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Die Vergangheit ruht nicht.
Vier Jahre nach dem ungeklärten Verschwinden ihrer älteren Tochter zieht Lauren Lawton mit ihrer jüngeren Tochter ins entlegene und idyllische Oak Knoll. Doch auch dort verfolgen sie die Geister ihrer Vergangenheit. Je näher der 16. Geburtstag von Leah rückt – deren Schwester in genau diesem Alter einst spurlos verschwand –, umso mehr hat Lauren den Verdacht, dass der Täter von einst, dem nie etwas nachgewiesen werden konnte, sie aufgespürt und nun Leah ins Visier genommen hat …
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Seitenzahl: 546
Die Vergangheit ruht nicht …
Vier Jahre nach dem ungeklärten Verschwinden ihrer älteren Tochter zieht Lauren Lawton mit ihrer jüngeren Tochter ins entlegene und idyllische Oak Knoll. Doch auch dort verfolgen sie die Geister ihrer Vergangenheit. Je näher der 16. Geburtstag von Leah rückt – deren Schwester in genau diesem Alter einst spurlos verschwand –, umso mehr hat Lauren den Verdacht, dass der Täter von einst, dem nie etwas nachgewiesen werden konnte, sie aufgespürt und nun Leah ins Visier genommen hat …
Über Tami Hoag
Tami Hoag (* 20. Januar 1959 in Cresco, Iowa) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.1988 machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf und verfasste ihr erstes Buch. Zunächste verfasste sie Liebesromane und widmetee sich später dem Schreiben von Thrillern. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Mann auf einer Pferderanch in Virginia, bevor sie nach Los Angeles, Kalifornien umzog.
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Tami Hoag
Schattennächte
Thriller
Deutsch von Andrea Stumpfund Gabriele Werbeck
Inhaltsübersicht
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Vorwort der Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Impressum
1990 war George W. Bush Präsident der Vereinigten Staaten. Es war das Jahr, in dem der Kalte Krieg endete und der Erste Golfkrieg begann. Ostdeutschland und Westdeutschland erlebten ihre Wiedervereinigung. Miss Daisy und ihr Chauffeur wurde mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet.
1990 musste man noch zwei Jahre auf das World Wide Web warten. Eine allgemein zugängliche E-Mail war Zukunftsmusik. Mark Zuckerberg, der Mitbegründer von Facebook, hatte gerade mal den Kindergarten hinter sich. Handys wurden eher als neumodische Spielerei denn als Notwendigkeit betrachtet.
Der Kriminaltechnik hatte die Genforschung einige Fortschritte gebracht, sie war aber noch Lichtjahre von den technischen Möglichkeiten entfernt, die uns heute zur Verfügung stehen. Inzwischen sind wir in der Lage, DNA im Labor zu vervielfältigen, und eine winzige Menge an genetischem Material reicht aus, um das DNA-Profil eines Täters oder eines Opfers zu erstellen. 1990 war die Analyse einer kleinen Probe mit dem Risiko verbunden, dass sie zerstört wurde, ohne dass ein Ergebnis garantiert war.
1990 fing man beim FBI gerade damit an, im Rahmen des Violent Criminal Apprehension Program (ViCAP), das ursprünglich zum Sammeln von Daten über die in verschiedenen Gerichtsbezirken begangenen Serienmorde entwickelt worden war, auch Entführungen und Sexualdelikte zu erfassen, aber noch hatten nur Mitarbeiter des FBI Zugriff darauf. Inzwischen steht ViCAP landesweit allen Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung und macht es sehr viel einfacher, eine Verbindung zwischen den einzelnen Verbrechen von Serientätern herzustellen.
Als ich vor einigen Jahren mit der Arbeit an Schwärzer als der Tod begann, hatte ich nicht vor, eine fortlaufende Serie zu schreiben, die den Entwicklungen in der Wissenschaft und der Kriminaltechnik ab 1985 folgt. Vom Wesen her eher flatterhaft, wende ich mich nach Abschluss eines Projekts für gewöhnlich sofort anderen Figuren zu. Und was meinen technischen Sachverstand anbelangt, bin ich kaum in der Lage, einen digitalen Videorekorder zu programmieren. Dennoch treten in Schattennächte die Figuren aus Oak Knoll in Kalifornien nun schon zum dritten Mal auf. Mittlerweile sind sie so etwas wie gute Freunde für mich. Freunde, die ich weiterhin besuchen möchte – zumindest, bis sie alle ein Handy haben und mir Freundschaftsanfragen auf Facebook schicken.
Es war einmal, da waren wir eine glückliche Familie. Ich hatte den perfekten Ehemann: gut aussehend, liebevoll, erfolgreich. Ich hatte die perfekten Kinder: Leslie und Leah – zwei hübsche, kluge, entzückende Mädchen. Ich hatte das perfekte Leben in einem perfekten Haus an einem perfekten Ort. Wir waren eine dieser schrecklich perfekten Familien mit identischen Initialen. Die Lawtons: Lance, Lauren, Leslie und Leah. Die Lawtons aus Santa Barbara in Kalifornien.
Bis, wie in allen Märchen, das Böse in unser Leben trat und es zerstörte.
Ich erinnere mich, dass Leslie als kleines Mädchen immerzu vorgelesen bekommen wollte. Meist fiel ihre Wahl auf ein Märchen. Schon unsere Eltern hatten uns als Kinder Märchen vorgelesen. Ich erinnerte mich an die hübschen Bilder in den Büchern und daran, dass die Märchen immer ein gutes Ende hatten. Aber was sie erzählten, war nie gut. Nur aus der Ferne betrachtet sind Märchen schön. Von Nahem sind es finstere Geschichten über Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt und Mord.
Aschenbrödel wird in ihrem eigenen Zuhause gefangen gehalten und wie eine Leibeigene behandelt, nach dem Tod ihres Vaters der körperlichen und seelischen Gewalt ihrer Stiefmutter und ihrer Stiefschwestern ausgeliefert.
Hänsel und Gretel fallen in die Hände einer Sadistin, die sie im Wald gefangen hält und füttert, um sie bei lebendigem Leib zu braten und zu verspeisen.
Rotkäppchen geht in den Wald, um ihre Großmutter zu besuchen, und entdeckt, dass die alte Frau von einem wilden Tier angefallen und bei lebendigem Leib verschlungen worden ist.
So sehen Märchen aus.
Und so sieht meine Geschichte aus.
Leslie war – ist – unsere Erstgeborene. Eigensinnig und liebenswert, gelegentlich etwas aufsässig. Sie tanzte gerne, hörte gerne Musik.
Hört gerne Musik.
Wer würde glauben, dass die Zeitform eines Verbs eine solche Tortur sein kann? Vergangenheit? Gegenwart? Für die meisten Leute hat das wenig Bedeutung, mir treibt diese Entscheidung die Tränen in die Augen, sie bringt mich an den Rand des Wahnsinns, des Selbstmords.
Leslie war. Leslie ist. Für mich ist der Unterschied buchstäblich der zwischen Leben und Tod.
Leslie ist am Leben.
Leslie war meine Tochter.
Meine Tochter wird seit dem 28. Mai 1986 vermisst. Seither sind vier Jahre vergangen. Seither hat niemand etwas von ihr gesehen oder gehört. Ich weiß nicht, ob sie lebt oder tot ist, ob sie ist oder war.
Wenn ich mich für die Vergangenheitsform entscheide, dann gestehe ich damit ein, dass ich mein Kind für immer verloren habe. Wenn ich mich für die Gegenwartsform entscheide, dann unterwerfe ich mich den endlosen Qualen der Hoffnung.
Ich lebe in einem Zwischenreich. Das ist kein schöner Ort. Ich würde alles dafür geben, wenn ich ihn verlassen und das Leichentuch von meiner Seele ziehen könnte.
Ich sehne mich nach irgendeiner Form der Reinigung, einer Form der Katharsis, einer Neutralisierung des Giftes, das nach einer leidvollen Erfahrung zurückbleibt. Die Hoffnung auf Katharsis brachte mich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben. Diese Idee – ein Gegenmittel für das Gift meiner Erinnerungen zu finden, wenn ich meine Erfahrungen der Welt mitteile – glich einer Rettungsleine, die man jemandem zuwirft, den ein stürmisches Meer wegzureißen droht.
Ich weiß allerdings, dass diese Rettungsleine niemals stark genug sein kann, um mich aus dem Strudel zu ziehen. Ich bin die Mutter eines vermissten Kindes.
Erschöpft schob Lauren die Tastatur zur Seite. Für die drei Seiten hatte sie sechs Stunden gebraucht, so als hätte sie jedes Wort einzeln aus dem schwarzen Teer ihrer Gefühle herausziehen müssen. Sie fühlte sich wie nach einem Marathonlauf, so als müsste sie den Schweiß und den Staub der Straße abduschen. Sie speicherte den Text auf einer Diskette und schaltete den Computer aus.
Vor etwas mehr als einem Monat war sie mit ihrer jüngeren Tochter Leah nach Oak Knoll gezogen. So lange hatte es gedauert, bis sie sich endlich an den Computer gesetzt hatte. Und immer noch war ein Teil von ihr in Panik geraten und hatte geschrien, es sei zu früh, sie sei noch nicht bereit. Jeder Tag ihres Lebens war ein ständiger innerer Kampf zwischen dem Bedürfnis, wieder zu leben, und der Angst davor, zwischen Selbstmitleid und Abscheu, dieses Mitleid zu brauchen.
Sie waren hierhergezogen, weil sie den Ort des Verbrechens verlassen und so eine innere und äußere Distanz dazu gewinnen wollte. Mit der Distanz würde vielleicht eine Perspektive auf die Zukunft verbunden sein. Dasselbe galt für ihr Schreiben über das Geschehen: Dass ihr das Erzählen ihrer Geschichte zu einer Perspektive verhelfen würde, und wenn schon nicht zu Frieden, dann wenigstens zu einer Art von – was? Ruhe? Gelassenheit? Ergebenheit? Keines dieser Worte passte so recht. Sie schienen alle zu viel zu versprechen.
Bump und Sissy Bristol – alte Freunde aus Santa Barbara – waren begeistert gewesen von ihren Plänen, sowohl was das Buch betraf als auch über den Ortswechsel, und hatten ihr ihren Zweitwohnsitz in Oak Knoll als Bleibe angeboten.
Die Bristols waren die Pateneltern ihrer Töchter und für Lance und Lauren so etwas wie ältere Geschwister. Bump spielte Jahr für Jahr den Weihnachtsmann für die Mädchen und war der Kotrainer ihrer Sportmannschaften. Sissy war die Modefee der Mädchen und ging mit dem größten Vergnügen mit ihnen zum Shoppen oder spendierte ihnen Besuche im Nagelstudio.
Bump hieß eigentlich Bob. Seinen Spitznamen hatte er seiner aggressiven Spielweise auf dem Polofeld zu verdanken – dort hatte er sich auch vor Jahrzehnten mit Lance angefreundet, trotz der zwölf Jahre Altersunterschied. Später, als Lauren und Lance beide verheiratet waren, hatten sich ihre Kreise auch beruflich überschnitten. Bump war im Finanzgeschäft tätig, Lance war Architekt. Sie hatten oft dieselben Klienten gehabt. Sissy betrieb ein Antiquitätengeschäft in der Lillie Avenue in Summerland, südlich von Montecito. Lauren arbeitete freiberuflich als Inneneinrichterin.
Lance hatte den Umbau des Refugiums der Bristols in Oak Knoll geplant. Lauren hatte sie wegen ihres Zweitwohnsitzes aufgezogen, als sie Sissy bei der Inneneinrichtung half. »Ihr lebt im Paradies. Braucht man einen Rückzugsort vom Paradies?«
Santa Barbara war eine wunderschöne Stadt, ein Postkartenidyll, auf der einen Seite der Pazifische Ozean, auf der anderen eine Bergkette. Auf der Straße oder in den schicken Restaurants begegneten einem auf Schritt und Tritt Stars, die im benachbarten Montecito Villen besaßen. Im Sommer kamen Horden von Touristen. Dazu war Santa Barbara eine Stadt der Künste, der Festivals und Konzerte, sodass einem nie langweilig wurde.
Lauren hatte sich in Santa Barbara sehr wohlgefühlt. Sie und Lance hatten fast zwanzig Jahre dort gewohnt – ihr gesamtes Eheleben. Lance war dort aufgewachsen. Ihre beiden Töchter waren dort auf die Welt gekommen. Die Lawsons hatten dort als feste Größen im gesellschaftlichen Leben Ehrenämter in den Schulen übernommen.
Dort war Leslie entführt worden.
Zwei Jahre später war Lance auf einer Passstraße nördlich von Santa Barbara ums Leben gekommen.
Lauren konnte nicht mal im Supermarkt einkaufen, ohne angestarrt zu werden, ohne dass getuschelt wurde. Sie hatte sich immer wieder in den Lokalnachrichten und in den Zeitungen zu Wort gemeldet, damit der Fall ihrer vermissten Tochter nicht in Vergessenheit geriet. Jeder Ladenbesitzer in der Stadt kannte sie, weil sie ständig mit einem neuen Anschlagzettel ankam.
VERMISST.
ENTFÜHRT.
WER HAT DIESES MÄDCHEN GESEHEN?
Die Leute waren ihr aus dem Weg gegangen, zuerst weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten, dann weil sie nicht wussten, wie sie sie wieder loswurden. Im Laufe der Jahre waren sie ihrer überdrüssig geworden, wollten nichts mehr von dem Fall hören. Sie ertrugen das damit verbundene Mitleid oder die Schuldgefühle nicht mehr. Die Ratschläge, um die sie nie gebeten hatte, hatten sich von »lass dich nicht unterkriegen« zu »Zeit, wieder nach vorn zu schauen« gewandelt.
Selbst ihre besten Freunde hatten ihr dazu geraten. »Es ist schon so lange her, Lauren. Leslie kommt nicht zurück. Du musst loslassen.«
Die hatten gut reden, denn Leslie war nicht ihre Tochter.
Sissy und Bump hatten mehr Mitgefühl bewiesen. Sie hatten ihr das Haus in Oak Knoll angeboten und sie ermutigt, Santa Barbara für eine Weile zu verlassen. Aber vielleicht hatten auch die beiden sie nur loswerden wollen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Welches Motiv sie auch gehabt haben mochten, Lauren war ihnen dankbar.
Das Haus stand am Ende einer Sackgasse, die wie ein Finger aus der Stadt ragte und zu den roten Hügeln im Westen wies. Eine ruhige, bunt gemischte Gegend. Die meisten Häuser in der Nachbarschaft waren schon älter und standen versteckt hinter wuchernden Bougainvilleen und Oleanderbüschen. Die Bewohner kümmerten sich um ihren eigenen Kram. Einer der Gründe, warum die Leute hier wohnten, war, dass keiner seine Nase in fremde Angelegenheiten steckte.
In dem Bungalow zwei Häuser links von ihnen lebte ein Bildhauer. Gegenüber züchtete ein älteres Hippie-Paar Gemüse im Garten, in dem auf einer Leine gebatikte T-Shirts hingen. Laurens unmittelbarer Nachbar war ein pensionierter Lehrer vom McAster College und hörte gerne bei weit geöffneten Fenstern Kammermusik, die in der kühlen Abendbrise über die Straße wehte.
Das letzte Haus war das der Bristols, ein Ort der Stille und Ruhe. Hinter dem Haus fiel eine Wiese zu einem von Bäumen gesäumten Flussbett ab, und dahinter sah man den zerklüfteten Höhenzug, hinter dem die Weinberge von Santa Barbara und die Küste lagen. Manchmal kamen Lauren die Berge wie ein Wall vor, der die Erinnerungen an die letzten paar Jahre von ihr fernhielt.
Zumindest wünschte sie sich das.
Da sie nicht mehr denken mochte, verließ sie ihr Arbeitszimmer im ersten Stock und ging in ihr Badezimmer, um zu duschen.
Bump und Sissy hatten bei der Renovierung des Hauses nicht gespart. Im Grunde war von dem ursprünglichen Gebäude kaum etwas übrig geblieben, so viele Umbauten waren durchgeführt worden.
Lance hatte die langweilige weiße Schuhschachtel in die exzentrische kalifornische Version eines Hauses, wie man es überall in Neuengland sah, verwandelt. Dank der Anbauten und Erweiterungen hatte man den Eindruck, es wäre im Laufe der Zeit so gewachsen. Während der Ferien und an Feiertagen schliefen in den vier Schlafzimmern in der einen Hälfte des Hauses die erwachsenen Kinder und Enkel der Bristols. Im Esszimmer stand ein riesiger alter Tisch, an dem ein Dutzend Leute Platz hatten.
Ein Zimmer folgte aufs nächste, und jedes quoll fast über von den Schätzen, die Sissy und Lauren auf Flohmärkten und in Trödelläden aufgestöbert hatten. Die alten, dunkel gebeizten Bodendielen hatten sie von der Ostküste kommen lassen. Die alten Kamine im Wohnzimmer und im Salon waren aus Natursteinen, die womöglich aus dem Fluss hinter dem Garten stammten.
Das Badezimmer des Elternschlafzimmers bildete einen schönen Kontrast zu der rustikalen Einrichtung: weißer Carrara-Marmor mit weiß gestrichenen Schränken und blassblauen Wänden. Lauren und Sissy hatten keine Mühen gescheut, um den Raum in ein Refugium zu verwandeln, in dem man es sich, mit einem Glas Wein und einem Buch, in der Badewanne gemütlich machen konnte.
Doch dazu war Lauren im Moment viel zu angespannt. Wenn sie so früh am Tag zu trinken begann, würde sie es nicht mehr in den Supermarkt schaffen, um etwas zum Abendessen einzukaufen. Seit Jahren schon hatte sie kein Buch mehr zum Vergnügen gelesen. Allein der Gedanke, sich ein Vergnügen zu gönnen, verursachte ihr Schuldgefühle.
Schnell duschte sie und vermied jeden Blick in den Spiegel. Früher war sie schlank und durchtrainiert gewesen. Jetzt war sie dermaßen dünn, dass sie jede einzelne Rippe unter den Fingerspitzen spürte, wie ein Blinder, der Brailleschrift las. Dennoch brachte sie es nicht über sich, mehr zu essen. Bei dem Gedanken an eine richtige Mahlzeit wurde ihr schlecht. Sie lebte von Müsliriegeln und Energydrinks. Nach der Dusche schlüpfte sie rasch in ihren Bademantel und knöpfte ihn bis unters Kinn zu.
Mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie im besten Alter. Aber das Gesicht, das sie aus dem Spiegel anblickte, wirkte um vieles älter. Ihre Haut war bleich, und um ihren Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. Das einstmals schwarze Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Sie kämmte sich und überlegte einen Moment lang, ob sie es färben sollte. Sofort verwarf sie den Gedanken wieder.
Sie verdiente es nicht, gut auszusehen. Sie verdiente es nicht, Zeit für sich zu haben. Sie hatte jede einzelne ihrer grauen Strähnen verdient. Sie trug sie mit einem gewissen abartigen Stolz.
Bevor Leslie verschwunden war, war Lauren nicht weniger eitel gewesen als die meisten Frauen ihres Alters. Sie war gerne durch die Geschäfte gezogen und hatte nur die neueste Mode getragen. Jetzt zog sie Jeans an und ein schwarzes T-Shirt, das ihr viel zu weit war, band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und verließ das Haus mit einer großen Sonnenbrille vor den ungeschminkten Augen.
Oak Knoll war mit seinen dreißigtausend Einwohnern das, was Lauren als »Schmuckstädtchen« bezeichnete. Pittoresk, charmant, wohlhabend. Nicht zu groß und nicht zu klein. In der Stadtmitte befand sich eine von Eichen gesäumte Fußgängerzone, in der sich auf beiden Seiten Cafés, Buchhandlungen, Galerien und Restaurants aneinanderreihten. Im Süden und Westen lagen hübsche alte Wohnviertel und das College.
Sissy Bristol hatte in den Sechzigerjahren ihren Abschluss am McAster gemacht. Das McAster war eines der exklusivsten Privatcolleges des Landes und besonders für seinen Fachbereich Musik bekannt. Genau diese Mischung aus akademischem und künstlerischem Leben hatte für sie den Ausschlag gegeben, sich für Oak Knoll zu entscheiden, als sie und Bump nach einem Domizil fernab des städtischen Getriebes gesucht hatten.
Etwa eine Fahrtstunde landeinwärts von Santa Barbara und anderthalb Stunden nordwestlich von Los Angeles gelegen, zog Oak Knoll aus den nördlichen Vororten wohlhabende Bildungsbürger im Ruhestand und junge Berufstätige mit Familie an, die an einem ruhigen, sicheren Ort wohnen wollten.
So kam es, dass die Wirtschaft in Oak Knoll florierte, die Infrastruktur und die Schulen in einem ausgezeichneten Zustand waren und unter den Bewohnern eine optimistische Stimmung herrschte.
Selbst die Lebensmittelläden waren vom Feinsten. Lauren parkte auf dem frisch asphaltierten Parkplatz des neuen Supermarkts mit Klinkerfassade und getönten Schaufensterscheiben. Sie holte sich einen Einkaufswagen und schob ihn in das Geschäft, wo ein wahres Blumenmeer die Kunden empfing.
Cleveres Marketing. Zuerst einen Blumenstrauß für den hübsch gedeckten Tisch, dann eine Flasche Wein. Warum kochen? Man kann sich doch auch ein Fertiggericht aus der Feinkostabteilung holen.
Lauren gab der Versuchung gerne nach. Griechischer Nudelsalat. Pochierter Lachs mit Dill. Aus der Backwarenabteilung eine frische Apfeltarte.
Leah hatte vor Kurzem beschlossen, Vegetarierin zu werden, aber Lauren bestand darauf, dass sie wegen der Proteine wenigstens Fisch und Eier aß. Im Gegenzug hatte Leah Lauren das Versprechen abgenommen, zum Abendessen stets ein wenig Brot zu essen, weil es ihr Sorgen machte, dass ihre Mutter immer dünner wurde. Also landete auch noch ein Laib Brot im Einkaufswagen.
Sie hatten vereinbart, jeden Tag gemeinsam zu Abend zu essen und in Ruhe miteinander zu reden. Mit ihren fast sechzehn Jahren war Leah über den Umzug nach Oak Knoll nicht gerade begeistert gewesen. Sie musste alle ihre Freunde zurücklassen und war wütend, weil sie fand, dass ihre Mutter keine Rücksicht auf sie nahm.
Lauren gefiel es jedoch nicht, dass ihre jüngere Tochter in Santa Barbara nur noch als die Schwester des entführten Mädchens betrachtet wurde. Sie wäre immer das überlebende Kind der Familie mit dem tragischen Schicksal. Das arme Mädchen. Wie schrecklich. Sie würde bei allem, was sie tat und erreichte, mit einem mitleidvollen Blick betrachtet werden.
Das waren die Gedanken, Gründe und Entschuldigungen, mit denen Lauren erklärte, warum sie ihre Tochter aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen hatte und mit ihr hierhergezogen war. Dass Leah in diesem Jahr sechzehn Jahre alt wurde – dasselbe Alter, in dem Leslie entführt worden war –, war auch ein Grund, den sie aber für sich behielt.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass geisteskranke Verbrecher bestimmte Daten zelebrierten, zum Beispiel den Jahrestag eines Verbrechens. Der wichtige sechzehnte Geburtstag der Schwester des Opfers lag da doch nahe für den Mann, der Leslie entführt hatte. Darin musste ein perverser Reiz für ihn liegen.
Kannte er Leahs Geburtstag? Hatte er ihn nach der Entführung aus den Nachrichten erfahren, als die Familie im Zentrum des Medieninteresses stand? Leahs Alter war in den Zeitungen erwähnt worden. Die Journalisten füllten die Zeilen mit solchen Details.
Der in Santa Barbara ansässige Architekt Lance Lawton, 39, seine Frau Lauren, 38, die jüngere Tochter, 12 …
Natürlich hatte er die Berichte in Fernsehen und Presse verfolgt. Vier Jahre waren seit der Tat vergangen. Hatte er sie in dieser Zeit beobachtet? Lauren war überzeugt davon. Wusste er, dass sie nach Oak Knoll umgezogen waren? War er in diesem Moment vielleicht hier? In diesem Laden?
Er hatte Leslie verfolgt, ohne dass es jemand bemerkte. Er hatte sie entführt und war damit davongekommen. Er hatte die Familie nach der Entführung beobachtet. Niemand war imstande gewesen, es ihm nachzuweisen. Warum sollte er es nicht wieder tun?
Sie wussten, wer er war. Polizei, Sheriff – sie wussten mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit, dass er es war. Lauren wusste es. Sie war felsenfest überzeugt davon. Aber es gab keine Beweise. Sie hatten nichts in der Hand, nur Mutmaßungen und Ahnungen. Es war fast so, als hätte ein böser Zauberer ihre Tochter mit einer Handbewegung zum Verschwinden gebracht. Er lief frei herum, und keiner hinderte ihn daran. Lauren war diejenige, die in einem Gefängnis steckte.
Was, wenn er in ihr Leben zurückkehrte? Wenn er beschloss, sich als Nächstes Leah zu schnappen?
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, kroch ihr den Nacken hoch. Schnell drehte sie sich um.
Ein junger Verkäufer stapelte Kekspackungen zu einem Turm. Er sah sie an.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«
Lauren schluckte, fand ihre Stimme. »Nein. Danke.«
Am Ende des Gangs drehte sie sich noch einmal um und sah aus dem Augenwinkel einen Mann mit schulterlangen dunklen Haaren, der in den übernächsten Gang verschwand. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz raste. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf wie Maschinengewehrfeuer, als sie in den nächsten Gang einbog und rasch zum nächsten Quergang lief.
Ist er es?
Was soll ich tun?
Soll ich schreien?
Werden mir Leute zu Hilfe kommen?
Was soll ich sagen?
Sie bog nach links und noch mal nach links und rammte mit voller Wucht seinen Einkaufswagen.
Der Mann machte einen Satz nach hinten und rief: »Hey, können Sie nicht aufpassen!«
Lauren starrte ihn sprachlos an.
Ein schmales Gesicht und dunkle Augen unter schweren Lidern.
Nein. Nein.
Der Mann, offensichtlich mexikanischer Abstammung, war kräftig und hatte ein kantiges Kinn. Er trug einen Schnauzbart. Seine Haare waren kurz.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er und trat auf sie zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte jemand anders.
Die Stimmen schienen vom Ende eines Tunnels zu kommen.
»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich furchtbar leid.«
Auch ihre Stimme schien aus einem Tunnel zu kommen. Sie hielt sich mit feuchten Händen am Griff des Einkaufswagens fest, ihre Beine fühlten sich an wie Gummi.
»Ma’am, geht es Ihnen gut?«
Der Supermarktleiter trat zu ihr.
»Es tut mir leid«, sagte sie keuchend. Sie schwitzte und gleichzeitig fror sie. »Ich habe nicht aufgepasst. Es tut mir furchtbar leid. Haben Sie vielleicht eine Toilette?«
»Hinten beim Kundenservice.«
Bevor er noch etwas sagen konnte, nahm sie schnell ihre Handtasche aus dem Einkaufswagen und hastete an ihm vorbei. Auf der Toilette ging sie in eine Kabine und setzte sich zitternd auf den geschlossenen Klodeckel, die Tasche auf dem Schoß, Tränen in den Augen, und versuchte, ruhig zu atmen. Das Herz schlug ihr bis in den Hals. Ihr war schwindlig. Sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Hatte sie ihn tatsächlich gesehen? Hatte sie es sich nur eingebildet? War er im Laden? War sie einfach nur den falschen Gang hinuntergelaufen?
Was hätte sie getan, wenn der Mann, dessen Einkaufswagen sie gerammt hatte, tatsächlich der Entführer ihrer Tochter – oder der, den sie dafür hielt – gewesen wäre? Hätte sie geschrien? Hätte sie ihn geschlagen? Wären die Cops gekommen und hätten sie festgenommen?
Sie saß da, hörte die leise Musik und wusste keine Antwort auf ihre Fragen.
Die Tür zum Toilettenraum wurde geöffnet, und eine Frauenstimme rief: »Ma’am? Der Manager schickt mich. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja, danke, mir geht’s gut.«
Sie wartete, bis die Frau wieder gegangen war, dann trat sie aus der Toilette und verließ den Supermarkt. Mit zitternden Händen kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht zu ihrem Auto zu rennen.
Sie kam sich vor wie eine Idiotin. Das Abendessen war vergessen. Sie ließ den Motor an, saß da und wartete darauf, dass die Klimaanlage ihre Wangen kühlte, die immer noch vor Scham glühten.
Um sie herum ging das Leben weiter. Leute liefen vorbei und betraten den Supermarkt oder verließen ihn. Sie sahen nicht zu ihr herüber. Sie wussten nicht, was sie gerade getan hatte. Sie wussten nicht, was sie vor vier Jahren durchgemacht hatte und die ganze Zeit seither – Tag für Tag. Es war ihnen egal. Ihre Lebenswege hatten sich nicht gekreuzt.
Reiß dich zusammen, Lauren.
Für gewöhnlich gelang ihr das recht gut. Ihre Mitmenschen kämen normalerweise nicht auf die Idee, dass sie die meiste Zeit am Rande des Wahnsinns lebte. Genauso wie ihre Mitmenschen normalerweise nicht auf die Idee kämen, dass ihr Nachbar finstere Gedanken hegte, sich Entführung, Folter, Mord vorstellte …
Er war ein so ruhiger Mann …
Wie gebannt sah sie den Einwohnern Oak Knolls dabei zu, wie sie ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen, sie kamen ihr vor wie Ameisen in einem Ameisenhügel. Dann zwang sie sich dazu zu überlegen, was sie zum Abendessen machen sollte.
In diesen Supermarkt konnte sie unmöglich zurück, aber da war noch ein anderer ein paar Straßen weiter. Aber vielleicht wäre es besser, wenn sie sich einfach etwas bringen ließe. Sich zurückziehen, zur Ruhe kommen, ein, zwei Drinks, den Nachmittag vergessen. Vielleicht wäre sie morgen imstande, sich unter Menschen zu begeben, ohne jemanden mit dem Einkaufswagen zu attackieren.
Sie atmete tief durch, um den Kopf freizubekommen. Während sie sich zu entspannen versuchte, fuhr langsam ein Kastenwagen an ihr vorbei. Ein ganz normaler brauner Kastenwagen. Der Fahrer drehte den Kopf und sah ihr direkt ins Gesicht, und Laurens Herz stockte, als sie in die dunklen Augen von Roland Ballencoa blickte.
Der Mann, der ihr ihre Tochter genommen hatte.
Der Kastenwagen fuhr weiter. Der Fahrer hielt nicht an, wurde nicht langsamer, nicht schneller. Er schien sie nicht erkannt zu haben.
Das Blut rauschte in Laurens Ohren. Sie fühlte sich, als wäre sie plötzlich unter Wasser getaucht worden. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht atmen. Der Druck drohte, ihr den Brustkorb zu zerquetschen.
Sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Augen trauen konnte. War er es wirklich gewesen? Oder hatte ihr Gedächtnis ihr wieder einmal einen Streich gespielt und Roland Ballencoas Gesicht über das eines anderen Mannes geschoben?
Der Kastenwagen hatte am Ende des Parkplatzes angehalten, um auf die Straße einzubiegen. Sie konnte den Fahrer von hier aus nicht erkennen.
Was, wenn er es war? Was, wenn er wie ein ganz normaler Bürger mit ein paar Flaschen Bier und einer Packung Tiefkühllasagne auf dem Weg nach Hause war?
Als der Kastenwagen sich in den Verkehr einfädelte, legte Lauren den Rückwärtsgang ein und fuhr los, ohne zu bemerken, dass sie beinahe eine Frau mit einem vollen Einkaufswagen über den Haufen gefahren hätte.
Sie musste es wissen.
Sie wendete haarscharf vor einer Gruppe Teenager auf dem Bürgersteig und stieg aufs Gaspedal, um auf die Straße zu kommen, bevor sie den Kastenwagen aus den Augen verlor.
Er hatte die Kreuzung erreicht und bog gerade links ab.
Lauren ließ zwei Autos vorbeifahren, dann folgte sie ihm und bog an der Kreuzung nach links ab, nachdem die Ampel bereits auf Rot gesprungen war. Wildes Hupen ertönte hinter ihr.
Er war es, er hatte ihr ins Gesicht geschaut, ohne eine Miene zu verziehen. Bedeutete ihm die Mutter seines Opfers so wenig, dass er sich nicht einmal an ihr Gesicht erinnerte?
Wut schoss in Lauren hoch wie ein Schwall Säure, gefolgt von Angst, Entsetzen, Hass, Ungläubigkeit, Erstaunen – eine alles verschlingende Riesenwelle.
Erneut bog der Kastenwagen ab. Am liebsten hätte Lauren die beiden Autos überholt, damit sie ihn nicht verlor.
Noch während sie überlegte, ob sie es tun sollte, fuhr ein dunkelrotes Auto neben sie. Sie warf dem Fahrer einen verärgerten Blick zu, und vor Schreck hätte sie beinahe das Lenkrad herumgerissen.
Es war der Mann, in dessen Einkaufswagen sie im Supermarkt gekracht war. Er verfolgte sie, weil sie ihn im Gang mit den Nudeln gerammt hatte. Das musste ein schlechter Traum sein, ein verrückter, absurder, schlechter Traum.
Er warf ihr einen strengen Blick zu und deutete zum Straßenrand. Erst da bemerkte sie das Blaulicht am Armaturenbrett.
O Gott. Ein Cop.
Ein Cop winkte sie heraus, während sie dem Mann hinterherjagte, der ihre Tochter entführt hatte. Das war tatsächlich ein Albtraum.
Sie blickte nach vorn und erhaschte gerade noch einen letzten Blick auf den brauen Kastenwagen, bevor er nach rechts in einer Seitenstraße verschwand. Wie sehr wünschte sie sich, sie könnte einen gigantischen Arm ausstrecken und ihn wie ein Spielzeug hochheben. Im selben Moment bewegte der Teil ihres Gehirns, der noch normal funktionierte, ihre Hand zum Blinker, und sie hielt am Straßenrand.
Das dunkelrote Auto hielt hinter ihr.
Innerlich fluchend, dass Roland Ballencoa ihr entkommen war, saß Lauren da und beobachtete im Rückspiegel, wie der Fahrer ausstieg.
War er allein? Hatte er Leslie bei sich? War er auf der Suche nach einem neuen Opfer?
Oder war der Typ in dem Kastenwagen einfach nur ein Installateur aus der Gegend hier, der für sich und seine Familie etwas zum Abendessen besorgt hatte?
Das hieße, sie wäre verrückt.
»Ich bin Detective Mendez vom Büro des Sheriffs«, sagte der Cop und hielt seine Dienstmarke in das offene Fenster ihres Autos. »Könnte ich bitte Ihren Führerschein und Ihre Fahrzeugpapiere sehen?«
Mit zitternden Händen fummelte sie den Führerschein aus ihrer Brieftasche und reichte ihn ihm. Die Fahrzeugpapiere waren im Handschuhfach. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie aussahen.
»Ich muss Sie bitten auszusteigen, Ma’am.«
»Es tut mir leid«, sagte Lauren und stieß die Tür auf. »Ich bin eigentlich eine sichere Fahrerin – sowohl mit dem Auto als auch mit dem Einkaufswagen.«
Detective Mendez verzog keine Miene. Er hatte dieses ihr mittlerweile allzu bekannte, ausdruckslose, harte Cop-Gesicht, wie eine geschlossene Stahltür ohne Fenster.
»Haben Sie getrunken, Ma’am?«
»Nein.« Noch nicht, auch wenn ein großer Wodka jetzt genau das Richtige gewesen wäre.
»Sie scheinen ein wenig durcheinander zu sein, Mrs. Lawton. Haben Sie irgendwelche Medikamente genommen?«
Prozac, Tavor, Valium, Thombran … ihr Medikamentenschrank war voll von diesem Zeug.
»Nein«, sagte sie. Sie hatte nichts genommen. Während des Tages schluckte sie grundsätzlich nichts. Die meisten Tabletten machten sie schläfrig, und Schlaf brachte nichts außer Albträumen.
Der Detective sah ihr in die Augen und versuchte, die Größe ihrer Pupillen abzuschätzen.
Hatte sie etwas genommen und erinnerte sich nur nicht daran? Sie konnte nicht klar denken, in ihrem Kopf war dicker Nebel. Hatte sie zu Mittag gegessen? Sie erinnerte sich nicht. Wahrscheinlich nicht. Vielleicht war ihr Blutzuckerspiegel im Keller. Vielleicht hätte sie sich mit einem Stückchen Käse diesen ganzen Horror erspart.
»Ich habe Sie beobachtet, als Sie den Parkplatz verließen«, sagte er. »Sie haben dabei etwa ein halbes Dutzend Verkehrsverstöße begangen und die Öffentlichkeit gefährdet. Können Sie das erklären?«
»Ich dachte, ich hätte einen Bekannten gesehen«, sagte sie, überrascht, wie dumm sich das sogar in ihren Ohren anhörte.
Der Detective hob seine dichten Augenbrauen. Er war um die vierzig, sah gut aus. Wirkte anständig. Seine Hose war gebügelt. Er trug Jackett und Krawatte.
»Und diesem Bekannten jagten Sie mit Ihrem Auto hinterher?«, fragte Mendez. »So etwas sieht man bei uns nicht gern, Ma’am.«
»Natürlich nicht«, sagte sie. »So etwas sieht man auch in Santa Barbara nicht gern.«
Das hier ist die Wirklichkeit, Lauren, nicht French Connection. Verfolgungsjagden gibt es nur in Filmen. Was stimmt eigentlich nicht mit dir?
Der Detective schien nicht zu wissen, was er tun sollte. »Kommen Sie, wir unterhalten uns in meinem Auto weiter.«
Über Funk gab er ihre Führerscheindaten durch und fragte etwas in diesem typischen Polizeikauderwelsch, wahrscheinlich, ob irgendetwas gegen sie vorlag. In Santa Barbara hatten sie bestimmt eine dicke Akte über sie angelegt. Sie war praktisch Stammgast beim Sheriff und bei der Polizei gewesen. Jeder dort würde ihm sagen, dass sie eine schreckliche Nervensäge und ein Kotzbrocken sei – Titel, die sie mit einem gewissen Stolz trug.
»Was führt Sie nach Oak Knoll, Mrs. Lawton?«
»Meine Tochter und ich sind kürzlich hierhergezogen.«
»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«
»Ich bin Inneneinrichterin.«
»Und Ihr Mann?«
Er hatte den Ring an ihrem Finger bemerkt. Sie hatte ihren Ehering nicht abgelegt. Auch wenn Lance tot war, sie würde immer mit ihm verheiratet sein.
»Mein Mann lebt nicht mehr.«
»Das tut mir leid.«
Sie wusste nie, was sie auf Beileidsbekundungen erwidern sollte. Danke war lächerlich. Was sollte sie mit dem Mitleid von Leuten anfangen, die sie nicht kannte, die ihren Mann nicht gekannt hatten?
Das Funkgerät gab irgendein unverständliches Gebrabbel zurück. Mendez antwortete mit einem knappen »Zehnvier«.
»Ihr Name kommt mir bekannt vor.«
Lauren lachte bitter. An diesem Punkt nahmen die Gespräche eine Wendung zum Schlimmeren. »Kann sein, ich bin berühmt. Oder berüchtigt – je nachdem. Meine Tochter Leslie wurde vor vier Jahren entführt.«
Mendez nickte, als er sich erinnerte. »Der Fall wurde bislang nicht abgeschlossen.«
»Ja.«
Es klang so nüchtern, wie er es sagte, so ungerührt. Der Fall. Als wäre das, was geschehen war, ein Buch, das geöffnet, betrachtet und dann wieder geschlossen und ins Regal zurückgestellt werden konnte. Ihr Leben war so viel schwieriger, nichts passte mehr zusammen, jeder Tag war eine Qual. Der Fall war nicht abgeschlossen. Ihre Tochter wurde immer noch vermisst.
»Sie sagen, Sie sind kürzlich hierhergezogen. Haben Sie Freunde in Oak Knoll?«
»Nein, ich kenne eigentlich niemanden hier.«
»Wen glaubten Sie dann, gesehen zu haben?«, fragte er. »Wem wollten Sie folgen?«
»Dem Mann, der meine Tochter entführt hat.«
Er befürchtete, sich verhört zu haben. »Wie bitte?«
»Er heißt Roland Ballencoa. Ich dachte, ich hätte ihn im Supermarkt gesehen«, erwiderte Lauren, »und dann fuhr er auf dem Parkplatz direkt an mir vorbei.«
»Welches Auto fuhr er?«
»Einen braunen Kastenwagen.«
»Haben Sie das Nummernschild erkannt?«
»Nein.«
»Warum sitzt er nicht im Gefängnis, wenn Sie wissen, dass er Ihre Tochter entführt hat?«
Das Gefühl der Niederlage sank tonnenschwer auf sie herab. Von dem Adrenalinschub war nichts mehr zu spüren. Detective Mendez würde ihr nicht helfen. Niemand würde ihr helfen. Roland Ballencoa war ein freier Mann.
»Weil es nicht die Spur eines Beweises gegen ihn gibt«, sagte sie resigniert. »Wenn Sie mir einen Strafzettel geben wollen, wäre es nett, Sie würden sich damit beeilen. Ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Ich weiß nicht genau, was ich mit Ihnen machen soll, Mrs. Lawton«, bekannte Mendez. »Ich weiß nicht, ob ich Sie wieder hinters Steuer lassen soll.«
»Wollen Sie, dass ich eine Linie entlanggehe?«, fragte sie. »Die Augen zumache und die Spitze meiner Nase berühre? Ich bin vollkommen nüchtern«, sagte sie. »Ich blase auch gerne ins Röhrchen. Wenn Sie wollen, können Sie mir auch eine Blutprobe abnehmen. Ich habe weder Alkohol noch irgendwelche Drogen oder Medikamente zu mir genommen.«
»Sie dachten, Sie hätten diesen Mann im Supermarkt gesehen, und nehmen mich deshalb mit Ihrem Einkaufswagen auf die Hörner«, erklärte er. »Sie sind einem Mann in einem Kastenwagen gefolgt und hätten dabei beinahe ein halbes Dutzend Fußgänger über den Haufen gefahren. Sie erzählen mir, dass dieser Mann Ihre Tochter entführt hat, aber dass es dafür keine Beweise gibt.«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich völlig rational gehandelt habe«, gab Lauren zu. »Aber zu meinem Glück ist es nicht verboten, ein wenig verrückt zu sein. Eine Menge Leute würden mir auch ohne Weiteres zugestehen, dass ich etwas unausgeglichen bin. Das ist einer der wenigen Vorteile, wenn man eine Tragödie überlebt hat.«
Er reagierte nicht auf ihren Sarkasmus. Er rieb sich mit seiner kräftigen Hand den Nacken, so als wollte er die Blutzufuhr zu seinem Gehirn erhöhen, damit er besser denken könnte.
Erneut sagte er etwas in sein Funkgerät und forderte Informationen über Roland Ballencoa an. Suchmeldungen, Haftbefehle, gegenwärtige Adresse.
»Wo wohnen Sie?«, fragte er.
»Old Mission Road Nummer einundzwanzig. Das Haus gehört Freunden aus Santa Barbara – den Bristols«, erklärte sie, als würde er es so genau wissen wollen.
»Ihre Telefonnummer?«, fragte er und notierte ihre Antworten in einem kleinen Spiralheft, das er aus der Innentasche seines Jacketts gezogen hatte.
»Sie sollten mit Detective Tanner von der Polizei in Santa Barbara sprechen«, sagte sie, überzeugt, dass er das auch tun würde. Diesen Eindruck machte er jedenfalls auf sie – ein wenig pedantisch. »Tanner ist verantwortlich für den Fall meiner Tochter.«
»Haben Sie irgendeinen Anlass zu der Vermutung, dass sich Ballencoa in Oak Knoll aufhält?«, fragte er.
»Wenn es so wäre, hätte ich dann meine Tochter hierhergebracht?«, sagte Lauren.
Darauf erwiderte Mendez nichts – noch so ein nervtötender Zug an Cops. »Haben Sie Anlass zu der Vermutung, dass er von Ihrem Aufenthalt hier weiß?«
»Ich habe ihm keine Postkarte mit unserer neuen Adresse geschickt«, fuhr sie ihn an. »Halten Sie mich für bescheuert?«
»Nein, Ma’am.«
»Stimmt, Sie halten mich ja für verrückt.«
»Nein, Ma’am.«
»Hören Sie schon auf mit Ihrem höflichen Getue, Detective«, sagte sie. »Sie haben allen Grund, mich für nicht ganz richtig im Kopf zu halten. Und außerdem bin ich eine Nervensäge.«
Mendez sagte nichts.
Lauren zwang sich zu einem ironischen Lächeln. »Ihre Mutter hat sie gut erzogen.«
»Ja, Ma’am.«
Das Funkgerät rauschte und spuckte einen weiteren Schwall an Informationen aus. Roland Ballencoas letzte bekannte Adresse war in San Luis Obispo, fast zwei Autostunden entfernt. Keine Suchmeldungen, keine Haftbefehle.
Mendez sah zu ihr hinüber.
»Das heißt nicht, dass er nicht hier sein könnte«, wandte Lauren ein. »Nach allem, was ich weiß, steht es den Leuten frei, San Luis Obispo zu verlassen oder dorthin zurückzukehren.«
»Glauben Sie, dass er den weiten Weg gefahren ist, nur um hier im Supermarkt einzukaufen?«, fragte der Detective.
Plötzlich brannten Tränen in Laurens Augen. Sie fühlte sich dumm und hilflos.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Mendez bedachte sie mit einem langen, prüfenden Blick. Sie spürte ihn, dazu musste sie nicht einmal den Kopf heben.
Schließlich reichte er ihr ihren Führerschein und zog eine Visitenkarte aus der Tasche.
»Wenn Sie wieder mal glauben, ihn irgendwo zu sehen, verfolgen Sie ihn nicht«, sagte er. »Rufen Sie im Büro des Sheriffs an.«
»Und was soll ich sagen?«, fragte sie. »Dass ich einen Mann gesehen habe, gegen den nichts vorliegt und der Obst und Gemüse einkauft?«
Er seufzte leise, sei es, weil er genervt war, oder aus Ungeduld oder weil er ihr recht gab. Seine Miene verriet nichts. »Rufen Sie mich an.«
»Gut«, sagte sie und sah auf die Karte. Detective Anthony Mendez. Sie öffnete die Tür und stieg aus seinem Auto.
»Gute Fahrt, Ma’am.«
Mendez sah zu, wie Lauren Lawton zu ihrem schwarzen BMW ging. Sie wirkte gebrochen. Laut den Angaben in ihrem Führerschein war sie zweiundvierzig Jahre alt. Das Foto zeigte eine strahlende Frau mit einem bezaubernden Lächeln, schwarzen Haaren und leuchtend blauen Augen. Die Frau, die neben ihm gesessen hatte, hatte älter ausgesehen, dünner, blasser, so als hätte der Verlust ihrer Tochter sie Jahre ihres Lebens gekostet. Wahrscheinlich war es so.
Er hatte den Fall damals mitverfolgt. Es war im Frühling gewesen, kurz nach der Hochzeit von Vince und Anne. Seine Freunde waren in ihre wohlverdienten Flitterwochen nach Italien gefahren. Am nächsten Tag hatte die mutmaßliche Entführung eines jungen Mädchens in Santa Barbara Schlagzeilen gemacht.
Er hatte zu einem Trupp aus dem Büro des Sheriffs gehört, der sich an mehreren Suchaktionen beteiligt hatte. Die Polizei von Santa Barbara und das Sheriff’s Department hatten jeden verfügbaren Mann dafür abgestellt, darüber hinaus hatten Rettungstrupps und Freiwillige aus ganz Südkalifornien ihre Hilfe angeboten.
Es hatte nichts gebracht. Bis auf Leslies Fahrrad und einen einzelnen Collegeschuh in einem Graben neben einer einsamen Landstraße am Stadtrand, hatte man keine Spur von dem Mädchen entdeckt.
Er erinnerte sich, bei einer der Suchaktionen aus der Ferne die Eltern gesehen zu haben, als sie die Öffentlichkeit um Hinweise über den Verbleib ihrer Tochter baten. Es war schlimm gewesen – sie wirkten so gequält, als würden sie vor aller Augen bei lebendigem Leib gehäutet.
Den ganzen Sommer über beherrschte der Fall die Nachrichten. Dann ereignete sich im November in Oak Knoll ein brutaler Mord, der das Medieninteresse auf sich zog, und Mendez stürzte sich in diese Ermittlungen. Darüber vergaß er das vermisste Mädchen aus Santa Barbara.
Der Lawton-Fall schaffte es in den folgenden Jahren immer mal wieder in die Abendnachrichten aus Santa Barbara. So weit Mendez wusste, hatte es allerdings nie irgendwelche neuen Erkenntnisse gegeben. Auch von einem Roland Ballencoa hatte er nie gehört.
Lauren Lawton blinkte und fädelte sich vorsichtig in den Verkehr ein. Mendez wartete, bis mehrere Autos zwischen ihnen waren, dann fuhr er ihr hinterher.
Sie bog nach rechts in die Via Verde. Sie fuhr so langsam die Wohnstraße hinunter, dass einer der Fahrer hinter ihr hupte und dann mit aufheulendem Motor an ihr vorbeischoss. Mendez ließ ihm den Verstoß gegen die Verkehrsregeln durchgehen. Es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, Strafzettel auszustellen. Ihr rücksichtsloser Fahrstil war nicht der Grund für ihn gewesen, Lauren Lawton herauszuwinken.
Es war ihr Blick gewesen, als sie seinen Einkaufswagen gerammt hatte, und der Blick, als ihr klar wurde, dass er nicht derjenige war, für den sie ihn gehalten hatte. Er hatte sie blass und zitternd aus dem Supermarkt kommen sehen. Als sie losfuhr, musste er ihr einfach folgen.
Er vermutete, dass sie jetzt nach dem braunen Kastenwagen suchte. Und wenn sie ihn in einer der Einfahrten auf der Via Verde entdeckte? Würde sie dann an der Haustür klingeln in der Erwartung, vor dem Mann zu stehen, von dem sie glaubte, er habe ihre Tochter entführt?
Vermutlich. Und dann? Das konnte zu nichts Gutem führen. Mendez versuchte, sich in sie hineinzuversetzen. Was würde er tun, wenn er wüsste, dass der Mann, der sein Kind entführt hatte, frei herumlief?
Er würde ihn suchen, und wenn er ihn gefunden hätte, würde er ihn umbringen.
Er nahm sich vor nachzuforschen, ob Mrs. Lawton eine Waffe besaß, möglicherweise von ihrem Ehemann.
Da sie den braunen Kastenwagen offenbar nicht entdecken konnte, fuhr sie auf der Via Verde weiter, vorbei an schicken Boutiquen und Cafés und schließlich an dem gepflegten Campus des McAster College mit seinen ausgedehnten grünen Rasenflächen, auf denen riesige, Schatten spendende Eichen standen.
Mendez fiel noch ein Stück zurück, als sie in die Old Mission Road einbog und die Häuser weniger wurden und die Grundstücke größer. Er hielt am Straßenrand und beobachtete aus einiger Entfernung, wie Lauren Lawton am Ende der Straße ein Tor passierte und in die von hübschen Blumenbeeten gesäumte Einfahrt zu einem großen weißen Haus fuhr.
Der BMW verschwand in der Garage.
Er sah auf seine Uhr und überlegte, was er tun sollte. Offiziell hatte er heute frei. Er war nur deshalb in seinem Dienstwagen unterwegs, weil er sein Privatauto in die Werkstatt gebracht hatte, um eine Beule entfernen zu lassen. Am Vormittag hatte er wegen einer Zeugenaussage zwei Stunden im Gericht verbracht. Der Rest des Tages gehörte ihm. Sollte er Lust haben, ihn in Santa Barbara zu verbringen, dann stand ihm das frei. Wenn er gleich losfuhr, könnte er dort beim Police Department reinschauen und ein paar Fragen klären und dann am Hafen gepflegt zu Abend essen.
Er fuhr zurück zur Via Verde, kaufte sich einen Becher Kaffee, entdeckte ein Münztelefon, rief beim Police Department Santa Barbara an und bat darum, zu Detective Tanner durchgestellt zu werden.
»Ermittlungsabteilung, Detective Tanner am Apparat.«
Eine Frauenstimme. Ein wenig heiser und rau vielleicht, aber eindeutig eine Frauenstimme. Mendez sah den Hörer an, als würde etwas nicht damit stimmen. »Detective Tanner?«
»Ja. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Äh … hier spricht Detective Mendez aus Oak Knoll.«
»Ja?«
»Ich hätte ein paar Fragen an Sie«, sagte er und riss sich zusammen. »Wegen eines Falls, an dem Sie arbeiten, wie mir gesagt wurde.«
»Nämlich?«
»Die Lawton-Entführung. Lauren Lawton ist kürzlich nach Oak Knoll gezogen.«
»Oh«, sagte sie, und dann fügte sie voller Überschwang hinzu: »Halleluja!«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, besser Sie als ich, mein Freund. Viel Spaß.«
»Ist sie so schwierig?«, fragte Mendez.
Tanners Lachen klang beinahe hysterisch. »Schwierig? Einen meiner Kollegen hat sie in den Vorruhestand getrieben, ein anderer ist nach Barstow gezogen, und wenn ich nicht zufällig mit einem richtig ausgebufften Anwalt verwandt wäre, dann wäre ich ihretwegen gefeuert worden.«
Vielleicht haben Sie es ja verdient, dachte Mendez, dem nicht gefiel, wie sie über Mrs. Lawton sprach. Vielleicht verbrachten die Cops in Santa Barbara zu viel Zeit beim Surfen. Vielleicht waren sie ein Haufen inkompetenter Idioten.
»Ich hätte gerne ein paar Hintergrundinformationen zu dem Fall«, sagte er. »Sind Sie noch eine Weile im Büro?«
»Ja.«
»Dann bin ich in einer Stunde da.«
Wie immer, wenn er über die Santa Ynez Mountains nach Santa Barbara fuhr, war Mendez von der Aussicht schier überwältigt. Der Himmel war wolkenlos und so blau wie das Meer. In der Ferne lagen die Channel Islands, und Santa Barbara schmiegte sich wie ein buntes Band an die Küste.
Es musste ein Traum sein, in diesem Teil von Kalifornien zu leben und tagtäglich diese wunderschöne Landschaft mit dem Meer auf der einen Seite und blühenden Tälern zwischen Gebirgszügen auf der anderen vor Augen zu haben.
Eine Zeit lang hatte Mendez vorgehabt, nach Virginia zu ziehen und sich auf eine Laufbahn als Fallanalytiker für das FBI vorzubereiten. Anfang der Achtzigerjahre hatte er einige Wochen dort verbracht und ein Fortbildungsprogramm der National Academy besucht. Dort hatte er auch seinen Mentor kennengelernt, Vince Leone, der beim FBI eine regelrechte Legende war, zuerst bei der Behavioral Sciences Unit, der Abteilung für Verhaltensforschung, dann bei der Investigative Support Unit, der Profiler-Einheit.
Vince hatte ihn darin bestärkt, FBI-Agent zu werden, aber dann war Mendez nach Oak Knoll zurückgekehrt, zum einen, weil er sich seinem Chef verpflichtet fühlte, zum anderen, weil er Sehnsucht nach Oak Knoll hatte. Seine Familie lebte in der Nähe. Er mochte die Stadt und die Gegend und das verschwenderische Freizeitangebot. Später war auf seine Bitte auch Vince nach Oak Knoll gekommen, um bei den Ermittlungen im Zusammenhang mit den Sekundenklebermorden zu helfen, und war nie wieder weggegangen.
Leone hatte sich pensionieren lassen und verdiente sich jetzt als Berater für Polizeibehörden auf der ganzen Welt und vor allem mit Vorträgen eine goldene Nase. Wann immer es möglich war, zog er Mendez bei seinen Fällen hinzu, um ihn weiter zu schulen. Tony wusste, wenn er irgendwann das Büro des Sheriffs verlassen wollte, würde er mit Vince’ Hilfe leicht ein Auskommen finden.
Und noch dazu lebte er in seiner Lieblingsstadt. Er hatte wirklich Glück.
In den Straßen von Santa Barbara wimmelt es von Touristen und Einheimischen. Mendez kämpfte sich zur East Figueroa durch, stellte sein Auto ab, betrat das große weiße zweistöckige Gebäude, in dem sich das Police Department befand, und machte sich auf die Suche nach Detective Tanner.
Eigentlich hielt er sich für einen modern denkenden Mann, aber er musste zugeben, dass Tanner ihn wirklich überrascht hatte. Er war noch nie einem weiblichen Detective begegnet.
In den letzten Jahren waren die Zeitschriften voll gewesen von Artikeln über Frauen, die für die Gleichstellung im Justiz- und Polizeiapparat kämpften, eine bis dato von Männern dominierte Welt. Er erinnerte sich, dass einige seiner Kollegen sich aufgeregt hatten, weil Sheriff Dixon weibliche Deputys eingestellt hatte. Noch seltener begegnete man Frauen als Ermittlern, und wenn es eine Frau in die höchsten Ränge schaffte, machte das garantiert Schlagzeilen.
Seiner Meinung nach sprach eigentlich nichts dagegen, dass eine Frau Detective war. Die Arbeit erforderte in erster Linie geistige, weniger körperliche Kräfte. Nur die Vorstellung, dass eine Frau einem dieser Widerlinge gegenübersitzen sollte, die Detectives ständig vernehmen mussten, die machte ihm zu schaffen.
Als er die Ermittlungsabteilung betrat, öffnete sich gerade die Tür zu einem Vernehmungszimmer, und eine zierliche Blondine kam, mit dem Finger fuchtelnd, rückwärts heraus und brüllte jemanden an, der im Zimmer war.
»… und du bist ein echter Drecksack, weißt du das? Sitzt da und prustest los wie ein pubertierender Zwölfjähriger! Was bildest du dir eigentlich ein, du Arschloch? Wenn du das noch mal tust, trete ich dir dermaßen in die Eier, dass dir Hören und Sehen vergeht!«
Mendez starrte sie mit großen Augen an.
Am Gürtel ihrer schmalen schwarzen Hose war eine Dienstmarke befestigt. Das schwarze T-Shirt saß hauteng. Sie hatte ihre aschblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
Mit einem lauten Knall schlug sie die Tür zu und bedachte Mendez mit einem scharfen Blick. Sie hatte die grünen Augen einer Katze.
»Tut mir leid, Sir«, sagte sie mit derselben leicht heiseren Stimme, die er am Telefon gehört hatte. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Tony Mendez«, sagte er.
Sie besaß so viel Anstand, ein wenig zu erröten – vielleicht waren ihre Wangen aber auch noch vor Zorn gerötet. Schwer zu sagen.
Sie streckte ihm die Hand hin und drückte seine Finger wie ein Schraubstock. »Danni Tanner. Tut mir leid, dass Sie das mit anhören mussten.«
»Interessante Vernehmungsmethode«, bemerkte Mendez. »Scheint ein unangenehmer Zeitgenosse zu sein, da drin.«
Die Tür zum Vernehmungszimmer ging auf, und ein großer Mann in einem zerknitterten Anzug und mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht kam heraus.
Tanner funkelte ihn an. »Hör auf, mich so blöd anzugrinsen.«
»Wie wär’s, wenn du endlich mal was gegen PMS nimmst.«
»Ach, fick dich doch und deine Familie gleich mit, Morino.«
»Blödmann«, murmelte sie vor sich hin, als Morino ihr den Mittelfinger zeigte und lässig davonschlenderte.
Tanner verzog angewidert das Gesicht, dann wandte sie sich wieder Mendez zu. »Mein Partner«, sagte sie. »Manchmal frag ich mich, womit ich das verdient habe. Kommen Sie.«
Als sie an ihrem Schreibtisch vorbeigingen, schnappte sie sich den cremefarbenen Wildseidenblazer, der über der Stuhllehne hing. Sie schlüpfte hinein, während sie den Flur hinunter zu einer Abstellkammer gingen, in der sich Pappkartons mit Akten stapelten. Alle waren mit LAWTON, LESLIE beschriftet.
»Sie haben gesagt, Sie bräuchten Hintergrundinformationen«, sagte Tanner und deutete auf die Kartons, als wären sie der Hauptpreis bei einer Tombola. »Hier haben Sie sie. Viel Spaß damit.«
»Wow«, sagte Mendez, »ich dachte, wir könnten uns erst mal unterhalten.«
Tanner musterte ihn von Kopf bis Fuß, dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr.
»In Ordnung«, sagte sie und nickte. »Ich such ein paar Akten heraus, und Sie laden mich auf einen Kaffee ein. Wenn Sie dann noch mehr wissen wollen, müssen Sie ein Abendessen springen lassen. Gehen wir.«
»Ich hab mal eine Leiche gefunden.«
Leah starrte ihre neue Freundin sprachlos an. Es hatte einen Monat gedauert, bis sie Wendy erzählt hatte, dass ihre Schwester entführt worden war. Sie hatte es sich vorher nicht getraut, weil die Leute sich ihr gegenüber immer so komisch verhielten, sobald sie es wussten. Sie sahen sie mitleidig an und manche sogar misstrauisch, so als würde mit ihr etwas nicht stimmen oder als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Aber Wendy hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, sondern nur gesagt: »Wahnsinn, krass.«
Sie hatten sich im Reitstall kennengelernt. Einer der wenigen Vorteile ihres Umzugs nach Oak Knoll war, dass Leahs Mutter ihr erlaubt hatte, auf der Ranch der Gracidas einen Ferienjob anzunehmen.
Sie kannten Felix und Maria Gracida vom Polo. Felix war ein guter Freund ihres Vaters gewesen und trainierte Poloponys und -spieler. Maria war Trainerin im Dressurreiten und nahm selbst an Wettbewerben teil, daneben führte sie den Reitstall und gab Unterricht. Wendy bekam zweimal in der Woche Reitstunden.
Sie ritten durch die Hügel oberhalb der Ranch, wo die Gracidas kilometerlange Reitwege angelegt hatten. Leah saß auf Jump Up, einer schlanken schwarzbraunen Vollblutstute, die bei den Gracidas untergestellt war. Es gehörte zu Leahs Aufgaben, das Pferd zu bewegen, während der Besitzer in Italien Urlaub machte. Wendy ritt einen ruhigen, kleinen braunen Wallach namens Professor, eines von Maria Gracidas Schulpferden.
Wendy war zwar ein Jahr jünger als Leah, aber ziemlich cool. Cooler, als sie selbst jemals sein würde, dachte Leah. Wendy war immer nach der allerneuesten Mode gekleidet. Sie hatte eine blonde Lockenmähne und schaute ihre Frisuren immer bei Madonna ab. Leah lief dagegen Tag und Nacht in Reithosen und Poloshirts herum und trug ihre glatten dunklen Haare zu einem schlichten Pferdeschwanz zurückgebunden.
Ihre Schwester Leslie war auch cool gewesen, bei allen beliebt, immer im Mittelpunkt. Leah zog nicht gerne Aufmerksamkeit auf sich. Nicht dass sie je eine Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Als Leslie verschwand, war sie zwölf Jahre alt gewesen. Mit ihr hatte Leah ihre große Schwester verloren, aber in gewisser Weise nahm die abwesende Schwester noch viel mehr Raum ein als die anwesende. Immerzu ging es um Leslie. Wo war Leslie? Wer hatte Leslie entführt? Lebte Leslie, oder war sie tot? Jeder Tag ihres Lebens hatte sich um Leslie und die Suche nach ihr gedreht.
Leah hatte alles getan, um nicht aufzufallen – ihren Eltern war das nur recht gewesen.
»Da war ich in der Fünften«, fuhr Wendy fort. »Ich war mit einem Freund auf dem Nachhauseweg von der Schule. Wir haben eine Abkürzung durch den Oakwoods Park genommen, und plötzlich ist Dennis Farman, ein ziemlich fieser Typ, aufgetaucht, und wir sind vor ihm davongerannt, und da sind wir über die Leiche gestolpert.«
»Iih!«, rief Leah. »Das ist ja gruselig!«
»Das kann man wohl sagen. Es war total eklig und unheimlich.«
»Woran ist er gestorben?«
»Es war eine Frau. Ein Serienkiller hatte sie ermordet, und es stellte sich heraus, dass er der Vater meines besten Freundes war.«
»Das glaub ich nicht!«
»Wenn ich’s doch sag.«
»Mann, das ist ja echt krank.«
Und irgendwie war es auch toll. Nicht toll, dass jemand ermordet worden war oder dass der Vater von Wendys Freund ein Serienmörder war. Sondern dass Wendy auch schon mal so etwas ganz und gar Außergewöhnliches passiert war wie Leah. Dadurch fühlte sie sich nicht so ausgegrenzt. Wendy hatte auch etwas Schlimmes hinter sich.
»Und was ist dann passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Wendy, »jedenfalls sitzt Tommys Vater jetzt im Knast.«
»Oje, dein armer Freund.«
»Ja, das kann man sagen. Seine Mutter hat mit ihm die Stadt verlassen, und kein Mensch hat je wieder was von ihnen gehört. Keiner weiß, wo sie sind«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, dass er sich bei mir meldet, dass er mir eine Postkarte schreibt oder mich anruft oder so, aber nichts.«
Sie sah Leah ernst an. Ihre Augen waren kornblumenblau. »Du fragst dich bestimmt auch ständig, was mit deiner Schwester ist.«
»Ja«, sagte Leah, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Die meiste Zeit bemühte sie sich, nicht an Leslie zu denken. Es tat ihr zu weh. Sich vorzustellen, was ihrer Schwester passiert sein könnte oder ihr vielleicht in diesem Moment passierte, ertrug sie nicht. Es reichte schon, dass sie nachts oft genug davon träumte.
Manchmal stellte sie sich vor, dass der Entführer furchtbare Sachen mit Leslie angestellt und sie dann umgebracht und ihre Leiche irgendwo abgeladen hatte, wo sie jetzt verrottete. Aber manchmal stellte sie sich auch vor, dass ihre Schwester an irgendeinem aufregenden Ort ein aufregendes Leben führte und dass sie ihr Gedächtnis verloren und sich deshalb in all den Jahren nicht bei ihnen gemeldet hatte.
In den Fernsehserien kam es dauernd vor, dass jemand sein Gedächtnis verlor. Aber wahrscheinlich gab es das im wahren Leben überhaupt nicht. Ihre Mutter hatte ihr klipp und klar gesagt, dass so etwas nicht passierte und dass es auch Leslie nicht passiert war.
In der Ferne wieherte ein Pferd, und die Pferde, auf denen die Mädchen saßen, hoben die Köpfe und spitzten die Ohren. Die Ranch lag genau unterhalb von ihnen, nur ein paar Hundert Meter weit entfernt. Sie hatten ihre Runde fast beendet.
»Denkst du oft an die tote Frau?«, fragte Leah. »Ich meine, hast du Albträume und so?«
»Manchmal. Und du?«
»Manchmal.«
»Du solltest mal mit Anne sprechen«, sagte Wendy.
»Wer ist Anne?«
»Anne Leone. Sie war meine Lehrerin in der fünften Klasse, aber jetzt macht sie Beratung und so. Anne ist echt cool. Tommys Vater hat versucht, sie umzubringen, aber sie ist ihm entkommen. Sie weiß, wie es ist, wenn man was Übles durchgemacht hat. Außerdem kann sie echt gut zuhören. Sie holt mich nachher ab«, sagte Wendy. »Ich stell sie dir vor, wen du magst.«
»Warum holt sie dich ab?«
»Ich passe auf ihre Kinder auf. Sie geht heute Abend mit ihrem Mann aus. Anne und Vince sind ein echt cooles Paar.«
Sie ritten auf den Hof und wurden von einem halben Dutzend Hunden in allen möglichen Größen, Formen und Farben begrüßt. Eine ganze Meute Jack Russell Terrier, Welsh Corgis und Australian Cattle Dogs, die laut bellend und schwanzwedelnd die Rückkehr der Reiterinnen verkündeten.
Die Ranch der Gracidas hatte etwas ganz Normales. Die schlichten, gepflegten Ställe befanden sich in zwei u-förmigen weiß gestrichenen Gebäuden um einen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte. Zum Hof hin waren sie offen. In einem der Ställe standen Marias Pferde und die der Kunden. Der andere Stall beherbergte die Poloponys von Felix.
Wendy saß ab und reichte mit einem strahlenden Lächeln einem Stallburschen die Zügel. Leah stieg von Jump Up und führte sie zum Striegeln, das sie selbst übernahm.
Von den beiden Schwestern wäre Leslie diejenige gewesen, die mit einem Lächeln die Zügel übergeben hätte. Ihr hatte immer alle Aufmerksamkeit gegolten. Sie hatte getanzt. Sie hatte gesungen. Sie hatte geschauspielert. Leslie war überall der Star gewesen. Sie konnte nicht einfach im Chor singen, sie musste die Solistin sein. Sie konnte nicht einfach eine Statistin in der Schulaufführung sein, sie musste die Hauptrolle haben. Reiten hatte Leslie nicht genügt, sie musste Polo spielen wie ihr Vater.
Leah machte es mehr Spaß, sich um die Pferde zu kümmern, und sie lernte Dressurreiten, einfach, um es zu können, und nicht, um andere damit zu beeindrucken. Sie war zufrieden damit, eine Chorstimme und eine Statistenrolle in der Theateraufführung zu übernehmen. Das machte das Leben ruhiger.
Sie nahm der Stute Sattel und Zaumzeug ab und legte es auf den Sattelbock, um es zu reinigen, dann nahm sie ihr die Gamaschen ab und warf sie in den Wäschekorb. Sie führte das Pferd zurück in den Stall, damit es trinken konnte, bevor sie es zum Waschplatz brachte.
Nach Feierabend war viel los auf dem Hof. Maria gab einer Schülerin im Dressurring Unterricht. Eine andere Kundin wärmte ihr Pferd auf der Bahn neben dem Polofeld auf. Felix und ein paar andere Spieler ritten gemächlich das Feld auf und ab und absolvierten ein leichtes Training mit den Ponys.
Leah mochte diese Zeit des Tages auf der Ranch, wenn die Sonne langsam hinter den roten Hügeln versank und die Hitze nachließ. In ein, zwei Stunden würde eine kühle Meeresbrise durch die Täler wehen. Dann wären die Leute alle wieder weg, die Pferde würden zur Ruhe kommen und zufrieden an ihrer abendlichen Ration Heu kauen.
Dann war es auf der Ranch richtig schön, wenn mehr Pferde als Menschen hier waren, aber ihre Mutter ließ sie nur selten so lange bleiben. Dass Leah überhaupt für die Gracidas arbeiten durfte, lag daran, dass immer jemand da war, der ein Auge auf sie hatte.
Nicht dass ihre Mutter Angst hatte, Leah könnte etwas anstellen. Sie hatte Angst, dass etwas mit ihr angestellt wurde. So wie mit Leslie damals.
Das war eines der vielen Dinge, die im Zusammenhang mit Leahs Verschwinden wirklich übel waren. Leah war deswegen zu einer Gefangenen geworden. Nirgends durfte sie allein hingehen. Sie durfte nicht allein mit dem Rad in die Stadt fahren – nicht mal die Straße, in der sie wohnten, durfte sie rauf- und runterfahren. Im Gegenteil, gerade das war ihr strengstens untersagt, weil die Old Mission Road ein bisschen abgelegen und von den Häusern aus nicht einzusehen war. Wenn jemand versuchen sollte, sie von ihrem Rad zu reißen, würde das vielleicht niemand mitbekommen.
Sie durfte aber auch nicht allein zu Hause bleiben, was mit fünfzehn – fast sechzehn Jahren – ziemlich peinlich war. Die meisten Mädchen in ihrem Alter besserten sich ihr Taschengeld mit Babysitten auf und hatten bei Gott keinen eigenen Babysitter mehr. Allerdings hatten die meisten Mädchen in ihrem Alter auch keine Schwester, die entführt worden war.
»Hey, Leah!«, rief Wendy.