Raven: Spuren im Nebel - Zarah Lu - E-Book

Raven: Spuren im Nebel E-Book

Zarah Lu

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Beschreibung

Für Ben ist die Welt in Ordnung, seit er seiner Heimat den Rücken gekehrt hat. Mit ihr verbindet er die Erinnerung an offene Ablehnung und Ausgrenzung. Der Schrecken seiner Jugend, den er erst verarbeiten konnte, seitdem er im Schutz der Großstadt lebt. Noch geht es ihm gut, doch seit einiger Zeit kehren die Erinnerungen an längst vergessene Ereignisse zu ihm zurück und werden allmählich zum Problem für ihn. Ben darf nicht mehr länger ignorieren, was damals vorgefallen ist. Auf Anraten seines Therapeuten begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit und stößt zunächst auf die gleiche Ablehnung und Ausgrenzung wie damals. Schon bald beginnt er zu verstehen, dass er sich seinen Ängsten stellen muss und dass das nur der Anfang seiner Heilung sein kann. Als ob er nicht schon genug Sorgen hätte, tritt auch noch jemand in sein Leben, dessen Wirkung er sich absolut nicht entziehen kann. Kann auch Raven diese besondere Magie zwischen ihnen spüren? Diese Gay-Romance umfasst ca. 86.500 Wörter und enthält explizite homoerotische Szenen.

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Zarah Lu

Raven: Spuren im Nebel

Gay Romance

  ◆◆◆  Sämtliche Personen dieser Geschichte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.   Im wahren Leben gilt: Safer Sex.  

Inhaltsverzeichnis

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

Impressum

EINS

Verdammt!

Ben wusste sofort, dass er nur träumte. Er war wieder in diesem riesigen Gebäude. Dicke Mauern. Hohe Wände. Diffuses Licht. Ein breiter Flur, von dem viele Räume abgehen.

Er hörte den Lärm der anderen. Der Ort war ihm vertraut. Früher war er oft hier gewesen. Als er noch ein Junge war. In einer anderen Zeit, die längst Vergangenheit war. Es hätte jeder beliebige Flur in irgendeinem Gebäude sein können, doch instinktiv wusste er, dass er sich an seiner alten Schule befand.

Ben wollte aufwachen. Er konnte nicht. Irgendetwas hielt ihn in diesem Traum gefangen. Angst kroch an seinen Beinen hinauf. Lähmte sie und verwandelte seinen Körper in Eis. Sein Herzschlag verlangsamte sich und das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Ein untrügliches Zeichen beginnender Panik.

Die anderen Kinder tauchten als Schemen vor ihm auf und rannten an ihm vorbei. Durch ihn hindurch. Als ob es ihn nicht gäbe.

‚Es ist nur ein Traum‘, versuchte er sich zu beruhigen.

Er betete es, als sei es ein Mantra. Es half zumindest ein wenig. Ungefähr so lange, bis er in ihre Gesichter blickte. Jetzt hatten sie ihn doch bemerkt. Sie reagierten auf ihn und wichen ihm aus. Seine Angst war zurück. Sie durften ihn nicht sehen. Er musste fort von hier.

Er musste sich zwingen, endlich aufzuwachen. Ihre Körper verschwanden und wurden wieder schemenhaft. Ein letztes Gesicht schwebte an ihm vorbei. Ein Junge. Schwarze Haare. Dunkle Augen, die so vertraut waren. Er fühlte sich mit ihm verbunden und wollte bei ihm bleiben.

Auch der Junge floh vor den Schemen. Erst jetzt bemerkte er, dass sie den Jungen und nicht ihn verfolgten. Der Junge rannte durch eine Tür und schlug sie in Windeseile hinter sich zu. Der Luftstoß des Aufpralls fegte über ihn hinweg. Alles war so furchtbar real, dass er es kaum aushalten mochte. Der Junge war in Panik. So, wie er selbst.

Voller Schrecken sah er mit an, wie sie ihm in Scharen durch die geschlossene Tür folgten. Selbst diese dicken Mauern konnten sie nicht aufhalten. Er wollte sich nicht vorstellen, was sie dort mit ihm anstellten.

Er musste hier schleunigst fort. Er hatte nur diese eine Chance, solange der Gang noch so unbelebt war. Sekunden nur, bis sie zurückkehren und nach ihm suchen würden.

Ben rannte los. Instinktiv wusste er, wohin er sich wenden musste. Ganz am Ende des Flurs. Das letzte Zimmer auf der linken Seite. Dort war er allein. Vor dem Fenster stand die alte Linde und warf ihre Schatten in den Klassenraum. Auf den Bänken lagen ihre Bücher und Hefte, so als würden sie jeden Moment hereinkommen und mit dem Unterricht beginnen.

Der Raum wirkte friedlich. Sicher.

An der Tafel und an den Wänden hingen ein paar Bilder aus getrockneten Blättern. Es müsste Herbst sein. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen. Plötzlich war der Junge bei ihm. Er stand nur wenige Schritte vor ihm. Das einzige freundliche Gesicht in dieser düsteren Umgebung. Sein Haar wehte im Wind und von irgendwoher schien die Sonne auf seine bronzefarbene Haut.

Ich nächsten Moment erhob er sich und schwebte gute zwei Meter über ihm. Falsch, er saß auf einem Pferd. Es war so schwarz wie er selbst und er sah auf ihn herab. Lächelnd. Glücklich. Ein stolzer Reiter.

Auf dem Gang hinter ihm wurde es lauter. Sie kamen zu ihnen. Seine Angst war mitten unter ihnen und kam in ihrer Begleitung zurück. Das Lächeln verschwand aus dem schönen Gesicht und er galoppierte davon. Durch ihn hindurch. Aus dem Fenster hinaus.

Sie befanden sich eine Etage über dem Erdboden. Der Aufprall würde fürchterlich sein!

Ben erwachte.

Endlich. Was für ein beschissener Traum! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war tiefste Nacht, doch an Schlaf war nun nicht mehr zu denken.

Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, nur um zu spüren, dass er wirklich wach war. Sie waren warm. Seine Lippen waren spröde und seine Augen schmerzten. Ben versuchte sich an den Traum zu erinnern. Er musste ihn sich unbedingt merken. So viel wie möglich einprägen. Aufschreiben, solange die Fragmente noch in seinem Kopf waren.

Es war das erste Mal, dass er mit dem Jungen allein gewesen war. Ein Moment der Sicherheit, den sie nur für sich gehabt hatten. Er hatte ihn noch nie so deutlich wie heute vor sich gehabt. Seine Augen waren so schön. Sein Lächeln hatte nur ihm gegolten und erwärmte sein Herz. Unerklärlich war nur die Sache mit dem Pferd. Ben konnte sich keinen Reim darauf machen, aber es musste etwas zu bedeuten haben.

Er schaltete das Licht an und griff nach dem kleinen Heft, dass er neben sich auf dem Nachtschrank liegen hatte. Jede unachtsame Bewegung, jede winzige Veränderung konnte den Traum und die Erinnerung daran auslöschen. Was bleiben würde, wäre seine Angst.

Machtlosigkeit, solange sie ihn in seinen Träumen aufsuchten.

Wehrlos und allein, gegen ihre Überzahl.

Aber das war er nicht, oder? Dieser Junge war bei ihm gewesen. Er hatte die anderen von ihm weggelockt und ihn vor ihnen gefunden.

Er musste Theo davon erzählen.

Theodore Baumann war sein Therapeut. Doktor der Psychologie, freier Dozent an der Universität und Mitarbeiter an zahlreichen Instituten, die für Ben alle gleich klangen. Er sollte ihm helfen, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Schlafstörungen waren ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit.

Anfangs hatte Ben einfach nur schlecht geschlafen und war morgens so müde wie am Abend zuvor. Seine Konzentration war auf ein bedenkliches Maß gesunken und sie mussten etwas unternehmen, bevor es schlimmer wurde.

Was immer sie versuchten, nichts davon konnte ihm helfen. Die klassischen Therapieansätze, schlugen fehl. Schlaftherapie, Autosuggestion und die vielen Tabletten, nichts davon zeigte bei ihm eine dauerhafte Wirkung. Sei Zustand verschlechterte sich schneller, als ihnen lieb war.

Er schlief nicht mehr durch und wachte immer häufiger auf. Bald hatte er das Gefühl gar keinen erholsamen Schlaf mehr zu finden und dann hatten die Träume begonnen.

Erst war es nur das Gebäude gewesen und die erdrückende Einsamkeit. Dann waren die Schatten aufgetaucht und hatten ihn gejagt. Er konnte sich ihrer nur erwehren, indem er versuchte aus dem Traum zu erwachen. Sein Körper gehorchte ihm immer seltener. Je erschöpfter er wurde, desto länger war er ihnen ausgeliefert. Hilflos musste er ertragen, wie sie ihn jagten. Ihn und den Jungen.

„Beschreibe ihn mir“, unterbrach Theo seine düsteren Gedanken.

„Dunkle Augen. Fast schwarz. Rabenschwarze Haare. Er hat etwas Aristokratisches an sich. Ich kann es nicht anderes beschreiben. Wunderschön und doch unerreichbar. Verstehst du, was ich sagen will?“

„Erzähl weiter. Was unterscheidet ihn von den anderen?“

„Ich sehe ihn ganz detailliert vor mir. Das dunkle Rot seiner Lippen, die langen Wimpern. Die gerade Nase, makellos wie von einem römischen Gott. Ich sehe ihn so deutlich, als ob ich eine Fotografie ansehe. Dabei ist das nur ein Traum und ich dürfte mich kaum an die Farbe seiner Haare erinnern.“

„Was empfindest du, wenn du ihn betrachtest?“

„Ruhe. Vertrauen. Freude.“

„Keine Angst?“

„Nein, erst, wenn die anderen zurückkehren.“

„Das ist gut“, freute sich Theo.

Ben glaubte sich verhört zu haben. Was sollte denn daran gut sein? Dank dieses Burschen hing er nun noch länger in seinem verdammten Traum fest. Die Panik, die sein Herz nach dem Aufwachen umklammert hatte, hatte ihn bis zum Morgengrauen nicht mehr losgelassen. Wenn das so weiterging, würde er bald gar nicht mehr schlafen.

„Aha“, blieb er einsilbig. „Und wie erklärst du dir die Nummer mit diesem Pferd?“

„Eine Überreaktion deiner Fantasie. Wenn wir versuchen, einer unangenehmen Situation zu entfliehen, dann suchen wir uns gerne einen schnellen und starken Gefährten. Das Pferd hat nichts weiter als das zu bedeuten. Wichtig ist, dass du den Jungen gefunden hast. Wir sollten uns auf ihn konzentrieren. Die positiven Gefühle, die du mit ihm verbindest, könnten dir helfen, deine Albträume zu überwinden.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, lästerte Ben. Er glaubte nicht an Gott und erst recht nicht an Theos Theorie.

„Ich habe das Gefühl, dass da mehr dahintersteckt.“

„Eine unterdrückte Persönlichkeit, Dr. Freud?“, scherzte Theo. „Schon möglich. Halte ich bei dir allerdings für relativ unwahrscheinlich. Soweit ich weiß, lebst du deine Vorlieben voll und ganz aus.“

„Sehr witzig“, grummelte Ben. Er gehörte zu denjenigen, die ihr Coming Out schon sehr früh erlebt haben. Ben hatte seine sexuelle Identität nie in Frage gestellt, was zu einem Großteil der Tatsache geschuldet war, dass sein Elternhaus zu dem Zeitpunkt schon zerrüttet war. Mit dem Ende seiner Grundschulzeit gab es für seine Eltern keinen Grund mehr, den Schein zu wahren. Die Trennung folgte ein Jahr darauf und Ben musste allein zurecht kommen. Schule, Freunde, Erwachsenwerden. Anders sein.

Es gab niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Seine Mutter schuftete sich zu Tode, arbeitete in Schichten, um sie beide durchzubringen und kämpfte um ihre Unabhängigkeit von seinem Vater. Sie hörte sich an, was er zu sagen hatte, verurteilte ihn nicht. Immerhin. Es hatte nie ein böses Wort zwischen ihnen gegeben, doch Ben war sich lange Zeit nicht sicher gewesen, wie sie zu seiner Homosexualität stand.

Die Reaktion seines Vaters war deutlicher ausgefallen. Unmissverständlich hatte er ihm klargemacht, dass sich ihre Wege von nun an nie mehr kreuzen würden. Ben hatte es ihm noch nicht einmal übel genommen. Er ertrug die Trennung besser als den Ekel in seinen Augen.

Theo und er hatten diese Phase wieder und wieder besprochen, als seine Schlafprobleme begonnen hatten. Es gab keine unterdrückte Persönlichkeit, keine verborgenen Emotionen. Ben war mit seiner Homosexualität im Reinen, das wussten sie beide.

„Eine Erinnerung“, mutmaßte Ben. Er war schließlich kein Therapeut. Das war Theos Fachgebiet. „Was, wenn es den Jungen wirklich gab?“

„Schon möglich“, stimmte Theo zu. „Das kannst du besser beurteilen als ich. Der Träumende weiß meist sehr gut zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wenn du also das Gefühl hast, dich an etwas erinnern zu müssen, dann sollten wir dem nachgehen. Vielleicht lösen wir deine Probleme, indem wir diesem Rätsel auf die Spur kommen.“

Theo legte seinen Schreibblock zur Seite und ging zum Fenster. Die Abenddämmerung hatte die lärmende Stadt in ein friedliches Idyll verwandelt. Es war spät geworden. Zu spät. Theo hatte ihn nie zur Eile gedrängt. Er hatte ihm stets das Gefühl gegeben, mehr zu sein als nur der letzte Patient des Tages. Seine Stunde war sicher längst vorüber und Theo müsste sich gleich von ihm verabschieden.

Stattdessen zog er die Vorhänge zu und kam zu ihm zurück.

„Theo?“, fragte Ben argwöhnisch. „Was wird das?“

„Ich könnte dir helfen, dich zu erinnern. Es gibt einige Techniken, die dir helfen könnten, diese verschütteten Erinnerungen freizulegen. Wir würden versuchen, die positiven Eindrücke zu verstärken und die negativen Einflüsse zu unterdrücken.“

„Hypnose!“, fuhr Ben dazwischen. Das war das letzte, was er wollte. Die Vorstellung davon, dass irgendjemand in seinem Kopf herumspazierte und dort wer weiß was mit ihm anstellen konnte, war für ihn der blanke Horror. „Du weißt, was ich davon halte.“

„Ja, das tue ich und solange es sich noch nicht um konkrete Erinnerungen handelte, habe ich deine Meinung dazu toleriert“, stimmte Theo. „Falsch angewandt kann Suggestion nicht nur helfen die Bruchstücke deiner Erinnerung zusammenzusetzen, sondern auch fehlende Puzzleteile durch völlig neue und womöglich falsche ersetzen. In einem solchen Fall richtet sie dann mehr Schaden an, als sie helfen würde. Dessen bin ich mir mehr bewusst als du, Ben. Das, was du beschreibst, wird immer extremer und ich sehe nicht, wie ich dir noch helfen könnte. Ich würde es dir nicht vorschlagen, wenn ich den geringsten Zweifel an dieser Methode haben würde. Ich würde sehr behutsam vorgehen und es wäre absolut sicher.“

Ben schüttelte den Kopf. Er war nicht dazu bereit.

„Warum erinnere ich mich erst jetzt an ihn?“

„Die Frage aller Fragen. Erinnerungen gehen nie wirklich verloren. Vor allem traumatische Erlebnisse begleiten uns ein Leben lang. Aber es gibt Phasen, in denen es uns gelingt, ihnen nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken und sie fast vollständig zu verdrängen. Auf diese Art lernen wir, mit ihnen zu leben.“

„Indem wir sie ignorieren?“

„Indem wir sie fern von uns halten“, verbesserte Theo ihn. „Es ist eine Art Metaperspektive. Übergeordnet. Mit zeitlichem und emotionalem Abstand. Ein kleiner Trick dessen sich unser Gehirn bedient, um das Erlebte Episode für Episode zu verarbeiten und letztlich zu überwinden.“

„Also habe ich ihn so lange verdrängt, bis es an der Zeit war, sich an ihn zu erinnern?“

„Nicht ganz. Zum einen verlaufen unsere Erinnerungen nicht chronologisch. Es ist nicht immer nachvollziehbar, warum und vor allem wann eine Erinnerung plötzlich wieder auftaucht. Aber ja, du hast erst eine gewisse emotionale Stabilität gebraucht, um dich ihm zu stellen.“

„Das klingt sehr dramatisch.“

„Vielleicht war es das auch, aber das muss es gar nicht sein. Es genügt, wenn du es damals so empfunden hast. Aus heutiger Sicht würdest du dem womöglich gar nicht eine große so Bedeutung beimessen. Wie alt warst du in deinem Traum?“

„12“, war Ben überrascht. Er wusste selbst nicht, warum er das so genau wusste und vor allem, warum er diesem Punkt bisher keine Bedeutung beigemessen hatte. Die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. In seinem Fall, ein Jahr nach der Trennung seiner Eltern. Seine Mutter war ein nervliches Wrack. Eine trotz allen Widrigkeiten mutige Frau, die versuchte für ihren Sohn stark zu sein. Er sah, wie sehr sie litt und wollte ihr nicht zur Last fallen. Er litt mindestens ebenso stark wie sie in dieser Zeit.

Andere durften ihre erste Liebe erleben. Die erste Schwärmerei für jemanden aus den oberen Klassenstufen. Liebesbriefe. Schmetterlinge. Das alles hatte es für ihn erst sehr viel später gegeben. Er wollte diesen Lebensabschnitt einfach nur vergessen.

„Freunde?“

„Was?“

Nein! Ben war ein Einzelgänger gewesen. Die Sorgen und Nöte der anderen waren nicht die seinen. Er hatte wenig mit ihnen gemeinsam. Sie gingen sich nicht direkt aus dem Weg, aber sie suchten einander auch nicht.

„Feinde?“, grinste Theo. Ben schüttelte erneut den Kopf.

„Wenig Berührungspunkte“, erklärte er sich. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

„Wussten sie über dich Bescheid?“

„Ich weiß es nicht. Es war auch nicht wichtig.“

„Damals nicht?“

„Später auch nicht.“

„In Ordnung“, schloss Theo mit einer ausladenden Geste seinen Notizblock. Ein geheimnisvolles Lächeln verbarg seine Gedanken vor Ben. „Vielleicht solltest du ein paar Tage frei nehmen und deine Erinnerungen etwas auffrischen. Was hältst du von einem Ausflug in deine alte Heimat? Ein Besuch an deiner alten Schule. Das Haus, in dem du gewohnt hast. Der Eisladen, der dich im Sommer um dein Taschengeld gebracht hat. Vielleicht hilft es dir, ein paar zwischenmenschliche Lücken zu füllen?“

„Hältst du das in meiner jetzigen Situation für klug?“

„Naja, schaden kann es auf jeden Fall nicht. Ein paar freie Tage könnten dir guttun. Du musst mal raus hier und brauchst ein paar neue Eindrücke. Egal, was passiert. Es ist besser, als hier rumzusitzen und deinen Träumen nachzujagen. Wenn du so skeptisch wie jetzt bleibst, kann es durchaus sein, dass du dort gar nichts finden wirst. Selbst das wäre eine Erkenntnis, auf der wir aufbauen können. Verlass dich auf die Fakten und ignoriere alles, was du nicht zu einhundert Prozent beweisen kannst.“

„Wie soll ich das anstellen?“

„Das wirst du sehen, wenn es so weit ist und ich werde dir helfen, sobald du wieder zurück bist.“

ZWEI

Was die freien Tage anbelangte, vertraute Ben auf Theos Einschätzung. Sein letzter Urlaub war ein gutes halbes Jahr her. Also hatte er die anstehenden Feiertage genutzt und den Antrag für ein verlängertes Wochenende eingereicht. Anstatt den Freitag in einem stickigen Büro zu verbringen, teilte er sich die Autobahn von Hamburg bis in den Harz nur mit den üblichen LKWS und ein paar Kleintransportern. Erst am frühen Nachmittag würden die Pendler die Strecke in ein undurchdringliches Automeer verwandeln. Dann wäre er längst in Neuenrode und würde sich von der langen Fahrt erholen.

Es war eigenartig wieder hier zu sein. Schon während der gesamten Fahrt hatte Ben das Gefühl gehabt, sich außerhalb der Zeit zu befinden. Je näher er der kleinen Stadt im Harz kam, desto intensiver wurde es. Er hatte gehofft, dass er so etwas wie Freude erleben würde, sobald er die ersten Plätze wiedererkennen würde. Die alte Kirche. Der Marktplatz mit den bunten Lädchen. Der Stadtpark mit dem Springbrunnen und den vielen Blumen. Das war seine Heimat und müsste viele Erinnerungen wecken. Doch das geschah nicht. Alles wirkte seltsam fremd auf ihn, obwohl es sich kaum verändert hatte. Er wusste lange nicht, warum das so war.

Er verstand es erst, als er jetzt vor seiner alten Schule stand.

Sie war viel kleiner, als er sie in Erinnerung hatte. Wie ein Puppenhaus. Kaum vorstellbar, dass hier einmal ein paar hundert Kinder zur Schule gegangen waren. Der Schulhof war kaum größer als ein gewöhnlicher Kleingarten. Das damals imposante Eingangstor war nur eine zweiflüglige Tür mit Standardmaßen. Hier waren einmal zweihundertfünfzig Kinder über den Platz getobt und hatten ihre Lehrer zur Verzweiflung gebracht. Damals hatte es sich so angefühlt, als wäre dieser Ort der Nabel der Welt. Eine gigantische Welt, die nur ihnen gehört hatte.

Er war erwachsen geworden. Einen Meter neunundachtzig groß. Seine Perspektive hatte sich geändert. Was damals riesenhaft anmutete, wirkte nun winzig und fast schon erdrückend. Mit nur wenigen Schritten erreichte er die Schultür in betätigte die Klingel. Das gleiche schrille Geräusch wie damals erklang. Ben wagte es kaum zu atmen, bis ihm endlich geöffnet wurde und er sich erklären konnte. Auf dem Weg hierher hatte er sich einige Sätze parat gelegt.

Eine großgewachsene, schlanke Dame öffnete und lächelte ihm freundlich zu.

„Zu wem möchten Sie denn?“

Ben versuchte es mit möglichst viel Charme: „Ich war hier früher Schüler. Ich weiß natürlich, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ich hier einfach reinspaziere und ich möchte auch nicht ihren Betrieb stören. Aber ich habe mich gefragt, ob es möglich wäre mit jemandem zu sprechen, der damals hier unterrichtet hat? Ich habe ein paar Fragen, bei denen mir derjenige vielleicht weiterhelfen könnte.“

Die Dame betrachtete ihn misstrauisch über ihren Brillenrand. Dreißig Jahre Berufserfahrung machten aus dem Zwei-Meter-Mann wieder den zwölfjährigen Jungen. Sein Selbstbewusstsein schwand.

„Sie sind nochmal wer, bitte?“, tadelte sie ihn, wie es nur Lehrer vermögen. Ben seufzte innerlich.

„Ben“, beeilte er sich zu antworten. „Ben Weigl. Es ist gute fünfzehn Jahre her.“

„Ein lange Zeit“, gab sie sich geheimnisvoll und betrachtete ihn voller Argwohn. Ben vermochte nicht zu erahnen, was sie dachte oder als nächstes tun würde. Er rechnete voll und ganz damit, im nächsten Moment die Tür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen.

„Ich bin Frau Krämer, Ben. Ich habe dich in Deutsch und Kunst unterrichtet. Drei Jahre lang. Du hast vorne am Fenster gesessen, richtig?“

Ben war verblüfft, dass sie sich tatsächlich an ihn erinnerte, wohingegen es ihm fast unmöglich war, ihr damaliges Ich vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören.

Wenigstens ihr Lächeln wirkte vertraut auf ihn, also fasste er neuen Mut.

„Das ist lange her. Aber ja, es stimmt. Dass sie das tatsächlich noch wissen?“

„So lange liegt es nun auch wieder nicht zurück!“

Sie scherzte. Oder? Herrgott, diese Lehrer hatten eine Art mit einem zu reden, dass man sich stets und ständig schuldig fühlte, auch wenn man gar nichts angestellt hatte.

„Das war damals eine verrückte Zeit“, fuhr sie fort und Ben ahnte plötzlich, dass es einen Grund gab, warum sie sich an ihn erinnerte. „Wir wussten alle nicht, wie wir damit umgehen sollten. Ich persönlich war froh, als endlich Gras über die Geschichte gewachsen war.“

Wovon zum Teufel sprach sie da? Welche Geschichte? Was für eine verrückte Zeit? Worüber musste Gras wachsen?

‚Verdammt, Theo! Worauf habe ich mich da nur eingelassen?‘

„Haben Sie zufällig einen Moment Zeit für mich?“, fragte er behutsam. „Ich komme auch gerne etwas später noch einmal, wenn es Ihnen dann besser passt. Aber ich kann mich an kaum etwas erinnern und möchte mich gerne mit jemanden unterhalten, der mit etwas darüber erzählen kann.“

Frau Krämer unterbrach ihn mit einem leisen Seufzen. Er hatte seine Bitte vorgetragen. Jetzt lag es an ihr zu entscheiden, ob sie ihm gewährt werden würde. Normalerweise erinnern sich die Menschen gerne an alte Zeiten und schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen. Ihr Zögern ließ ihn ahnen, dass es in seinem Fall keine guten waren. Er sah, wie sie mit sich um eine Antwort rang.

„Es war schön, dich wiederzusehen“, beeilte sie sich zusagen. „Ich kann dir leider nicht weiterhelfen, Ben. Tu dir selbst einen Gefallen und lass die alten Geschichten ruhen. Es ist besser so.“

Die Tür schloss sich mit einem lauten Knall. Ben war wie vor den Kopf gestoßen und lauschte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Sie sperrte ihn tatsächlich aus. Er hatte noch nicht einmal einen Blick hineingeworfen.

Er stellte sich vor, wie er den ehrwürdigen Gang abschreiten und wie damals die schweren Holztüren anstarren würde, während er darauf wartete, dass jemand kommen und ihn in den Klassenraum hineinlassen würde. Jedes Wort, dass hinter diesen Türen gesprochen wurde, würde wie aus einer fernen Welt an sein Ohr dringen. Der strenge Tonfall seiner Lehrerin, die der Klasse die nächste Aufgabe erklärte. Das aufgeregte Gemurmel seiner Klassenkameraden, die sich nicht sicher waren, ob sie alles richtig verstanden hatten. Nur diesmal wären es eine andere Klasse und eine andere Lehrerin. Aber das Gefühl wäre dasselbe wie vor fünfzehn Jahren gewesen.

Vielleicht hätte er sich an etwas erinnert. An etwas, worüber Frau Krämer nicht mit ihm sprechen wollte. Etwas, das Teil seiner Träume war.

Ben schob die Hände in die Hosentaschen und ging langsam bis zum alten Tor. Der Hausmeister hatte es jedes Jahr zu Beginn der Sommerferien neu gestrichen. Jedes Mal in einer anderen Farbe. Dunkelblau, stellte er jetzt fest und fragte sich, welche es wohl damals gewesen war.

Der griesgrämige Herr hatte sie über den halben Hof ermahnt, ja nicht an die frische Farbe zu fassen. Wen er dabei erwischen würde, den würde er den kompletten Zaun neu streichen lassen. Er würde außerdem dafür sorgen, dass sie während ihrer sehnsüchtig erwarteten Ferien nichts anderes mehr tun würden, als ihm zur Hand zu gehen. Der alte Mann schimpfte eigentlich ständig, doch soweit Ben sich erinnern konnte, hatte keiner von ihnen auch nur einen Ferientag auf dem Schulhof verbracht. Niemals.

Die lautstarke Drohung des Hausmeisters hatte ihre Wirkung dennoch nie verfehlt. Sie hatten immer einen respektvollen Bogen um den Mann gemacht. Niemand wollte sich mit ihm anlegen und erst recht nicht, den ganzen Sommer unter seiner Fuchtel stehen.

Er verließ den Schulhof, ohne das Tor zu berühren.

Ben lief ziellos durch die Stadt und hing seinen Gedanken nach. Er hatte also seine Deutschlehrerin Frau Krämer getroffen. Immerhin und er hatte sich an den griesgrämigen Hausmeister erinnert. Also waren nicht alle seine Erinnerungen verschüttet. Er müsste nur den richtigen Ort finden, um sie zu aktivieren. Den zu finden würde viel Zeit in Anspruch nehmen und die hatte er nicht. Im blieben nur zwei kurze Tage in Neuenrode. Er wusste immer noch nicht, wer dieser Junge war und ob es ihn überhaupt gegeben hatte. Warum verfolgten die anderen ihn? Jedes Mal, wenn er ihnen begegnete, war es in der Schule geschehen. Entsprechend große Hoffnung hegte er hinsichtlich ihrer Besichtigung. Wenn er sich an etwas erinnern würde, dann müsste es hier geschehen, davon war er überzeugt. Allmählich musste er sich eingestehen, dass er wohl nicht in sie hineingelangen würde. Nicht ohne fremde Hilfe.

In Neuenrode gab es niemanden mehr, den er gekannt hätte. Sein Vater war weggezogen, nachdem er sich von ihnen getrennt hatte. Seine Mutter hatte die Stadt verlassen, nachdem Ben die Schule beendet hatte. Der Rest seiner Familie lebte seit jeher über das ganze Land verstreut und Freundschaften hatte er gemieden wie die Pest. Er wusste noch nicht einmal mehr, wer seine Nachbarn gewesen waren. Seine Kindheit schien nur aus bedeutungslosen Ereignissen zu bestehen. Zumindest war es das, woran er sich erinnerte.

Er war seinen Schulweg zu ihrem alten Haus abgelaufen und von dort zurück in die Stadt geschlendert. Kein Erinnerungsflash hatte ihn umgehauen. Niemand hatte ihn mit alten Geschichten überhäuft und mit vergilbten Fotos gelangweilt. Er fühlt sich in seiner Heimatstadt, in der Stadt, in der er aufgewachsen war, wie ein Fremder. Nicht direkt unwillkommen, nur so als würde niemand von ihm Notiz nehmen.

Und so war es auch. Niemand interessierte sich dafür, dass Benedikt Weigl nach fünfzehn Jahren wieder hier war und versuchte, an alte Bande anzuknüpfen. Das Leben war ohne ihn weitergegangen. Die Stadt hatte sich verändert, Läden hatten ihre Besitzer gewechselt und die Leute waren weggezogen. Junge Familien waren in die Stadt gekommen und hatten ihr ein neues Antlitz verliehen.

Ben zerbröselte den Rest seines Brötchens und warf es den Enten zu. Seit einiger Zeit hockte er am Ufer des kleinen Teiches im Stadtpark. Über ihm thronte eine Trauerweide, die beinahe so alt war wie er selbst. Sein Lebensbaum. Vor fünfzehn Jahren war er kaum groß genug gewesen, um ihm ein wenig Schatten zu spenden. Inzwischen war ein prächtiger Baum aus ihm geworden und er konnte sich unter seinen herabhängenden Zweigen verstecken und dem ausgelassenen Spiel der Enten zusehen.

Ein Schwan näherte sich ihnen. Majestätisch glitt er über das Wasser und senkte sein Haupt, um die größeren Brocken für sich zu beanspruchen. Die kleinen Entlein wagten es nicht, sich dem Giganten entgegenzustellen. Sie waren in der Überzahl. Schneller. Lauter. Sie waren es gewesen, die den edlen Spender zuerst entdeckt hatten und doch überließen sie ihm das Feld und straften ihn dafür mit Missachtung. Er nahm es mit edlem Gleichmut hin und glitt näher an ihn heran.

Ben lächelte dem Aristokraten zu und warf ihm das letzte Stück so entgegen, dass er es direkt mit dem Schnabel auffangen konnte.

„Ich danke dir, mein Freund“, rief er ihm zu und fasste einen Entschluss.

Sollten sie ihn doch ignorieren und ihm aus dem Weg gehen. Er würde bleiben. Er würde einen Weg finden, dass sie von ihm Notiz nehmen mussten und er würde nicht gehen, bis er die Informationen erhalten hatte, die er verlangte.

Eine Nacht, zumindest das hatte er sich vorgenommen. Er würde eine Nacht hier verbringen. Vielleicht auch zwei. Solange, wie es dauern würde, bis die Träume wieder zu ihm kamen. Bis dahin würde er sich unter sie mischen. An einem Ort, an dem sie ihm nicht aus dem Weg gehen konnten.

Auf dem Weg hierher war er an einem Pub vorbeigekommen. Wobei der Begriff viel zu vornehm klang, für das, was es wirklich war. Es handelte sich um eine alte Hütte mit schiefen Wänden, niedriger Tür und winzigen Fenstern. Nach heutigen Bauvorgaben und DIN-Normen hätte sie jeden Moment zusammenfallen müssen. Doch genau das würde sie wohl auch in den nächsten einhundert Jahren nicht tun. Beim genaueren Hinsehen erkannte man, dass sie aufopferungsvoll saniert worden war. Ihre dicken Mauern waren leuchtend weiß getüncht und bunte Blumen wucherten auf jedem noch so kleinen Fleckchen Erde. Es wirkte sehr einladend auf ihn. Eine große handbeschriebene Tafel lud zum Eintreten ein und pries das Tagesmenu an.

Lammsteak mit Baked Beans.

Bestens! Ben lief das Wasser im Mund zusammen. Außer einem trockenen Brötchen hatte er heute noch nichts gegessen. Er verspürte keinen Hunger aber der Gedanke an ein kühles Guinness, würziges Fleisch mit Bohnen regte seinen Appetit an. Ben freute sich auf ein gutes Essen und würde den Abend genießen. Der Barkeeper hatte bereits alle Hände zu tun und sogar ein aufmunterndes Lächeln für ihn übrig, als er sein Glas vor ihm abstellte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft fühlte er sich willkommen.

Ben betrachtete das Kondenswasser und dirigierte es mit dem Mittelfinger zu kleinen Wassertropfen, die sich weiter sammelten und immer schneller auf den Tresen rannen. Dort bildete sich alsbald eine kleine Lache. Er stahl sich einen Bierdeckel, um das Malheur zu verbergen und sah sich unauffällig um. Niemand hatte ihn beobachtet. Der Laden war voll, viele Männer, junge wie ältere, waren gekommen und genossen ihr Feierabendbier. Nur wenige hatten, wie er, etwas zu Essen vor sich stehen und bei den meisten handelte es sich um eine Kleinigkeit wie eine Portion Pommes oder einen belegten Toast.

„Gegessen wird zu Hause!“, hörte er seine Großmutter sagen.

Er schmunzelte darüber, dass er sich ausgerechnet in einem Pub an die alte Dame erinnerte. Sie war eine richtige Lady gewesen und er hatte sie vergöttert. Ihr Haar war mit größter Sorgfalt frisiert und sie trug stets die schönsten Kleider. Ihr dunklen Augen hatten ihn mit solcher Liebe angesehen, als wäre er das Wichtigste auf der Welt für sie. Sie hatte die Wärme in sein Leben gebracht, die er an anderer Stelle so vermisst hatte. Eines Tages war sie aus seinem Leben verschwunden. Sie hatten nie wieder ein Wort über sie gesprochen.

Er sah sich die Männer genauer an. Kannte er einen von ihnen? Sollte er einen von ihnen kennen? Wer von ihnen war wohl in seinem Alter und mit ihm zur Schule gegangen? Kam ihm irgendjemand von ihnen bekannt vor?

Was hatte er sich eigentlich davon erhofft, als er hierhergekommen war? Er war noch ein Teenager gewesen, als er die Stadt verlassen hatte. Mit sechzehn war er ausgezogen und hatte seine Ausbildung begonnen. Es war nicht wichtig gewesen, was er tun würde. Viel wichtiger war, wo er es tun würde. So weit weg von hier wie nur möglich. Er wollte nach Hamburg, suchte die Anonymität der Großstadt und hatte dort seine Ruhe gefunden. Für eine Weile. Bis jetzt.

Sechzehn. Jetzt war er achtundzwanzig und ein erwachsener Mann. Er hatte sich verändert. Sie hatten sich verändert. Niemand würde ihn wiedererkennen, selbst wenn man sich fragen mochte, wer der Fremde am Tresen wohl sein könnte und was er hier zu suchen hatte.

Sie interessierten sich nicht für ihn. Sein Plan würde nicht funktionieren.

Was nun? Was konnte er noch tun, um zu erfahren, was ihn Nacht für Nacht heimsuchte?

Ob es helfen mochte, wenn er sich morgen noch einmal in der Schule bei Frau Krämer meldete? Manchmal half es, wenn man eine Nacht über gewisse Dinge schlief und sie mit etwas Abstand betrachtete. Vielleicht änderte sie ihre Meinung ja noch? Oder vielleicht war jemand anderes bereit, mit ihm zu sprechen?

Etwas anderes kam ihm in den Sinn. Sie hatte von einer alten Geschichte gesprochen. Eine Geschichte, die sie vergessen wollte. Vielleicht sollte er dort ansetzten. Wo es Geschichten gab, wurde geredet und wenn es interessant genug war, wurde davon sogar in den Medien berichtet.

Ben konnte sich gut an die kleine Stadtbibliothek erinnern. Er war ein paar Mal dort gewesen, um sich ein Buch auszuleihen. Er war jedes Mal enttäuscht gegangen, weil die vergilbten Seiten ihn in eine Zeit geführt hatten, die keine Antworten für jemanden wie ihn bereitgehalten hatte. Nun versuchte er sich zu erinnern, ob es dort neben den alten Klassikern auch ein Archiv gegeben hatte. Sammelte nicht jede Bibliothek die Ausgaben der lokalen Zeitungen und bewahrte sie für die nachfolgenden Generationen auf? Er konnte sich nicht erinnern, so etwas je gesehen zu haben.

„Du siehst traurig aus“, sprach ihn jemand über den Tresen an und Ben stellte überrascht fest, dass es nicht der Barkeeper war.

Der junge Mann saß übers Eck am Tresen und war somit sein Nachbar, ohne direkt neben ihm zu sitzen. Vor ihm stand ein halb leeres Glas, das er nun an seine Lippen hob. Ben war von diesem Anblick wie hypnotisiert. Zartes Rosa schloss sich um das kühle Glas und öffnete sich leicht, als er den Kopf in den Nacken legte. Er beobachtete die feinen Muskelkontraktion, als das Bier in kleinen Schlucken die schlanke Kehle hinabrann. Ben stellte sich augenblicklich vor, wie er seine Hand in das dunkle Haar grub und ihn am Hinterkopf zu einem Kuss heranzog.

Ben zwang sich, den hübschen Mann genauer anzusehen. Sonnengebräunte Haut. Hohe Wangenknochen. Der Typ sah umwerfend sexy aus. Er war etwas kleiner als er und extrem schlank, aber ganz sich kein Weichei. Er war es gewohnt, sich durchzusetzen. Seine Körperhaltung verriet eine solche Autorität, dass es Ben für einen Moment die Sprache verschlug.

„Ich denke nur nach“, wiegelte Ben ab. „Alles ok.“

„Wirklich? Vielleicht kann ich dir beim Nachdenken behilflich sein?“

Ben zog amüsiert die Augenbraue hoch. Flirtete der Kleine etwa mit ihm? Mitten in diesem altehrwürdigen Pub? Diese Stadt war viel zu klein, um ein solches Geheimnis für sich zu behalten. Daran würde sich nichts geändert haben und das wusste sein hübscher Gesprächspartner so sicher wie er selbst.

„Ich glaube kaum, dass du mir helfen kannst“, gab er sich skeptisch. Wenn er den Kleinen richtig einschätzte, würde er nicht locker lassen und ihn nun erst recht ausfragen. Er wollte sich nur etwas Zeit verschaffen, um sich die passenden Worte zurechtzulegen.

„Was hast du schon zu verlieren?“

„Eine Menge, im Moment weiß niemand, dass ich hier bin. Ich könnte einfach wieder verschwinden und niemand würde es je erfahren.“

„Dann tut es mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Ben. Der mysteriöse Fremde, der ziellos durch die Stadt streift, war schon nach einer Stunde das Stadtgespräch Nummer eins. Sie haben nicht lange gebraucht, um herauszufinden, wer du bist. Was sie nicht wissen ist, warum du hier bist und was du an der Schule wolltest.“

Ben atmete langsam aus und betrachtete den Kleinen eindringlich. Sollte er ihn kennen? Sollte er irgendjemanden von den Männern hier im Pub kennen? Beobachteten sie ihn und warteten sie auf das, was er jetzt antworten würde?

So unauffällig wie möglich sah er sich um. Augenscheinlich hatte sich nichts geändert. Die Gespräche verliefen in der gleichen Lautstärke wie zuvor und wild durcheinander. Niemand hatte ihn im Visier und trotzdem fühlte er sich nun beobachtet.

„Entspann dich!“, grinste sein Gegenüber und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Mike. Ich kann dir wirklich helfen, aber dafür musst du mir ein bisschen was erzählen.“

„Damit es morgen die ganze Stadt weiß?“

Mike zuckte zurück als hätte er ihn mit einem Messer attackiert. Er wirkte enttäuscht.

„Ich gehöre nicht zu ihnen, falls dich das beruhigt. Ich wurde hierher versetzt, als ich mit meiner Ausbildung fertig war. Ein kleiner Ort mit seinen kleinen Problemen. Nicht gerade ein Traumjob, aber rückblickend hätte ich es schlimmer treffen können. Ich habe mich damit arrangiert und bin ganz zufrieden. Du dagegen, hast dieser Stadt über Jahre hinweg den Rücken zugekehrt und bist zurückgekommen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann weil du nach etwas suchst. Richtig soweit?“

Ben nickte. Es gab nur wenige Jobs, für die man sich in so ein verschlafenes Nest versetzen lassen würde. Die Autorität, die er ausstrahle und die Art, wie er seine Fragen an ihn richtete, ließen nur den einen Schluss zu:

„Du bist also Polizist.“

Statt einer Antwort sah ihn Mike zum ersten Mal direkt in die Augen. Zwei helle Diamanten. Wunderschön. Klar. Viel zu wertvoll für einen Ort wie diesen.

„Erzählst du es mir jetzt?“

„Ich habe von ihr geträumt. Zumindest glaube ich das. Ich kann mich kaum noch an etwas erinnern. Ich möchte einfach wissen, ob es wirklich diese Schule ist und warum ich jede Nacht davon träume.“

„Was sind das für Träume?“

„Keine guten“, antworte Ben und überraschte sich selbst mit seiner Offenheit. „Da sind Kinder. Viele von ihnen. Sie kommen und gehen. Wie in einer Schule, aber irgendwie auch fremd. Es ist, als ob ich nicht da bin und sie machen mir Angst.“

„Wie stellen sie das an? Verfolgen sie dich?“

„Nicht mich. Jemand anderen.“

„Wen, kennst du die Person?“

„Ein Junge. Er ist so alt wie ich. Ich weiß nicht, ob ich ihn kenne, aber er scheint mir zu vertrauen.“

„Kennst du seinen Namen?“

Ben schüttelte den Kopf. Er sollte ihn kennen. Sie standen sich nahe. Sehr nahe.

„Warst du deshalb an der Schule? Um herauszufinden, wer er ist?“

„Ich wollte in dieses Klassenzimmer. Ich dachte, dass ich, wenn ich erst einmal dort wäre, mich vielleicht erinnern könnte. Ich wollte wissen, wie ich mich fühle, wenn ich dort bin. Ob diese Angst mit dem Gebäude zu tun hat oder an etwas ganz anderem liegt. Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein und es ist einfach nur ein Traum.“

„Denkst du denn, dass es nur ein Traum ist? Wärst du dann den ganzen Weg zurück gekommen, wenn es nur ein Traum wäre?“

Ben stütze die Ellbogen vor sich ab und legte den Kopf in seine Hände. War es nur ein Traum? Jedes Mal, wenn er sich dafür entschieden hatte, dass es nur ein verrückter Traum war, war er in der folgenden Nacht zurückgekommen. Intensiver und angsteinflößender als zuvor. Wäre er nur wegen eines Traumes hierher zurückgekehrt? Diese Frage hatte er sich in den letzten Tagen oft gestellt. Er ahnte, dass mehr dahintersteckte. Als er versucht hatte sich daran zu erinnern, war er diesem Jungen begegnet. Das war verwirrend, aber zumindest nicht weiter beängstigend gewesen.

Egal wie er es betrachtete, es blieb mysteriös und raubte ihm den Schlaf.

„Ich weiß es nicht. Aber was kann ich schon tun? Ich habe keine Erinnerung. Keinen Namen. Kein Bild. Niemanden, den ich fragen kann.“

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Wir haben nicht das beste Verhältnis zueinander. Mit sechzehn bin ich von Zuhause ausgezogen und seitdem haben wir keinen Kontakt mehr.“

„Das tut mir leid.“

„Das muss es nicht. Es ist besser so. Für alle Beteiligten.“

„Also zurück auf Start. Die Schule. Mit wem hast du gesprochen?“

„Constanze Krämer, meine alte Deutschlehrerin.“

„Oh je! An der beißt du dir die Zähne aus. Die ist verschwiegen wie ein Grab und würde nie etwas tun, was gegen Recht und Ordnung verstößt. Kein Wunder, dass du genauso schlau wie vorher bist.“

Mike schnappte sich sein Handy und suchte nach einer Telefonnummer. Als er sie gefunden hatte, drehte er es zu ihm herum.

„Evelyn Hinrich, die Direktorin. Ich glaube sie hat mal Mathematik und Englisch unterrichtet. Keine Ahnung, ob sie dich kannte. Möglich wäre es. Auf jeden Fall wird sie dir helfen. Ruf sie morgen früh an. Sie wird dich reinlassen und dann kannst du dich dort ein wenig umsehen.“

Er schob ihm das Handy hin und Ben tippte auf Kontakt weiterleiten und gab seine Telefonnummer ein. Als sein Handy vibrierte, nahm Mike es wieder an sich und speicherte den neuen Kontakt unter Benedikt Weigl.

„Du hättest auch einfach nach meiner Nummer fragen können“, grinste Ben über diese kleine List.

„Das werde ich, sobald ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.“

Der Kleine flirtete schon wieder mit ihm. Er musterte ihn und was er sah, schien ihm zu gefallen. Ben konnte nicht anders, als sich vorzustellen, ihn unter sich zu haben. Die hübschen Lippen leicht geöffnet. Die hellen Augen auf ihn gerichtet und voller Ekstase, während er ihn nahm. Ausdauernd und kraftvoll. Im Takt seines Herzschlags, der sich langsam steigerte.

Er wischte das Bild beiseite. Dazu würde es nicht kommen. Nicht mit ihm. Er war der erste freundliche Mensch in dieser Stadt und Ben hatte ein Talent dafür, zwischenmenschliche Beziehungen in den Sand zu setzen. Er würde jemanden anderen finden, um sich abzureagieren.

Ben sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Die Nacht war noch jung. Wenn er sich beeilte, würde er es noch in die Anonymität irgendeines Darkrooms schaffen und dort auf seine Kosten kommen. Schnell und unpersönlich. Seine einzige Verpflichtung würde die zum geschützten Vollzug sein.

Er zwinkerte Mike zu und zahlte ungefragt ihre Rechnung. Morgen würde er einen neuen Versuch starten, dieser Stadt ihr Geheimnis zu entlocken. Sein Geheimnis.

Der nächste Tag startete abrupt, als das Zimmermädchen ihn mit einem spitzen Aufschrei aus dem Tiefschlaf holte. Urplötzlich war sie in seinem Zimmer aufgetaucht und hatte vor lauter Schreck den Ausgang nicht mehr gefunden. Ben war mehr auf sich selbst wütend als auf sie, weil er wieder einmal vergessen hatte, das „Bitte nicht stören“-Schild anzubringen. Dennoch funkelte er sie wütend an, während er versuchte, sich aus dem dünnen Laken zu wickeln, um nach nebenan ins Bad zu gelangen.

Im letzten Moment fiel ihm ein, dass dieses Laken das einzige war, das seine Blöße vor dem jungen Ding verbarg. Sein Schwanz hatte den plötzlichen Wechsel vom Traum in die Wirklichkeit nicht so schnell vollzogen und machte auch jetzt keine Anstalten, sich unauffällig zu verhalten. Dick und prall lauerte er unter dem Laken und natürlich waren ihr die eindeutigen Konturen nicht entgangen, wie ihm ihre glühend roten Wangen verrieten. Den Blick fest auf seine Körpermitte gerichtet, brachte sie noch immer kein vernünftiges Wort hervor.

Er raffte etwas mehr Stoff zusammen und erhob sich aus dem Bett. Langsam und möglichst würdevoll näherte er sich ihr. Ihre Augen weiteten sich mit jedem seiner Schritte. Er war einen guten Kopf größer als sie und kräftig genug, jede Widerwehr im Keim zu ersticken. Sie wich keinen Zentimeter zurück, als er bei ihr war. Er spürte ihren Atem auf seiner Brust und sah, wie sie seinen Duft einsog.

Er roch nach Sex. Anders, als sie es kannte. Ohne den weiblichen Part. Aber dennoch eindeutig nach einer langen, explosiven Nacht. Das Aufblitzen ihrer Augen amüsierte ihn. Das kleine Herz schlug aufgeregt in ihrer Brust.

„Ich gehe jetzt unter die Dusche“, raunte er ihr zu. Sie erbebte beim Klang seiner rauen Stimme. „Nur zehn Minuten, dann bin ich hier verschwunden und du kannst tun und lassen was du willst. Einverstanden?“

Sie nickte hastig.

Ben drückte sich an ihr vorbei und trat ins Badezimmer. Vorsorglich schloss er die Tür hinter sich und verfluchte sich im selben Augenblick. Es war stockdunkel hier drinnen, aber er würde sich nicht die Blöße geben, sie noch einmal zu öffnen. Er war froh, ihren Blicken entronnen zu sein. Er tastete die Wand neben der Tür nach einem Lichtschalter ab.

Fehlanzeige.

‚Denk nach, Ben!‘

Der Spiegel. Mit etwas Glück befand sich dort eine zweite Lampe. Rechts neben sich fand er den Waschtisch, die Kuhle darin verriet ihm, wo das Becken war und wo sich in etwa der Spiegel befinden müsste. Vorsichtig fuhr er über die kühle Wand und fand, wonach er suchte.

Als das Licht aufflammte, schloss er instinktiv die Augen. Verdammt, war das hell! Er spürte den stechenden Schmerz selbst durch die geschlossenen Lider. Ganz vorsichtig öffnete er sie und betrachtete das übernächtigte Wesen, das ihn aus dem Spiegel ansah.

Verflucht, er verstand beim besten Willen nicht, warum die Kleine so angetan auf ihn reagiert hatte. Dunkle Augenringe, unrasiert, die Haare wild durcheinander. Er war völlig hinüber. Ab dem Hals abwärts machte er zumindest einen halbwegs passablen Eindruck. Schlanke Muskeln, glattrasierte Haut. Sie hatte diesen besonderen Bronzeton, wie man ihn nur an der Küste bekam.

Darunter das Teil, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Noch immer halb erigiert hing er schwer zwischen seinen Beinen. Ben ließ das Laken zu Boden gleiten und betrachtete den Übertäter. Er war lang und gerade, ohne sichtbare Äderung. In wenigen Handstreichen würde er zu seiner vollen Größe anschwellen. Er könnte sich selbst einen runterholen und sich dabei zusehen, wie er kam, während die Kleine zitternd vor der Tür stand und auf jedes Geräusch achtete, das er von sich gab. Ben widerstand der Versuchung, das Prachtexemplar in die Hand zu nehmen und schob sich unter die Dusche. Als er das Wasser aufdrehte, hörte er, wie endlich die Zimmertür ins Schloss fiel.

Wie spät es wohl sein mochte? Wahrscheinlich hatte er das Frühstück längst verpasst. Wenn die Hausdamen schon durch die Zimmer gingen, war es vermutlich zu spät, um noch auszuchecken. So wie der Laden aussah, würde man wohl darauf bestehen, dass er die zweite Nacht mitbezahlte. Also konnte er ebenso gut noch eine Nacht bleiben.

Na schön, es war Samstag. Sonnige zwanzig Grad und der Tag noch jung. Vielleicht hatte er Glück und Frau Hinrich würde sich etwas Zeit für ihn nehmen.

Ben stellte das Wasser ab und schwang sich ein Handtuch um die Hüfte. Sein Handy lag griffbereit neben dem Bett. Der Akku war voll. Wenigstens daran hatte er gestern Abend noch gedacht. Er zog das Kabel ab und suchte nach Evelyn Hinrich.

„Ja, bitte?“, erklang eine freundliche Stimme.

Er hasste es, wenn man ein Gespräch derart salopp entgegennahm. Auf ihrem Display stand eine unbekannte Telefonnummer und es bestand eine geringe Chance, dass sich der Anrufer nur verwählt hatte. Sie konnte unmöglich wissen, wer er war oder warum er sie sprechen wollte. Die Höflichkeit hätte es geboten, sich mit vollem Namen zu melden. Nun war es an ihm, diesen Sachverhalt aufzuklären.

„Ben Weigl“, meldete er sich. „Spreche ich mit Frau Hinrich?“

„Ja, das tust du, Ben. Was kann ich für dich tun?“

Ben stutzte ob der vertraulichen Anrede. Das war eine kleine Stadt und die Wahrscheinlichkeit, dass er einmal ihr Schüler gewesen war, somit relativ hoch. Trotzdem glaubte er nicht, dass sie jeden Anrufer einfach so duzte.

Sie hatte seinen Anruf erwartet, soweit war er sich sicher. Das erklärte auch ihre unbekümmerte Art zu Beginn ihres Gesprächs. Schließich war er seit gestern das Stadtgespräch Nummer eins. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er auf sie zukommen würde. Wahrscheinlich hatte Mike ihn bereits angekündigt.

„Ich“, begann er und überlegte es sich anders. „Das zu erklären, würde ewig dauern. Ich würde gerne meine Erinnerungen auffrischen und meine alte Schule besuchen. Es gibt ein paar Dinge, an die ich mich erinnere oder von denen ich glaube, dass es Erinnerungen sind. Einiges davon kann ich mir nicht erklären.“

„Was für Dinge, Ben? Was hat das mit der Schule zu tun?“

„Es ist der einzige Ort, an den ich mich erinnere. Der Bezug scheint also ziemlich stark zu sein und ich glaube, dass ich hier am ehesten etwas finde, das mit weiterhilft. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo ich mit meiner Suche sonst ansetzen sollte.“

„Warum ist es so wichtig für dich?“

Sie war misstrauisch. Natürlich war sie das. Das wäre er an ihrer Stelle auch gewesen. Sie konnte ja noch nicht einmal sicher davon ausgehen, dass er wirklich der war, der er vorgab zu sein. Ben Weigl, ein ehemaliger Schüler. Wie viele Schüler mochte sie in all den Jahren unter ihrer Aufsicht gehabt haben? Ob sie sich wirklich an jeden einzelnen erinnerte?

Frau Krämer hatte ihn erkannt und sich an ihn erinnert. Vielleicht hatten die beiden sich über ihn unterhalten? Die Stadt war klein. Es wurde viel geredet. Das würde erklären, warum dieses Gespräch so ganz anders verlief als das gestrige mit Frau Krämer. Keine Spur von Ablehnung. Nur die drängende Frage nach dem Warum.

„Das ist schwer zu erklären. Vielleicht, wenn wir uns irgendwo treffen könnten. Das lässt sich besser persönlich besprechen als am Telefon.“

„In Ordnung. Also sagen wir um eins an der alten Schule. Was denkst du, schaffst du es pünktlich dort zu sein?“

„Ja!“, Ben war viel zu überrascht, um etwas anderes zu antworten. Seine Fragen waren wie weggeblasen. Unwichtig, angesichts der vagen Hoffnung, dass sie ihn treffen und anhören würde. „Ja, klar. Um eins ist super. Dankeschön, Frau Hinrich!“

„Dafür nicht, Ben. Wer weiß, ob ich dir überhaupt helfen kann.“

Ben hegte daran keinen Zweifel, er wusste es.

Er wusste, dass sie etwas verändern würde. Auf die eine oder andere Weise würde sie ihm helfen. Er könnte seine Träume endlich als Hirngespinste abtun und zum normalen Leben zurückkehren. Die Endgültigkeit dieser Option erschreckte ihn. Seine Träume verfolgten ihn nun schon seit Monaten. Seit Wochen waren sie so intensiv, dass er kaum noch Schlaf fand. Kaum vorstellbar, dass das nun schon bald vorüber sein sollte. Die Alternative war, dass sie das Tor zu seinen Erinnerungen öffnete und alles noch viel schlimmer machte. Was, wenn seine Angst real gewesen war? Sobald er wüsste, wovor er sich gefürchtet hatte, wäre es für eine Umkehr zu spät.

In beiden Fällen hatte er etwas, das er mit Theo aufarbeiten und hinter sich lassen konnte. So, wie er diese kleine Stadt hinter sich lasse wollte. Ihre winzigen Häuser mit den bunten Fassaden und dem allgegenwärtigen Fachwerk. Er fühlte sich wie in einer überdimensional großen Ausgabe einer Modelleisenbahn. Noch nicht einmal die gab es in seiner Heimatstadt. Selbst für eine Zuganbindung war Neuenrode viel zu klein. Zu unbedeutend.

‚Heimat!‘, schnaubte er verächtlich. Was war das schon? Der Ort seiner Geburt? Der Ort, an dem er laufen und sprechen gelernt hatte? An dem irgendetwas Bedeutsames in seiner Vergangenheit geschehen war, das ihn nun unwiderruflich zu seiner Heimat machte? Was sagte das über ihn aus? Machte es ihn zu einem besseren Menschen, weil er eine gewisse Zeit hier gelebt hatte? War dieses Örtchen überhaupt noch ein Teil von ihm?

Heimat sollte etwas sein, mit dem wir uns identifizieren. Etwas, von dem wir voller Stolz sagen können, das bin ich. Ben kannte Menschen, die von sich behaupteten, Hamburger zu sein. Geboren, gelebt und gestorben in Hamburg. Das waren echte Hamburger. Niemand konnte ihnen dieses Status nehmen und es erfüllt sie mit Stolz. Es gab sie noch, stolze und unbeugsame Kinder des Nordens. Gleich welcher Gesellschaftsschicht sie entstammten, strahlten sie eine Würde aus, die unergründliche war. Das war Hamburg. Das waren sie und ihre Heimat.

Nicht die seine, obwohl er hier seit mehr als zehn Jahren lebte und sich wohlfühlte.

War Heimat also nur der Ort, an dem seine Wurzeln lagen? Wo seine Familie lebte? Die gab es nicht mehr. Die wenigen Verwandten, die ihm geblieben waren, lebten so weit verstreut, wie es nur möglich war. Sie fühlten sich keinem Stück Land verbunden, lebten in Berlin und Hamburg, betrieben ein Gehöft auf dem Land oder verrichteten ihr Tagwerk in irgendeiner Fabrik. Er hatte keine Wurzeln.

Was war dann also seine Heimat?

Nur ein Ort der Erinnerung? Oder doch etwas mehr? Was verband er sonst noch mit diesem Ort? War nicht genau das, das eigentliche Problem? Das Nicht-Verbunden-Sein? Nicht dazu zu gehören? Anders zu sein?

Dennoch spürte er diese tiefe Sehnsucht in sich. Ein warmer Hauch, der ihn sanft streifte und dann einhüllte, zusammen mit etwas, das er nicht begreifen konnte. Es gab eine Bindung. Irgendetwas war da, stark und ungebrochen.

Es war zum Verzweifeln und es schmerzte ihn.

Ben blieb abrupt stehen und starrte auf seine schmerzenden Füße. Er war die ganze Zeit über gelaufen. Durch die Stadt, in den Park und dann Runde um Runde um den Teich herum. Sein Freund, der Schwan, begleitete ihn seit geraumer Zeit auf dem Wasser und betrachtete ihn nun neugierig von der Seite. Ohne Scheu sahen sie einander an. Auge in Auge.

Ben kramte in seiner Jackentasche und fand tatsächlich noch ein paar Krumen, die er ihm zuwerfen konnte. Wie am Tag zuvor fing er sie geschickt in der Luft auf und belohnte Ben mit einer eleganten Verbeugung.

Ein Abschied.

Ben sah auf die Uhr und stimmte zu. Wenn er pünktlich an der Schule sein wollte, dann musste er sich jetzt sputen.

Er erkannte Frau Hinrich daran, dass sie die einzige Person war, die vor der Schule stand. Sie musste es sein. Sehr zart, ein kecker Kurzhaarschnitt und ein freundliches Gesicht. Sie trug eine schmal geschnittene Hose und ein hellgrünes Shirt. Sie sah darin so gewöhnlich aus, dass Ben sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, sie jemals irgendwo gesehen zu haben.

Noch bevor er sie ganz erreicht hatte, streckte sie ihm ihre Hand entgegen und nötigte ihn, sie zu ergreifen. Er mochte diese aufgezwungenen Höflichkeitsrituale nicht. Sie waren einander fremd und mussten so etwas nicht tun. Selbst wenn sie sich einmal gekannt, hatten, war das inzwischen längst in Vergessenheit geraten.

Ben nahm ihre Hand in beide Hände, zog sie dicht an sich heran. Sie stand nur einen Lufthauch von ihm entfernt und musste zu dem fast zwei Köpfe größeren Mann aufsehen. Die Situation war ihr sichtlich unangenehm. Ben war sich sicher, dass sie seine Geste verstanden hatte und ließ sie los.

---ENDE DER LESEPROBE---