Einmal und nie wieder - Marie Louise Fischer - E-Book

Einmal und nie wieder E-Book

Marie Louise Fischer

3,0

Beschreibung

Die 19-jährige Heike hat es geschafft, sie beginnt ihren Berufsalltag in einer Werbeagentur. Heike, die wohlbehütet in einem gutbürgerlichen Elternhaus aufgewachsen ist, gerät damit in eine andere, ihr völlig unbekannte Welt. Sie wird mit Intrigen, Klatsch und Machtkämpfen unter Kollegen konfrontiert. Als sie von ihrem skrupellosen Chef Urban Hanslik verführt wird und er sie all ihrer romantischen Träume beraubt, scheint alles um sie herum zusammenzubrechen. Doch Heike schmiedet in diesem Moment der Enttäuschung einen Plan: Sie wird in der Agentur Karriere machen und sich eines Tages an ihrem Chef rächen. Der Anfang ist getan, als sie den jungen Fabrikanten Gus Georgi als Kunden für die Agentur gewinnen kann.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 372

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (18 Bewertungen)
4
3
4
3
4
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Louise Fischer

Einmal und nie wieder

Roman

SAGA Egmont

Einmal und nie wieder

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1995 Heyne Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718735

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Natürlich liebe ich dich!« antwortete er, schon in der Tür.

Sie hatte gar keine Frage gestellt, unsicher, ob sie es wagen durfte, nur die Lippen geöffnet und ihn angesehen, mit einem flehenden Ausdruck, der ihr selber nicht bewußt gewesen war.

Jetzt strahlte sie, aber da war er schon verschwunden.

Noch blieb sie in ihrem zerwühlten Bett und rekelte sich genüßlich wie ein Kätzchen. Dann sprang sie auf und lief zum Fenster. Er schloß gerade seinen silbergrauen Porsche auf und blickte kurz zu ihr hinauf. Sie winkte ihm zu, obwohl sie wußte, daß sie fünf Stockwerke hoch und durch den strömende Regen nicht zu erkennen war. Aber ihr war danach, ihm ein Zeichen zu geben, und sie bildete sich ein, daß er es, wenn er es auch nicht sah, doch fühlen mußte.

Jetzt fuhr der Porsche an, fädelte sich elegant in den trägen Sonntagsverkehr der Jugendheimer Straße ein und war bald darauf verschwunden.

Mit einem bebenden Seufzer wandte Heike sich ab, lief barfuß in ihre winzige Küche und goß Kaffee in eine der beiden bereitgestellten Tassen. Wenigstens seinen Kaffee hätte er noch mit ihr trinken können, schoß es ihr durch den Kopf. Aber er hatte es so verflucht eilig gehabt.

Mit gekreuzten Beinen, nackt wie sie war, kuschelte sie sich in den Sessel und nippte an dem sehr heißen Kaffee. Das Zimmer war unordentlich, aber das war sie so gewohnt, daß sie es gar nicht wahrnahm. Ihre Jeans, ihr T-Shirt, ein Frottiertuch und natürlich auch ihr feuchter Jogginganzug knäulten sich auf dem Boden.

Heikes Blick konzentrierte sich auf den kleinen roten Fleck mitten auf dem Laken. Sie hatte geblutet, tatsächlich, das war zu erwarten gewesen, nach allem, was sie darüber gehört und gelesen hatte. Aber sie hatte es nie wirklich geglaubt. Es hatte geblutet, und es hatte geschmerzt. Doch sie hatte dabei nichts anderes als Wollust empfunden. Und sie war so glücklich gewesen wie nie zuvor. Weil es Urban gewesen war, Urban Hanslik und kein anderer, den sie angehimmelt hatte, seit sie als Lehrling in der Werbeagenture arbeitete. Er hatte mit ihr gescherzt, hin und wieder, man konnte es als Flirt auslegen, aber die Kluft zwischen ihnen war so ungeheuer groß gewesen, schien ganz unüberbrückbar. Doch als sie Haut an Haut lagen und sie die Muskeln seines glatten Körpers spürte, war der Abstand, der sie trennte, auf einmal nicht mehr da – er war fort, wie weggezaubert. Noch hatte sie seinen Duft in der Nase, ein Gemisch aus leichtem Schweiß, teurem Eau de Toilette und Regen.

Sie waren sich so nah gewesen – so nah, wie sich zwei Menschen nur sein können. Ihr ganzes Leben hatte sich von einer Minute zur anderen verändert.

Heike war überzeugt, daß auch sie selbst sich gewandelt haben mußte.

Als sie ihre Tasse geleert hatte, sprang sie auf und musterte sich im Spiegel über dem Waschbecken. Doch was sie sah, war das gewohnte Bild: große graue Augen mit Wimpern und Brauen so hell wie ihr Haar, ein breiter, blasser Mund und Grübchen in den Wangen, wenn sie sich anläehelte, ›Ich sehe immer noch wie ein Kindskopf aus‹, dachte sie enttäuscht. ›Neunzehn Jahre und kein bißchen weise. ‹ Das Erlebnis hatte keine Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen.

Aber immerhin, ihr Körper, den sie im Spiegel nicht sehen konnte, war der einer jungen Frau, voll entwickelt und mit kecken Brüsten. Sie strich sich mit beiden Händen über ihren Busen und die schlanke Taille hinunter. »Jedenfalls«, tröstete sie sich, ›kann ich in Zukunft Tampons benutzen.‹

Zu ihrer Erleichterung blutete sie nicht mehr. Doch auf dem Sessel hatte sie einen kleinen Flecken hinterlassen. Sie tunkte den Zipfel eines Frottiertuch in kaltes Wasser und wusch ihn aus. Dann machte sie sich am Bettlaken zu schaffen. Sie würde die Wäsche am nächsten Wochenende nach Hause bringen. Es war nicht nötig, daß ihre Mutter gleich bemerkte, was passiert war. Das war ihr Geheimnis, obwohl sie große Lust hatte, mit jemandem darüber zu reden.

Einmal mehr ärgerte sie sich darüber, daß sie kein Telefon hatte; sonst hätte sie gleich mit ihrer besten Freundin in Eppelsbach geredet, dem Dorf im Taunus, in dem sie aufgewachsen war und in dem ihre Eltern immer noch lebten. Zur Telefonzelle gegenüber zu laufen, wäre ihr albern erschienen.

Natürlich konnte sie später vom ›Grünen Heinrich‹, der Kneipe an der Ecke aus anrufen, in der sie gelegentlich einkehrte, um ein Bierchen oder eine Cola zu trinken und andere junge Leute zu treffen. Aber das Telefon dort war nicht abgeschirmt, sondern stand auf der Theke. Also würde bestimmt einer der Gäste mitanhören, was sie zu verkünden hatte. Überhaupt kam sie zu dem Schluß, die Idee, der staunenden Mitwelt zu erklären, daß sie endlich ihre Unschuld verloren hatte, war einfach lächerlich, Sie wußte genau oder war sich doch ziemlich sicher, daß Elke schon mit fünfzehn etwas ziemlich Ernsthaftes mit einem großen Jungen gehabt hatte. Sie selber hatte bisher niemals ihre Unerfahrenheit zugegeben. Warum sollte sie es jetzt tun, da sie so weit war, daß sie mitreden konnte? Sie würde sich nur blamieren, und zwar ganz unnötig, das war alles.

Sie hatte überhaupt keine Lust, heute auszugehen, es regnete immer noch. Sie bezog ihre Bettcouch frisch und stopfte die gebrauchte Wäsche mitsamt allem, was im Zimmer herumlag, in einen großen Koffer, den sie mit nach Eppelbach nehmen wollte. Dann stieg sie unter die Dusche, wusch sich von Kopf bis Fuß und schlüpfte in ihren Bademantel. Danach kauerte sie sich wieder in ihren Sessel, den einzigen, den es im Zimmer gab, diesmal mit untergeschlagenen Beinen, und stellte ihren kleinen Fernseher an. Aber sie schaltete ihn gleich wieder aus. Das Schicksal der Leute aus der Lindenstraße, oder was immer sie senden mochten, interessierte sie nicht. Ihr eigenes Leben war für sie weit interessanter.

Sie erinnerte sich, wie sie gleich nach dem Abitur nach Frankfurt gekommen war. Lust zu studieren hatte sie nicht gehabt. Werbung, dachte sie, würde ihr Spaß machen. Sie war sehr erfreut gewesen, als ihr Onkel HansLudwig – der Bankier Hans-Ludwig Bethke – ihr eine Stellung als Auszubildende bei der Agentur ›panem et circenses‹, kurz ›p & c‹ genannt, beschafft hatte.

Der Spaß hatte sich leider in Grenzen gehalten, aber immerhin hatte sie dort Urban Hanslik kennengelernt, einen der vier Teilhaber, und sich Hals über Kopf in ihn verliebt.

Nicht, weil er so gut aussah, glaubte sie, sein gebräuntes Gesicht war etwas zu scharf geschnitten, fand sie, sein Mund zu schmal und die Nase zu groß. Nur seine intensiv blauen Augen und die blonde Tolle, die er sich immer wieder aus der Stirn streichen mußte, verliehen ihm Wärme. Es war vielmehr, seine Ausstrahlung von Männlichkeit, Kraft und Intelligenz, die ihn unwiderstehlich machte. Seine Figur – sehr schmale Taille und breite Schultern – war einfach spitze. Daß er mit Vorliebe italienische Anzüge mit streng taillierten Jacketts trug, war in Heikes Augen ein wenig affig. Aber sie paßten zu ihm. Auch seine Joggingkluft war nicht irgendwas von der Stange, sondern ein teures Designermodell. Das war unübersehbar.

Sie war ihm heute nicht zum ersten Mal beim Joggen begegnet. Seit sie wußte, daß er im Carl von Weinberg-Park lief – zu unregelmäßigen Zeiten, leider –, tat sie es ihm gleich. Wenn er sie sah, grüßte er, lächelte zuweilen oder winkte ihr lässig mit der Linken zu, obwohl er eigentlich Rechtshänder war.

Heute war es anders gewesen. Er war stehengeblieben, hatte schwer geatmet und sich die Stirn gewischt.

Sie hatte den Mut gefunden ihn anzusprechen. »Haben Sie Ihr Pensum hintet sich?«

»Kann man wohl sagen«, hatte er erwidert. »Ich bin geschafft.«

»Ich fange gerade erst an«, hatte sie erklärt, ohne sich jedoch von der Stelle zu rühren.

Ganz unvermutet war ein Regenschauer auf sie niedergeprasselt. Frauen kreischten auf und Männer flüchteten. Der Himmel über Frankfurt war seit Tagen so grau, als würde die Sonne sich niemals mehr zeigen wollen. Aber mit Regen hatte niemand gerechnet.

Sie hatte das komisch gefunden und gelacht.

Er hatte sie hart am Arm gepackt. »Wo wohnen Sie?«

»Ganz in der Nähe. In der Jugendheimer Straße.«

»Kommen Sie! Ich bringe Sie nach Hause.« Als sie schon auf dem Weg zu seinem Porsche waren, hatte er hinzugefügt, und es hatte etwas lahm geklungen, weil die Erklärung eigentlich unnötig war. »Damit Sie sich nicht erkälten.«

»Sie sind um meine Arbeitskraft besorgt?« hatte sie gescherzt, wohl wissend, daß es gerade damit nicht weit her war.

Er hatte nichts darauf erwidert, sondern ihr nur einen schrägen Blick aus seinen sehr blauen Augen zugeworfen; einen vielsagenden Blick aus seinen blauen Augen zugeworfen, einen vielsagenden Blick, den sie deuten konnte, wie sie wollte.

Auf der kurzen Fahrt hatten sie kein Wort gesprochen. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, aber ihr war kein Thema eingefallen, das ihn hätte interessieren können.

»Hier ist es«, war alles, was sie herausbrachte, als sie das Haus, in dem sie wohnte, erreicht hatten – ein ganz gewöhnliches Mietshaus, fünf Stockwerke hoch, mit einer kalten, schmucklosen Fassade.

Er hatte gegenüber geparkt, den Motor aber laufen lassen. Das kräftige dynamische Geräusch war ihr in alle Glieder gefahren.

Ihre Stimme klang gepreßt, als sie sagte: »Nett, daß Sie mich mitgenommen haben.«

Er erwiderte nichts, sah sie nicht einmal an. Der Motor dröhnte, der Regen trommelte auf das Verdeck, die Scheibenwischer tanzten.

Sie hatte den Türgriff schon in der Hand, konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen auszusteigen und wartete vergeblich auf einen Impuls von ihm.

»Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee bei mir trinken?« fragte sie endlich.

Er löste sich aus seiner Erstarrung, stellte den Motor ab und erklärte überraschend munter: »Na, dann los!«

Nebeneinander waren sie über die Fahrbahn gespurtet.

»Der Lift geht mal wieder nicht«, hatte sie erklärt, »wir müssen fünf Treppen hoch.« Als sie hinaufgingen, hatte sie hinzugefügt: »Aber wenigstens sind wir im Trockenen.«

»Ja. Wenigstens«, hatte er bestätigt.

Er schien jetzt ganz darauf konzentriert zu sein, die Treppen mühelos zu schaffen ohne außer Atem zukommen, was ihm nicht ganz leicht fiel, wie sie dachte, denn er war immerhin schon fast dreißig.

Für Heike spielten die Stufen keine Rolle; sie flog förmlich vor ihm her und hatte die Tür zu ihrem Apartment schon aufgeschlossen, als er den letzten Absatz erreichte. Sie war froh, daß sie ihr Bett gemacht und mit der großen bunten Überdecke kaschiert hatte, etwas, das sie durchaus nicht immer tat.

»Hereinspaziert! « rief sie über die Schulter zurück und stürzte sich sofort in ihre Kitchenette, die kaum größer als eine Kochnische war. Sie war schon dabei, den Wasserkessel zu füllen –, aber dann fiel ihr ein, daß das für ihren hohen Besuch vielleicht doch nicht das Richtige wäre. Also goß sie das Wasser in ihre kleine Kaffeemaschine, holte ein angebrochenes Päckchen mit gemahlenen Bohnen aus dem Kühlschrank und tat eine großzügige Portion in die Filtertüte. Dann schaltete sie die Maschine ein und stellte Tassen und Untertassen auf ein kleines Tablett, das mit dem Abbild eines freundlichen grauen Mopses verziert war; ein Geschenk ihres Cousins Daniel Bethke zum Einzug.

»Sahne oder Zucker habe ich leider nicht«, erklärte sie ohne besonderes Bedauern.

»Komm her zu mir!« befahl er.

Heike war überrascht; nicht nur über seinen Ton, sondern auch darüber, daß er sie plötzlich duzte.

»Aber … « sagte sie schwach und drehte sich zu ihm – um.

Er stand vor ihr, fast nackt, nur noch bekleidet mit sehr eleganten schwarz-weiß gestreiften Boxershorts.

Noch hatte sie nichts begriffen – was für ein albernes Häschen sie doch gewesen war! – und nur gespürt, wie ihre Augen groß wurden.

Auch er mußte das wohl gemerkt haben, denn sein Lächeln war beruhigend. »Raus aus den nassen Klamotten!« hatte er gesagt. »Du willst dir doch nicht den Tod holen.«

»Nein, aber … «hatte sie gestammelt. Doch sie hatte sich nicht gewehrt, als er ihr das Oberteil ihres Jogginganzugs über den Kopf gezogen hatte.

Er hatte sich niedergebeugt und sie auf beide Brüste geküßt. «Sieh an, was für reizende Zwillinge!« hatte er gesagt und schien ehrlich beeindruckt zu sein. Doch mit ganz verändertem, sachlichem Ton hatte er hinzugefügt: »Streif deine Schuhe ab, sonst kann ich dir nicht aus der Hose helfen!«

Sie hatte gehorcht, fasziniert, fast hypnotisiert.

Als sie nackt vor ihm stand, hatte er mit beiden Händen ihre Taille umfaßt und sie fordernd geküßt, bis ihre Lippen sich öffneten.

Es war nicht ihr erster »richtiger« Kuß gewesen, aber der erste, der sie vor Leidenschaft erschauern ließ. Bei den Jungen ihres Alters hatte sie, selten genug, nur aus Gutmütigkeit mitgemacht und nie begriffen, was sie überhaupt daran fanden.

Jetzt wußte sie es.

Sie wünschte, diese Küsse würden niemals enden, aber sie taten es, viel zu schnell. Er hatte seine Shorts abgestreift und legte ihre Hand auf sein steifes Glied, das unter ihrer Berührung pulsierte. Dann riß er mit einer Hand die Überdecke vom Bett und warf sich mit ihr auf das Lager.

Sie war nicht mehr erstaunt gewesen, denn jetzt wußte sie, was geschehen würde, und daß sie es wollte. Sie hatte sich nicht gerade geschickt angestellt, dachte sie, aber das war von einem Mädchen ohne Erfahrung wohl auch nicht zu erwarten. Sie erinnerte sich, daß er ihr die Knie hochgeschoben hatte, weil sie selber nicht wußte, was zu tun war.

Als er den Widerstand spürte, hatte er ganz kurz gestutzt, und dann noch kräftiger zugestoßen.

Hatte sie aufgeschrien? Sie war sich nicht sicher, wußte nur, daß es geschmerzt hatte.

»Das nächste Mal«, hatte er gesagt und sie ganz zart auf die Stirn geküßt, »wirst du mehr davon haben. Jetzt muß ich fort.« Und er hatte sich hastig angezogen.

Sie war einfach liegengeblieben und hatte ihm zugesehen und sich dabei auf nie zuvor gekannte Art wohl gefühlt.

Sie war sicher, daß er sie liebte. Sie hatte ihn gar nicht fragen wollen, und er hätte es auch nicht sagen brauchen.

Aber da er es ausgesprochen hatte, war es ein Satz, der immer noch im Raum stand, und der sich ihr, wie sie fühlte, tief ins Herz gebrannt hatte: »Natürlich liebe ich dich!«

Am nächsten Morgen regnete es nicht mehr. Der Himmel war von einem seltenen Blau, das der Millionenstadt ein fast südliches Flair verlieh. Jenseits des Main ragten mächtig die kühnen Bürotürme auf, schimmernd in Aluminium und Glas, schlank nur an ihrer Höhe gemessen.

Zu Beginn ihrer Laufbahn waren Heike Römer diese Wolkenkratzer als Symbol für die Geschäftigkeit der Stadt erschienen und hatten sie immer wieder tief beeindruckt. Inzwischen waren sie ihr eine selbstverständliche Kulisse geworden, von der sie gerade heute nicht einmal Notiz nahm. Sie war früher als gewöhnlich aufgestanden hatte im Laufschritt die Überführung der S-Bahn überwunden und das Gewerbegebiet Bürostadt Niederrad erreicht. Sie fieberte dem Wiedersehen mit ihrem Geliebten entgegen.

Das Haus, in dem die Agentur ›p & c‹ ihren Sitz hatte, war ein schlichter, schmuckloser Bau, aber ansprechend in seinen quadratischen Proportionen und auffallend durch seine grün lackierten Fensterrahmen. Ebenerdig, hinter spiegelnden Glasscheiben, vertrieb ein Autöhändler Wagen einer beliebten französischen Marke, aber schon neben dem Aufgang wies eine breite, glänzend polierte Messingtafel auf die Agentur hin. Ihre Räume, zu denen ein Lift führte, nahmen das ganze erste Stockwerk ein.

Es war fünf Minuten vor acht, als Heike eintraf. Sie blieb seitlich neben dem Eingang stehen, mit roten Wangen, erhitzt vom Lauf und der Erregung. Der Autohändler hatte schon eine Stunde zuvor geöffnet und die riesigen, grün-weiß gestreiften Markisen ausgefahren. Heike trug verwaschene Jeans, Turnschuhe und ein altrosa Baumwollhemd.

Die Mitarbeiter der Agentur trudelten einer nach dem anderen ein, die Spitzenkräfte vom nahen Parkplatz her, Marcella Olpen, superelegant und selbstsicher, grüßte sie mit einem zerstreuten kleinen Lächeln, Philip Garner, der Kreative, in einem breitkarierten Jackett, schenkte ihr ein Grinsen; Peter Prokofiew, klein, schlank und in Gedanken versunken, nahm keine Notiz von ihr. Die anderen, die Fotografen, Graphiker, der Fotosetzer und der Computerspezialist, hatten die S-Bahn bis zur Station Niederrad benutzt und trafen in losen Gruppen ein, riefen »hei« oder nickten ihr zu.

Nathan, der Graphikerlehrling, ein dunkelhaariger, gut aussehender Junge in Heikes Alter, in Jeans und Turnschuhen wie sie selbst, blieb einen Augenblick bei ihr stehen und begrüßte sie auf seine großspurige Art. »He, Kleines, kommst du nicht mit rauf?«

Heike schüttelte nur stumm den Kopf.

»Die Müller reißt dir die Ohren ab.«

Heik zückte die Achseln.»Na, wenn schon.«

»Du mußt es ja wissen.« Nathan verzog sich.

›Die Müller‹ war Heidi Müller, Sekretärin und Buchhalterin von ›p & c‹ und Heikes unmittelbare Vorgesetzte. Bei gutem Wetter pflegte sie zur Arbeit zu radeln und bei jedem Wetter war sie als erste da. Bestimmt war sie schon eingetroffen, bevor Heike ihren Posten bezog.

Die Zeit verstrich. Heike kam sich dumm vor. Ihr fiel ein, daß Urban an diesem Morgen gar nicht in die Agentur kommen, sondern einen Außentermin wahrnehmen könnte. Doch sie mochte sich nicht entschließen, ihren Wachposten aufzugeben. Sollte die Müller doch meckern, so viel sie wollte.

Und dann, endlich, kam er doch. Heikes Herz tat einen heftigen Sprung. Aber er war nicht allein, sondern in Begleitung von Hubert Bender von der ›Bender Elektronik AG‹, dem wichtigsten Auftraggeber der Agentur. Bender junior war krausköpfig, kleiner als Urban und Brillenträger. Heike dachte, daß sie sich, trotz seines enormen Reichtums, niemals für diesen jungen Mann interessieren könnte.

Die beiden Herren waren in ein sehr intensives Gespräch vertieft und beachteten Heike nicht. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor, strahlend vor Erwartung.

Da sah Urban sie an. Aber sein scharf geschnittenes Gesicht zeigte nicht die Spur eines Erkennens. Er sah sie an ohne sie wahrzunehmen, so, als wäre sie gar nicht existent.

Dann wandte er sich wieder seinem Begleiter zu. »Die Ideen, Hubert, knobeln wir aus«, hörte sie ihn im Vorbeigehen sagen. »Darüber brauchst du dir gar nicht den Kopf zu zerbrechen.«

»Ja, schon, aber ich meine doch … «, erklärte Bender junior widerspenstig.

Dann waren sie im Hauseingang verschwunden. Heike sollte nie erfahren, was der junge Unternehmer gemeint hatte. Es interessierte sie auch nicht. Sie war wie vom Donner gerührt. Urban hatte sie geschnitten. Sie konnte es nicht fassen.

Mit einer leise gemurmelten, kaum hörbaren Entschuldigung betrat Heike das Büro.

Heidi Müller saß am Computer, und ihre geschickten Finger flogen über die Tastatur. Sie war eine freundliche, rundliche junge Frau, die mit jedermann gut zurechtkam, außer mit Heike.

»Eine halbe Stunde Verspätung!« stellte sie fest. »Ich nehme an, Sie haben dafür eine Erklärung.«

Aber Heike war nicht in der Verfassung, sich etwas einfallen zu lassen; schweigend setzte sie sich an ihren Schreibtisch.

Heidi Müller wunderte sich. »Nanu? Sie sind doch sonst nicht auf den Mund gefallen!«

Heike brachte immer noch kein Wort heraus.

Frau Müller nahm die Hände von den Tasten und blickte Heike an. Sie stellte fest, daß das junge Mädchen offensichtlich verstört war. Sofort überkam sie Mitgefühl. »Was ist los mit Ihnen?« fragte sie erschrocken. »Ist was passiert?«

»Nichts. Gar nichts!« preßte Heike heraus. Dann fügte sie mit jähem Trotz hinzu: »Nichts, was Sie angeht!«

Heidi Müller war nicht beleidigt. »Du bist mir schon ’ne Nummer«, sagte sie und wandte sich wieder dem Computer zu.

Eine ganze Weile saß Heike stumm und tatenlos da, während Frau Müller sich wieder auf ihre Arbeit konzentrierte. »Was soll ich tun?« fragte sie endlich.

»Wenn Sie die Augen aufmachen, sehen Sie es.«

Erst jetzt entdeckte Heike den Stapel Anschreiben, mit denen die Agentur sich potentiellen Kunden vorstellte, und den dazugehörigen Stoß Umschläge. »Ach so. Mal wieder kuvertieren«, sagte sie lustlos.

»Dabei können Sie wenigstens nichts falsch machen!« behauptete Frau Müller, verbesserte sich aber sofort: »Stecken Sie bloß kein Schreiben in einen falschen Umschlag! Immer die Adressen vergleichen, ja?«

»Ich bin doch nicht blöd!« gab Heike in ihrer gewohnten Frechheit zurück, aber ihre Gedanken waren ganz woanders.

Es brauchte Zeit, bis sie den Schock, den Urban Hanslik ihr versetzt hatte, einigermaßen überwand. Sein Verhalten hatte nur zu deutlich von eiskalter Abweisung gezeugt. Doch sie war außerstande, das hinzunehmen und klammerte sich an den Gedanken, daß ein Mißverständnis vorliegen müßte.

Konnte es die Anwesenheit von Bender junior gewesen sein, die die Begegnung vermasselt hatte? Es wäre immerhin verständlich, wenn Urban sich vor dem Geschäftspartner nicht zu seiner Liebesbeziehung mit ihr, der Auszubildenden, bekennen wollte. Früher hatte er doch immer wenigstens ein Lächeln oder ein Nicken für sie übrig gehabt. Hatte er befürchtet, daß sie ihm bei der kleinsten Ermutigung um den Hals fallen würde? Für so bescheuert konnte er sie doch nicht halten.

Oder hätte sie das vielleicht doch getan? Sie hatte nichts anderes als ein paar herzliche Worte erwartet; oder, wenn sie ganz ehrlich sein wollte, daß er sie in die Arme nahm. Von sich aus hätte sie sich ihm jedenfalls nicht an die Brust geworfen.

Aber das konnte er natürlich nicht wissen, legte sie sich zu seiner Verteidigung zurecht. Man konnte ihm nicht vorwerfen, daß er mit einer unbedachten Reaktion von ihr gerechnet, sie sogar gefürchtet hatte.

In Heike erwachte der brennende Wunsch, sich mit dem Geliebten auszusprechen. Er würde ihr bestimmt bestätigen, was sie sich zurechtgelegt hatte, und dann würde alles wieder gut sein. Der Fehler war, daß sie nicht gleich gestern besprochen hatten, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Wenn es sein Wunsch war, und das räumte sie ein, daß ihre Liebe vorerst ein Geheimnis bleiben sollte, so war sie völlig damit einverstanden. Das mußte sie ihm klarmachen. Sie wollte nur seine Liebe und hatte nicht vor, mit ihrer Beziehung anzugeben. Wenn er es wollte, würde sie schweigen wie ein Grab und sich auch weder mit einem Blick, noch mit einer zärtlichen Geste verraten. Dazu fühlte sie sich durchaus imstande.

Und natürlich würde es in der Agentur auch beim förmlichen ›Sie‹ zwischen ihnen bleiben. Schließlich war er Teilhaber der Agentur, hatte bei ›Procter & Gamble‹ von der Pieke auf gelernt, wie er gerne erzählte, und sie war nur ein unbedeutender Lehrling.

Wenn sie nur an ihn herankommen, ihm ihren Standpunkt darlegen könnte. Heike Wollte nicht wahrhaben, daß sein Verhalten unmißverständlich gewesen war. Sie klammerte sich an die Vorstellung, daß alles wieder gut werden würde, wenn sie nur unter vier Augen mit ihm reden könnte.

Aber wie sollte sie das anstellen? In der Agentur war er nie allein. Er teilte das Büro mit Peter Prokofiew, und wenn er es verließ, dann meist nur, um mit einem der beiden anderen Partner zu sprechen. Auf dem Gang auflauern konnte sie ihm nicht. Das wäre zu auffällig gewesen und hätte ihn fürchten lassen können, daß sie es darauf abgesehen hatte, ihn zu kompromittieren. Und genau das wollte sie ja nicht.

Ganz abgesehen davon, daß sie ihre Arbeit nicht auf unbestimmte Zeit einfach liegenlassen konnte.

Sie mußte sich schon etwas Besseres einfallen lassen. Vielleicht sollte sie einfach in sein Büro gehen, Peter Prokofiew grüßen und sagen: »Entschuldigen Sie Herr Hanslik, kann ich Sie, bitte, einen Augenblick sprechen?«

Das würde er verstehen und mit ihr hinausgehen, am besten in den leeren Konferenzraum.

Wenn er aber begriffsstutzig erwiderte: »Um was geht es denn?«

Auch diese Möglichkeit zog Heike in Betracht. Dann würde sie sagen: »Es ist privat.«

Dem konnte er sich unmöglich entziehen.

Mit der Unbefangenheit ihrer Jugend hatte Heike die tiefe Demütigung, die er ihr zugefügt hatte, schon überwunden, und sie merkte nicht, daß sie im Begriff war, sich noch eine grausamere einzuhandeln.

Sie hatte sich schon halb erhoben, um Frau Müller zu erklären, daß sie auf die Toilette müßte, als Urban Hanslik hereinkam. Sein Auftreten hier war so überraschend, daß Heike nichts anderes glaubte, als daß er ihretwegen käme.

Doch er nahm nicht die geringste Notiz von ihr. Rasch trat er auf die Müller zu und gab ihr eine Tonbandkassette. »Bringen Sie das, bitte, ins reine. Es ist der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen mir und Herrn Bender. Ich brauche es spätestens bis zur Konferenz. Mit den nötigen Kopien.«

Heidi Müller ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie die Unterbrechung störte. »Wird gemacht, Herr Hanslik!« sagte sie munter. »Soll Heike es vor der Konferenz verteilen?«

Er dachte kurz nach. »Wird nicht nötig sein. Es genügt, wenn Sie die Unterlagen mitbringen.«

»Darauf können Sie sich verlssen, Herr Hanslik.«

Er legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Als wenn ich das nicht wüßte, Frau Müller!« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verließ das Büro, ohne Heike auch nur eines Blickes zu würdigen.

Das war das Ende. Heike sank auf ihren Stuhl zurück. Unmöglich, sich jetzt noch etwas vorzumachen. Was sie für Liebe gehalten hatte, war für Urban Hanslik nichts als ein ›one night stand ‹ gewesen. Aber warum hatte er dann so getan als ob? Und wie hatte er ihr das antun können?

Wut flammte in ihr hoch. Hätte sie eine Waffe besessen, wäre sie ihm nachgestürmt und hätte ihn auf der Stelle niedergeschossen.

Aber sie war völlig hilflos. Sie konnte nichts, gar nichts tun, um sich zu rächen.

Eine kleine Erleichterung war, daß wenigstens Frau Müller nichts mitbekommen hatte. Heike putzte sich ausgiebig die Nase. Auf keine Fall sollte die Chefin merken, daß sie mit den Tränen kämpfte.

Kurz vor elf Uhr stand Frau Müller auf und raffte ihre Papiere zusammen, um sich in den Konferenzraum zu begeben, wo sich die meisten Mitarbeiter der Agentur zu einer Besprechung über den neuen Werbefeldzug für Bender-Elektronik trafen.

Heike unterbrach ihre Arbeit sofort. Es war jetzt ihre Aufgabe, eventuelle Anrufe entgegenzunehmen, und sie fand, daß sie damit ihrer Pflicht und Schuldigkeit gegenüber ›p & c‹ durchaus Genüge tat.

Aufatmend lehnte sie sich zurück und gab sich ihren düsteren Betrachtungen hin. Umbringen konnte sie Urban Hanslik nicht. Aber wie sollte sie es ertragen, ihm Tag für Tag zu begegnen und sich von ihm wie der letzte Dreck behandeln zu lassen? Das war unmöglich.

Nathan kam herein. Daran war nichts Ungewöhnliches. Er pflegte sie gern zu einem kleinen Schwatz aufzusuchen, wenn er wußte, daß sie allein war. Normalerweise war er ihr sehr willkommen.

Aber heute fuhr sie ihn an. »Was willst du?«

Nathan blieb unbekümmert. »Was ist los mit dir?« Er ließ sich mit einer Pobacke auf ihrem Schreibtisch nieder. »Hat dir jemand auf die Zehen getreten?«

»Ach, laß mich doch in Ruhe!«

Er zündete sich eine Zigarette an. »Hat die Müller dich angekotzt, weil du zu spät gekommen bist? Erinnere dich, das hatte ich dir vorausgesagt.« Er inhalierte tief. »Warum hast du überhaupt da unten rumgelungert?«

»Geht dich einen Dreck an.«

Das Telefon klingelte.

Heike nahm an und meldete sich mit gepreßter Stimme: »Werbeagentur ›panem et circenses‹.« Sie hörte zu und erklärte dann: »Nein, Herr Hanslik ist jetzt nicht zu sprechen. Nein, Herr Garner auch nicht. Sie sind in einer Konferenz. Rufen Sie später noch mal an! Wann, kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

Nathan grinste. »Du bist ja wirklich die Liebenswürdigkeit in Person.«

»Mich kotzt der ganze Laden an.«

»Wenn ich etwas verstehe, dann ist es das. Warum lassen sie uns nicht an ihrem Brainstorming teilnehmen. Ich will ja gar nicht behaupten, daß ich geniale Ideen habe. Aber Verbraucher sind wir ja immerhin auch. Und ob wir das sind! Wir sollten mal zusammen einen Vorstoß in diese Richtung machen«. Er schüttete Büroklammern aus einem Plastikdöschen, um es als Aschenbecher zu benutzen.

»Ach, das ist mir gänzlich schnuppe. Die nehmen uns doch nie ernst.«

»Wir müssen sie dazu zwingen.«

»Dann versuch das mal! Aber ohne mich. Mir steht das alles bis hier.« Sie fuhr sich mit der flachen Hand über die Kehle. »Ich werde kündigen.«

Er lachte auf. »Du mußt verrückt sein. Wenn du das tust, kriegst du nie wieder einen anderen Lehrvertrag.«

»Na und? Wer braucht schon eine Lehre?«

»Du! Was willst du denn sonst anfangen?«

»Es gibt eine Menge Möglichkeiten.« Heikes Laune hellte sich bei der Vorstellung, alles hinzuschmeißen und Urban Hanslik nie wieder begegnen zu müssen, geradezu auf.

»Nenn mir eine!«

Heike dachte nach. »Ich könnte als Barfrau arbeiten. Die werden laufend gesucht.«

»Als Barfrau? Du?« Eine Sekunde war Nathan verblüfft, dann schüttelte er sich vor Lachen.

»Traust du mir das etwa nicht zu?« fragte Heike empört.

»Nein. Beim besten Willen nicht.«

Unvermittelt – jedenfalls schien es Nathan so – brach sie in Tränen aus.

»Kleines, ich bitte dich!« rief er erschrocken. »Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt! Es ist doch keine Tragödie, daß ich dich nicht als Nachtschwalbe sehen kann. Bestimmt kannst du eine Menge auf die Beine stellen, wenn du nur willst. Aber dafür hast du nun einmal nicht das Zeug.«

Als sie hemmungslos weiterschluchzte, wußte er nicht mehr, was er tun sollte. Sie tröstend in die Arme zu nehmen, traute er sich nicht. Es bestand zwischen ihnen zwar eine gewisse kameradschaftliche Verbundenheit, aber mehr auch nicht.

Also rutschte er, sehr verlegen, vom Schreibtisch und drückte die Zigarette aus. »Vielleicht irre ich mich ja auch«, räumte er ein. »Ich bin kein Kenner des Milieus. Wenn eine Frau sich nur gehörig Farbe ins Gesicht klatscht, ist wahrscheinlich alles möglich.«

»Raus mit dir!« zischte sie unter Tränen. »Hau ab! Ich will dich nicht mehr sehen.«

Er nahm das Plastikdöschen, leerte es im Waschraum und wischte es aus. Als er es zurückbrachte, weinte sie immer noch. Kopfschüttelnd verließ er sie.

Der Ausbruch hatte Heike gutgetan, aber die Erleichterung, die er ihr verschafft hatte, war nur von kurzer Dauer. Sie litt Höllenqualen.

Zwar war es nicht so, daß sie Urban täglich begegnen mußte – dazu waren ihre Arbeitsbereiche zu verschieden – aber schon das Wissen, daß er nur zwei Räume weiter saß und mit Verachtung, wenn überhaupt, an sie dachte, machte sie rasend. Sie war vergeßlicher und unkonzentrierter denn je.

Wenn die Nacht hereinbrach, wurde es noch schlimmer. Sie konnte sich nicht mehr dazu aufraffen, auszugehen; weder in die Kneipe an der Ecke, noch ins Kino oder in die Disco. Abend für Abend lief sie durch den Carlvon-Weinberg-Park, um besser schlafen zu können, wie sie sich vormachte.

Tatsächlich aber hegte sie die uneingestandene Hoffnung, Urban dort zu begegnen. Hier, fern vom Alltag, würde er die steinerne Maske absetzen müssen, hinter der er sich verbarg. Obwohl sie wußte, daß es unsinnig war, malte sie sich immer wieder aus, daß er sie in die Arme nehmen und um Verzeihung bitten würde.

Doch er ließ sich nicht mehr blicken.

Heike hatte auch früher schon Kummer und Sorgen gehabt – als ihr Vater schwer erkrankt war, als sie fürchten mußte, sitzen zu bleiben oder als sie sich mit ihrer besten Freundin verkracht hatte. Aber immer hatte sie den Trost gehabt, daß am Ende des Tages ihr Bett auf sie wartete und der Schlaf ihr Linderung und Vergessen bringen würde. Nun war es auch damit vorbei.

Schlaflose Nächte hatte sie früher für nichts weiter als eine dichterische Übertreibung gehalten. Jetzt erlebte sie sie am eigenen Leib.

Ob sie in die Dunkelheit starrte oder die Augen schloß, der Schlaf wollte nicht zu ihr kommen. Sie zählte und zitierte Gedichte, aber nichts half. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und hielt sich immer wieder die Leuchtziffern ihres Weckers vor Augen, um sich zu vergewissern, ob wenigstens die Zeit verging. Hin und wieder dämmerte sie ein, um gleich darauf hochzuschrecken. Am Morgen war sie wie gerädert.

Als das Heimreisewochenende kam, hatte sie nicht einmal Lust nach Hause zu fahren. Am liebsten hätte sie ihre Bude verdunkelt, ein starkes Schlafmittel eingenommen – zum ersten Mal in ihrem Leben – und die beiden Tage verpennt. Aber das war nicht möglich, da sie inzwischen kein sauberes Wäschestück mehr hatte.

Also stopfte sie am Freitag nachmittag ihren großen Koffer voll, fuhr mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof und setzte sich in den Zug nach Bad Homburg. Beim Rattern der Räder fühlte sie sich langsam besser, und als die vertraute Landschaft an ihr vorüberflog, überkam sie sogar der Anflug eines Feriengefühls.

Die Mutter erwartete sie in ihrem kleinen roten Cabriolet – mit offenem Verdeck, denn das Wetter war gut – auf dem Bahnhofsvorplatz. Heike wuchtete ihren Koffer auf den Rücksitz und glitt neben sie.

Rasch gab sie ihr einen Kuß auf die zart gepuderte Wange. »Schön, dich wiederzusehen!«

Anstatt wie sonst gleich loszufahren, bog Ulrike Römer, geborene Bethke, den Oberkörper zurück und betrachtete ihr Tochter kritisch. »Du siehst grauenhaft aus.«

»Ich habe mich damit abgefunden, daß ich nie so schön sein werde wie du!«

Tatsächlich hatte die Mutter in ihrer Jugend als eines der schönsten Mädchen Frankfurts gegolten und war auch jetzt noch mit ihrer zarten Haut, den leuchtend braunen Augen und dem feinen blonden, golden schimmernden Haar eine Frau von faszinierendem Aussehen.

»Du weißt, daß ich darauf nicht anspiele«, gab sie zurück. »Du bist bei weitem hübsch genug. Aber augenblicklich wirkst du wie jemand, der sich die Nächte um die Ohren schlägt.«

»Ich kann in letzter Zeit schlecht schlafen.«

»Das kenn ich gar nicht an dir.«

Dazu gab Heike keinen Kommentar.

Jetzt endlich drehte die Mutter den Zündschlüssel um, schaltete in den ersten Gang und gab Gas. Heike lehnte sich zurück, schloß die Augen und genoß die Sonne und den Fahrtwind.

Die Mutter ließ sie zunächst in Ruhe. Erst als sie die Landstraße nach Eppelsbach erreicht hatten, fragte sie wie beiläufig: »Liebeskummer? Oder Ärger im Büro?«

»Beides erwiderte Heike spontan, lachte aber gleich darauf, als hätte sie einen Witz gemacht. Bisher hatte sie nie Geheimnisse vor ihrer Mutter gehabt; jetzt aber wurde ihr bewußt, daß sie ihr das Erlebnis mit Urban Hanslik unmöglich anvertrauen konnte.

Sie entschloß sich, den Stier bei den Hörnern zu pakken. »Würdet ihr mir sehr böse sein, du und Vater, wenn ich bei ›p & c‹ aufhöre?«

»Böse?« wiederholte die Mutter nachdenklich. »Nein, bestimmt nicht. Du tätest es ja wohl nicht, um uns zu kränken oder zu verletzen.«

»Gott sei Dank!«

»Aber ich glaube nicht, daß es klug wäre. Bekanntlich verstehe ich nicht viel von diesen Dingen. Du weißt, ich war nie berufstätig, sondern habe gleich geheiratet. Doch ich nehme an, daß ein Vertrag für beide Seiten bindend ist Die könnten dich doch auch nicht ohne triftigen Grund rauswerfen, oder?«

»Ich habe einen Grund, warum ich nicht dort bleiben will.«

»Ja, das kann ich mir denken!« Als Heike sich nicht weiter äußerte, hakte sie nach: »Willst du ihn mir nicht verraten?«

»Nein.«

»So schlimm?«

»Ziemlich.«

»Mein armer Schatz«, sagte die Mutter mitfühlend. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Wie gesagt, ich habe selber nur wenig Erfahrung. Darum kann ich dir jetzt auch keine weisen Ratschläge geben. Ich habe nur einen einzigen Kampf ausgefochten: den mit meiner Familie. Damit ich deinen Vater heiraten konnte. Aber rein gefühlsmäßig meine ich, daß es besser ist, Schwierigkeiten durchzustehen als vor ihnen davonzulaufen.«

»So was sagt sich leicht daher.«

Die Mutter nahm eine Hand vom Steuer und tätschelte Heikes Knie. »Ich weiß, Liebling, ich weiß. Am besten redest du mal mit Vater darüber.«

»Der hat doch noch weniger Erfahrung als du.«

»Er hat immer wieder Auseinandersetzungen mit Bonhof.«

Bonhof war Gerhard Römers Verleger, und die Schwierigkeiten des Dichters bestanden darin, ihn alle paar Jahre wieder dazu zu bewegen, einen neuen Band seiner Gedichte herauszubringen – Lyrik, die sich nur schwer verkaufte, weil sie »zu gut für die breite Masse« war, wie Heike von Kindesbeinen an zuhören bekommen hatte. In ihren Augen galten diese Querelen gar nichts, weil der Verleger ein treuer Freund und Bewunderer ihres Vaters war und niemals mit harten Bandagen gegen ihn kämpfte.

Eine Weile fuhren sie schweigend durch die frühlingsgrüne Landschaft, in der die Kirschbäume schon ihre ersten Blüten zeigten.

»Nehmen wir mal an, du würdest tatsächlich kündigen«, fragte Frau Römer dann. »Wie stellst du dir dein Leben dann vor?«

Ihre Idee, als Bardame zu arbeiten, wagte Heike nicht noch einmal vorzubringen. Nathans teuflisches Gelächter hatte sie davon geheilt, und die Mutter würde es bestimmt alles andere als komisch finden. »Vielleicht könnte ich eine Weile zu Hause bleiben« schlug sie zaghaft vor.

»Und was willst du tun?«

»Muß man denn unbedingt immer was tun?«

»Du meinst, ich arbeite auch nicht, abgesehen davon, daß ich mich um meinen Mann, das Haus, den Garten und um deine Wäsche kümmere? Du hast recht. Ich habe ein bequemes Leben, und ich weiß es zu schätzen. Aber das kann ich mir nur leisten, weil ich eine verheiratete Frau bin. Natürlich könnte ich auch dich mit irgend etwas im Haus oder im Garten beschäftigen. Aber ich fürchte, in Eppelsbach wirst du nie einen Mann finden.«

»Ich will gar nicht heiraten!«

»Lieber bei deinen Eltern bleiben und ein altes Mädchen werden? Ich dachte, dieser Beruf wäre längst ausgestorben.«

»Ich könnte jobben. Außerdem habe ich inzwischen so viel gelernt, daß ich in jedem Büro arbeiten könnte.«

»Ach, wirklich? Das finde ich toll.«

Heike war sich nicht sicher, ob der naive Ton in der Stimme ihrer Mutter ganz echt war. »Man kann sehr gut ohne abgeschlossene Lehre in einem Büro arbeiten«, behauptete sie trotzig.

»Aber mit Lehre verdient man wohl mehr? Und findet auch leichter eine Stellung?«

»Das kommt ganz darauf an.«

»Alles, was ich da von dir erfahre, läuft darauf hinaus, daß dir nicht die Büroarbeit an sich verhaßt ist, sondern ›panem et circenses‹.«

»Das trifft es.«

»Jetzt hör mal zu, Heike! Du bist ein großes, erwachsenes Mädchen. Wir würden dich niemals zu etwas zwingen, das du selber nicht willst.« Und mit nie verwundener Bitterkeit fügte sie hinzu: »So wie meine Eltern.«

Heike verstand, worauf sie anspielte. »Nun, Oxford kann doch nicht gerade die Hölle auf Erden gewesen sein.«

»Doch. Wenn man von dem Mann getrennt wird, den man liebt. Und w enn man weiß, daß die Familie inzwischen alle nur denkbaren Intrigen spinnt, um diese Trennung endgültig zu machen.«

Heike stellte dazu keine Fragen. Sie wußte, daß die Bethkes ihren Vater abgelehnt hatten, weil sie ihn für einen armen Schlucker und Mitgiftjäger hielten.

»Worauf ich hinaus will«, fuhr die Mutter fort, »du mußt selber entscheiden, was das Richtige für dich ist. Vielleicht wird es dir absurd vorkommen, wenn ich dir jetzt vorschlage, erst mal den Rat deines Onkels einzuholen, Oder sprich wenigstens mit deinem Cousin Daniel. Die beiden kennen sich in solchen Problemen aus.«

Heike fuhr hoch. »Ausgerechnet! Erst haben sie dir dein Leben vermasselt … «

Die Mutter fiel ihr ins Wort. »Haben sie nicht! Ich bin ja trotz allem mit deinem Vater glücklich geworden. Und außerdem war es nicht Hans-Ludwigs Idee, mich aufs Pflichtteil zu setzen, und schon gar nicht die von Daniel. Sondern das geschah einzig und allein nach dem Willen meines Vaters. Wahrscheinlich steckte auch eine Portion Eifersucht dahinter. Jedenfalls sind die Bethkes lebenstüchtiger als wir.«

»Aber Onkel Hans-Ludwig tut nichts für mich. Er brauchte mir nur mein Erbteil auszuzahlen! Und komm mir nur nicht damit, daß Großmutter es anders bestimmt hat. Warum läßt er mich warten, bis ich einundzwanzig bin? Das ich doch reine Schikane. Mit fünfündzwänzigtausend Mark wäre ich alle Sorgen los.«

»Im Klartext: du könntest bedenkenlos bei ›p & c‹ das Handtuch werfen?«

»Du hast es erfaßt.«

»Tut mir leid, Liebling, aber das sehe nicht so.«

»Nein?«

»Absolut nicht. Jetzt lebst du von deinem, zugegeben, mickrigen Lehrlingsgehalt, deinen Zinsen und der Unterstützung, die wir dir geben. Wenn du dein Kapital angreifst, wirst du in wenigen Jahren vor dem Nichts stehen.«

»Hört! Hört!« spöttelte Heike. »Hier spricht die Bankierstochter.«

Die Mutter ließ sich nicht beirren. »Aber ich habe recht. Vielleicht denkst du, du könntest dich mit dem Geld selbständig machen. Aber dazu ist es zu wenig. Du hast keine Ausbildung und könntest es nicht führen. Keine Bank würde dir einen zusätzlichen Kredit einräumen.«

»An so etwas habe ich gar nicht gedacht.«

»Also soll dir das Geld doch nur einen Fluchtweg aus der Agentur ebnen? Stehen die Dinge denn wirklich so schlimm?«

»Noch schlimmer.«

»Dann, meine ich, solltest du dir überlegen, wie du sie wieder in Ordnung bringen kannst.«

»Das kann ich nicht.«

Sie hatten das Dorf Eppelsbach, das freundlich in einer Mulde lag, erreicht, und fuhren an der Kirche, dem Gemeindeamt, der Hauptschule, der Metzgerei und dem Gasthof ›Zum Ochsen‹ vorbei. Jetzt tauchte, am Südhang gelegen, Heikes Elternhaus vor ihnen auf. Es war keine Villa, aber es wirkte behäbig und gepflegt mit seinem Blumengarten, der bis zur Straße herunterreichte – Obst und Gemüse wuchsen neben und hinter dem Haus seinen blanken Fenstern, die in der Sonne blinkten, und seiner breit ausgebauten Mansarde, die Heikes Reich war.

»Wir sprechen später noch einmal darüber«, bestimmte die Mutter.

Heike verstand, daß der Vater nicht beunruhigt werden sollte. Das war schon immer so gewesen. Ob sie eine schlechte Note oder einen blauen Brief von der Schule bekommen hatte oder eine teure Reparatur am Haus fällig war, immer war die Mutter bemüht, erst die Wogen zu glätten, bevor der Vater hinzugezogen wurde.

Manchmal hatte er so getan, als würde ihn das wütend machen. »Warum habe ich nicht schon längst davon erfahren?« hatte er geschimpft.

Doch sowohl Heike als auch ihre Mutter hatten gewußt, daß es ihm im Grunde sehr lieb war, von Sorgen und Schwierigkeiten verschont zu bleiben.

Jetzt entdeckten sie ihn im Garten. Eine grüne Leinenschürze vorgebunden, die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt und einen eleganten Panamahut auf den Kopf gesetzt, stützte er sich auf den Spaten und winkte ihnen zu.

Ulrike Römer ließ Heike aussteigen, bevor sie den Wagen in die Garage im Erdgeschoß des Hauses fuhr, und Heike lief zu ihrem Vater. Er öffnete die Arme weit, den Spaten immer noch in der Hand, und sie flog ihm um den Hals.

»Meine kleine Süße!« sagte er zärtlich. »Willkommen zu Hause!«

Es fiel ihr auf, daß er gar nicht bemerkte, wie schlecht sie aussah. Hatte er überhaupt mitbekommen, daß sie erwachsen geworden war? Wahrscheinlich nicht. Für ihn war sie wohl immer noch das niedliche kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Er klopfte die schwere dunkle Erde von der Schaufel. »Ich habe das Beet umgegraben, in das. Mutter die Dahlien setzen will«, erklärte er mit bescheidenem Stolz.

»Toll!«

»Nicht, daß sie das nicht selber könnte. Aber es gibt Arbeiten, für die wir Männer besser geeignet sind, und wenn ich Zeit habe, nehme ich sie ihr gerne ab.« Er schulterte den Spaten und machte sich auf den Weg zum Haus.

Heike folgte ihm. »Hast du was Neues geschrieben?«

»Ja. Ein paar Zeilen über die Vergänglichkeit des Seins. Sind aber noch nicht ausgefeilt. Wenn es so weit ist, werde ich sie euch vorlesen.«

Sie betraten den Raum neben der Garage, der als Werkzeugschuppen diente, und in dem auch eine Hobelbank stand, die der Vater jedoch kaum benutzte. Er hängte den Spaten in die Halterung, zog die abgewetzten Lederhandschuhe aus, wobei er seine schönen, gepflegten Hände betrachtete, die zum Glück bei der rustikalen Beschäftigung keinen Schaden genommen hatten.

Heike beobachtete lächelnd, wie er die Gartenschürze abnahm und an einen Haken hin, auf den er dann den Panama stülpte. »Du bist ein Schatz!« sagte sie, und sie meinte es ehrlich.

Er wirkte so anziehend mit seinen dichten blonden Locken, den klaren grauen Augen und dem sensiblen Mund. Wenn er eine Lesetour machte – was selten genug vorkam, denn er liebte keinen Rummel –, pflegten sich die Frauen auf ihn zu stürzen, und es hagelte nicht nur Fragen, sondern auch Einladungen und nicht ganz unzweideutige Angebote. Bei solchen Gelegenheiten verkauften sich seine Bücher stoßweise. Aber die Art, in der seine Leserinnen ihn anhimmelten, hatte nichts Verlockendes für ihn. Aus der Ferne waren sie ihm lieber, und er vertat viel Zeit damit, ihre Briefe freundlich und äusführlich zu beantworten.

Oben hatte die Mutter in dem kleinen hellen Eßzimmer schon den Tisch gedeckt. Es gab Tee, verschiedene Sorten Brot, Aufschnitt, Käse und einige Leckerbissen, die sie heute in Bad Homburg besorgt hatte. Sie aßen gemächlich, ließen es sich schmecken und plauderten dabei über unverfängliche Dinge. Heike interessierte sich vor allem dafür, was sich seit ihrem letzten Besuch in Eppelsbach ereignet hatte. Es erstaunte sie immer wieder, was in so einem kleinen Dorf in kurzer Zeit alles passierte. Wahrscheinlich lag es daran, daß hier, im Gegensatz zur Großstadt, jeder alles mitbekam, was den Nachbarn Gutes und Schlechtes zustieß.

Nach dem Essen räumte die Mutter den Tisch ab. Heike schleppte ihren Koffer herauf ins Elternbadezimmer. Sie selber hatte ein eigenes Bad in der Mansarde, und während die Mutter ihre Wäsche sortierte, ließ Heike sich Wasser in die Wanne laufen.

Als sie später, frisch gewaschen, manikürt und pedikürt, in ihrem bequemen himmelblauen Hausanzug herunterkam, fühlte sie sich so gut wie schon seit Wochen nicht mehr. Sie fand die Eltern, wie erwartet, im Wohnzimmer. Sie hatte ihr strenges graues Kostüm gegen ein leichtes Wollkleid eingetauscht, und er trug seine geliebte TWeedjacke mit den Lederflicken auf den Ellenbogen. Die Mutter stickte, und der Vater studierte eine Literaturzeitschrift, aus der er ihr Stellen vorlas, die ihm interessant erschienen. Die Vorhänge waren zugezogen, und die Stehlampe warf ein mildes Licht. Die beiden boten ein höchst gemütliches und harmonisches Bild.

Es gab zwar einen Fernseher im Haus, aber der wurde nur noch bei seltenen Gelegenheiten eingeschaltet.