Schwärzer als der Tod - Tami Hoag - E-Book
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Schwärzer als der Tod E-Book

Tami Hoag

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Beschreibung

Das Böse lauert vor der eigenen Haustür.

Drei Kinder finden beim Spielen eine halb verscharrte Leiche. Mehr noch als der grausige Fund erschüttert Anne Navarre, ihre Lehrerin, die Tatsache, dass ihre drei Schützlinge den unschuldigen Glauben an eine heile Welt verlieren mussten. Noch ahnt sie nicht, dass die Tote im Wald für die ganze Dorfgemeinschaft das Ende der Unschuld bedeutet, denn es bleibt nicht bei einem Opfer. Doch als Profiler Tony Mendez hinzugezogen wird, stößt er auf eine Mauer des Schweigens …

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Über das Buch

Das Böse lauert vor der eigenen Haustür …

Drei Kinder finden beim Spielen eine halb verscharrte Leiche. Mehr noch als der grausige Fund erschüttert Anne Navarre, ihre Lehrerin, die Tatsache, dass ihre drei Schützlinge den unschuldigen Glauben an eine heile Welt verlieren mussten. Noch ahnt sie nicht, dass die Tote im Wald für die ganze Dorfgemeinschaft das Ende der Unschuld bedeutet, denn es bleibt nicht bei einem Opfer. Doch als Profiler Tony Mendez hinzugezogen wird, stößt er auf eine Mauer des Schweigens …

Über Tami Hoag

Tami Hoag (* 20. Januar 1959 in Cresco, Iowa) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.1988 machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf und verfasste ihr erstes Buch. Zunächste verfasste sie Liebesromane und widmetee sich später dem Schreiben von Thrillern. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Mann auf einer Pferderanch in Virginia, bevor sie nach Los Angeles, Kalifornien umzog.

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Tami Hoag

Schwärzer als der Tod

Thriller

Deutsch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

Für Gryphon. Mein erster Versuch ohne dich, alter Freund.

Ich hoffe, er taugt etwas.

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Vorwort der Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Danksagung

Impressum

Vorwort der Autorin

Erinnern Sie sich an das Jahr 1985?

1985 arbeitete ich in der Bath Boutique in Rochester, Minnesota, und versuchte, Designer-Klobrillen und Zahnbürstenhalter in Form von Keramikkaninchen an den Mann zu bringen. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis ich mein erstes Buch verkaufte (The Trouble with J. J.; dt.: Lust auf dich), und drei Jahre, bis es auf den Markt kam.

1985 war das erste Jahr von Reagans zweiter Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten. Frauen, die etwas auf sich hielten, trugen Schulterpolster und eine Dauerwelle und standen auf Tom Selleck und Don Johnson. Handys hatten die Größe von Ziegelsteinen und wurden in Koffern mit Tragegriff herumgeschleppt. Die Go-Go’s trennten sich, Madonna eroberte die Charts und die Herzen, und Bruce Springsteen bekannte sich zu Born in the U.S.A.

Ich hatte von Anfang an beschlossen, Schwärzer als der Tod in der Vergangenheit anzusiedeln. Ich stellte mir das lustig vor. Ich würde ein paar Erinnerungen an Legwarmer und Hair-Metal-Bands wie Van Halen und Mötley Crüe wachrufen. Als ich dann ernsthaft zu schreiben begann, wurde mir allerdings klar, dass das Jahr 1985 auch irgendwie unpraktisch war: Was die Verfahren und Mittel der Kriminaltechnik anging, war es damals die reinste Steinzeit. Man stelle sich ein Sheriff-Büro vor, in dem kein Computer steht. Ich erinnere mich sogar noch an Wunschlisten von Polizeibehörden aus den späten Achtzigern, auf denen so exotische Dinge wie Faxgeräte und Fotokopierer standen.

Man stelle sich eine Zeit vor der DNA-Analyse vor. 1987 fand in den USA das erste Gerichtsverfahren statt, in dem DNA-Beweise präsentiert wurden, aber noch Jahre später waren DNA-Analysen höchst umstritten. Heute, da die Geschworenen dank CSI DNA-Beweise geradezu erwarten und oft nur unwillig einen Urteilsspruch ohne sie fällen, ist das kaum noch nachvollziehbar.

1985 wurden Fingerabdruckabgleiche noch per Augenschein vorgenommen.

Nicht dass ich technisch besonders begabt wäre. Wenn die Nutzbarmachung von Elektrizität mir überlassen gewesen wäre, würden wir nach wie vor bei Kerzenlicht lesen. Ich habe keine Ahnung, wie mein Computer funktioniert, und ich weiß nach wie vor nicht, wie all die kleinen Männchen in meinen Fernseher kommen.

Im Vergleich zu der Tami des Jahres 1985 bin ich allerdings regelrecht süchtig nach Technik. Ohne iPhone oder iPod verlasse ich das Haus erst gar nicht. Reisen ist für mich gleichbedeutend mit Laptop-Einpacken. Mein DVR nimmt jede Wiederholung von Dr. House auf. Ich twittere sogar gelegentlich.

Da ich also an all diese Annehmlichkeiten der heutigen Zeit gewöhnt bin, fand ich es höchst unbequem, dass ich meine Detectives nicht auf die Datenautobahn schicken konnte, wenn sie irgendwelche Informationen brauchten. Keine Handys, um schnell etwas zu besprechen? Was war das eigentlich für ein Leben?

Die operative Fallanalyse, das Profiling – heute für die Gesetzeshüter wie auch für den Normalbürger fast schon ein alter Hut, nachdem sie ständig eingesetzt wird –, steckte Mitte der Achtziger noch in den Kinderschuhen. Das war die große Zeit der Behavioral Science Unit des FBI. Damals wurden neun Männer zu Legenden – Conrad Hassel, Larry Monroe, Roger Depue, Howard Teten, Pat Mullany, Roy Hazelwood, Dick Ault, Robert Ressler und John Douglas –, die sich im Laufe der Jahre in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammenfanden und die operative Fallanalyse und die BSU, die Verhaltensforschung, zu einem wichtigen Instrument der Ermittlungsarbeit machten.

1985 befand sich die BSU in der FBI Academy in Quantico, Virginia; sie war in Büros untergebracht, die sich zwanzig Meter unter der Erde befanden – zehnmal tiefer begraben als die Toten –, im Nationalkeller der Gewaltverbrechensanalyse, wie die Agents ihn nannten.

Schwärzer als der Tod ins Jahr 1985 zu verlegen gab mir die Möglichkeit, über diese Phase zu schreiben und eine Figur in diesen mythischen Kreis zu schmuggeln. Es gab mir die Möglichkeit, Erinnerungen an Dallas und Denver Clan, Michael Jacksons Thriller und Members-Only-Jacken aus meinem Gedächtnis zu kramen.

Die Achtziger waren eine tolle Zeit, und wenn uns damals irgendjemand gesagt hätte, dass wir in einer Epoche der Unschuld leben, dann hätten wir ihn für verrückt erklärt. Seither ist so vieles passiert. Nicht nur Gutes, das ist klar. Aber auf die Fortschritte in der Kriminalwissenschaft möchte ich nicht verzichten und auf mein Handy auch nicht.

1

Mein Held

Mein Dad ist mein Held. Er ist einfach toll. Er arbeitet sehr viel, ist immer nett und versucht, anderen zu helfen.

Wenn sie gekonnt hätte, hätte die Frau geschrien. Er hatte dafür gesorgt, dass sie den Mund nicht öffnen konnte. In ihren Augen hätte das blanke Entsetzen gestanden. Er hatte sichergestellt, dass sie sie nicht öffnen konnte. Er hatte sie blind und stumm gemacht, in die perfekte Frau verwandelt. Schön. Eine Frau, die zu sehen, aber nicht zu hören war. Gehorsam. Er hatte sie bewegungsunfähig gemacht, sodass sie sich nicht wehren konnte.

Manchmal hilft er mir bei den Hausaufgaben, er ist nämlich sehr gut in Rechnen und Sachkunde. Manchmal üben wir im Garten Fangen, das macht total Spaß. Aber er ist ständig unterwegs. Er arbeitet sehr viel.

Ihr unkontrollierbares Zittern und der Schweiß, der ihr übers Gesicht lief, ließen ihr Entsetzen erkennen. Er hatte sie in das Gefängnis ihres Körpers und ihres Geistes gesperrt, und daraus gab es kein Entkommen.

Die Sehnen an ihrem Hals traten hervor, als sie sich gegen ihre Fesseln stemmte. In dünnen Rinnsalen liefen Schweiß und Blut über ihre runden kleinen Brüste.

Mein Dad sagt, dass ich immer höflich und respektvoll zu anderen Leuten sein soll. Ich soll andere Leute so behandeln, wie ich selbst behandelt werden will.

Jetzt musste sie ihn respektieren. Sie hatte keine andere Wahl. Alle Macht lag bei ihm. Bei diesem Spiel war er der Gewinner. Er hatte ihr die Maske heruntergerissen, die hübsche Fassade, um die nackte Wahrheit zu enthüllen: dass sie ein Nichts war und er allmächtig.

Es war wichtig, dass sie das begriff, bevor er sie tötete.

Mein Dad ist ein sehr wichtiger Mann in der Gemeinde.

Es war wichtig, dass sie Gelegenheit hatte, sich darüber klar zu werden. Deshalb würde er sie noch nicht gleich töten. Abgesehen davon hatte er jetzt auch gar keine Zeit dafür.

Mein Dad. Mein Held.

Es war fast drei Uhr. Er musste sein Kind von der Schule abholen.

2

Fünf Tage später Dienstag, 8. Oktober 1985

»Du bist ’n Scheißer, Crane.«

Tommy Crane seufzte und sah stur geradeaus.

Dennis Farman beugte sich von seinem Tisch zu Tommy herüber und verzog sein feistes Gesicht zu einem Ausdruck, den er vermutlich für hartgesotten hielt.

Tommy versuchte, sich zu sagen, dass er einfach nur blöd aussah. Er war ein Kretin. Das war sein neues Wort der Woche. Kretin: jemand, der in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben und manchmal auch körperlich missgebildet war. Jemand, der dumm oder töricht handelte.

Besser konnte man Dennis gar nicht beschreiben.

Er verdrängte lieber, dass Dennis Farman größer war als er, ein ganzes Jahr älter und durch und durch gemein.

»Du bist ’n Scheißer und ’n Schwanzlutscher«, sagte Farman und fing an zu lachen, als hielte er das für geistreich oder so was.

Tommy seufzte erneut und warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Noch zwei Minuten.

Wendy Morgan drehte sich auf ihrem Stuhl herum und sah ihn genervt an. »Sag doch was, Tommy. Sag ihm, dass er ein Idiot ist.«

»›Sag doch was, Tommy‹«, äffte Farman sie mit verstellter, hoher Mädchenstimme nach. »Oder lass das doch deine Freundin für dich erledigen.«

»Der hat gar keine Freundin«, mischte sich Cody Roache ein, Dennis Farmans dürrer Schatten. »Der ist schwul. Er ist schwul, und sie ist ’ne Lesbe.«

Wendy verdrehte die Augen. »Halt die Klappe, Blödi Roache. Du weißt doch noch nicht mal, was das heißt.«

»Weiß ich wohl.«

»Weil du’s selber bist.«

Tommy sah dem Zeiger zu, wie er der Freiheit eine Minute näher rückte. Vorn ging Miss Navarre mit einem gelben Zettel in der Hand von der Tür zurück zu ihrem Pult.

Unter Folter, wenn ihm jemand eine brennende Fackel an die Füße gehalten oder Bambusstäbchen unter die Fingernägel getrieben hätte, hätte er gestanden, dass er irgendwie in Miss Navarre verliebt war. Sie war klug und nett und mit ihren großen braunen Augen und den hinter die Ohren gestrichenen dunklen Haaren auch noch richtig hübsch.

»Fotze«, sagte Roache, gerade laut genug, dass das schlimme Wort wie ein vergifteter Pfeil direkt zu Miss Navarres Ohr schoss und ihre Aufmerksamkeit in seine Richtung lenkte.

»Mr Roache«, sagte sie mit einer Stimme, so scharf wie ein Messer. »Möchtest du nach vorn kommen und deinen Klassenkameraden erklären, warum du morgen während der kleinen Pause und der Mittagspause im Klassenzimmer bleiben wirst?«

Roache setzte hinter seinen riesigen Brillengläsern seinen dümmsten Blick auf.

»Äh, nein.«

Miss Navarre hob eine Augenbraue. Mit dieser Augenbraue konnte sie eine Menge sagen. Bei all ihrer Nettigkeit, reinlegen ließ sie sich nicht so leicht.

Cody Roache schluckte und versuchte es noch einmal. »Äh … Nein, Ma’am?«

Es läutete, und die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf. Miss Navarre hielt den Zeigefinger in die Höhe, und alle verharrten mitten in der Bewegung, als würde ein Film angehalten.

»Mr Roache«, sagte sie. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn sie jemanden Mr oder Miss nannte. »Wir sprechen uns morgen früh vor dem Unterricht.«

»Ja, Ma’am.«

Sie wandte sich Dennis Farman zu und hielt den Zettel hoch. »Dennis, dein Vater hat angerufen und lässt ausrichten, dass er es heute nicht schafft, dich abzuholen, du sollst zu Fuß nach Hause gehen.«

Sobald Miss Navarre die Hand sinken ließ, raste die gesamte fünfte Klasse wie eine Herde Wildpferde zur Tür.

»Warum wehrst du dich nicht gegen ihn, Tommy?«, fragte Wendy, als sie von der Grundschule von Oak Knoll in Richtung Oakwoods Park gingen.

Tommy schob sich seinen Rucksack über die Schulter. »Weil er mich dann verdrischt.«

»Ach, der reißt doch nur die Klappe auf.«

»Du hast ja keine Ahnung. Als er mich mal beim Völkerball angerempelt hat, habe ich danach bestimmt eine Woche nicht richtig Luft gekriegt.«

»Du musst dich zur Wehr setzen«, beharrte Wendy mit funkelnden blauen Augen. Sie hatte lange gewellte blonde Haare wie eine Meerjungfrau und frisierte sich immer wie irgendwelche Rockstars, von denen Tommy noch nie etwas gehört hatte. »Sonst bist du kein Mann.«

»Ich bin ja auch kein Mann. Ich bin ein Kind, und das werde ich auch noch eine Zeit lang bleiben.«

»Was, wenn er hinter mir her wäre?«, fragte sie. »Was, wenn er versuchen würde, mich zu schlagen oder zu entführen?«

Tommy runzelte die Stirn. »Das ist was anderes. Dann geht’s ja um dich. Klar würde ich versuchen, dich zu retten. So was wird von einem Jungen erwartet. Das nennt man Ritterlichkeit. Wie bei den Rittern der Tafelrunde oder in Krieg der Sterne.«

Wendy lächelte und wickelte einen ihrer blonden Zöpfe zu einer Schnecke über ihrem Ohr auf. »Bin ich dann Prinzessin Leia?«, fragte sie mit einem koketten Augenaufschlag.

Tommy verdrehte die Augen. Sie bogen vom Bürgersteig ab auf einen Weg, der durch den Park führte.

Oakwoods war eine ausgedehnte Parkanlage, für die man den Wald an einigen Stellen gerodet hatte, um dort überdachte Picknickplätze, einen Konzertpavillon und einen Spielplatz hinzubauen. Der Rest war verwildert und glich einem Urwald, durch den ein paar schmale Pfade führten.

Die meisten Kinder hätten niemals die Abkürzung durch den Park genommen, weil Geschichten kursierten, der Wald wäre verwunschen und es würden verrückte Penner darin wohnen, und irgendwann hatte sogar mal jemand behauptet, er hätte Bigfoot dort gesehen. Aber es war der kürzeste Weg nach Hause, und Wendy und er gingen ihn seit der dritten Klasse. Es war noch nie etwas Schlimmes passiert.

»Und du bist Luke Skywalker«, sagte Wendy.

Tommy wollte nicht Luke Skywalker sein. Han Solo hatte viel mehr Spaß, er sauste mit Chewbacca durchs Universum, scherte sich nicht um Regeln und tat, was er wollte.

Tommy hatte in seinem ganzen Leben noch keine Regel gebrochen. Alles verlief geordnet und geplant. Um sieben Uhr aufstehen, Viertel nach sieben Frühstück, um acht in die Schule. Schulschluss zehn nach drei. Viertel vor vier musste er zu Hause sein. Manchmal ging er zu Fuß. Manchmal wurden sie von Tommys oder Wendys Mutter oder Vater abgeholt, je nachdem. Wenn er nach Hause kam, gab es etwas zu essen, und er berichtete seiner Mutter, was in der Schule los gewesen war. Von vier bis Viertel nach sechs durfte er raus und spielen – es sei denn, er hatte Klavierunterricht –, aber Punkt halb sieben hatte er mit frisch gewaschenen Händen am Abendbrottisch zu sitzen.

Es wäre viel lustiger gewesen, Han Solo zu sein.

Wendy hatte inzwischen das Thema gewechselt und erzählte ihm irgendetwas über ihre neueste Lieblingssängerin Madonna, von der Tommy noch nie etwas gehört hatte, weil seine Mutter darauf bestand, dass sie nur öffentlichrechtliche Radiosender hörten. Sie wollte, dass er später mal Konzertpianist und/oder Hirnchirurg wurde. Tommy wollte Baseballspieler werden, wenn er groß war, aber das sagte er seiner Mutter lieber nicht. Das war eine Sache zwischen ihm und seinem Vater.

Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Kriegsgeheul, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ, gefolgt von einem Geräusch, als würde eine Horde Wilder durchs Gehölz brechen.

»Crane ist ’n Schwanzlutscher!«

»Lauf!«, schrie Tommy.

Hinter einem umgestürzten Baumstamm tauchten Dennis Farman und Cody Roache auf und stürmten unter lautem Gebrüll und mit knallroten Gesichtern auf sie zu.

Tommy packte Wendys Handgelenk und rannte los. Er war schneller als Dennis. Er hatte ihn schon öfter abgehängt. Für ein Mädchen war Wendy auch schnell, aber nicht so schnell wie er.

Farman und Roache holten langsam auf, die Augen hervorquellend wie bei einem dieser Wasserspeier. Ihre Münder standen weit offen. Sie brüllten immer noch, aber Tommy hörte nichts außer dem Hämmern seines Herzens und dem Knacken der Zweige, als sie durch den Wald rannten.

»Hier lang!«, schrie er und bog von dem Pfad ab.

Wendy blickte zurück und schrie: »Furzer!«

»Spring!«, rief Tommy.

Sie sprangen über eine Böschung und segelten durch die Luft. Farman und Roache sprangen ihnen nach. Sie landeten alle vier unsanft auf dem Boden und überschlugen sich.

Die Farben des Waldes wirbelten vor Tommys Augen durcheinander wie in einem Kaleidoskop, während er immer weiterrollte, bis ihn schließlich ein weicher Erdhaufen stoppte.

Einen Moment lang blieb er reglos liegen und hielt die Luft an, wartete darauf, dass Dennis Farman sich auf ihn stürzte. Stattdessen hörte er Dennis irgendwo hinter ihm laut stöhnen.

Langsam richtete Tommy sich auf Händen und Knien auf. Der Boden unter ihm war frisch umgegraben. Es roch nach Erde und nassen Blättern und noch nach etwas anderem, das er nicht hätte benennen können. Der Boden war weich und feucht und krümelig, als hätte ihn jemand mit einer Schaufel umgegraben. Als hätte jemand etwas begraben … oder jemanden.

Das Herz schlug ihm bis in den Hals, als er den Kopf hob … und dem Tod ins Angesicht blickte.

3

Zuerst sah Tommy nur, dass die Frau hübsch war. Sie sah friedlich aus wie Die Tote im See. Ihre Haut war blass und irgendwie bläulich. Ihre Augen waren geschlossen.

Dann schoben sich allmählich andere Dinge in den Vordergrund: Blut, das über ihr Kinn gelaufen und eingetrocknet war, ein Riss an der Wange, Ameisen, die in ihre Nasenlöscher hinein- und herauskrabbelten.

Tommy wurde es schlecht.

»O Scheiße!«, rief Dennis, nachdem er sich aufgerappelt hatte.

Cody Roache, das Gesicht mit Erde verschmiert und die Brille schief auf der Nase, kreischte los, drehte sich um und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Wendy starrte die Tote an, ihr Gesicht war weiß wie ein Laken, aber ihr Verstand funktionierte genauso gut wie immer. Sie drehte sich zu Dennis und sagte: »Du musst deinen Dad rufen.«

Dennis achtete nicht auf sie. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder, um die Tote besser betrachten zu können. »Ist sie wirklich tot?«

»Fass sie nicht an!«, stieß Tommy hervor, als Dennis einen seiner dicken Finger nach dem Gesicht der Frau ausstreckte.

In seinem ganzen Leben hatte er erst ein Mal einen toten Menschen gesehen – seine Großmutter väterlicherseits –, und die hatte in einem Sarg gelegen. Aber er wusste, dass sie die Frau nicht anfassen durften. Es war respektlos. So etwas tat man nicht.

»Was ist, wenn sie bloß schläft?«, fragte Dennis. »Was ist, wenn man sie lebendig begraben hat und sie bewusstlos ist?«

Er versuchte, eines der Augenlider der Frau nach oben zu schieben, aber es ging nicht. Er schien seinen Blick nicht von ihrem Gesicht wenden zu können.

Tommy hatte den Eindruck, als hätte jemand an dem Grab gebuddelt. Eine Hand der Frau ragte aus der Erde, als hätte sie sie hilfesuchend ausgestreckt. Die Hand war zerfleischt, vielleicht hatte ein Tier ihre Finger angenagt, daran herumzerrt und die Knochen freigelegt.

Er war direkt auf eine tote Frau gefallen. In seinem Kopf drehte sich alles. Es war ein Gefühl, als hätte jemand einen Kübel kaltes Wasser über ihm ausgekippt.

In dem Augenblick, in dem Dennis erneut die Hand ausstreckte, um die tote Frau zu berühren, kam aus dem Gebüsch gegenüber ein Hund und knurrte.

Keiner von ihnen wagte es, sich zu bewegen. Der Hund sah böse aus. Er war weiß, mit einem großen schwarzen Fleck um eines der Glupschaugen und eines der kleinen Ohren. Der Hund kam näher. Die Kinder wichen zurück.

»Er beschützt sie«, sagte Tommy.

»Vielleicht hat er sie umgebracht«, sagte Dennis. »Vielleicht hat er sie umgebracht und wie einen Knochen verbuddelt, und jetzt ist er wiedergekommen, um sie zu fressen.«

Er sagte das in einem Ton, als hoffte er das und könnte es kaum erwarten, die nächste grausige Szene zu sehen.

Genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war, machte der Hund kehrt und verschwand wieder zwischen den Büschen.

Im nächsten Augenblick erschien ein Mann in der Uniform eines Deputys am Rand der Böschung, die die Kinder hinuntergestürzt waren. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt, und seine Augen lagen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille, und wie er so auf sie herunterblickte, sah er aus wie ein Riese. Es war Dennis Farmans Vater.

Tommy hielt sich von den Deputys fern, die den Bereich um das flache Grab mit gelbem Absperrband gesichert hatten. Er hätte schon längst zu Hause sein sollen. Seine Mutter würde furchtbar böse auf ihn sein. Um fünf hatte er Klavierunterricht. Aber irgendwie konnte er sich einfach nicht dazu aufraffen zu gehen, und außerdem durfte er das ja vielleicht auch gar nicht.

Die Dämmerung senkte sich über die Bäume. Irgendwo lief hier ein gefährlicher Hund herum und vielleicht sogar ein Mörder. Er wollte nicht mehr zu Fuß nach Hause gehen.

Die Erwachsenen auf der anderen Seite des Absperrbands schenkten Wendy und ihm keine Beachtung. Dennis lungerte direkt an der Absperrung herum, um so viel wie möglich von dem mitzubekommen, was die Deputys taten.

Cody war den ganzen Weg bis zur Straße gerannt und wäre beinahe vor den Streifenwagen von Dennis’ Vater gelaufen. Tommy hatte die Deputys darüber reden hören. Mr Farman hatte sich schnurstracks zum Fundort der Leiche begeben, aber Cody war nicht zurückgekommen.

»Ich wüsste gern, wer sie ist«, sagte Wendy leise. Sie saß auf dem Stumpf eines im letzten Sommer gefällten Baums. »Und wie sie gestorben ist.«

»Jemand hat sie umgebracht!«, sagte Tommy.

»Ich will jetzt lieber nach Hause«, sagte Wendy. »Du nicht?«

Tommy gab keine Antwort. Er hatte das Gefühl, sich im Inneren einer Blase zu befinden, und sobald er sich bewegte, würde die Blase platzen, und alle möglichen Gefühle würden wie eine Welle über ihn hinwegspülen und ihn ertränken.

Inzwischen hatte sich auch ein Grüppchen Schaulustiger im Park eingefunden. Sie standen oben an der Böschung – Jugendliche, ein Postbote, einer der Hausmeister aus der Schule.

Während er noch die Leute musterte, tauchte plötzlich Miss Navarre auf. Sie entdeckte Wendy und ihn und kam zu ihnen.

»Alles in Ordnung mit euch beiden?«, fragte sie.

»Tommy ist auf eine tote Frau gefallen!«, sagte Wendy.

Tommy sagte nichts. Er hatte am ganzen Leib zu zittern begonnen. Ihm stand das Gesicht der toten Frau vor Augen – das Blut, der Riss in der Wange, die Ameisen, die auf ihrem Gesicht herumkrabbelten.

»Ein Deputy ist in die Schule gekommen und hat gesagt, dass etwas passiert ist«, erklärte Miss Navarre und warf einen Blick zu der Stelle, an der die tote Frau lag. Dann wandte sie sich Tommy zu, strich ihm über die Stirn und entfernte einige welke Blätter aus seinen Haaren. »Du bist ganz blass, Tommy. Du solltest dich setzen.«

Gehorsam setzte er sich neben Wendy auf den Baumstumpf. Miss Navarre war mindestens so bleich wie sie, aber auf dem Stumpf war kein Platz mehr.

»Erzählt mir, was passiert ist«, sagte sie.

Die Geschichte sprudelte nur so aus Wendy heraus. Als sie zu der Stelle kam, wie Tommy auf das Grab gefallen war, schloss Miss Navarre die Augen und sagte: »Mein Gott.«

Sie beugte sich zu Tommy herunter und sah ihm in die Augen. »Geht’s dir gut?«

Tommy nickte kaum merklich. »Ja.«

Seine Stimme klang, als käme sie von weither.

»Wartet hier«, sagte Miss Navarre. »Ich frage die Deputys, ob ich euch nach Hause bringen kann.«

Sie ging hinüber zu dem zwischen den Bäumen gespannten Absperrband und versuchte, die Aufmerksamkeit von Dennis Farmans Vater auf sich zu lenken, der hier das Sagen zu haben schien.

Die beiden wechselten ein paar Worte. Miss Navarre deutete auf Dennis. Farmans Vater schüttelte den Kopf. Sie stritten miteinander. Tommy erkannte es an der Art, wie sie dastanden – Miss Navarre die Hände in die Hüften gestemmt, Mr Farman mit vorgestreckter Brust und auf sie herabblickend. Schließlich hob Miss Navarre eine Hand und beendete die Diskussion.

Verärgert kehrte sie zu ihnen zurück, auch wenn sie sich Mühe gab, es zu verbergen. Tommy spürte ihren Zorn, als würde sie eisiger Lufthauch umwehen.

»Kommt«, sagte sie und streckte die Hände nach ihnen aus. »Ich bringe euch nach Hause.«

Mit seinen zehn Jahren betrachtete sich Tommy normalerweise als zu groß, um sich von einem Erwachsenen an die Hand nehmen zu lassen. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann seine Mutter ihn das letzte Mal an die Hand genommen hatte. Im Kindergarten vielleicht. Aber im Augenblick kam er sich nicht besonders groß vor, und er nahm Miss Navarres Hand und hielt sich daran fest, als sie Wendy und ihn von diesem schrecklichen Ort wegführte. Aber das Bild nahm Tommy mit, es hatte sich ihm eingebrannt, und bei dem Gedanken, dass er es vielleicht nie wieder loswerden würde, wurde ihm ganz schlecht.

4

Anne Navarre spürte, wie sie innerlich zitterte, als sie sich von Frank Farman und dem Grab mit der Leiche abwandte, über das ihre Schüler gestolpert waren – zum einen zitterte sie vor Entsetzen darüber, was sie gerade gesehen hatte, zum anderen vor Zorn auf Frank Farman. Er war zu beschäftigt, um mit ihr zu sprechen. Um seinen Sohn würde er sich kümmern, sobald er die Zeit dazu fand – als glaubte er, es wäre egal, wenn er seinen Sohn bei der Exhumierung einer Leiche zusehen ließ. Arschloch.

Sie kannte Farman von einem Elternabend her. Er gehörte zu den Männern, die nichts außer der eigenen Meinung gelten ließen, und hätte eher bis zu seinem letzten Atemzug darauf beharrt, die Sonne gehe im Westen auf, als einer Frau recht zu geben.

Wie ihr Vater.

Im Augenblick konnte sie der Ursache für ihr Zittern jedoch nicht weiter auf den Grund gehen: Sie hatte ein Mordopfer gesehen – eine Frau, die umgebracht und verscharrt worden war wie irgendwelcher Müll –, und sie wusste, dass ihre Schüler das Gleiche gesehen hatten.

Sie brachte Wendy und Tommy zurück zur Schule, wo sie sie ins Lehrerzimmer setzte und ihre Eltern anrief.

Anne erzählte Wendys Mutter nur das Nötigste. Sie sagte lediglich, es habe im Park einen Zwischenfall gegeben und sie würde Wendy nach Hause bringen.

Bei den Cranes meldete sich ein Anrufbeantworter. Sie hinterließ die gleiche Nachricht, ohne auf Einzelheiten einzugehen.

Während der Fahrt blieben die Kinder still. Sie wusste nicht, was sie zu ihnen sagen sollte. Das alles wieder gut werden würde? Ihr Leben hatte gerade einen tiefen Einschnitt erfahren. So viel stand fest. Noch auf Jahre hinaus würden sie in ihren Träumen das Gesicht einer toten Frau sehen.

Anne durchforstete ihr Gedächtnis nach irgendwelchen Ratschlägen. Von ihrem Studium der Kinderpsychologie schien nicht viel hängen geblieben zu sein. Sie hatte ihre Diplomarbeit nie fertig geschrieben, hatte nie in einer Klinik oder Praxis gearbeitet. Für eine Situation wie diese fehlte ihr der Hintergrund. Fünf Jahre Unterricht in der fünften Klasse hatten sie auf so etwas nicht vorbereitet.

Vielleicht hätte sie versuchen sollen, sie zum Sprechen zu bringen, damit sie ihre Gefühle herausließen. Vielleicht hatte sie zu viel damit zu tun, sich nicht von ihren eigenen Gefühlen überwältigen zu lassen.

Sara Morgan wartete vor der Haustür, als Anne in die Einfahrt bog. Wendys Mutter war eine große und durchtrainierte erwachsene Version ihrer Tochter mit kornblumenblauen Augen und einer dichten blonden Mähne. Sie trug ein blaues T-Shirt und eine ausgeblichene Jeans-Latzhose mit aufgerollten Beinen, unter denen weiße Socken mit Spitzenrand zu sehen waren. In ihren Augen standen Tränen, und sie wirkte verstört.

»O Gott«, sagte sie, als Anne und Wendy ausstiegen. »Mein Nachbar hat mir erzählt, dass im Park jemand ermordet wurde. Er ist fünfundachtzig und sitzt im Rollstuhl und hört den ganzen Tag Polizeifunk«, plapperte sie drauflos. »War Wendy dort? Hat sie gesehen, was passiert ist? Wendy!«

Sie kniete sich hin, und Wendy lief zu ihr und ließ sich in den Arm nehmen.

»Geht’s dir gut, Schätzchen?« Sie suchte das Gesicht ihrer Tochter nach irgendwelchen Verletzungen ab.

»Wir sind gerannt, und dann sind wir einen Abhang runtergefallen und dann – und dann …« Wendy rang nach Luft. »Tommy ist direkt auf sie draufgefallen! Er ist direkt auf eine tote Frau draufgefallen! Es war so gruselig!«

»O Gott!«

»Und Dennis hat dauernd versucht, sie anzufassen. Er ist so ekelhaft!«

Sara blickte zu Anne hoch. »Wer war sie? Wie wurde sie … Wurde sie erschossen – oder was?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Anne. »Es wird sicher eine Weile dauern, bis Einzelheiten bekannt gegeben werden.«

»Und dann war da so ein Hund«, fuhr Wendy fort. »Er sah richtig wild aus. Und er hat uns angeknurrt, und Dennis hat gesagt, dass vielleicht der Hund die Frau umgebracht hat …«

»Ein Hund?«, sagte ihre Mutter. »Was für ein Hund? Hatte er Schaum vor dem Maul? Hast du ihn angefasst?«

»Nein! Er ist weggelaufen.«

»Er könnte Tollwut haben! Bist du sicher, dass du ihn nicht angefasst hast?«

»Ich habe ihn nicht angefasst!«, sagte Wendy mit Nachdruck.

Sara Morgan strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah Anne an. »Was geschieht jetzt? Kommt die Polizei zu uns?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Anne. »Dennis Farmans Vater ist Deputy. Er hat mir erlaubt, Wendy und Tommy nach Hause zu bringen. Vielleicht ruft später jemand aus dem Büro des Sheriffs an. Er hat jedenfalls nichts gesagt.«

»Was für eine furchtbare Sache. Wir sind hierhergezogen, weil es hier keine Kriminalität gibt. Und kaum Verkehr und Smog. Ich habe mir nie Gedanken gemacht, wenn Wendy zu Fuß von der Schule nach Hause ging. Glauben Sie, der Hund könnte die Frau getötet haben?«

»Das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Anne.

Sara Morgan wandte sich wieder ihrer Tochter zu. »Falls du diesen Hund angefasst hast …«

»Ich habe den Hund nicht angefasst!«, wiederholte Wendy ungeduldig.

»Meinen Sie, sie braucht Hilfe?«, fragte Sara Anne. »Die Schwester der Exfrau des Onkels meines Mannes hat in Beverly Hills eine psychotherapeutische Praxis.«

»Tun Sie, was Sie für das Beste halten.«

»Ich weiß nicht, was ich für das Beste halte«, gestand Sara. »Über so etwas steht nichts in den Ratgebern für Eltern.«

»Nein«, erwiderte Anne, »darüber steht auch nichts in den Ratgebern für Kinder.«

»Nein. Mein Gott, ich selbst habe noch nie eine Leiche gesehen. Wenn ich zu einer Beerdigung muss, schaue ich nie in den Sarg. Allein die Vorstellung jagt mir eine Heidenangst ein.«

»Ich sollte Tommy jetzt nach Hause fahren«, sagte Anne. »Ich habe seine Mutter telefonisch nicht erreicht.«

»Ich kann Peter in der Praxis anrufen«, bot Sara an. »Er ist unser Zahnarzt. Er und mein Mann spielen Golf miteinander.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nein, überhaupt nicht. Und danke, dass Sie Wendy nach Hause gebracht haben.«

Anne stieg wieder in ihr Auto und warf einen Blick auf den Rücksitz, wo Tommy saß und auf seine Hände im Schoß starrte.

»Meinst du, dass deine Mutter inzwischen zu Hause ist, Tommy?«

Er sah auf seine Uhr. »Ja.«

»Sie macht sich bestimmt schon Sorgen um dich.«

»Ich hätte jetzt eigentlich Klavierunterricht«, sagte er mit ängstlicher Miene. »Vielleicht sollten wir besser dorthin fahren.«

»Ich glaube, dein Klavierlehrer wird dich entschuldigen, wenn er hört, was du erlebt hast.«

Der Junge gab keine Antwort.

»Willst du darüber reden, was passiert ist?«, fragte Anne, als sie losfuhren.

»Nein, lieber nicht.«

Warum sollte er auch mit ihr darüber reden, was er empfand? Sie war erst seit zwei Monaten seine Lehrerin. Ihren bisherigen Beobachtungen nach zu urteilen, war Tommy ein sehr zurückhaltendes Kind. Er war intelligent, tat jedoch nichts, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schien im Gegenteil eher alles zu tun, um sich unsichtbar zu machen.

Anne fragte sich, warum. Sie hatte seine Eltern beim Elternabend kennengelernt. Sein Vater, der Zahnarzt, war charmant und aufgeschlossen. Die Mutter wirkte ein bisschen angespannt, schien aber ganz nett zu sein. Sie war stolz auf die Intelligenz und den Fleiß ihres Sohnes. Sie war Immobilienmaklerin und saß in den Komitees verschiedener Wohltätigkeitsvereine. Die Cranes waren die typische amerikanische Yuppie-Familie.

Sie wohnten vier Straßen von den Morgans entfernt in einem hübschen zweistöckigen, weiß verputzten Haus im spanischen Kolonialstil mit einem wunderschön angelegten Garten und einer großen ausladenden Eiche auf einer Seite. In der Dämmerung leuchteten die Fenster auf der Vorderseite und die Lampen neben dem Weg zum Haus einladend.

Durch eines der Fenster sah Anne Janet Crane in einem fuchsiafarbenen Kostüm nervös auf und ab gehen und in ein schnurloses Telefon sprechen.

Tommy stieg aus und blieb neben dem Auto stehen. Anne streckte ihm die Hand entgegen. Er umklammerte sie ein bisschen zu fest, während sie nebeneinander den Weg entlanggingen.

Noch bevor sie die Eingangsstufen erreicht hatten, wurde die Haustür geöffnet. Janet Crane starrte ihren Sohn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Wo bist du gewesen?«, herrschte sie Tommy an. »Ich habe dich wie verrückt gesucht! Du wusstest doch, dass du Klavierunterricht hast …«

»Mrs Crane …«, setzte Anne an.

»Glaubst du vielleicht, Mr England hat seine Zeit gestohlen? Oder ich meine?«

»Mrs Crane«, sagte Anne mit mehr Nachdruck. »Haben Sie meine Nachricht nicht bekommen?«

Janet Crane sah sie an, als wäre sie soeben aus dem Boden gewachsen. »Nachricht? Was denn für eine Nachricht? Ich habe den Anrufbeantworter nicht abgehört. Ich habe versucht, meinen Sohn zu finden.«

»Könnten wir bitte ins Haus gehen?«, sagte Anne.

Tommys Mutter holte tief Luft und beruhigte sich ein wenig. »Natürlich. Entschuldigen Sie. Bitte treten Sie ein, Miss Navarre.«

Tommy ließ Annes Hand nicht los, als sie die Diele betraten. Sein Blick war auf die Terrakottafliesen gerichtet. Keine liebevolle Umarmung von Mom. Keine Frage nach seinem Wohlergehen. Nur die Sorge um den Klavierlehrer.

Anne beugte sich zu ihm hinunter. »Tommy, vielleicht gehst du inzwischen dein Gesicht und deine Hände waschen, während ich mit deiner Mutter rede?«

Er verschwand in einem Badezimmer, das mit grellbunten Papageien auf gelbem Grund tapeziert war.

»Tut mir leid«, sagte Janet Crane. »Ich war vor Sorge außer mir. Es sieht Tommy gar nicht ähnlich, den Klavierunterricht zu versäumen. Er ist immer sehr pünktlich.«

Anne war sich sicher, dass das auch auf seine Mutter zutraf. Pünktlich, korrekt in ihrem fuchsiafarbenen Kostüm mit den großen Schulterpolstern und dem kleinen Schößchen. Ihre dunklen Haare waren zu einem Bob geschnitten und wurden mit viel Haarspray in Form gehalten. Unwillkürlich drängte sich Anne der Begriff »zickig« auf. Die beim Elternabend zur Schau getragene freundliche Maske hatte ein paar Risse bekommen durch den Stress … weil ihr Sohn eine Klavierstunde versäumt hatte.

Anne berichtete ihr, was vorgefallen war, dass die Kinder im Park eine Leiche gefunden hatten, dass Tommy buchstäblich auf das Grab gestürzt war.

Erneut riss Janet Crane die Augen auf. »Du lieber Gott!«

Die Absätze ihrer pinkfarbenen Pumps klapperten auf den Fliesen, als sie sich abrupt umdrehte und ins Wohnzimmer ging, das aussah, als wäre es einem Einrichtungsmagazin entsprungen. Sie ließ sich auf die Kante des Sofas sinken. Ihr Blick schoss durch den Raum, als hielte sie Ausschau nach Hilfe.

»Ich denke, Tommy steht unter Schock«, sagte Anne. »Er hat kaum etwas gesagt, seit es passiert ist.«

»Also … also, ich weiß gar nicht, was ich tun soll«, erklärte seine Mutter. »Soll ich einen Arzt rufen?«

»Körperlich scheint ihm nichts zu fehlen, aber vielleicht wäre es gut, wenn er therapeutische Hilfe erhält.«

»Warum hat mich denn niemand angerufen?«, fragte Janet Crane, um sich über irgendetwas empören zu können. Zorn lag ihr offenbar mehr als mütterliche Sorge. »Warum hat Ihr Rektor nicht angerufen? Warum ist er nicht hier?«

»Mr Garnett war heute nicht in der Schule.«

Tommy erschien in der Tür. Sein Gesicht und seine Arme waren sauber, und man konnte die Schrammen und Kratzer sehen, die er bei dem Sturz davongetragen hatte. Er hatte seine braunen Haare nass gemacht und so ordentlich gekämmt, wie es bei den Wirbeln ging. Seine Kleidung war jedoch schmutzig, und seine Jeans hatte an einem Knie einen Riss. Anne fragte sich, ob er sich damit auf das Sofa setzen durfte.

»Tommy«, sagte seine Mutter und ging auf ihn zu. »Es tut mir so leid. Ich hatte ja keine Ahnung, was passiert ist.«

Anne beobachtete, wie sie ihren Sohn zögernd berührte, als hätte sie Angst, sie könnte sich etwas bei ihm holen, während sie seine Verletzungen untersuchte.

Durch das Fenster sah Ann einen schnittigen dunklen Jaguar neben ihrem kleinen roten Volkswagen in der Einfahrt halten. Peter Crane stieg aus und kam auf das Haus zu.

Er war ein attraktiver Mann von mittlerer Statur, schlank und gut gekleidet mit seiner schwarzen Hose, dem Hemd und der Krawatte. Mit einem fröhlichen Hallo trat er durch die Tür.

Sara Morgan hatte ihn in der Praxis nicht erreicht, schoss es Anne durch den Kopf.

Tommy wandte sich abrupt von seiner Mutter ab, lief zu seinem Vater und schlang ihm die Arme um die Taille. Peter Crane schien leicht verwirrt. Seine Frau ging in die Diele und berichtete ihm, was passiert war.

Anne sah, wie die Verwirrung auf seinem Gesicht Entsetzen wich.

»Es war ein schrecklicher Anblick«, sagte sie und trat zu den Cranes.

»Miss Navarre hat Tommy nach Hause gebracht«, sagte Janet Crane.

»Sie waren auch dort?«, fragte er.

»Ich bin sofort, nachdem ich gehört hatte, was passiert war, in den Park gegangen.«

»Mein Gott«, sagte er.

»Ich rufe Mr England an«, sagte seine Frau. »Um ihm zu erklären, warum Tommy heute nicht zum Klavierunterricht erschienen ist.«

Sie drehte sich um und verschwand mit klappernden Absätzen im Haus.

»So etwas passiert hier doch nicht«, sagte er.

Anne war in Oak Knoll, einem hübschen Städtchen mit zwanzigtausend Einwohnern (während des Semesters dreiundzwanzigtausend), geboren und aufgewachsen. Es lag etwa zwei Autostunden von Los Angeles entfernt und zog vor allem die gehobene Mittelschicht an. Es konnte ein namhaftes Privatcollege vorweisen, und infolgedessen bestand die Bevölkerung überwiegend aus gut ausgebildeten Berufstätigen, Wissenschaftlern und Künstlern. Die Kriminalität beschränkte sich auf ein paar unbedeutende Fälle von Drogenhandel, kleine Diebstähle und Sachbeschädigung, aber keine Morde, keine im Park begrabenen Frauenleichen.

»Weiß man schon, wer die Frau ist? Weiß man, was passiert ist?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Anne. »Ich bin selbst noch ganz durcheinander.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Nun ja, auf jeden Fall vielen Dank, dass Sie Tommy nach Hause gebracht haben, Miss Navarre. Wir wissen Ihre Fürsorge zu schätzen.«

»Wenn ich irgendetwas tun kann, rufen Sie mich bitte an«, sagte Anne. »Meine Nummer haben Sie ja.«

Sie beugte sich zu Tommy hinunter. »Das gilt auch für dich, Tommy. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du darüber reden willst, was passiert ist. Versuch, heute Nacht ein bisschen zu schlafen.«

Das Allheilmittel ihrer Mutter: Schlaf. Ein schlimmer Tag in der Schule? Schlaf ein bisschen. Dein Freund hat dich abserviert? Schlaf ein bisschen. Du stirbst an Krebs? Schlaf ein bisschen.

Soweit es Anne betraf, hatte Schlaf nie irgendein Problem in ihrem Leben gelöst. Es war nichts weiter als eine Floskel, wenn man nicht wusste, was man sonst sagen sollte. Schlaf war etwas, das man suchte, wenn Bewusstlosigkeit das Beste war, was einem blieb.

Als sie in ihr Auto stieg und sich auf den Nachhauseweg machte, hoffte sie, dass Tommy mit diesem Rezept mehr Glück haben würde als sie bisher.

5

»Das ist das dritte Opfer in zwei Jahren.«

»Das zweite.«

»In unserem Zuständigkeitsbereich. Eines der Opfer wurde im Nachbarcounty gefunden, aber es war derselbe Täter. Derselbe Modus Operandi, dieselbe Signatur.«

»Signatur?«, sagte Frank Farman. »Wo soll denn da eine Signatur sein? Vielleicht hat er ja auch gleich noch seine Adresse und Telefonnummer hinterlassen.«

Detective Tony Mendez presste die Zähne aufeinander. Chief Deputy Farman war noch einer von der alten Garde und voller Ressentiments gegen ihn, weil er eines der neuen Gesichter der Polizei war – jung, Collegeabsolvent, einer Minderheit angehörend und wild darauf, sämtliche neuen Techniken zu nutzen, die die Zukunft versprach.

»Warum ziehen wir nicht eine Kristallkugel zu Rate?«, schlug Farman vor. »Damit ersparen wir uns eine Menge Laufarbeit.«

»Es reicht, Frank.«

Cal Dixon, dreiundfünfzig, durchtrainiert, grauhaarig, mit frisch gestärkter und gebügelter Uniform, war jetzt seit drei Jahren County Sheriff. Bevor er nach Norden in das friedliche Oak Knoll gezogen war, hatte er viele Jahre im Sheriff’s Department von L. A. County gearbeitet. Seine Kandidatur für das hiesige Amt hatte er mit dem Versprechen von Fortschritt und Veränderung angetreten. Tony Mendez war ein lebender Beweis für die Umsetzung dieses Versprechens.

Mendez war sechsunddreißig, intelligent, engagiert und ehrgeizig. Er hatte sofort zugegriffen, als man ihm die Chance zum Besuch der National Academy des FBI bot, einem elfwöchigen Fortbildungsprogramm für langjährige und qualifizierte Mitarbeiter von Polizeibehörden, und zwar nicht nur aus den Vereinigten Staaten, sondern aus der ganzen Welt. Die in den Kursen behandelten Themen reichten von Sexualstraftaten über die Verhandlungen bei Geiselnahmen bis hin zu Kriminalpsychologie. Die Absolventen konnten danach nicht nur eine höhere Qualifikation vorweisen, sie hatten auch nützliche Kontakte gesammelt.

Dixon hatte Mendez als Investition betrachtet, die sich für seine Abteilung in mehr als einer Hinsicht auszahlen würde, und Mendez bewies nur zu gern, dass er damit richtiggelegen hatte.

»Modus Operandi bedeutet seine Vorgehensweise«, sagte Mendez. »Die Signatur ist wie ein Namenskürzel, etwas, das nur mit ihm selbst zu tun hat.«

Er deutete auf den Kopf der toten Frau, um die herum Deputys und Tatortermittler nach möglichen Beweisstücken suchten. »Augen zugeklebt. Mund zugeklebt. Erinnert mich an diese drei Affen, nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn es ihm nur darum ging, sie umzubringen. Es macht ihn an.«

»Das ist ja alles ungeheuer interessant«, sagte Farman. »Aber wie hilft es uns dabei, den Knaben zu schnappen?«

Er meinte das nicht einmal sarkastisch. Mendez wusste, dass nach wie vor viele Polizisten Zweifel an der Nützlichkeit der operativen Fallanalyse hatten. Mendez hatte jedoch genug Morde untersucht, um das anders zu sehen.

Sie standen im Oakwoods Park. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Die Oktoberluft war herbstlich frisch. Der Bereich um das flache Grab herum wurde von tragbaren Arbeitslampen in gleißendes Licht getaucht. Es ließ die Szenerie noch surrealer und makabrer erscheinen.

Die Leiche hatte nicht sehr lange hier gelegen. Höchstens einen Tag. Sonst hätten ihr Tiere und Insekten stärker zugesetzt. Wären nicht die klaffende Wunde an der Wange und die über ihr Gesicht krabbelnden Ameisen gewesen, hätte man meinen können, dass die junge Frau friedlich schlief – was zweifellos ganz und gar nicht den Umständen entsprach, unter denen sie den Tod gefunden hatte, dachte Mendez.

Seiner Überzeugung nach würden sie feststellen, dass sie stranguliert, gefoltert und sexuell missbraucht worden war. So wie die beiden Opfer vor ihr.

Er hatte vor achtzehn Monaten den ersten Mordfall bearbeitet – Julie Paulsen –, ohne ihn lösen zu können. Das Opfer war mit zugeklebten Augen und zugeklebtem Mund auf einem Campingplatz acht Kilometer außerhalb der Stadt gefunden worden. An ihren Handgelenken und Fußknöcheln hatten sie mehrere Fesselungsspuren gefunden, einige davon älter als die anderen, ein Hinweis darauf, dass sie über einen gewissen Zeitraum gefangen gehalten worden war.

Neun Monate später hatte er mit den Detectives im Nachbarcounty gesprochen, als man dort eine Frauenleiche gefunden hatte. Er hatte sich die Fotos angesehen – sie war längere Zeit Wind und Wetter ausgesetzt gewesen, bevor Wanderer sie in der Nähe eines häufig begangenen Wanderwegs entdeckt hatten. Vom Mund und dem einen Auge war mehr oder weniger nichts mehr übrig gewesen. Das andere Auge war zugeklebt. Das Zungenbein war gebrochen, was auf Erwürgen hindeutete.

»Von den beiden anderen war keine begraben«, sagte Dixon. »Geschweige denn so zur Schau gestellt wie die hier.«

Der Kopf des Opfers befand sich vollständig über der Erde und ruhte auf einem Stein von der Größe eines Brotlaibs. Sorgfältig arrangiert um der größtmöglichen Schockwirkung willen. Das war ein neuer Aspekt: Die Leiche war in einem stark frequentierten öffentlichen Park zurückgelassen worden, abseits der Hauptwege, aber an einer Stelle, an der man sie finden musste.

»Damit ist er ein ziemliches Risiko eingegangen«, sagte Mendez. »Vielleicht sucht er Aufmerksamkeit. Ich schätze mal, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun.«

Dixon trat einen Schritt auf ihn zu und runzelte die Stirn. »So etwas will ich außerhalb meines Büros nicht noch einmal aus Ihrem Mund hören.«

»Aber mit diesem Opfer hier sind es drei. Ich kann Kontakt mit Quantico aufnehmen.«

»Ja, das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte Farman. »Dass hier irgend so ein Typ vom FBI herumstolziert wie ein Gockel auf dem Hühnerhof. Wen, zum Teufel, interessiert es, ob der Kerl mit zehn Jahren noch ein Bettnässer war? Wozu soll das gut sein? Die schicken irgendeinen karrieregeilen Streber her, der scharf darauf ist, im Fernsehen aufzutreten und der Welt zu erklären, dass er ein Genie ist und wir ein Haufen vertrottelter Kleinstädter.«

Dixon warf einen Blick zu den Schaulustigen, die noch immer auf der anderen Seite der Absperrung standen. »Ich möchte kein Wort mehr darüber hören, dass dieser Mord in Verbindung mit irgendeinem anderen stehen könnte. Kein Wort darüber, dass Augen und Mund des Opfers zugeklebt waren. Niemand spricht die Buchstaben F-B-I aus.«

Mendez spürte ein »Aber« in seinem Hals stecken wie einen Hühnerknochen.

»Ich schicke die Leiche ins L. A. County«, erklärte Dixon, die blauen Augen mit grimmigem Blick auf das Opfer gerichtet. »Die Leiche soll sich einer ansehen, der sich nicht tagsüber als Bestattungsunternehmer betätigt.«

»Bei denen da unten stapeln sich die Leichen«, sagte Farman.

»Ich werde mit ein paar Leuten reden und dafür sorgen, dass sie unsere vorrangig behandeln.«

»Sheriff, wenn dieser Täter drei Frauen umgebracht hat, dann bringt er auch vier, fünf oder sechs um«, sagte Mendez, um einen ruhigen Ton bemüht. »Wie viele Frauen hat Bundy umgebracht? Dreißig Morde hat er gestanden. Es besteht die Vermutung, dass die Zahl näher bei hundert liegt. Müssen denn erst noch ein paar Frauen sterben, bevor wir …«

»Gehen Sie mir bloß nicht auf die Nerven, Detective«, sagte Dixon warnend. »Erst mal müssen wir rausfinden, wer diese junge Frau war. Sie war die Tochter von jemandem.«

Mendez schwieg und dachte über diese Bemerkung nach. Irgendwo vermissten heute Abend Eltern ihre Tochter. Und selbst wenn ihnen klar wurde, dass sie verschwunden war, klammerten sie sich bestimmt an die Hoffnung, dass man sie lebend fand. Sie würden unter der Ungewissheit leiden. In einem Tag oder in zwei Tagen oder in zehn – wenn man diese Leiche identifiziert und ihr einen Namen gegeben hatte – würde ihre Hoffnung in Verzweiflung umschlagen. Die Ungewissheit wäre vorbei, und an ihre Stelle träte die grauenvolle Erkenntnis, dass sie ihnen genommen worden war, brutal und gewissenlos.

Und derjenige, der das getan hatte, war immer noch da draußen und hielt vermutlich Ausschau nach seinem nächsten Opfer.

6

»Warum schalten wir nicht um? Du weißt doch genau, dass ich die Zehnuhrnachrichten nicht ausstehen kann. Die einzigen Leute, die der Meinung sind, dass man um zehn die Nachrichten ansehen sollte, wohnen in Kansas und müssen um halb elf im Bett sein, damit sie am nächsten Tag im Morgengrauen aufstehen und dem Mais beim Wachsen zusehen können.«

Anne schenkte dem Genörgel ihres Vaters keine Beachtung und stellte statt einer Antwort mit der Fernbedienung die Lautstärke höher. Die Nachrichten wurden von einem lokalen Sender ausgestrahlt, die Reporter kamen frisch vom College, die Nachrichtensprecherin war gerade als untherapierbar aus der Betty Ford Clinic entlassen worden. Der Aufmacher war die Leiche im Park.

Die Brille des Reporters saß schief, und sein Sportjackett war ein paar Nummern zu weit, als hätte er es sich von seinem großen Bruder geliehen.

Er stand neben dem Schild mit der Aufschrift »Oakwoods Park« und kniff zum Schutz vor dem blendenden Licht der ungünstig aufgestellten Scheinwerfer die Augen zusammen. Für einen Jungen, der normalerweise über die Sitzungen des Stadtrats und des Schulaufsichtsrats berichtete, war das zweifellos seine bislang größte Story.

»Heute Nachmittag haben Kinder beim Spielen im Oakwoods Park die Leiche einer toten Frau gefunden.«

Annes Vater, seines Zeichens emeritierter Englischprofessor, stöhnte auf, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.

»Schwachkopf!«, rief er. »Hätten sie vielleicht auch die Leiche einer lebenden Frau finden können? Idiot!«

»Sei still«, zischte Anne. »Tautologien sind in einem Mordfall nun wirklich ein minderschweres Problem.«

»Von einem Mord hat niemand was gesagt.«

»Es war Mord.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben.« Sie stellte die Lautstärke noch ein bisschen höher.

»Das Opfer konnte noch nicht identifiziert werden. Auch die Todesursache ist unbekannt bislang.«

»Bislang unbekannt!«

»Ich bring dich um«, sagte Anne.

»Prima«, erwiderte ihr Vater. »Dann kann dieser Esel berichten, dass man meine tote Leiche hat ermordet aufgefunden.«

»Dass es jemals dazu kommt, wäre wohl zu viel vom Glück verlangt«, murmelte Anne vor sich hin. Sie stellte den Ton noch lauter, als Sheriff Cal Dixon vortrat, um eine Erklärung abzugeben.

Dixon zählte die Fakten auf. Bei dem Opfer handelte es sich um eine Frau zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig. Weder bei der Leiche noch in ihrer unmittelbaren Umgebung hatte man einen Ausweis oder etwas Ähnliches gefunden. Er konnte keine Angaben dazu machen, wie lange sie schon tot war. Es war eine Autopsie veranlasst worden, und sobald die Ergebnisse vorlagen, könnte er vermutlich Näheres über die Todesursache sagen.

Ja, es sehe so aus, als sei sie ermordet worden.

Der Sheriff ging weg, um mit Frank Farman und einem attraktiven, mexikanisch aussehenden Mann in Baumwollhose und Sportjackett zu reden. Wahrscheinlich ein Detective, dachte Anne.

Die Nachrichten wurden für die Werbung unterbrochen, und auf dem Bildschirm erschien ein Verkäufer, der mit der Stimmgewalt eines Marktschreiers Matratzen anpries. Hätte das Telefon nicht auf dem Sofatisch direkt neben ihr gestanden, hätte Anne es vermutlich gar nicht klingeln hören. Sie nahm ab und zuckte zusammen, als ihr eine Frau ins Ohr brüllte.

»Ihr Fernseher ist zu laut! In der Nachbarschaft wohnen Leute, die schlafen wollen!«

Anne schaltete den Ton aus. »Tut mir furchtbar leid, Mrs Iver. Mein Vater hört so schlecht, wissen Sie.«

Ihr Vater funkelte sie wütend an und rief von seinem Sessel aus quer durchs Zimmer: »Entschuldigung, Judith! Wir haben uns den Bericht über diesen Mord angesehen. Du solltest deine Fenster schließen und verriegeln. Soll ich rüberkommen und mich auf deinem Grundstück umsehen?«

Die Wahrscheinlichkeit, dass er mitten in der Nacht mit seinem Sauerstoffgerät im Schlepptau nach draußen schlurfte, um für die Sicherheit von Judith Iver zu sorgen, war in etwa so groß wie die, dass er zum Mond flog. Anne hielt den Hörer von ihrem Ohr weg.

»Vielen Dank, Dick! Du bist immer so lieb!«, schrie Judith Iver. »Aber mein Neffe ist da.«

»In Ordnung«, schrie ihr Vater zurück. »Gute Nacht, Judith!«

»Ihr Neffe«, sagte er angewidert, als Anne auflegte. »Dieser Nichtsnutz. Eines Nachts wird er ihr die Kehle durchschneiden, während sie davon träumt, dass aus ihm noch mal was Großes wird, die dumme Kuh.«

Die zwei Seiten von Dick Navarre: bei anderen Leuten der charmante, distinguierte alte Herr, zu Hause ein unangenehmer alter Nörgler. Professor Navarre und Mr Hyde. Aber wenn Anne ihn seinen Bekannten gegenüber so beschrieben hätte, dann hätte man sie garantiert für gestört gehalten.

Sie stand auf und gab ihm die Fernbedienung.

»Ich gehe ins Bett«, sagte sie, während sie zum Schutz vor der nächtlichen Kälte und Mrs Iver das Wohnzimmerfenster schloss. »Hast du deine Tabletten genommen?«

Er sah sie nicht an. »Ich habe sie vorhin genommen.«

»Ach wirklich? Auch die, auf deren Packung ›Vor dem Schlafengehen einnehmen‹ steht?«

»Der menschliche Körper weiß nicht, wie spät es ist.«

»Klar. Mir fällt’s im Moment nicht ein, an welcher Uni hast du gleich noch mal nebenbei Medizin studiert?«

»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Ich halte mich ständig über die aktuellen medizinischen Entwicklungen auf dem Laufenden.«

Anne verdrehte die Augen und ging vom Wohnzimmer in die Küche, um ihm seine letzte Dosis Tabletten für heute zu bringen. Tabletten für sein Herz, seinen Blutdruck, Ödeme, Arthritis, seine Nieren, seine Arterien.

Ich halte mich ständig über die aktuellen medizinischen Entwicklungen auf dem Laufenden. Was für ein Schwachsinn.

Mit seinen neunundsiebzig Jahren verbrachte ihr Vater den Großteil seiner Zeit damit, mit seinen alten Golffreunden über Politik zu diskutieren. Wenn es dabei um Wanderarbeiter gegangen wäre, hätte er behauptet, er halte sich über die aktuelle Einwanderungsgesetzgebung auf dem Laufenden.

Anne hatte ihm seine Lügen noch nie abgekauft. Nicht mit fünf und auch nicht mit fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte ihn immer als genau das gesehen, was er war – ein bösartiger, rücksichtsloser Egomane –, und er hatte es immer gewusst und ihr übel genommen.

Sie liebten einander nicht. Sie mochten sich nicht einmal. Und sie taten auch gar nicht so, außer in der Öffentlichkeit – und auch dann nur widerwillig, soweit es Anne betraf. Dick, der begnadete Schauspieler, ließ jeden in der Stadt glauben, sie sei sein Augenstern.

Auf die gleiche Weise hatte er ihre Mutter behandelt – in der Öffentlichkeit hatte er sie auf ein Podest gestellt, in den eigenen vier Wänden in den Staub getreten. Und betrogen hatte er sie auch noch. Aber aus Gründen, die Anne nie begriffen hatte, hatte ihre Mutter ihn bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren und sieben Monaten geliebt.

Mit sechsundvierzig Jahren hatte Marilyn Navarre ihren kurzen, qualvollen Kampf gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs verloren, weswegen Anne dem Schicksal immer noch gram war. Der Gesundheitszustand ihres Vaters verschlechterte sich von Jahr zu Jahr, dennoch hatte er einen Herzinfarkt, zwei Operationen am offenen Herzen und einen Schlaganfall überlebt. Er war im Koreakrieg verwundet worden, und 1979 hatte er ohne Kratzer einen Autounfall überstanden, bei dem mehrere Menschen ums Leben gekommen waren.

Er litt an Herzkranzgefäßverengung und einem halben Dutzend anderer Krankheiten, die ihn eigentlich hätten umbringen müssen, aber er war schlichtweg zu boshaft, um zu sterben. Seine Frau, ein zur Erde herabgestiegener Engel und beinahe dreißig Jahre jünger als er, hatte nach ihrer Diagnose nicht einmal mehr vier Monate gehabt.

Manchmal war Anne deswegen fürchterlich wütend auf ihre Mutter. Wie jetzt auf dem Weg hinauf in ihr Zimmer.

Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du mich mit ihm allein lassen? Ich brauche dich doch.

Ihre Mutter war immer ihr wichtigster Gesprächspartner gewesen, die Stimme der Vernunft, ihre beste Freundin. In diesem Moment hätte sie Anne gesagt, dass sie sich egoistisch verhielt, aber wie jedem verlassenen Kind war Anne das egal. Ein bisschen Egoismus war das Mindeste, was ihr zustand.

Dem letzten Wunsch ihrer sterbenden Mutter folgend, hatte sie ihr Studium abgebrochen und war nach Hause zurückgekehrt, um sich um ihren Vater zu kümmern. Statt zu promovieren und als Kinderpsychologin zu arbeiten, hatte sie eine Stelle als Lehrerin für die fünfte Klasse an der Grundschule von Oak Knoll angenommen.

Und jetzt hatten drei ihrer Schüler ein Mordopfer gefunden.

Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, als sie ihre Nachttischlampe anknipste. Es hätten vier sein müssen.

Wo immer Dennis Farman sich aufhielt, war Cody Roache nicht weit. In all dem Durcheinander und der Verwirrung über das, was geschehen war, hatte Anne überhaupt nicht an ihn gedacht. Jetzt überkamen sie Schuldgefühle. Der arme Cody, immer wurde er vergessen. Aber sie hatte ihn im Park nirgends gesehen. Vielleicht war er tatsächlich nicht dort gewesen. Vielleicht hatte ihn nach der Schule jemand nach Hause gefahren.

Inzwischen lagen die Kinder bestimmt alle im Bett und sollten fest schlafen und träumen. Würden sie das Gesicht der Toten vor sich sehen, sobald sie die Augen schlossen?

Anne trat ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht zu den Lichtern, die hinter den Fenstern der Häuser brannten. Was würde sie sehen, wenn sie in das Haus der Farmans blicken könnte? Frank Farman war sicher zusammen mit dem Sheriff immer noch am Fundort der Leiche. Würde seine Frau Dennis zuhören, wenn er ihr aufgeregt erzählte, was er heute erlebt hatte?

Sharon Farman hatte auf Anne einen überarbeiteten und lebensüberdrüssigen Eindruck gemacht. Sie hatte ihre Arbeit, sie hatte ihre Kinder, sie hatte ihren Ehemann. Aus Dennis’ Verhaltensauffälligkeiten in der Schule schloss Anne, dass sich seine Mutter nach Kräften bemühte, ihn zu ignorieren, in der Hoffnung, dass er möglichst bald erwachsen werden und ausziehen würde.

Es fiel ihr nicht schwer, sich Wendy Morgan und ihre Mutter Sara vorzustellen, wie sie bei eingeschaltetem Licht im Bett lagen und sich aneinanderkuschelten. Die Morgans schienen eine dieser liebevollen, harmonischen Familien zu sein, die man sonst nur im Fernsehen sah. Wendys Mutter gab Kunstunterricht an der Abendschule, ihr Vater Steve war Anwalt und verbrachte seine freie Zeit damit, bedürftigen Familien juristischen Beistand vor Gericht zu leisten.

Das Kind in Anne beneidete Wendy um diese Eltern. Sie selbst hatte eine einsame Kindheit gehabt, ausgeschlossen aus der Beziehung ihrer Eltern und der Entwicklung eines gestörten Beziehungsmusters ausgeliefert.

Ihre Mutter war nett und liebevoll zu ihr gewesen, trotzdem hatte Anne immer gewusst, dass die wichtigste Rolle im Leben ihrer Mutter ihr Vater spielte. Sogar jetzt noch. Noch im Tod hatte ihre Mutter die Bedürfnisse ihres Ehemanns über die ihres Kindes gestellt. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen, hätte sie es erkannt, aber das hatte sie nicht, und Anne hätte es ihr nie gesagt.

Anne war ein ruhiges Kind gewesen, eine Beobachterin. Ihr war nichts entgangen, was um sie herum vorging, sie hatte es verarbeitet und ihre Schlüsse für sich behalten.

Dieselben Eigenschaften stellte sie bei Tommy Crane fest. Er neigte dazu, sich von anderen abzusondern, ihre Stimmungen zu erfassen, zu beobachten, was sie taten, und entsprechend darauf zu reagieren. Von den Kindern, die die Leiche gefunden hatten, war er am empfindsamsten, und das Erlebnis würde ihm am meisten zu schaffen machen. Dennoch wäre er am wenigsten imstande, darüber zu sprechen.

Wenn sie einen Blick in das Haus der Cranes werfen könnte, würde sie dann Tommy sehen, wie er den ganzen Abend dasaß und zuhörte, während seine Mutter telefonierte und Termine bei Ärzten und Therapeuten für ihn vereinbarte? Wäre Tommys Vater derjenige, der sich die Geschichte von seinem schrecklichen Erlebnis anhörte, ihm Trost und Halt gab? Oder war Tommy brav nach Zeitplan ins Bett gegangen, und es blieb ihm überlassen, mit seinen Empfindungen allein fertig zu werden?

Anne tat das Herz weh, als sie in die Dunkelheit starrte und zusah, wie die Lichter in den Fenstern der Nachbarhäuser eins nach dem anderen ausgingen. Ein langer Tag war zu Ende, aber für Tommy und Wendy und Dennis hatte eine noch viel längere Zeit quälender Erinnerungen gerade erst begonnen.

7

Tommy saß auf der obersten Stufe der Treppe und lauschte. Eigentlich hätte er längst im Bett liegen sollen. Er hatte gebadet, wie er es an jedem zweiten Abend tat. Er hatte seinen Schlafanzug angezogen und sich unter der Aufsicht seines Vaters die Zähne geputzt. Seine Mutter hatte ihm sein Allergiemittel gegeben, damit er schlafen konnte. Er hatte so getan, als würde er es schlucken.

Er wollte nicht schlafen. Wenn er einschlief, dann würde er bestimmt die tote Frau sehen, und er war sich ziemlich sicher, dass sie in seinem Traum die Augen öffnen und mit ihm sprechen würde. Oder vielleicht würde sie den Mund öffnen, und Schlangen kämen heraus. Oder Würmer. Oder Ratten. Er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder schlafen wollte.

Andererseits traute er sich aber auch nicht, nach unten zu gehen. Seine Mutter würde sich nur aufregen, weil es siebenundzwanzig Minuten über seine Schlafenszeit war. Es war nicht gut, den Zeitplan durcheinanderzubringen. Außerdem schrie sie sowieso schon – seinetwegen.

Was sollte sie jetzt tun? Was sollte sie sagen, wenn jemand sie danach fragte, was passiert war? Die Leute wären bestimmt der Meinung, sie hätte ihn von der Schule abholen sollen. Sie würden sie für eine schlechte Mutter halten.

Sein Vater sagte, sie solle sich beruhigen, das sei einfach lächerlich.

Tommy zuckte zusammen. Das war sehr ungeschickt von seinem Vater. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen. Die Stimme seiner Mutter wurde jetzt richtig schrill. Von seinem Platz auf der dunklen Treppe aus konnte er sie nicht sehen, aber er wusste, was sie für ein Gesicht machte. Ihre Augen quollen hervor, ihr Gesicht war knallrot, und auf ihrer Stirn pochte eine große Ader, die wie ein Blitz aussah.

Tommys Augen füllte sich mit Tränen, er presste sich an die Wand und schlang die Arme um sich, tat so, als würde sein Vater ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, alles würde wieder gut werden und er müsste keine Angst haben. Das war es, was er sich wünschte. Aber es würde nicht geschehen.

Seine Mutter schwadronierte inzwischen weiter, dass sie mit ihm zu einem Psychiater gehen müsste und wie furchtbar das wäre – für sie.

»Es tut mir leid«, flüsterte Tommy. »Es tut mir leid.«