Einsame Herzen in zwei Welten - Zarah Lu - E-Book

Einsame Herzen in zwei Welten E-Book

Zarah Lu

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Beschreibung

Jan ist zum Studieren in die Großstadt gezogen und stößt dabei auf weit mehr Herausforderungen als er erwartet hatte. Bereits an seinem ersten Tag begegnet er Amadeus, der mindestens so geheimnisvoll wie anziehend ist. Amadeus Angebot ist verlockend und so lässt er sich auf das Abenteuer ein und bezieht das frei gewordene Zimmer in Amadeus Wohnung. Schon jetzt ahnt er, dass er den Reizen dieses jungen Mannes sehr bald erliegen wird. Als er auf den charismatischen Junior-Professor Gregory Vertus trifft, ist das Gefühlschaos perfekt. Auf der einen Seite steht der verführerische Amadeus, der seinen zweifelhaften Ruf genießt. Wie viel davon entspricht der Wahrheit und wie weit würde Amadeus gehen, um Jan zu schützen? Auf der anderen Seite stehen Gregs hohe Anforderungen an Jan. Meint er es wirklich ehrlich mit Jan oder verbirgt auch er etwas vor ihm? Jan muss eine Entscheidung treffen, doch das ist unmöglich, solange nicht alle Geheimnisse gelüftet sind, die sich um die beiden Rivalen ranken. Niemand ahnt, wie nahe sich die beiden eigentlich stehen.

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Zarah Lu

Einsame Herzen in zwei Welten

Gay Romance

◆◆◆  Sämtliche Personen dieser Geschichte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.   Im wahren Leben gilt: Safer Sex.

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Impressum

Eins

Asien

Leise öffnete er die Tür zu seinem Appartement. Nach westlichen Standards entsprach es eher einem winzigen Zimmer. Hier im Herzen von Taipeh, der Hauptstadt von Taiwan, zählte es zu den privilegierteren Unterkünften. Auch wenn es mit seiner unaufdringlichen Einrichtung nicht den Eindruck vermittelte. Das geringe Platzangebot hatte man geschickt durch den Einsatz von zimmerhohen Einbauschränken erweitert. Sie dienten gleichzeitig als Raumtrenner für das angrenzende Bad und boten den einzigen Stauraum dieser Wohnung. Auf der anderen Seite stand ein schlichtes, aber bequemes Futonbett, nicht mehr als eine erhöhte Matratze. Gleich neben Eingang befand sich eine kleine Kochnische. Sie war durch eine halbhohe Wand vom Rest der Wohnung getrennt und gestattete den Blick zum Bett und aus dem überdimensionierten Fenster. Er befand sich hoch über der Stadt und konnte von hier aus über den nördlichen Teil der Insel bis hin zum Ozean blicken. Seine wahre Schönheit offenbarte sich einem erst, wenn am Morgen die Sonne über der Stadt aufging. Sein kleines Reich war zwar räumlich begrenzt, aber davon abgesehen war es funktional und sehr modern. Es war perfekt. Ganz besonders, seitdem Cheng es mit ihm teilte und darin lebte.

Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er an den zwei Jahre jüngeren Mann mit den schönen Augen dachte. Sie hatten sich gestritten. Schon wieder. Das taten sie in letzter Zeit oft, ohne dass er wusste, warum. Cheng stand kurz vor seinem Abschluss an der NTU in Taipeh. Die staatliche Universität galt als eine der besten weltweit und Cheng war einer ihrer vielversprechendsten Absolventen. Also kein Grund, sich um seine Zukunft zu sorgen. Er hatte Großes vor sich, wenn er es denn wollte. Er müsste nur danach greifen. Noch scheute er sich vor der großen Karriere, so als könnte er sich darin verlieren. Doch auch ohne diesen Schritt würden ihm alle Wege offenstehen. Die Welt könnte ihm zu Füßen liegen. Er selbst schloss sich da nicht aus. Cheng zuliebe dachte er sogar darüber nach, nach Deutschland zurückzukehren und sich dort an einer Universität zu bewerben. Cheng würde dort ein gut dotiertes Angebot erhalten, egal ob es ihn in die freie Wirtschaft oder an eine renommierte Universität zog.

Die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft hatte ihn mittlerweile in ihren Bann gezogen und versetzte ihn in Hochstimmung. Ausgerechnet ihn, der stets auf seine Unabhängigkeit gepocht hatte und sich niemals an jemanden binden wollte. Zukunft definierte sich für ihn nie weiter als von jetzt bis zum Erhalt seines nächstens Gehaltsschecks. Weiter im Voraus hatte er sein Leben nie geplant. Selbst seine bisherigen Partnerschaften erlagen einer eher kurzen Lebensdauer und endeten nach der kleinsten Andeutung von Wiederholung oder gar Verantwortung. Routine bedeute für ihn Ruhe und Ruhe war der Tod. Bei keinem seiner Liebhaber war er zu diesem Opfer bereit gewesen. Aber diesmal fühlte es sich anders an. Dem Verlust seiner Freiheit stand eine Vielzahl an Emotionen und Erfahrungen gegenüber, für die Cheng sein Schlüssel war. Chengs Gegenwart eröffnete ihm eine ganz neue Welt und nicht nur ein flüchtiges Abenteuer. Kein Verlust, sondern ein unfassbar großer Gewinn. Er hatte keine Angst mehr vor diesem großen Schritt, er war bereit dazu.

Bis an sein Lebensende: Cheng. Klang das verrückt? Aus seinem Munde schon, irgendwie. Trotzdem, es fühlte sich richtig an. Es fühlte sich richtig an, wenn der ewig Rastlose nun damit begann, seine Zukunft zu planen. Ihre gemeinsame Zukunft. Natürlich hatte er Cheng davon noch nichts erzählt. Er wollte keine Hoffnungen in dem jungen Mann schüren, bevor er nicht wusste, wie realistisch seine Pläne überhaupt waren. Nach ihrem Streit hatte er stundenlang im Internet recherchiert und diesmal eine Entscheidung getroffen. Er würde mit Cheng darüber sprechen. Jetzt gleich.

Es war spät geworden. Viel später als er es beabsichtigt hatte. Tiefschwarz hing die Nacht zwischen den Hochhäusern. Ein angenehm kühlender Wind zog durch die künstlichen Schluchten. Er bildete sich dann immer ein, eine winzige Nuance des würzigen Meeresduftes wahrzunehmen. Cheng zog ihn jedes Mal damit auf, wenn er so etwas behauptete. Immerhin waren sie hier noch gute 20 Kilometer von der Küste entfernt, noch dazu inmitten einer lärmenden, smogverseuchten Metropole.

In ihrem Appartement war es still. Tief unter ihnen dröhnte die Stadt. Er nahm ihre Geräuschkulisse kaum noch wahr. Man lernt schnell, bestimmte Reize wie Lärm und andere Menschen auszublenden, wenn man ihnen nicht aus dem Weg gehen kann. Das hatte dazu geführt, dass sie selbst von den Menschen, die direkt neben ihnen lebten, keinen einzigen Namen wussten. Er hätte noch nicht einmal sagen können, ob sie jung oder alt waren. Oder wie viele. Genau diese Anonymität war es, die sie beide hier gesucht und gefunden hatten. Niemand scherte sich darum, wer sie waren und wen sie liebten.

Von draußen drang spärliches Licht ein. Zu wenig, um sich in ihrer engen Behausung zurecht zu finden. Immer wieder stieß er auf ein unerwartetes Hindernis. Er schlich sich ans Bett und legte langsam seine Kleidung ab. Er wollte keinen unnötigen Lärm verursachen. Cheng schlief bereits. Er hatte nicht auf ihn gewartet. Also würde er ihm die gute Neuigkeit morgen mitteilen.

War es wirklich eine gute Nachricht für Cheng? Wie so oft wusste er absolut nicht einzuschätzen, wie Cheng auf diese Nachricht reagieren würde. Würde er ihm folgen? Raus aus China mit seinen vielen Menschen und deren beklemmender Moralvorstellung? In ein ihm fremdes Land, dessen Sprache er kaum kannte? Weg von den Ansprüchen und Erwartungen einer ländlichen Familie an ihren einzigen Sohn? Könnte er einfach fortgehen, ohne Abschied? Oder müsste er offen mit ihnen brechen, um wirklich frei zu sein. Und was dann? Wäre er glücklich? Mit ihm? War es das, was er wollte? Konnte er das? Entwurzelt sein, konnte er so leben?

Niemand in China lebte offen schwul. Cheng hatte es viel Überwindung gekostet, seine Besonderheit anzunehmen. Selbst ihm gegenüber hatte Cheng die gemeinsame Wohnung nur aus finanziellen Gesichtspunkten akzeptiert. Sie war nun der einzige Ort in Taipeh, an dem sie sein konnten, was sie waren. Ein schwules Paar. Es gab Tage, an denen sich Cheng ihm ganz öffnete und ihre gemeinsame Zeit genoss. Dann zeigte er ihm einen hingebungsvollen, jungen Mann, der an Ideenreichtum und Fantasie überquoll. Dessen Mut und Abenteuerlust, die seinen in den Schatten stellten und dessen Lebensfreude ihn an seine Grenzen führte. Als er ihn zum ersten Mal so erleben durfte, hatte Cheng sein Herz im Sturm erobert. Bis dahin war seine Liebe zu ihm nur einer unbestimmbaren Faszination entsprungen. Cheng war geheimnisvoll und voller Versprechen. In diesen wenigen Momenten aber durfte er Teil von etwas viel Größerem sein. Bis Cheng seine Bedenken wieder einholten und er den emotionalen und körperlichen Aspekt ihrer Beziehung komplett ausblendete. Dann plötzlich war Cheng wieder der zurückhaltende, freundliche Gastgeber, der nur danach strebte, seinem Vater die größte Ehre zu erweisen.

Behutsam legte er sich neben den schlafenden Mann und zog das dünne Laken über sie beide. Mehr Nähe wagte er nicht einzufordern, ohne dass Cheng dem ausdrücklich zugestimmt hatte. Berührungen oder gar Küsse waren außerhalb ihres Appartements grundsätzlich tabu. Er durfte sich dann glücklich schätzen, wenn Cheng seine Nähe akzeptierte und gelegentlich sogar mit ihm sprach. Diese konsequente Distanz in der Öffentlichkeit mutete schon beinahe feindlich an und sorgte für Gerede unter den anderen Studenten. Die klügsten Köpfe des Landes hatten schnell erkannt, was sie beide füreinander waren. Aufgeklärt und weltoffen, wie sie nun einmal waren, schenkten sie den beiden kaum Beachtung. Taipeh und besonders dessen Campus war nicht nur für chinesische Verhältnisse ein toleranter Ort. Die Wenigsten hätten sich hier an ihrem Schwulsein gestört, doch Cheng konnte nicht aus seiner Haut und er gewährte ihm den Raum, den sein sensibler Freund zum Wohlfühlen benötigte. Er gab Cheng die Zeit, die er brauchte, um herauszufinden wer er war und was er wollte. Und er lebte in der Hoffnung, dass Cheng ihn dabei als seinen Gefährten akzeptieren würde.

Die Dunkelheit zog ihn in einen bleischweren Schlaf, aus dem er das erste Mal erwachte, als die Sonne über dem Horizont aufging. Eine innere Unruhe breitete sich in ihm aus. Er war gespannt, wie Cheng auf seine Neuigkeiten reagieren würde. Am liebsten hätte er ihn auf der Stelle geweckt. Doch das wagte er nicht. Dafür war es noch viel zu früh. Cheng würde ihm die Hölle heiß machen, wenn er ihm seinen wertvollen Schlaf raubte. Bis zur ersten Vorlesung waren es noch gute drei Stunden. Also schlich er sich in das winzige Bad und stellte die Dusche an. Das warme Wasser entspannte seine Muskeln und allmählich beruhigte sich auch sein Geist. Seine Gedanken wurden klarer. Er erwachte.

Was hatte er schon zu verlieren? Im besten Fall wäre Cheng von seiner Idee begeistert und würde sich mit Feuereifer seinem Abschuss widmen und neue Pläne schmieden. Wenn nicht, könnte er Cheng vielleicht wenigstens dazu bewegen, sich ihm mitzuteilen. Die Dinge hatten sich grundlegend geändert. Er musste wissen, wo sein Platz in Chengs Zukunft sein würde. Hoffentlich an Chengs Seite, als sein Partner.

Das war für sie beide neu. Chengs Zukunftspläne orientierten sich stark an den Ansprüchen seiner Familie und ließen wenig Spielraum für persönliche Vorstellungen. Er wusste, dass Cheng seine eigenen Wünsche nie hinterfragt hatte. Zu groß war seine Angst, dass diese mit dem für ihn vorgesehenen Lebensweg unvereinbar sein könnten. Doch es gab sie und Cheng musste sich der großen Differenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewusst sein.

Er stellte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Cheng schlief noch immer. Er beneidete ihn um seinen festen Schlaf. Vielleicht könnte der Duft eines frisch gebrühten Kaffees ihn aus dem Reich der Träume locken. Er wollte unbedingt noch vor der Uni mit ihm sprechen und er wollte es in aller Ruhe tun. Er hasste es, wenn sie mitten in einer Diskussion abbrechen mussten.

Während der Kaffee durchlief, suchte er seine Sachen zusammen und zog sich an. Cheng lag unverändert mit dem Rücken zu ihm und schlief. Vorsichtig umrundete er ihr Bett, um den schlafenden Jüngling zu betrachten. Das Laken war ein wenig verrutscht und er trat näher, um es zurechtzurücken. Seine Hand streifte die kühle Haut. Zu kalt.

Er erstarrte. Cheng sah aus, als würde er schlafen. Friedlich. Ruhig. Sein Brustkorb hob und senkte sich nur ganz leicht. Das tat er doch, oder? Er hielt die Hand an Chengs Mund und spürte keinen Atem. Er fühlte Chengs Puls und fand ihn nicht. Cheng war eiskalt. Wie hatte ihm das während der Nacht entgehen können? Er rollte den jungen Mann auf den Rücken und zog das Laken zurück. Dabei berührte er einen feuchten Fleck.

Erst jetzt bemerkte er den kleinen Schnitt an Chengs Handgelenk. Er war nicht tief. Nicht länger als zwei Finger breit. Senkrecht entlang der Ader. Gerade groß genug, um Chengs Leben für immer aus seinem Körper zu entlassen.

Zwei

Europa

„Du musst Jan sein“, begrüßte ihn ein vollbärtiger Typ. „Ich bin Wieland. Es ist mein Zimmer, für das wir einen Nachmieter suchen. Komm rein, ich zeig dir alles.“

Jan tat, wie ihm geheißen und trat durch die hohe Eingangstür. Echtholzdielen, Stuck an der Decke und schon im Flur ein opulenter Kronleuchter. Das war definitiv keine Studentenbude und würde sein Budget deutlich übersteigen. Hinter ihm fiel die schwere Tür ins Schloss. Naja. Ankucken konnte man sie ja mal. Jab überlegte angestrengt, ob sie schon über einen Preis für das Zimmer gesprochen hatten.

„300 € all-in“, klopfte ihm Wieland auf die Schulter. „Was Besseres findest du für den Preis nicht.“

Für den Preis wäre er sogar in den Keller gezogen. 300 € waren inzwischen das Minimum für eine brauchbare Studentenbude. Hauptsache warm und trocken, mehr verlangte er nicht. Mit seinem Budget konnte er nicht allzu wählerisch sein. Das, was Wieland ihm hier offerierte, glich dagegen einem Schloss.

„Sehe ich auch so. Warum ziehst du aus?“, stutzte Jan und biss sich auf die Zunge. Das ging ihn nichts an. Er brauchte einen Schlafplatz und hatte so gut wie keinen finanziellen Spielraum. Wo auch immer der Haken war, er würde sich schon damit arrangieren.

Wieland öffnete die erste Tür und gewährte ihm einen Blick hinein: „Das Badezimmer. Dusche, Wanne, Waschbecken. Das Klo ist gegenüber.“

„Das ist riesig! Allein das Bad ist größer als mein Zimmer zu Hause.“

„Warte, bis du die anderen Zimmer gesehen hast.“

Wieland schob ihn zur nächsten Tür: „Dein Zimmer, wenn du es haben willst.“

Jan spürte eine Hand in seinem Rücken, die ihn sanft in das lichtdurchflutete Zimmer schob. Wieland hatte den großen Raum mit Hilfe von Bücherregalen geschickt in drei Bereiche aufgeteilt. Schlafen, Relaxen und Studieren. Eine rot gelockte Schönheit erhob sich von der Couch und stellte sich ihm als Liesa vor. Wie hatte es dieser Waldschrat nur fertiggebracht, diese Göttin von sich zu überzeugen?

„Wieland hat das meiste hier selbst gebaut“, strahlte sie ihn voller Stolz an. „Wenn du möchtest, können wir die Möbel hierlassen. Dann sparen wir uns den Umzug und können uns in der neuen Wohnung alles passend machen.“

Das beantwortete seine Frage von eben. Wieland nickte bereitwillig und gab so sein Ok. Jan mochte die beiden auf Anhieb. Zu schade, dass sie aus der Wohnung ausziehen würden und er so nicht mehr in den Genuss ihrer Gesellschaft gelangen würde.

„Ich könnte alles übernehmen? Bett, Schrank, Regale?“, vergewisserte er sich.

„Schreibtisch, Couch, was immer du brauchst“, bestätigte Wieland.

„Was willst du dafür haben?“

„Nur den Materialwert. Keine Panik. Ist nicht weiter dramatisch. Falls du es dir nicht leisten kannst, nehme ich dich auch gerne in der neuen Wohnung in Anspruch. Liesa macht noch ihr Physikum fertig und ist mit Lernen beschäftigt, da könnte ich ein wenig Unterstützung bei den neuen Möbeln gebrauchen.“

„Sehr gerne! Aber erwarte nicht zu viel von mir. Ich verfüge nicht ansatzweise über so ein Talent wie du!“

„Das hat weniger mit Talent zu tun. Ich habe Architektur und Design studiert. Da sollte man schon wissen, was funktioniert und gut aussieht. Sonst hätte ich mich wohl für den falschen Beruf entschieden“, unkte Wieland. „Komm, ich zeige dir noch schnell die Küche.“

Wieland dirigierte ihn in das letzte Zimmer der Wohnung. Die Küche war beinahe quadratisch und ebenso groß wie die anderen beiden Zimmer. Auf ihrer rechten Seite standen die Küchenmöbel. Helles Holz, getoppt mit einer Arbeitsplatte in Betonoptik, Backofen, Herdplatte, Mikrowelle, Doppelkühlschrank. Ihnen gegenüber führte ein bodentiefes Fenster auf den kleinen Balkon, der von einem verzierten Eisengeländer umrandet wurde. Irgendjemand, vermutlich Wieland, hatte ein paar Blumenkästen angebracht, in den gelbe Blumen blühten und jede Menge Insekten anzogen. Eine unerwartete Idylle inmitten der Großstadt.

Wenn man wollte, konnte man das Spektakel ungestört von dem großen Esstisch in der Küche beobachten.

Die gemütliche Essecke endete vor einer weiteren zweiflügeligen Tür, welche in diesem Moment aufgerissen wurde. Jan stockte der Atem.

„Fehlt nur noch Amadeus“, schmunzelte Wieland hinter Jan. „Darf ich vorstellen? Jan, das ist dein neuer Vermieter. Ihm gehört der hintere Teil der Wohnung.“

Jan trat instinktiv einen Schritt zurück, als der nahtlos gebräunte Mann auf ihn zukam, um ihm die Hand zu schütteln. Er war nackt. Für ihn schien es das Normalste der Welt zu sein.

„Freut mich“, grinste ihn Amadeus aufmunternd an und raunte ihnen dann vertraulich zu: „Könnt ihr euch bitte unauffällig verhalten? Ich habe hinten Kundschaft.“

„Klar“, antworte Wieland verschwörerisch und zog den verdatterten Jan mit sich fort.

Zurück in seinem Zimmer drückte Wieland ihn auf die Couch und reichte ihm ein Bier.

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, entschuldigte sich Wieland stellvertretend für Amadeus. „Amadeus fehlt jegliches Gespür für Privatsphäre. Was auch immer er tut, er meint es nicht böse. Aber er kann einen in so manche blöde Situation bringen.“

Jan war noch immer fasziniert von dem schönen Mann. Unter der sonnengebräunten Haut hatten sich schlanke Muskeln abgezeichnet. Schlank und ausgewogen, wie man sie bekam, wenn man sich gerne und viel bewegte. Nicht die aufgepumpte Art, die sich so viele mühevoll antrainierten. Unterhalb seines Bauchnabels bildete ein zarter Flaum ein hübsches Dreieck und hatte seinen Blick zu dem halb erigierten Schwanz gelenkt.

Jan erinnerte sich, wie die zarte Haut an seinem Schaft ausgesehen hatte. Er mochte dieses dunkle Rotbraun mit dem seidigen Schimmer. Er stellte sich augenblicklich vor, wie sie sich unter seinen Lippen anfühlen würde. Er schmeckte das Salz auf seiner Zunge und roch die herbe Männlichkeit, ohne dass er sich diesem Adonis genähert hätte. Dieser Anblick hatte sich für immer in seinem Gehirn eingebrannt.

Gerade noch rechtzeitig hatte er bemerkt, dass er das Objekt seiner Begierde anstarrte und bald der Versuchung erliegen würde. Er hatte sich zur Ruhe gezwungen und den Blick gehoben. Ein Fehler, wie er feststellen musste. Denn dort erwarteten ihn die blausten Augen, die er je gesehen hatte und nahmen ihn gefangen. Er wäre verloren, wenn er mit diesem Mann die Wohnung teilen musste.

Wielands Worte drangen zu ihm durch und rissen ihn aus seiner Erinnerung.

‚Daran wirst du dich gewöhnen müssen‘, hatte er gesagt. Gott bewahre! Wenn ihm dieser Mann noch einmal so gegenübertrat, würde er ungefragt über ihn herfallen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. So verlockend das Angebot auch war, er konnte dieses Zimmer auf keinen Fall annehmen.

„Also abgemacht“, freute sich Liesa. „Bis zum Wochenende sind wir hier raus. Die Miete ist erstmal bezahlt, alles Weitere klärst du dann am besten mit Amadeus. Den Schlüssel bekommst du auch von ihm. Wir rufen dich an, wenn wir hier soweit sind. Ok?“

Jan nickte und zweifelte an seinem Verstand.

„Was studierst du eigentlich?“, fragte Liesa neugierig. „Du willst doch studieren, oder?“

„Ja“, antwortete er schnell. „Klar. Management. Ich möchte meinen MBA machen. Mal sehen, ob was daraus wird.“

„Bestimmt“, spracht ihm Wieland zu. „Mit Management bist du bei Amadeus an der richtigen Adresse. Der kann dir an der Uni auf jeden Fall weiterhelfen.“

Jan scheiterte an dem Versuch, sich den nackten Man in einem Hörsaal vorzustellen und fragte: „Wieso, was macht er denn?“

„Der macht gerade seinen Master in International Management“, erzählte Wieland bereitwillig. „Ich hätte nie gedacht, dass er überhaupt den Bachelor schafft, aber Amadeus macht seinem Namen alle Ehre. Er ist richtig gut und dabei zählt er noch nicht einmal zu den Fleißigsten.“

„International Management?“, überlegte Jan. „Warum macht er denn sowas?“

„War bei ihm naheliegend. Er ist ziemlich viel rumgekommen, bevor er sich für die Uni entschieden hat. Er war schon als Schüler in den USA und hat dort ein Austauschjahr gemacht. Nach dem Abi hat er ein paar Jahre in Asien gejobbt und ist als Backpacker durch den halben Kontinent gezogen. Der kann dir Stories erzählen! Er wäre blöd, wenn er nicht nutzt, was er dort alles erlebt und gelernt hat.“

Jan war beeindruckt. Den Backpacker glaubte er Wieland sofort, genauso hatte er Amadeus eingeschätzt, als der ihm so unbekümmert gegenübergestanden hatte. Dieser Typ verschwendete nur ein Mindestmaß auf sein Erscheinungsbild. Soweit Jan das beurteilen konnte, war sein Körper weder durch ein Tattoo oder ein Piercing entstellt, seinen dunklen Strubbelkopf bekam nur aller paar Monate ein Friseur zu Gesicht und auch sonst wirkte er herrlich unkompliziert.

Ausgerechnet dieser Typ studierte nun also Management. So wie er. Damit hatten sie schon mal eine Gemeinsamkeit. Nein. Genau genommen waren es sogar schon zwei, denn seit ungefähr zehn Minuten teilten sie ja offensichtlich eine Wohnung miteinander. Sie war groß, hochwertig saniert, in einer ruhigen Wohngegend und nicht weit vom Campus entfernt. Ideal für Jan. Perfekt mit diesem Mitbewohner. Jan war sich sicher, dass Amadeus den Löwenanteil der Mietkosten selbst trug. Sein Beitrag deckte gerade die Nebenkosten und hatte eher einen symbolischen Charakter. Er verstand weder, warum Amadeus das tat noch, wie er sich das leisten konnte.

Vier Tage später saß er zwischen gepackten Koffern in seinem neuen Zimmer und nahm die Tasse Kaffee aus Amadeus schlanker Hand. Dieses Mal präsentierte sich Amadeus in Jeans und T-Shirt und plapperte munter auf ihn ein. Jan war nicht im Stande seinem Redefluss zu folgen. Er war fasziniert von dem Funkeln seiner Augen. Hin und wieder nahm er einen kleinen Schluck von dem würzigen Gebräu, um den schönen Mann nicht unentwegt anzustarren und dadurch eine peinliche Situation heraufzubeschwören.

Viel zu spät bemerkte er, dass Amadeus ihn seit einiger Zeit belustigt ansah und schwieg. Offensichtlich erwartete er irgendeine Reaktion von ihm. Über was zur Hölle hatte er gerade gesprochen? Hatte er ihm eine Frage gestellt und erwarte er jetzt eine qualifizierte Aussage dazu? Oder würde ein Kopfnicken als Antwort genügen? Jan runzelte die Stirn und provozierte Amadeus damit zu einem herzhaften Lachanfall.

„Du bist der Hammer!“, grinste er ihn an. „Du hast keine Ahnung, worüber ich gerade gesprochen habe, stimmts?“

„Nein“, gestand Jan schuldbewusst. „Sorry. Mir geht gerade so viel durch den Kopf. In zwei Wochen geht die Uni los. Ich will gleich meinen Kram auspacken und dann schauen, was ich noch alles brauche. Ich könnte ein paar Tipps gebrauchen, wo man hier am günstigsten einkaufen kann. Ein Job wäre auch nicht schlecht. Ich muss mir so schnell wie möglich etwas dazu verdienen. Macht es Sinn, wenn ich mein Fahrrad mitbringe? Kann ich das hier irgendwo abstellen?“

„Langsam, langsam“, unterbrach ihn Amadeus. „Pack erstmal in aller Ruhe aus und verschaff dir einen Überblick, was du wirklich brauchst. Glaub mir, das meiste ergibt sich eh erst, wenn du ein paar Tage auf dem Campus verbracht hast. Ein eigenes Fahrrad macht allerdings Sinn. Ist das schnellste Fortbewegungsmittel in der Stadt und unten im Keller ist noch genügend Platz dafür. Bring es beim nächsten Mal einfach mit, dann drehen wir ne Runde zusammen und ich kann dir die besten Strecken zum Campus und zur Bibliothek zeigen. Für den Anfang würde ich vorschlagen, dass ich dir heute Abend eine kleine Führung durch unser Stadtviertel gebe. Ich zeige dir die besten Kneipen und Cafés und bei der Gelegenheit auch ein paar gute Adressen zum Shoppen. Einverstanden?“

Amadeus beugte sich zu ihm herüber und war seinem Gesicht so nahe, dass er seinen Atem riechen konnte. Jan entdeckte kleine Fältchen an Amadeus Augen, er war also doch nicht mehr so jung, wie er auf den ersten Blick wirkte. Wie alt mochte er sein? Älter als seine 21 auf jeden Fall. Mitte oder doch schon Ende zwanzig? Spielte das eine Rolle?

Er war attraktiv und übte auf Jan eine intensive Anziehungskraft aus. Jan lehnte sich bewusst ein Stück zurück, um sich dieser Magie zu entziehen. In Amadeus Augen drohte man zu versinken. Er hatte in ihnen eine Tiefe entdeckt, wie man sie sonst nur bei sehr alten Menschen finden konnte. Oder bei Personen, die schon viel gesehen hatten. So unbekümmert sich Amadeus auf den ersten Blick gab, er war es nur für denjenigen, der ihn so sehen wollte. Hinter dieser Fassade verbarg er viel mehr.

Jan rief sich zur Ordnung. Was war nur los mit ihm? Er kannte diesen Mann kaum und war schon drauf und dran, sich in ihn zu verlieben. Es wäre besser, wenn er sich auf das konzentrieren würde, was vor ihm lag!

Jan straffte seine Schultern: „Danke. Sehr gerne. Ich freue mich!“, hörte er sich plappern.

„Fein“, resümierte Amadeus und ließ ihn allein in seinem Zimmer.

Jan sackte in seinem Sessel zusammen. Die leere Tasse hielt er zwischen seinen Schenkeln und fuhr mit dem Daumen über das feine Porzellan. Er starrte auf die verschlossene Tür und fühlte sich erschöpft. Wovon eigentlich? Vor wenigen Minuten war er voller Elan hier angekommen und hatte sich darauf gefreut, sein neues Zimmer zu beziehen. Seine erste eigene Wohnung. Streng genommen war es nur eine WG, trotzdem wäre er sein eigener Herr und unabhängig von seinen Eltern.

Das kurze Gespräch mit Amadeus hatte seine Nerven überstrapaziert. Er hatte seinen Duft aufgesogen, jede Regung verfolgt und alles, was dieser Mann tat oder unterließ, akribisch archiviert. Jetzt hockte er hier und wagte sich kaum zu atmen. Er lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch, das von Amadeus stammen mochte. Das war doch nicht normal. Ein klein wenig wütend über sich selbst sprang er auf und begann damit, seine Taschen auszuräumen und sein Zimmer in Besitz zu nehmen.

Amadeus überraschte ihn in einer dunkelgrauen Hose und einem blütenweißen Hemd, dessen Kragen und oberster Knopf offenstanden. Business-Lock, aber an ihm wirkte es keineswegs spießig. Es stand ihm. Vor allem, weil er es so selbstverständlich trug, wie es anderen nur mit Jeans und T-Shirt gelang. Er fühlte sich deplatziert, obwohl es doch nur Amadeus war, der ihm gegenüberstand und ihn anlächelte. Amadeus strahlte diesmal eine Autorität aus, die auf ihn gleichermaßen anziehend wie respekteinflößend wirkte.

Jan wandte den Blick ab und sah zu Boden. Er hatte gehofft, auf diese Art sein Selbstbewusstsein wiederzufinden. Zumindest einen Teil davon. Nun starrte er auf ein Paar dunkle Schuhe aus weichem Leder. Selbst er erkannte auf den ersten Blick, dass allein diese Schuhe sein Monatsbudget gewaltig überstiegen. Frustriert schnaubte er aus und betrachtete eindringlich seinen Türrahmen.

Zwei warme Hände umschlossen sein Gesicht und hoben seinen Blick zu den verführerischen Augen.

„Soll ich mich noch einmal umziehen?“, raunte Amadeus ihm leise zu.

Jans Lippen kitzelten. Sie waren dem fremden Mund so nah, dass sie sich beinahe berührten. Wie mochten sie sich anfühlen? Konnten sie weich und sanft sein? Würden sie sich bereitwillig öffnen, sobald er mit seiner Zunge danach verlangte?

Jan riss sich von dem Gedanken los, blieb jedoch in dieser wunderbaren Umarmung.

„Quatsch!“, brummte er schnell und löste sich nun doch von Amadeus. „Nein, alles ok. Du siehst super aus. Lass uns gehen.“

Amadeus schob die Hände in seine Hosentaschen und rührte sich nicht. Er sah ihn nur prüfend an. Zu lange. Worüber dachte er nach? Bereute er es, dass er sich heute Abend mit ihm verabredet hatte? Bemerkte er erst jetzt, wie jung seine Verabredung noch war? Hatte er sich verraten und wusste Amadeus, welche Wirkung er auf ihn hatte? War ihm das vielleicht unangenehm?

‚Sag was!‘, dachte Jan verzweifelt. Jetzt wurde die Situation für ihn unerträglich.

Amadeus deute ein leichtes Kopfnicken an und ging aus der Tür. Jan beobachtete, wie sich der graue Stoff an seinen Körper schmiegte, während er lief.

‚Kleiner fester Hintern‘, registrierte er angetan und stellte sich vor, wie er ohne die dünne Stoffschicht aussehen würde. Über sich selbst den Kopf schüttelnd, folgte er Amadeus. In Gedanken strich er über den runden Muskel.

Draußen zog eine laue Brise durch die Straße und brachte etwas Kühlung nach der Glut des Tages. Straßen und Mauern hatten die Hitze gespeichert und würden sie über die Nacht allmählich wieder freigeben. An besonders windgeschützten Stellen war diese Hitze noch immer unangenehm drückend. Die Bewohner der Stadt ertrugen dieses Inferno in entsprechend luftiger Kleidung und mit dem Präsentieren von viel nackter Haut. Aus dieser ordinären Masse stach Amadeus hervor und zog mühelos deren Aufmerksamkeit auf sich. Selbst wenn er sich ihrem Kleidungsstil angepasst hätte, waren seine Bewegungen weicher und sein Blick entspannter. Er strahlte genau die Lebensfreude aus, von der die anderen dachten, dass sie sie erkaufen konnten, wenn sie nur die richtigen Dinge taten. Jan gefiel, was er in ihren Blicken erkannte. Sie bildeten ein breites Spektrum aus Neugier, Interesse und Gefallen.

‚Dieser Leckerbissen gehört zu mir‘, dachte er voller Stolz. ‚Zumindest heute Abend.‘

Amadeus vermied es, ihren kleinen Rundgang in eine dieser typischen Führungen zu verwandeln, die ihn für jeden ihrer Beobachter zum Touristen abgestempelt hätte. An Stelle von ausschweifenden Erklärungen bevorzugte er es, ihn mit unscheinbaren Gesten auf die Dinge hinzuweisen, die er für bedeutsam hielt. Jan erkannte auch so, welchen Bäcker Amadeus mochte und wo es vermutlich die beste Pizza der Stadt gab. Interessanterweise führte Amadeus ihn zwar an einigen gut gefüllten Kneipen vorbei und gewährte ihm auch die Zeit, um einen Blick hineinzuwerfen. Doch er machte keine Anstalten sie zu betreten. Scheinbar ohne Eile geleitete er ihn durch die belebte Straße und zog ihn an ihrem Ende in eine kleine Seitengasse.

Hier reihte sich ein Lokal an das nächste. Die kleinen Tische quollen in einem bunten Durcheinander über den Gehweg bis auf die Straße, so dass ein Durchkommen kaum mehr möglich war. Die Luft stand und war so heiß, dass Jan augenblicklich der Schweiß aus den Poren quoll. Das Lärmen der unzähligen Menschen um ihn herum, versetze ihn zusätzlich in Alarmbereitschaft. Das war kein passender Ort, um einen entspannten Abend zu verbringen. Amadeus führte ihn unbeeindruckt weiter und betrat wenig später das vermutlich kleinste Lokal am Platz.

Angenehme Kühle beruhigte seine Sinne. Der Lärm der Straße war verstummt und gerade noch als ein leises Murmeln wahrnehmbar. Amadeus lotste ihn in den hinteren Teil der urigen Kneipe und lief über eine schmale Wendeltreppe nach oben. Dort gab es noch einen einzigen freien Tisch. Er stand direkt am Fenster und gewährte freien Blick über die Straße und in das Lokal.

„Mein Stammplatz“, sprach Amadeus ihn zum ersten Mal an, seitdem sie vor einer halben Stunde aufgebrochen waren. „Sie halten ihn mir so lange es geht frei und nehmen die Reservierung erst weg, wenn sie bis auf den letzten Platz belegt sind. Wir haben Glück. Ein paar Minuten später und wir hätten draußen sitzen müssen.“

Jan nickte stumm. Sein Mund war trocken und die Augen brannten. Die Hitze forderte ihren Tribut. Sein T-Shirt klebte unangenehm an seiner Haut, wo der inzwischen kalte Schweiß ihm eine leichte Gänsehaut verpasste. Amadeus hingegen schienen diese Temperaturen nicht das Geringste auszumachen. Er saß in seinem weißen Hemd vor ihm. Die Ärmel waren an den Handgelenken zugeknöpft und verhüllten, was alle anderen im Raum so bereitwillig zur Schau stellten. Ohne jegliche Scheu ächzten sie unter der enormen Hitze. Amadeus aber sah aus, als wäre er gerade der Dusche entstiegen und betrachtete ihn mal wieder ungeniert.

„Was möchtest du trinken?“, fragte er zuvorkommend.

„Wasser“, krächzte Jan. Seine Stimme war von der Hitze so rau, dass ihm beim Sprechen die Tränen in die Augen schossen.

Amadeus nickte und winkte die Kellnerin heran.

„Wollt ihr auch etwas essen?“, fragte sie geschäftig.

„Später“, vertröstete Amadeus sie. „Ich glaube mein Gast muss sich erst einmal akklimatisieren. Wir melden uns bei dir.“

„Und dann einfach das Übliche?“, forschte sie im lockeren Plauderton.

„Gerne, aber lass uns noch ein paar Minuten Zeit“, bat Amadeus erneut.

„Na klar!“, trällerte sie fröhlich. „Also ein großes Wasser mit viel Eis und eine Weinschorle für euch. Kommt sofort!“

Amadeus sah ihr nach, bis sie die Wendeltreppe erreicht hatte und wandte sich dann wieder Jan zu: „Fühl dich heute Abend eingeladen. Ich bezahle. Du darfst dich gerne revanchieren, wenn du dich eingelebt hast. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es bei mir am Anfang war. Da kann es schnell mal ein bisschen viel werden. Wenn dir irgendetwas unklar ist oder du ein Problem hast, egal was, kommst du bitte zu mir. Ich bin lange genug an dieser Uni und kann dir in allem helfen. Also bitte keine falsche Scheu, ich beiße nicht, ok?“

Worüber sprachen sie eigentlich gerade? Über Geld? Die Uni? Amadeus sah ihn auf eine Art und Weise an, dass sich Jan der Verdacht aufdrängte, Amadeus Angebot wäre weit umfassender, als es seine Worte vermuten ließen. Unweigerlich drängte die Erinnerung an ihre erste Begegnung in ihm hoch. Jan musste schmunzeln, als ihm einfiel, dass das Erste, was er von Amadeus gesehen hatte, sein wippender Schwanz gewesen war. Reichlich ungewöhnlich, aber in Amadeus Fall nicht die schlechteste Art, um jemanden kennenzulernen.

„Womit verdienst du eigentlich dein Geld?“, platzte es aus Jan heraus. „Als ich letztens die Wohnung besichtigt habe, sagtest du etwas von Kundschaft. Was genau machst du denn?“

Amadeus sah ihn mit kühlem Blick an und Jan verfluchte sich innerlich für sein forsches Vorgehen. Was unterstellte er diesem Mann eigentlich? Sie kannten sich kaum und das war das Erstbeste, was ihm einfiel? Hätte er sich nicht vorsichtiger an das Thema herantasten können? Was ging es ihn überhaupt an, womit Amadeus sein Studium finanzierte? Er war ihm keine Rechenschaft schuldig.

Jan ertrug den kalten Blick seines Gegenübers nicht mehr und kontrollierte seine Fingernägel. Eine fremde Hand legte sich auf seine und zog ihn wieder in Amadeus Bann.

Amadeus lächelte. Seine Augen waren noch immer kalt, doch er lächelte. Es wirkte einstudiert, wie bei einem Profi.

„Du hast recht“, begann Amadeus und fügte leise hinzu. „Es gibt nur wenige Gewerbe, in denen man seine Kundschaft splitterfasernackt empfängt.“

‚Splitterfasernackt und mit einer Erektion‘, korrigierte Jan ihn im Stillen. Er hütete sich davor, es laut auszusprechen und so die Stimmung endgültig zu kippen.

Amadeus holte tief Luft und stellte dann klar: „Was ich in meinem Teil der Wohnung anstelle, geht dich nichts an. Ich versichere dir, dass es nichts Illegales ist und du in keiner Weise davon beeinträchtigt wirst. Mehr musst du darüber nicht wissen und ich erwarte, dass du es dabei belässt. Keine Fragen mehr dazu!“

Jan starrte ihn verdattert an. Während Amadeus sprach, kehrte die Wärme in seine Augen zurück und löste in ihm ein angenehmes Kribbeln aus. Doch seine Stimme war so eisig, dass die Luft zwischen ihnen gefror. Was war nur los? Was sollte das? Sie waren beide erwachsen und sich gegenseitig zu nichts verpflichtet. Selbstverständlich schuldete Amadeus ihm keinerlei Erklärung oder gar Rechtfertigung.

„Entschuldige“, murmelte Jan verlegen. „Es geht mich nichts an. Vergiss bitte, dass ich überhaupt gefragt habe. Das war dumm von mir.“

Amadeus drückte fester zu. Ihre Hände lagen noch immer ineinander verschränkt auf dem Tisch. Amadeus hatte so die Verbindung zwischen ihnen aufrecht erhalten, während er ihn zurechtgewiesen hatte. Jetzt zog er sie ein kleines Stück zu sich heran und beugte sich zu ihm herüber.

„Du machst dir zu viele Gedanken“, raunte er ihm zu und jagte Jan damit gleich mehrere wollige Schauer über den Rücken. „Komm erstmal in der Stadt an und leb dich ein. Hier ist so manches anders, als du es von zu Hause kennst. Aber ich passe schon auf, dass du mir nicht unter die Räder kommst. Ok?“

Jan wurde wütend. Was glaubte Amadeus eigentlich von ihm zu wissen? Er war kein unerfahrener Junge, den man an die Hand nehmen musste! Ganz bestimmt, war er keiner dieser einfältigen Tölpel vom Land, die zum ersten Mal in ihrem Leben in die große Stadt kamen und ihren Verlockungen erlagen. Er würde nicht untergehen und er brauchte ganz gewiss nicht seine Hilfe!

Amadeus zog seine Hand weg und hinterließ einen kühlen Fleck. Verdammt! Er war einer ganz anderen Verlockung erlegen, doch er würde einen Teufel tun, es ihn wissen zu lassen. Jan nutzte seine frei gewordene Hand und trank einen Schluck Wasser. Das lenkte ihn ab. Seine Wut verflog.

„Hast du Hunger?“, fragte Amadeus versöhnlich.

Er nickte.

Amadeus gab der Kellnerin ein Zeichen bevor er weitersprach: „Bestehst du eigentlich auf ein eigenes Fach im Kühlschrank oder kannst du dich darauf einlassen, dass ich dich nicht verhungern lasse?“

Jan versuchte noch den Inhalt dieser Frage zu sortieren, als Amadeus seine Antwort schon vorwegnahm: „Ich mag es nämlich nicht, wenn wir in der Wohnung ständig irgendwas doppelt haben. Normalerweise hole ich alles, was wir zum Leben brauchen und du besorgst darüber hinaus nur noch das, worauf du absolut nicht verzichten kannst. Einverstanden?“

„Aber dann reichen dir die 300 Euro nie im Leben?“, stammelte Jan fassungslos. „Wie willst du das alles beza…?“Jan verstummte. Das ging ihn nichts an. Genau dieses Thema hatte Amadeus aus dem Repertoire ihrer Gespräche entfernt. Diese eine Frage durfte er ihm nicht stellen. Soweit hatte er ihn verstanden.

„Das ist meine Sache“, nickte Amadeus anerkennend. „Ich habe mein Auskommen und ich kann es nicht leiden, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich nur in einer WG lebe. Ich möchte es bei uns so normal wie möglich halten.“

‚Sagt ausgerechnet derjenige, der seinen Teil der Wohnung zur Tabuzone erklärt‘, dachte Jan grimmig.

„Immer donnerstags kommt die Putzfrau. Du wirst sie wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Sie kommt vormittags, während wir an der Uni sind. Aber sie freut sich, wenn wir vorher ein bisschen aufräumen und den Müll mit nach unten nehmen. Wenn du nicht möchtest, dass sie dein Zimmer mitmacht, dann sag es ihr einfach oder schließ es ab. Ok?“

Na klar. Sie waren beide Studenten und leisteten sich schon eine Putzfrau. Das war für ihn der Inbegriff an Dekadenz. Er würde sein Zimmer ganz gewiss abschließen. Jeden verdammten Donnerstag! Warum hatte Wieland ihm das nicht vorher erzählt? Oder hatte er den Hinweis überhört, weil er nur noch Augen und Ohren für Amadeus gehabt hatte?

Amadeus atmete sichtbar ein und blies die Luft langsam wieder aus. Er ließ ihn dabei nicht aus den Augen, sagte jedoch nichts mehr. Das bedeutete wohl, dass jetzt alles Wichtige vom Tisch war. Zu seiner Verblüffung war das Schweigen zwischen ihnen nicht unangenehm. Fast so, als würden sie ihre Unterhaltung im Stillen fortsetzen. War es nicht auch so? Amadeus beobachtete ihn genau. Er sah, was er sah. Mörderisch hohe Absätze auf dem heißen Asphalt und ein viel zu kurzes Kleid. Hörte, die zu laute und nicht enden wollende Begrüßung zweier Freunde. Und freute sich für den kleinen Spatzen, der keck auf ein Stück Brot zu hüpfte, das noch kein weiterer seiner Artgenossen unter den Stühlen entdeckt hatte.

Jemand brachte das Essen und störte ihre Zweisamkeit. Die Suppe duftete nach Koriander, Ingwer und Zitronengras. Mit einem Mal hatte Jan einen Bärenhunger.

„Vorsicht“, warnte ihn Amadeus. „Sie ist heiß und wenn du das überlebt hast, kommt die Schärfe. Ich hoffe, du magst sie.“

Da war er sich absolut sicher und probierte. Amadeus hatte nicht übertrieben. Die heiße Flüssigkeit rann seine Kehle hinab, wärmte seinen Magen und trat dann als Schärfe den Rückweg bis zu seinem Gaumen an. Nach wenigen Löffeln stand sein Innerstes in Flammen. Das laue Lüftchen, das durch das angelehnte Fenster zu ihnen hereinströmte, wirkte nun wie eine kühle Brise auf ihn und brachte angenehme Kühlung.

„Toller Effekt, was?“, grinste Amadeus ihn an. „Nicht ganz so gut, wie in Indonesien, aber dicht dran.“

„Indonesien?“, fragte Jan. „Warst du schon mal dort?“

Amadeus nickte, während er den nächsten Löffel seiner Suppe genoss.

„Wann war das?“, nötigte Jan ihn zu einer Antwort.

Amadeus grinste ihn an, als hätte er das Manöver durchschaut: „Ist inzwischen eine Ewigkeit her. Ich hatte das Glück eines der wenigen Work-and-Travel-Visa für Taiwan zu ergattern. Als Volontär verdienst du ganz gutes Geld an der Uni und kannst es dir zwischendurch sogar erlauben, für ein paar Wochen nach Bali oder Thailand zu gehen.“

„Du hast dort gearbeitet?“, unterbrach Jan ihn. „Wieland meinte, dass du als Backpacker unterwegs gewesen wärst?“

„Stimmt ja auch. Aber ein Jahr lang reines Backpacking übersteigt meine finanziellen Möglichkeiten. Ich musste mir etwas dazuverdienen und da kam mir der Job als Englischlehrer gerade recht. Unterrichten geht immer. Das habe ich schon als Schüler gemacht und später auch auf Reisen als Privatlehrer. Nicht so offiziell mit Visum und Arbeitserlaubnis. Das war dann schon ein anderes Kaliber.“

„Wie war es so?“

„Es war cool. Für mich genau das Richtige. Die 180 Tage habe ich so schnell es ging verdoppelt. Das Land und die Leute sind einmalig. Viel entspannter als wir. Die nehmen die Tage, wie sie gerade kommen. Das hat mir am meisten imponiert. Interessanterweise habe ich die prägendsten Erinnerungen nicht während meiner Touren gewonnen, sondern in meinen Jobs. Wahrscheinlich lernt man dabei die Menschen einfach besser kennen und hastet nicht wie ein angestochener Tourist an allem vorbei, was diesen Ort so besonders macht.“

„Würdest du es wieder tun?“

Amadeus grinste und wackelte mit dem Kopf: „Schwierig zu beantworten. Das Visum kann man nur einmal im Leben bekommen. Also ist eine Wiederholung ausgeschlossen. Aber wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es genauso wieder tun. Ja.“

„Was machst du nach deinem Studium? Wirst du dann zurückgehen? Als Entsandter irgendeiner großen Firma?“

Amadeus wurde nachdenklich und schwieg eine Weile, bevor er antwortete: „Wahrscheinlich nicht. Nein. Ich glaube, ich würde die Freiheit vermissen, die ich als Backpacker dort unten hatte. Ich möchte die positive Erinnerung nicht durch einen stressigen Nine-to-Five-Job überlagern. Es wäre nicht mehr dasselbe. Ich wäre nicht mehr derselbe.“

„Also bleibst du hier?“, fragte Jan ungläubig. „Mit einem Studium in Internationalem Management? Mit so einem Bombenabschluss? Ernsthaft?“

Amadeus musste über seine Entrüstung lachen. Eine kleine Träne ran über seine Wange. Jan verfolgte aufmerksam ihren Weg, bis sie von seinem Gesicht tropfte und auf dem Tisch zerplatzte.

„Ich weiß ja nicht, was dir Wieland so alles über mich erzählt hat. Aber das hier ist nicht Harvard und ich werde auch nicht mit einem Prädikat abschließen. Ich habe keine Ahnung, wie es danach weitergehen wird. Ich werde einfach abwarten, was sich anbietet und dann entscheiden. So, wie ich es in Asien gelernt habe. Ganz entspannt.“

Jan bewunderte ihn für seine Gelassenheit.

Drei

Asien

Der kleine Seminarraum befand sich im Kellergewölbe und war so dunkel, dass man selbst um die Mittagszeit das Licht einschalten musste. Gerade einmal drei Tischreihen passten hier hinein und boten Platz für weniger als zwanzig Studenten. Das klang für eine Universität vom Ausmaß der NTU nicht gerade großzügig, doch für das, was er vorhatte, war es völlig ausreichend.

Es war das erste Mal, dass er eine kleine Gruppe unterrichtete. Sein erstes Mal vor jungen Erwachsenen. In einem fremden Land mit einer ihm unbekannten Sprache, was ihn allerdings nur geringfügig verunsicherte. Die Campussprache war Englisch und das Thema der nächsten Wochen beherrschte er im Schlaf. Er freute sich über das ihm entgegengebrachte Vertrauen und war zuversichtlich, dass sie schon sehr bald in einen größeren Raum umziehen müssten.

Die ersten Studenten kamen herein. Wie Geister huschten sie an ihm vorbei, suchten seinen Blick und sandten ihm ihren stillen Gruß. Typisch asiatisch eben. In diesem Moment vermisste er den Lärm seiner Heimat. 9000 km trennten ihn von ihr. Zwölf Flugstunden. Die besondere Herausforderung war nicht die geografische Entfernung, sondern die kulturelle. Unterschiedlicher konnten zwei Welten kaum sein. So sehr er manchmal seine Heimat vermisste, so sehr faszinierten ihn die Menschen an diesem Ort. Diszipliniert nahmen sie Platz und warteten stumm auf den Beginn des Unterrichts. Wenn er seinem Stil treu bleiben wollte, dann musste er sie irgendwie aus ihrer Reserve locken. Mit Disziplin konnte er nicht arbeiten, er brauchte immer ein bisschen Anarchie um sich herum.

Zwölf Studenten hat sich eingefunden. Ein guter Start, wie er fand. Jetzt lag es an ihm, ihr Interesse zu wecken und zu erhalten. Erwartungsgemäß war die erste Reihe leer geblieben und bildete einen Schutzwall zwischen ihm und den Studenten. Er grinste. Egal wie unterschiedlich die Kulturen sein mochten. Dieses Phänomen gab es überall. Er überlegte nicht lange, wie er mit dieser Distanz umgehen sollte und schnappte sich den mittleren Tisch. Lautstark zog er ihn aus seinem Verband und beförderte ihn an den Rand des Zimmers. Dann schnappte er sich einen der Stühle und drehte ihn so, dass er den Studenten gegenübersaß.

Er verschränkte seine Arme auf dem Tisch und sah dem jungen Mann direkt in die Augen. Schöne, dunkle Augen, mit einer Traurigkeit, die ihn überraschte. Der junge Mann blieb ruhig und erwiderte trotzig seinen Blick. Für eine Sekunde gab es nur sie beide. Er gestattete sich, den jungen Mann eingehender zu betrachten. Sein Nacken war muskulös, seine Schultern ungewöhnlich breit für einen Asiaten. Vielleicht war er ein Sportler? Hatte er sich für den richtigen Einstieg entschieden?

Das würde er gleich herausfinden und stellte sich seinem Gegenüber vor. Dieser deutete ein leichtes Kopfnicken an, bevor er mit finsterem Blick antwortete: „Nice to meet you. I am Cheng and this is my table.“

Die anderen drucksten herum und begann zu kichern. Das war gut. Die Anspannung im Raum löste sich dadurch. Jetzt musste er nur noch das Eis brechen und sie für sich gewinnen.

„Hello Cheng. Proposal: Your table and my course. If you stay by my side, I will leave this table to you.”

Sie lachten. Das Eis war gebrochen und noch etwas war geschehen, dass nur sie beide betraf. Er hatte das kurze Aufblitzen in Chengs Augen nicht übersehen. Er hatte mit seiner Bemerkung nur klarstellen wollen, dass er keine leeren Tische zwischen sich und seinen Studenten akzeptieren würde. Cheng hingegen hatte dem an-seiner-Seite-bleiben weit mehr beigemessen, als er damit hatte sagen wollen. Anstatt dieses unsittliche Ansinnen nun rigoros abzulehnen, hatte er gar nicht reagiert und damit sein Interesse geweckt.

Vier

Europa

„Möchtest du ein Bier?“, fragte ihn Wieland über die Schulter.

„Nein, danke. Ein Wasser reicht mir.“

„Kasten steht im Bad hinter der Waschmaschine. Bediene dich!“

Jan zuckte bei dem Versuch sich aufzurichten zusammen. Er hatte zu lange gewartet. Nun erinnerte ihn ein stechender Schmerz daran, womit sie den halben Tag zugebracht hatten. Die neue Küche der beiden Turteltauben sah grandios aus und bot viel Stellfläche, ohne dabei zu viel Raum zu beanspruchen. Arbeits- und Sitzbereich bildeten eine perfekte Symbiose. Jan versuchte diesmal langsamer aufzustehen. Er würde sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen und streckte vorsichtig seine Glieder. Wenn er langsam genug machte, würde der Schmerz schon erträglich sein. Die Bewegung würde helfen.

Als er mit seiner Wasserflasche in die Küche zurückkam, stand dort Liesa und begutachtete ihr Werk. Sie sah dabei sehr glücklich aus. Ihre roten Locken standen wirr von ihrem Kopf ab und ein kleiner Tintenfleck an ihrer Schläfe verriet, dass sie eigentlich noch mit einer wissenschaftlichen Ausarbeitung beschäftigt war. Oder sein sollte. Für jede Ablenkung dankbar, stand sie bei ihnen und strahlte sie begeistert an.

„Ich möchte sie am liebsten sofort einräumen!“, rief sie enthusiastisch. „Sie ist toll geworden. Ich hatte noch nie so viel Platz für meine Sachen. Allein für die riesige Arbeitsplatte hat es sich gelohnt.“

Wieland wiegelte ab. Der emotionale Überschwall seiner Freundin war selbst ihm zu viel. Liebevoll, aber bestimmt schob er das zarte Wesen aus der Küche: „Freut mich, dass sie dir gefällt. Du gehst jetzt brav in dein Zimmer zurück und lernst schön. Das Einräumen übernehmen Jan und ich. Wenn du nachher fertig bist, koche ich uns Dreien was Leckeres.“ Mit Blick zu Jan fügte er hinzu: „Vielleicht gesellt sich ja auch Amadeus zu uns. Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen.“

Jan zuckte mit den Schultern. Seit ihrem gemeinsamen Abend im Irish Leaf hatte auch er Amadeus nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dass es ihn gab und er bei ihm lebte, bemerkte er im Grunde nur noch an den Veränderungen im Kühlschrank. Ob und wann er ihre Wohnung verließ, entzog sich seiner Wahrnehmung.

Wieland nickte verstehend: „Der steckt wieder bis zum Hals in Arbeit. Mach dir nichts draus. Das geht vorbei und dann geht er dir jeden Abend auf den Sack!“

Jan konnte sich nicht vorstellen, dass Amadeus ihm jemals zu viel sein könnte. Bisher gab es nichts, das ihn an dem geheimnisvollen Mann störte. Im Gegenteil, er vermisste seine Nähe und sehnte sich nach dessen Aufmerksamkeit. Er hatte sie bisher nur an einem einzigen Abend erfahren dürfen und sie sehr genossen. Wieland unterbrach seinen Schwärmereien: „Ich rufe ihn gleich mal an. Mal sehen was er dazu sagt. Du kannst ja schon mal die ersten Kisten aus dem Keller hochholen und mit dem Auspacken anfangen.“

„Mhm“, stimmte er unter schlimmsten Vorahnungen zu. Wenn Wieland die Kisten gepackt hatte, dann wogen die mindestens dreißig Kilo. Er hoffte inständig, dass es nicht zu viele davon gab und er ein paar leichtere Exemplare finden könnte, bis Wieland wieder mit anpacken würde. Seine Schultern mahnten ihn eindringlich, möglichst langsam in den Keller zu gehen.

Dort angekommen, fand er mehrere Stapel Kisten vor, die vermutlich alle für die Küche bestimmt waren. Missmutig schlurfte er zum ersten Stapel und versuchte die oberste Kiste anzuheben. Keine Chance! Anheben war ja vielleicht noch möglich, aber das Monstrum bis nach oben tragen, war völlig ausgeschlossen. Er testete die nächste Kiste und musste feststellen, dass sie keineswegs leichter war. Entmutigt sah er sich im Raum um. Hinter ihm lehnte Wieland in der Tür und grinste ihn an.

„Hier vorne am Eingang stehen die leichten. Nimm die. Ich kümmere mich um die da hinten.“

„Was ist mit Amadeus?“

„Kommt. Nachdem ich ihm mit der Kündigung unserer Freundschaft gedroht habe.“

„Macht der immer so ein Drama?“, fragte Jan möglichst beiläufig. Er hätte vor Freude in die Luft springen können.

„Normalerweise weiß er, dass ich ein Nein nicht akzeptiere. Scheinbar muss ich ihn ab und an mal daran erinnern. Ist zwischen euch alles ok? Hat er sich dir gegenüber anständig benommen?“

Die Art wie Wieland ihn nach Amadeus fragte, weckte Jans Hoffnung auf ein intensiveres Zusammenleben aufs Neue.

„Ja, alles gut. Bis auf den ersten Abend habe ich ja nicht viel von ihm mitbekommen.“

„Was habt ihr gemacht? Wart ihr aus?“

„Ja. Er hat mir das Stadtviertel gezeigt und mich dann zum Essen eingeladen.“

„Wo?“

„Irish Leaf, glaube ich.“

Wieland horchte auf und starrte ihn an. Ein stilles „Aha?“ beendete ihr Gespräch. Jan wunderte sich über diese Reaktion, schließlich war es doch Amadeus Stammlokal gewesen. Wohin hätten sie also sonst gehen sollen? Vielleicht konnte er Wieland später noch einmal fragen, was das Besondere am Irish Leaf war. Vorerst schnappte er sich eine seiner Kisten und trabte hinter Wieland her.

Beim Auspacken der Lebensmittelvorräte fielen ihnen die wenigen frischen Zutaten auf.

„Was willst du daraus machen?“, fragte er Wieland. „Nudeln mit Tomatensoße?“

„Das würde ich hinbekommen. Aber mir steht der Sinn nach etwas anderem.“ Wieland schnappte sich seine Jacke und schob ihn zur Wohnungstür. „Los, wir gehen shoppen! Wir sind gleich zurück!“

„Ok!“, trällerte es aus dem Wohnzimmer, das inzwischen einer waschechten Bibliothek glich. Nur, dass die Bücher nicht ordentlich in Regalen aufgereiht waren, sondern sich in mannshohen Stapeln auf dem Boden türmten. Liesa strahlte sie glücklich an. Sie schien sich in diesem Chaos wohlzufühlen und war schon wieder in ihren Büchern versunken, bevor sie zur Tür hinaus waren.

Wieland lotste ihn in eine Fleischerei und beäugte kritisch die Auslage. Die Verkäuferin wartete geduldig, bis er seine Inspektion beendet hatte.

„Nichts für Sie dabei?“, fragte sie höflich.

„Ich hätte gerne ein paar Steaks. Aber die hier wirken alle, als ob sie frisch vom Schlachter kommen.“

Die Verkäuferin grinste ihn an und hob den Finger: „Warten Sie bitte kurz. Ich habe hinten noch ein paar, die werden Ihnen gefallen. Wie viele brauchen Sie denn?“

„Wir sind zu viert. Es darf aber ruhig ein bisschen mehr sein, wenn sie gut sind.“

Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu und brachte wenig später einen großen Batzen dunkelroten Fleisches. Wieland bekam glänzende Augen.

„Das nehme ich!“, freute er sich. „Alles bitte!“

„Sehr gerne.“

Jan verschlug es die Sprache, als er den Preis hörte. Doch Wieland grinste noch immer überglücklich und verabschiedete sich mit einem „Bis zum nächsten Mal!“.

„Was ist denn so Besonderes an den Steaks?“, fragte er, nachdem sie den Laden verlassen hatten.

„Sie sind ein paar Tage länger abgehangen und entsprechend zarter. Die meisten Kunden wollen frisch und billig. Die ahnen ja nicht, was ihnen entgeht. Je frischer ein Steak ist, desto eher wird es beim Braten zäh und desto weniger kann sich der Geschmack entfalten. Die hier sind perfekt! Jetzt holen wir noch ein paar Kartoffeln und ein bisschen Grünzeug und dann kann heute Abend eigentlich nichts mehr schiefgehen.“

„Kochst du oft?“, fragte Jan.

„Viel zu selten, wenn du mich fragst. Für mich allein macht es mir keinen Spaß. Ich möchte sehen, wie es meinen Gästen schmeckt und je mehr Leute zum Essen kommen, desto lustiger wird der Abend. Nach meiner Erfahrung muss man die Leute ganz spontan einladen, dann kann ihnen auch nichts dazwischenkommen.“

„Meinst du damit Amadeus?“

„Auch ja. Obwohl ich mich auf ihn verlassen kann. Bei ihm ist es eher schwierig, überhaupt eine Zusage zu bekommen. Amadeus plant nie weiter als eine Woche in die Zukunft, insofern ist es meistens schon schwierig, sich mit ihm für das nächste Wochenende zu verabreden. Aber ein spontanes Abendessen für denselben Abend, klappt fast immer.“

„Warum hast du vorhin so komisch reagiert, als ich das Irish Leaf erwähnt habe?“

„Hab ich das?“, wich Wieland seiner Frage aus. Er stellte die Einkäufe vor dem Haus ab und tastete nach seinem Schlüssel. Der Schlüsselbund klapperte leise in seiner linken Jackentasche. Bevor er die Tür aufschloss, entschied er sich dazu, Jans Frage doch noch zu beantworten: „Das Leaf ist einer seiner Lieblingsorte. Mich hat er dorthin erst nach einem halben Jahr mitgenommen. Du denkst vielleicht, dass er dir aus dem Weg geht, aber er lässt dich schon sehr dicht an sich heran.“

„Ich habe ihn die ganze Woche nicht gesehen?“, protestierte Jan.

„Siehst du? Jetzt verstehst du, was ich meine. Das wird auf jeden Fall ein sehr interessanter Abend heute“, stellte Wieland mit einem schelmischen Grinsen fest und betrat dann das Haus.

Liesa saß mit einem Stapel bedruckter Seiten am neuen Küchentresen und las Korrektur. Sie strahlte ihnen über ihren Brillenrand entgegen und erklärte, dass sie nur noch zwei Seiten vor sich habe und danach ausschließlich für sie da sein wolle. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.

„Schon fertig?“, lobte Wieland seine Füchsin und küsste sie auf die entblößte Schulter.

„Am Montag ist Abgabe. Das war knapp genug“, antwortete sie ihm.

„Wie lange hast du daran gesessen?“, interessierte sich Jan und schnappte sich die Kartoffeln. Damit konnte er nicht viel falsch machen.

„Eine Woche. Ich versuche es mit einem Mindestmaß an Einsatz, sonst ist es nicht zu bewältigen. Inzwischen will ja jeder Kurs irgendeine Art Ausarbeitung und am Ende steht jedes Mal noch die Klausur. Du wirst schnell merken, welche Kurse besonders aufwändig sind.“

„Warte!“, bat Wieland und kam zu ihm gesprungen. „Schneid sie einfach nur in Spalten. Siehst du, so? Ich wollte sie zusammen mit dem Gemüse in den Ofen legen, dann haben wir die wenigste Arbeit damit und besser schmecken wird es außerdem.“

Liesa grinste ihn verschwörerisch an: „Sein Essen ist ihm heilig. Dass wir ihm bei den Hilfsarbeiten zur Hand gehen dürfen, kommt einem Ritterschlag gleich. Hast du schon deinen Stundenplan zusammen?“

„Nö. Die Fachschaft hat für morgen einen Einführungstag organisiert. Führung über den Campus, Hörsäle, Bibliothek, Mensa und Stundenplan basteln inklusive. Die meisten Vorlesungen starten eh erst in der nächsten Woche, da kommt es auf den einen Tag auch nicht mehr an.“

„Stimmt. Lass dir nur nicht zu viel aufschwatzen. Die packen einem das erste Semester meistens ganz schön voll. Immer daran denken, da stehen oft noch Semesterarbeiten und Klausuren an.“

„Naja, wenn er fertig werden will, sollte er lieber am Anfang ordentlich durchziehen“, hakte Wieland ein. „Er wird schon noch früh genug merken, dass es noch ein paar andere Dinge neben dem Studium gibt.“

„Das weiß ich schon“, schmunzelte Jan. „Danke.“

„Oh je!“, seufzte Wieland theatralisch. „Ich hoffe, wir müssen uns keine Sorgen um dich machen? Die Abbrecherquote ist bei euch relativ hoch.“

„Ja, aber die gehen alle freiwillig“, betonte Liesa. „Bei uns fliegen sie nach der dritten verpatzten Prüfung raus und das trotz straffen Paukens.

---ENDE DER LESEPROBE---