EINS+EINS=DREI - Lutz Flörke - E-Book

EINS+EINS=DREI E-Book

Lutz Flörke

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Beschreibung

Lutz Flörke & Vera Rosenbusch präsentieren ihr Jahrbuch Nr. 2 mit 25 neuen eigensinnigen Geschichten. Sie scheiben einzeln und kollektiv = zwei AutorInnen mit (mindestens) drei Schreibweisen -- ernsthaft, unterhaltsam, unbeirrt und stets mit frischen Fragen für die Gegenwart.

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Seitenzahl: 116

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Damals war die ganze Gestalt jedes Menschen rund, indem Rücken und Seiten im Kreise herumliefen, und ein jeder hatte vier Hände und ebenso viele Füße und zwei einander durchaus ähnliche Gesichter auf einem rings herumgehenden Nacken, zu den beiden nach der entgegengesetzten Seite von einander stehenden Gesichtern aber einen gemeinschaftlichen Kopf, ferner vier Ohren und zwei Schamteile. Sie waren von gewaltiger Kraft und Stärke und gingen mit hohen Gedanken um, so dass sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen. Endlich nach langer Überlegung sprach Zeus: »Ich glaube ein Mittel gefunden zu haben, wie die Menschen erhalten bleiben können und doch ihrem Übermut Einhalt geschieht.« Nachdem er das gesagt, schnitt er die Menschen entzwei, wie wenn man Beeren zerschneidet, um sie einzumachen, oder Eier, mit Pferdehaaren. Als nun so ihr Körper in zwei Teile zerschnitten war, da trat jede Hälfte mit sehnsüchtigem Verlangen an ihre andere Hälfte heran, und sie schlangen die Arme um einander und hielten sich umfasst, voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen.

(Platon: Das Gastmahl)

Inhalt

Was sagt Ihnen dieses Buch

Kollektivtext

Ich hätte nicht zurückkehren sollen

Lutz Flörke

Friedhofstouristen

Kollektivtext

Özlems Laden

Vera Rosenbusch

Briefträger

Kollektivtext

Drei Fragen an den Präsidenten

Vera Rosenbusch

Schnee ist auch keine Lösung

Lutz Flörke

Per Anhalter durch die Heilige Nacht

Lutz Flörke

Rot

Vera Rosenbusch

Eine Petersburggeschichte

Lutz Flörke

Hölderlin-Slam

Vera Rosenbusch

Mond und Mund

Kollektivtext

Paare

Vera Rosenbusch

Eins mit zwei Ohs

Lutz Flörke

Kinderfunk

Lutz Flörke

Isestraße in Ägypten

Vera Rosenbusch

Tante Schädel

Lutz Flörke

Jungmänner im Landschaftsbild

Vera Rosenbusch

Lieblingslandschaftszustände des deutschdeutschen Kleinbürgers

Lutz Flörke

Im Fischrestaurant

Kollektivtext

Ich war 14

Vera Rosenbusch

Wir spielen, bis uns der Tod abholt

Lutz Flörke

Sex & Parks & Rock & Roll

Kollektivtext

Frau Phillip zieht auf den Campingplatz

Vera Rosenbusch

Oma

Lutz Flörke

Abschied vom Wochenendhaus

Vera Rosenbusch

Literatur ist Klang

Kollektives Nachwort

Das Dichter-Duo Flörke & Rosenbusch

Die Texte sind den Monaten des Jahres zugeordnet.

Danke

Wir bedanken uns bei Anna-Maria Schlemmer für den Scherenschnitt von Platons Kugelmenschen, bei Horst Dralle, der das Cover für den Druck aufbereitet hat und bei Frank Keil, der uns gestattet hat, das gemeinsam geschriebene Im Fischrestaurant abzudrucken.

Kollektivtext

Was sagt Ihnen dieses Buch?

Oktober

Buch 1

Hallo! Ja, ich bins, das Buch. Ich bin ziemlich gut! Gutes Buch. Sie können gern mal reingucken.

Buch 2

Du bist gut. Ich bin besser.

Buch 1

Achso.

Buch 2

Ja, ich bin meinen Preis wert. Jede Zeile.

Buch 1

Ich seh nach was aus. Man hat das Gefühl, nicht nur so ein buntes Heft zu lesen wie die Brigitte oder so.

Buch 2

Ich hab mehr Sex.

Buch 1

Ich hab mehr Seiten.

Buch 2

Mich lesen Frauen unter 30.

Buch 1

Mich lesen Männer über 50.

Buch 2

Mich kann man in der Bahn lesen.

Buch 1

Mich kann man vorzeigen. Und rumdrehen. Schon wegen des Distinktionsgewinns.

Buch 2

Mit mir kann man sich selbst finden.

Buch 1

Mit mir kann man sich selbst loswerden.

Buch 2

Ich bin das ideale Schlafmittel.

Buch 1

Wer mich liest, ist hell wach.

Buch 2

Mich empfiehlt das Hamburger Abendblatt.

Buch 1

Mich nicht.

Buch 2

Ist das gut oder schlecht?

Beide Bücher

Am besten Sie lesen uns selbst.

Lutz Flörke

Ich hätte nicht zurückkehren sollen

November

Kleinstadt-Buchhandlung, 20 Zuhörer. Auf dem Weg hierher habe ich Lou Reeds Smalltown gehört: When you’re growing up in an small town, You know you’ll grow down in a small town.

Schon verrückt, dass es den Laden aus meiner Schulzeit noch gibt.

Ich sitze unter einer einsamen Stehlampe und lese Das Ilona-Projekt:

Solange HP sich damit begnügte, Taormina von seinem Bett in Hamburg aus ins Auge zu fassen, erhob sein Körper keinen Einwand gegen die Reise.

Ich schaue ins Publikum. Nur Frauen, wie meistens; eine lächelt mir zu. Immerhin. Sind ehemalige Mitschülerinnen da? Oder erkenne ich sie bloß nicht? Ich fahre fort:

Er fing erst damit an, als er begriff, dass er mit von der Partie sein sollte. Ich sitze in Taormina, denkt HP, weil ich es nicht geschafft habe, nein zu sagen. Tief unter mir liegt ein dunkles, schwarzes Nichts, das Meer, weil ich nicht nein gesagt habe.

Da hinten sitzt ein einziger Mann. Beobachtet mich.

Sieht aus, als ob er gleich beißt. Kenn ich den? Oh, schon habe ich mich verlesen. Es heißt Studien-Reise Tempel, Orgien, Liebesgötter – griechisches Sizilien.

Goethe war auch schon da! Zwei lachen. Eine scharrt mit den Füßen. Der Mann bleibt bissig.

Jetzt nicht die Konzentration verlieren. Dranbleiben! Ich bemühe mich um einen lächelnden Unterton.

HP leert das Glas und schafft es nicht, glücklich zu sein.

Warum kann er nicht wenigstens so aussehen? Seine Schwester könnte das.

Ob ich glücklich aussehe? Dass ich freundlich gucke, kann man erwarten. Man kann von mir erwarten, dass ich mich um meine Leserinnen und Leser bemühe. Der Mann da hinten allerdings … Ja, na klar, das ist Manfred. Er war so ein Sanfter, einer, der immer unsicher lächelte. Literatur war nie sein Ding. Trotzdem ist er heute gekommen. Schön. Freut mich. Er schaut hasserfüllt. Oder bilde ich mir das ein? Ich lese weiter:

HP wünscht sich oft, Hauptperson seiner Lebensgeschichte zu sein. Aber, denkt er, um Hauptperson sein zu können, müsste mein Leben literarisch sein wie ein Roman, jenseits von Alltag und Individualitätsfolklore.

Warum bin ich zurückgekehrt? Um den alten Freunden und Bekannten zu zeigen, was aus mir geworden ist? Na, was ist aus mir schon geworden! Die Hauptperson eines Abends in der Kleinstadt-Buchhandlung.

Schade, wird seine Schwester sagen, ich hatte mir vorgestellt, dass du von deinen Reiseerlebnissen erzählen würdest. HP könnte antworten: Es gab keine. Oder: Ich will nicht. Oder sogar: Ich weiß, die Weigerung mitzuspielen, macht mich verdächtig und setzt mich der gesellschaftlichen Rache aus. Nein, er wird den Mund halten wie immer.

Ich gucke hoch und schweige; das war’s. Die Buchhändlerin applaudiert, die anderen steigen ein.

Danke, sage ich, Applaus macht Mut.

Lachen. Sekt und Wein. Das Publikumsgespräch.

Vielen Dank für den interessanten Roman, über den wir sicher … , eröffnet die Buchhändlerin.

Willkommen in der Heimat, unterbricht mein ehemaliger Schulfreund.

Ja, ich freue mich auch, sage ich und denke: Ich hätte nicht zurückkommen sollen. Die Manfreds dieser Welt wollen kein Gespräch, sondern zeigen mit jedem Blick, wie überlegen sie sich fühlen. Oder?

Entschuldige bitte, fährt Manfred fort, was hast du gegen die arme Schwester? Ich meine, ein bisschen Dankbarkeit wird sie von ihrem Bruder doch erwarten können. Was sagt denn deine Schwester dazu, dass du sie so schlecht machst? Hat sie das Buch gelesen?

Selbstverständlich, antworte ich. Meine Schwester hat sich sehr amüsiert, vor allem, weil die Person im Buch so gar nichts von ihr an sich hat. Ist ja ein fiktionaler Text.

Blabla, sagt er. Außerdem ist dieser HP doch ein Irrer. Macht auf gebildet, ist tatsächlich aber triebgesteuert und primitiv. Das typische Beispiel für einen wurzellosen Kosmopoliten. Der leugnet doch die schicksalhafte Verbindung mit dem eigenen Ursprung.

Der zersetzt jede Gemeinschaft. Mal ehrlich, ein Buch wie deins würde ich mir nie kaufen.

Spuckt mir seine Meinung mitten ins Gesicht.

Mh, ja, verstehe, antworte ich und denke: Der will nichts herausbekommen, der weiß schon alles, über die Welt, die Literatur, über mich.

Muss der Protagonist deines Romans so unsympathisch sein?, fragt Manfred.

Das ist sicher eine Geschmacksfrage, antworte ich.

Und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.

Das als Angebot zu friedlicher Koexistenz. Sinnlos, er hält mich für arrogant und sich für zweifellos im Recht. Warum sind die Rechten rechts? Weil sie immer Recht haben. Nichts verachten sie mehr als das Mehrdeutige, das Probleme aufwirft und Interpretationsspielräume zulässt. Ich hätte nicht zurückkehren sollen.

Die Zuhörerinnen lachen; das bringt meinen Ex- Freund auf die Palme. Bevor die Buchhändlerin sich einer weiteren Wortmeldung zuwenden kann, reißt er das Gespräch wieder an sich:

Entschuldige, für wen schreibst du? Für mich offenbar nicht.

Mag sein, antworte ich. Ein Autor muss und kann nicht für alle schreiben.

Mein Blick hält sich an einem Band Novalis fest. Das ist erstaunlich, Novalis hier in dieser kleinen Provinz-buchhandlung. Hat vielleicht jemand bestellt und nie abgeholt. Das rechte Gespräch, schreibt er, ist ein bloßes Wortspiel. Daraus entsteht auch der Haß, den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben.

Du und Deinesgleichen, reißt mich Manfred aus meinen Gedanken, ihr wollt überhaupt nicht verstanden werden. Warum schreibt ihr Intellektuellen nicht für normale Menschen. Die Natur des Dichters ist, volkstümlich zu sein. Tut mir leid, überzeugt mich nicht.

Es tut ihm kein bisschen leid. Warum schaltet sich keiner ein? Genießen die Zuhörerinnen den Schaukampf oder sind sie so überrascht wie ich?

Ich habe meinen Roman nicht geschrieben, um jemanden zu überzeugen, sage ich.

Das ist keine Antwort.

Vielleicht sollten wir auch andere Stimmen zu Wort kommen lassen, schlägt die Buchhändlerin vor.

Niemand meldet sich.

Weshalb schreibst du nicht klares und verständliches Deutsch?

Er glaubt, er spräche aus, was die Mehrheit nicht zu sagen wage. Leistet Widerstand gegen meinen ästhetischen Widerstand und fühlt sich als wahrer Widerständler. Ein konformistischer Rebell. In seinen Augen bin ich schlicht ein Schädling. Ich sage

Warum sollte ich mein Erzählen

in die Zwangsjacke alltäglichen Sprachgebrauchs pressen

?

Die wahrhaft avantgardistischen Werke der Literatur kommunizieren den Bruch mit der Kommunikation

, wie es Marcuse formuliert. Oder war es Adorno? Kompliziertes Zitat, fremdartiges Weltbild, jetzt könnte er sagen: Verstehe ich nicht, erklär mal.

Naja, möglicherweise war das eine Spur zu arrogant …

Das ist das elitäre Gerede von Leuten, die fortgehen, dann zu Besuch kommen, sich wer weiß wie toll finden und die verachten, die zurückgeblieben sind. Du bist deiner Heimat sowas von undankbar … Was bist du bloß für ein Mensch! Du erzählst von einem HP, der sich nicht in seine Familie eingliedern kann, der auf Kosten anderer Leute lebt und nicht mal sich selbst versteht. Wie sollen wir den verstehen und warum? Meinst du nicht, dass du eine Verantwortung hast gegenüber der Gemeinschaft?

Früher waren wir gute Freunde. Wir sind zusammen in den Urlaub gefahren, mit dem Rad bis nach Schweden. Das spielt keine Rolle mehr.

Manfred, sage ich, es hat ja keinen Sinn, wenn wir uns streiten.

Willst du mich rauswerfen? Was sagt man dazu? Kommt hier her, spielt sich als Hauptperson auf und will mich wegschicken, nur, weil ich ihm mal die Meinung geige.

Die Buchhändlerin erwidert, noch immer freundlich:

Würden Sie jetzt bitte gehen! Ich denke, das wäre besser für uns alle.

Das war ja zu erwarten, tönt er. Ihr steckt doch unter einer Decke. Da kommt dieser intellektuelle Wichser aus Hamburg, und ihr lasst euch einwickeln.

HP – so ein Dreck. Der denkt, wir sind bloß die Provinz-Penner, denen man die Ausschwitzungen einer perversen Phantasie als Literatur andrehen kann.

Ich bin perplex.

Du kommst zu einer literarischen Lesung, sage ich, nur um Dich aufzuregen. Kann es sein, dass du ein durch und durch autoritärer Charakter bist?

Wer ist hier beschränkt?, poltert er. Ich liebe die Literatur. Die Seele braucht schließlich etwas, an dem sie sich orientieren kann. Aber jemand wie du begreift das natürlich nicht.

Da öffnet sich mit einem Klingeln die Tür.

Seine Frau, flüstert die Buchhändlerin, seit 20 Jahren.

Die Frau ist streng geschminkt und immer noch jugendlich nach all den Jahren. Mein Schulkamerad starrt sie an.

Wo kommst du her?

Entschuldige, dass ich die Lesung verpasst habe, sagt sie.

Sie sagt es zu mir.

Ulrike. Wir hatten kurz was miteinander. Naja, hat uns beide nicht umgehauen. Hat also Manfred geheiratet. Ob die zueinander passen? Steht zu befürchten, sonst wären sie nicht so lange zusammen. Sie nickt mir zu und setzt sich schnell.

Manfred springt auf. Einige Frauen erheben sich ebenfalls. Die Buchhändlerin öffnet die Tür.

Ich weiß wirklich nicht, was Du bei dieser kranken Veranstaltung willst, herrscht Manfred Ulrike an und reißt sie am Arm mit sich. Komm, wir sind hier unerwünscht! Der große freundliche Teddy im Regal lächelt mir zu:

Populist ist, wer vergisst, dass er bloß ein Würstchen ist.

There’s only one good thing about a small town, You know that you want to get out.

Ich hätte nicht zurückkehren sollen.

Kollektivtext*

Friedhofstouristen

Oktober

Friedhofstouristen gehen seltsamen Beschäftigungen nach.

Eine Gruppe Oberschüler probiert gröhlend ihre Stimmen aus, die gerade eine Oktave tiefer gerutscht sind, junge Menschen suchen nach Promigräbern und verlaufen sich trotz GPS. Ältere Damen, ebenfalls in Kleingruppen, sinnieren über Eiben und Eichen.

Rentnerehepaare mit Fahrrädern besuchen Jan Fedders Grab und stellen sich vor, er wäre ihr Freund. Ganz kurz nur, dann kehren sie ins gewohnte Leben zurück.

Traurig-schaurig, denken wir und flüchten zu Hans Erich Nossacks Grab.

Eichhörnchen flitzen über den Rasen, sie sammeln bereits Nüsse für den Winter. Sie sind Bewohner, keine Touristen.

Der Herbst naht; der Herbst ist die große Zeit des Friedhofs. Alles reift, alles leuchtet, die Blätter genießen letzte Sonnenstrahlen, bevor die Bäume sie fallen lassen, einfach so, ganz unsymbolisch. Der Tod ist ein Problem der Lebenden, nicht der Toten.