei zum Haus und murmelte: »Oh Gott. Oh Gott.«
Tränen ließen ihre Augen riesig erscheinen.
»Es tut mir leid, Ma’am«, sagte Mendez.
»Was ist mit Haley? Wo ist sie?«
»Man hat sie ins Krankenhaus gebracht.«
»Oh Gott.« Zwei große, glänzende Tränen rollten über ihre Wangen. Sie zitterte.
»Wie gut kannten Sie Miss Fordham?«, fragte Mendez. »Waren Sie befreundet?«
»Ich glaube das nicht«, murmelte sie, ohne die Augen von dem Haus zu wenden.
»Der Deputy sagte, Sie hätten eine Verabredung gehabt. Worum ging es dabei?«
»Wie bitte?« Sie zuckte zusammen, als sei ihr plötzlich bewusst geworden, dass er mit ihr sprach.
»Aus welchem Grund waren Sie mit ihr verabredet?«
»Marissa gibt – sie gab mir eine Einführung in die Seidenmalerei«, sagte sie. »Marissa ist eine wunderbare Künstlerin. War.«
»Unterrichten Sie nicht selbst Kunst?«, fragte Mendez.
Sie schüttelte den Kopf. »Nur an der Volkshochschule. Das ist nichts. Marissa … Oh Gott. Sie ist tot. Warum sollte jemand so etwas tun? Wer kann so etwas tun?«
»Wie gut kannten Sie sie?«, fragte Mendez.
Sara Morgan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Wir haben uns gut verstanden. Wir waren befreundet – oberflächlich befreundet.«
»Wissen Sie, ob sie einen Freund hatte?«
»Keine Ahnung. Darüber haben wir nicht geredet.«
»Wissen Sie etwas über den Vater des Mädchens?«
»Nein, natürlich nicht.« Die Frage schien sie zu verärgern. »Ich würde jetzt gerne fahren, Detective. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich möchte nach Hause. Das ist sehr … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Mendez überging Sara Morgans Bitte. »Ich habe in dem Haus kein Atelier gesehen. Wo hat sie gearbeitet?«
»Das Atelier befindet sich in der ehemaligen Scheune.«
»Wären Sie so nett, mich hinzuführen?«
»Es ist gleich dort hinten. Hinter dem Haus. Das finden Sie auch ohne mich«, wehrte sie ab.
»Sie könnten mir aber vielleicht sagen, ob etwas fehlt.«
»Fehlt?«, fragte sie. »Glauben Sie, dass jemand herkam, um sie auszurauben? Glauben Sie, sie wurde ermordet, weil jemand Ihre Bilder stehlen wollte?«, fragte sie, zunehmend erregt. »Das ist doch verrückt.«
»Fällt Ihnen sonst ein Grund ein, warum jemand ihren Tod hätte wollen können?«
»Natürlich nicht!«, fuhr sie ihn an und schlug wütend auf das Lenkrad. Ihre Hand war bandagiert, um drei Finger klebte Heftpflaster. »Woher soll ich das denn wissen?«
Neue Tränen rannen über ihre Wangen. Mendez hatte Mitleid mit ihr. Sie hatte gerade eine Freundin verloren. Da war es verständlich, dass sie sich aufregte. »Bitte zeigen Sie mir das Atelier«, wiederholte er.
Resigniert machte sie den Motor aus. Mendez öffnete die Fahrertür für sie.
Gemeinsam gingen sie unter den Pfefferbäumen zur Scheune. Sara Morgan trug eine Latzhose, die mit gelben und roten Farbflecken übersät war. Er konnte sie sich gut mit Farbe an den Händen, am Kinn und auf der kecken Nasenspitze vorstellen. Sie würde entzückend aussehen, dachte er. Trotz der Wärme hatte sie die Arme um ihren Leib geschlungen, als wäre ihr kalt und sie müsste ein Zittern unterdrücken.
»Was ist mit Ihren Händen passiert?«, fragte er, nachdem er bemerkt hatte, dass auch die Finger der rechten Hand mit Heftpflaster bandagiert waren.
»Ich bin gerade an einer Arbeit, die sich aus verschiedenen Materialien zusammensetzt, unter anderem Draht und Stahlgeflecht«, sagte sie. »Daran kann man sich leicht verletzen, aber ich arbeite nun mal nicht gerne mit Handschuhen.«
»Leiden für die Kunst?«
Sie gab ein Geräusch von sich, das Ungeduld oder Sarkasmus signalisieren konnte.
»Wie geht’s Wendy?«
Sie blickte auf den Boden, auf ihre ausgetretenen Turnschuhe. »Nicht so gut. Sie träumt immer noch davon, wie sie die Leiche im Park fanden und wie Dennis Farman versucht hat, sie zu verletzen. Sie vermisst Tommy. Sie versteht nicht, warum die Polizei nicht nach ihm sucht.«
»Das tun wir«, sagte er. »Wenigstens versuchen wir es. Wir haben nur keine Ahnung, wo wir suchen sollen. Janet Crane hat zu niemandem Kontakt aufgenommen – oder die Verwandten halten dicht. Es gibt keine Spur, die wir verfolgen könnten. Wir haben nichts, das uns weiterhelfen würde.«
»Ich glaube, ich würde mein Kind auch packen und verschwinden, wenn ich herausfände, dass mein Mann ein Serienmörder ist.«
Die große Schiebetür stand einen Meter weit offen. Ein Teil der Scheune war in einen großen Arbeitsbereich umgewandelt worden, der Rest diente als eine Art Ausstellungsraum. Durch eine Fensterwand schien die Morgensonne und tauchte alles hier in goldenes Licht.
»Oh nein«, sagte Sara Morgan, als sie eintraten. »Nein, nein, nein …«
Wahrscheinlich war es einmal ein schöner Raum mit wunderbaren Kunstwerken gewesen – die jetzt alle zerfetzt, zerrissen, zerschnitten, verwüstet waren. Bilder, Skulpturen – alles nur noch ein Haufen Trümmer, Ergebnis der Raserei eines Mörders.
Sara bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und fing an zu weinen. Sie betrauerte nicht nur den Verlust einer Freundin, sondern auch den Verlust alles Schönen, das Marissa Fordham in ihrer Kunst zum Ausdruck gebracht hatte. Sie machte ein paar Schritte in die Scheune, vorsichtig, um auf nichts zu treten, ging in die Hocke und streckte die Hand nach einem kleinen impressionistisch anmutenden Gemälde aus, das praktisch in zwei Teile zerfetzt war. Ein kleines dunkelhaariges Mädchen in einem Feld mit gelben Blumen.
Mendez berührte sie sanft an der Schulter. »Ma’am, bitte fassen Sie nichts an. Das hier scheint auch ein Tatort zu sein.«
»Ich verstehe nicht, warum jemand so etwas tut«, sagte Sara Morgan leise. Sie klang niedergeschlagen, erschöpft.
Mendez führte sie von der Scheune weg, als die Tatortermittler mit ihrer Arbeit begannen. Noch mehr Fotos mussten gemacht, noch mehr Fingerabdrücke gesammelt werden. Sie ging zu einer verwitterten Parkbank, die unter einer Eiche stand, und blieb davor stehen.
»Können wir uns setzen?«, fragte sie. »Oder gehört das auch zum Tatort?«
»Nein, Sie können sich ruhig setzen.«
Zwischen dem Gemetzel im Haus und dem Gemetzel in der Scheune wirkte die Bank unter dem Baum wie eine kleine Oase. In einem alten Waschzuber waren Fuchsien angepflanzt worden, um die herum zarte Lobelien lila blühten. Eine Fee aus Holz baumelte von einem Ast und schwang lächelnd ihren Zauberstab über dem Blütenmeer.
Sara Morgan berührte das funkelnde goldene Ende des Zauberstabs und wünschte sich zweifellos, dass dieser Tag und damit all das Grauen rückgängig gemacht werden könnte.
Dass er noch einmal neu beginnen könnte.
»Es tut mir leid, dass ich Sie mit Fragen belästigen muss«, sagte Mendez und setzte sich ans andere Ende der Bank. Er stützte die Unterarme auf die Oberschenkel. Langsam ließ die Wirkung des Koffeins nach, und er spürte, wie sehr ihn die letzten Stunden ausgelaugt hatten.
Sara Morgan sagte nichts. Sie saß da und schaute auf ihre bandagierten Hände in ihrem Schoß. Ein wenig Blut war durch den Verband gesickert.
»Können Sie mir sagen, mit wem sie befreundet war?«, fragte er. »Leute, mit denen wir sprechen sollten?«
»Die Acorn Gallery verkauft einen großen Teil ihrer Arbeiten. Die Leute dort müssten sie gut kennen.« Sie schaute noch immer auf ihre Handflächen, so als sähe sie darin Bilder von Marissa Fordham und den Menschen, die sie kannte.
»Da ist dieser merkwürdige Nachbar«, sagte sie. »Er ist echt unheimlich. Ein paarmal ist er aufgetaucht, wenn ich einen Termin bei Marissa hatte. Sie begrüßte ihn, und er stand herum und beobachtete sie. Gesagt hat er nie besonders viel. Er stand nur eine Weile da, und dann ging er wieder.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass Miss Fordham Angst vor ihm hatte?«
»Nein. Ich hatte Angst vor ihm«, bekannte sie. »Das ist doch seltsam – finden Sie nicht? Dass er nur … nur … dastand wie, ich weiß nicht, wie ein Perverser oder so.«
»Aber Marissa störte es nicht?«
»Nein. Wenn ich deswegen etwas sagte, zuckte sie nur mit den Schultern. ›Das ist doch bloß Zander‹, meinte sie dann. ›Der ist harmlos, nur ein bisschen komisch.‹ Dann sagte sie meistens noch, er sei ein Freund.« Sara Morgan sah ihn forschend an, so als suchte sie in seinem Gesicht nach einer Antwort. »Vielleicht ist er ja gar nicht so harmlos?«
»Wir haben bereits mit Mr Zahn gesprochen«, sagte er.
Sie richtete sich auf. »Und? Fanden Sie ihn nicht auch seltsam?«
»Kennen Sie noch andere Freunde von ihr?«
»Das geht mir wirklich auf die Nerven«, fuhr sie ihn an und schob sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. »Nie antworten Sie auf eine Frage.«
Er nickte mit einem verlegenen Lächeln, das seinen Schnurrbart auf einer Seite in die Höhe hob. »Berufskrankheit. Tut mir leid.«
Sara Morgan seufzte. »Sie hatte mit Jane Thomas zu tun, als sie das Plakat für das Frauenhaus entworfen hat. Gina Kemmer. Gina ist die Besitzerin von Girl – das ist eine Boutique auf der Via Verde, um die Ecke vom College. Ich kenne sie eigentlich kaum, aber ich habe die beiden oft zusammen gesehen. Und sie hat einen Mäzen – besser gesagt, eine Mäzenin. Milo Bordain. Bruce Bordains Frau.«
Mendez schrieb die Namen in sein Notizbuch. Bruce Bordain, der Parkplatz-König von Südkalifornien, war nicht nur in Oak Knoll eine große Nummer, sondern überall nördlich von Los Angeles. Den Grundstock für sein Vermögen hatte er mit dem Erwerb und Betrieb von Parkplätzen gelegt, dann hatte er expandiert und war in den extrem kostspieligen Bau von Parkhäusern eingestiegen. Aus reinem Vergnügen hatte er einige Luxusautohäuser eröffnet und saß im Hochschulrat des McAster College und des Mercy General und wahrscheinlich noch einiger anderer Institutionen. Seine Frau war eine bekannte Kunstmäzenin und wirkte bei der Organisation des prestigeträchtigen Musikfestivals mit, das jedes Jahr im Sommer in Oak Knoll stattfand und bekannte Musiker aus der ganzen Welt anlockte.
»Von einem Freund wissen Sie nichts?«, fragte Mendez. »Oder einem Exfreund? Einem Liebhaber?«
Sara Morgan starrte auf den Blutfleck an ihrem Verband, der langsam größer wurde. »Nein.«
»Einen muss es mal gegeben haben«, er ließ nicht locker.
»Sie hat ein Kind. Hat sie nie über den Vater des Kindes gesprochen?«
»Nein, zumindest nicht mit mir.«
»Und Sie haben auch nicht gefragt?«
»Das ging mich nichts an. Ich quetsche die Leute grundsätzlich nicht über ihr Privatleben aus«, sagte sie. »Darf ich jetzt gehen?«
»Können Sie fahren?«, fragte er. »Ich kann einen Deputy bitten, Sie nach Hause zu bringen oder Ihnen wenigstens mit dem Auto zu folgen.«
»Nein«, sagte sie und stand auf. »Nehmen Sie es nicht persönlich, Detective Mendez, aber ich hatte schon mehr als genug mit der Polizei zu tun.«
Er begleitete sie nicht zu ihrem Auto, sah ihr nur den ganzen Weg hinterher.
»Die Kleine hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt«, erklärte Vince, als er sich einen Stuhl im Besprechungsraum suchte, wo die anderen schon Kriegsrat hielten.
In diesem Raum rief Cal Dixon seine sechs Detectives immer dann zusammen, wenn es galt, das Vorgehen bei einem großen Fall festzulegen. Im letzten Jahr hatten sie viel Zeit hier verbracht. Die Wände und Tafeln waren noch immer mit den Fotos und Informationen zu den Serienmorden gepflastert, mit deren Hilfe demnächst die Vorbereitungen für den Prozess gegen Peter Crane abgeschlossen werden konnten.
»Als sie eingeliefert wurde, litt sie unter starker Dehydrierung und Unterkühlung«, fuhr Vince fort. »Sie wurde gewürgt – zumindest partiell.«
»Was meinen Sie mit partiell?«, fragte Dixon und rückte ein paar Papiere am Kopfende des Tischs zurecht.
»Das Mädchen ist sehr klein. Jeder Erwachsene hätte ihr spielend den Kehlkopf brechen können. Aber das ist nicht passiert. Sie hat darüber hinaus Verletzungen an der Innenseite der Lippen, wo sich ihre Zähne ins Fleisch gebohrt haben, was auf ein Ersticken hindeutet. Gut möglich, dass unser Täter sie zuerst erwürgen wollte, es dann aber nicht fertiggebracht hat und ihr stattdessen ein Kissen oder etwas Ähnliches aufs Gesicht gepresst hat. Zum Glück dachte er, er hätte sein Ziel erreicht.«
»Was für ein krankes Schwein«, brummte Dixon, und sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich bin froh, dass Sie uns bei den Ermittlungen helfen, Vince. Ich werde heute Nachmittag mit der Verwaltung sprechen, um zu sehen, ob ein Beraterhonorar für Sie drin ist.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Cal. Ich komme gut zurecht. Was ich mit meiner sonstigen Beratertätigkeit verdiene, lässt mein Gehalt vom FBI wie einen Hilfsarbeiterlohn aussehen. Ich brauche kein Geld von Ihnen. Ihr Büro steht auf meiner Prioritätenliste immer ganz oben.«